E EXKLUSIV E B LESEPRO
© Thron Ullberg
ARNE DAHL, Jahrgang 1963, lebt in Stockholm. Er zählt
zu den weltweit erfolgreichsten Kriminalautoren, seine Bücher um die Stockholmer A-Gruppe und die OpcopSerie verkauften sich weltweit millionenfach und erhielten international zahlreiche Auszeichnungen. »Sieben minus eins« und »Sechs mal zwei«, die ersten beiden Teile seiner neuen Serie um das Ermittlerduo Berger und Blom, standen wochenlang auf Platz 1 der SpiegelBestsellerliste. »Fünf plus drei« ist ihr dritter Fall.
LESEPROBE
FÜNF PLUS DREI Montag, 30. November, 8:10 Der Hausflur lag im Dunkeln. Trotzdem konnte Berger ein geflügeltes Insekt ausmachen, das langsam an der Decke entlangkrabbelte. Er folgte ihm eine Weile mit dem Blick. Erst als er nicht mehr hinsah, wurde ihm bewusst, dass es eine Biene gewesen war. Obwohl das einzige Licht in dem Flur kaum als Be leuchtung bezeichnet werden konnte, war das Tier ganz deutlich durch den Türspion zu erkennen. Er stand mit dem anderen Mann neben der verschlossenen Tür, sie drückten sich rechts und links davon an die kühle Beton wand. Beide mit erhobenen Schusswaffen. In dem scha len Licht fixierte der ältere Mann Berger, dann nickte er energisch. Ohne die Waffe zu senken, zog Berger einen Gegenstand aus der Tasche, der wie eine Lupe aussah. Er hob ihn an den Spion und spähte hinein. Die Perspektive war verzerrt, dennoch zeichnete sich das Innere der Wohnung klar ab. Ein Flur öffnete sich zu den Umrissen eines Wohnzimmers. Im ersten Mor gengrauen schienen riesige Adler auf die großen Fenster zuzusegeln. Wie in Zeitlupe näherten sie sich, schwarze Silhouetten, die für einen Moment im Aufwind direkt 3
ARNE DAHL
vor den Fenstern zu schweben schienen. Dann nahmen die Adler menschliche Konturen an und standen reg los da, fest mit den Füßen am Boden. Einer von ih nen hob die Hände und zeigte zehn Finger, dann neun, dann acht. Berger steckte das Gerät, das wie eine Lupe aussah, in die Tasche zurück und holte den Dietrich hervor. So leise wie möglich schob er ihn ins Schloss. Trotzdem klirrte das Werkzeug beunruhigend, als er da mit nach unsichtbaren Zacken und Haken tastete. Sechs, fünf, vier. Er traf nicht auf Widerstand, zum ersten Mal seit Jahren bekam der Dietrich nichts zu fassen. Drei, zwei. Jetzt hatte Berger Erfolg, er hörte das Klicken, als der Dietrich einrastete. Mit erhobener Waffe stieß Berger die Wohnungstür auf. Genau im selben Moment traten die zwei Schwarzgekleideten die Balkontür auf, ihre kleinen MPs im Anschlag. Lautlos verschwanden sie nach links. Berger schlich sich nach rechts. Nun sah er das gesamte Wohnzimmer: ein Kachel ofen mit offenem Kamin, ein Sofa, ein Lesesessel, ein Servierwagen. Auf dem Tischchen neben dem Sessel ein dickes Buch. Berger ging darauf zu, ohne die Pisto le zu senken. Eine Brille lag auf dem Buch, eine Brille mit absurd dicken Gläsern. Außerdem erkannte Berger, dass es sich um eine Originalausgabe von Shakespeares Gesammelten Werken handelte. 4
FÜNF PLUS DREI
Er fasste nichts an, hob stattdessen den Blick. An den Wänden hing nur ein einziges Bild, eine Landschafts fotografie. Der magische Schein des Sonnenuntergangs verzauberte einen Hügel mit Pinien und Zypressen, einige weiße Häuser, ein paar Esel mit gesenkten Köp fen, eine Reihe von Bienenstöcken, die auf Terrassen den Hang hinauf standen, und ein Feld mit buttergel ben Blumen, das bis zum funkelnden Meer hinunter reichte. In der Ferne erhob sich ein großer Felsen aus dem Wasser. Gibraltar, dachte Berger. Er wandte sich wieder dem Buch zu, ging in die Ho cke, musterte eingehend die Brille, sah ein Lesezeichen zwischen den dünnen Seiten hervorragen, rührte je doch weiterhin nichts an. »Hier«, rief eine gedämpfte Stimme. Berger richtete sich auf und drehte sich um. Der äl tere Mann stand draußen im Wohnungsflur und be obachtete ihn. Sein kurzgeschorenes Haar erinnerte an Eisenspäne auf einem Magneten. Sein Name war August Steen, und er war der Chef der Abteilung für Nachrichtendienste bei der Säpo. Berger und Steen folgten der Stimme und durch querten dabei eine Küche. Aus dem hintersten Raum drangen Gesprächsfetzen. Berger ging hinein. Die Schwarzgekleideten hatten sich die MPs über 5
ARNE DAHL
die Schultern gehängt. Mit einer gewissen Skepsis musterte Berger die beiden externen Ressourcen von August Steen. »Wohnung gesichert«, erklärte Roy Grahn. »Aber hier hat sie gesessen«, ergänzte Kent Döös und deutete auf die offensichtlich schallisolierten Wände des fensterlosen Zimmers. Berger sah sich um. Ein vollkommen anonymer Raum und das genaue Gegenteil des gemütlichen Wohnzimmers. Dass keinerlei Spuren von Ketten, Le derbändern oder Infusionsständern zu sehen waren, hieß nicht, dass es sie nicht gegeben hatte, und auch nicht, dass kein Betäubungsmittel zum Einsatz ge kommen war. Doch im Moment klaffte hier nur eine schweigende Leere. Dafür verriet das Schlafzimmer umso mehr. Berger sank neben den zerwühlten Bettlaken auf die Knie. Er legte den Kopf schief, betrachtete das Kissen und konnte in der zunehmenden Morgendämmerung mindestens drei lange, schwarze Haare entdecken. »Unser Freund ist nicht gerade darum bemüht, seine Spuren zu verwischen«, sagte er. »Warum sollte er auch?«, erwiderte August Steen. »Das Einzige, was er geheim halten muss, ist der Ort, an den er sie gebracht hat.« 6
FÜNF PLUS DREI
Plötzlich hörte Berger ein leises Summen. Er blickte zur Decke. Eine Biene flog quer durch das Schlafzim mer. Dieselbe Biene? Berger folgte ihr durch die Kü che ins Wohnzimmer. Vor dem Sessel blieb er stehen und streifte die Handschuhe über. Er schob die dicke Brille zur Seite, schlug die Seiten des Buches dort auf, wo das Lesezeichen steckte, und las. Hamlet. Dritter Akt. Das Lesezeichen zeigte auf eines der bekanntesten Zitate der Weltliteratur. To be, or not to be ... Berger ging zu dem Foto an der Wand und betrach tete es noch eingehender. Sah das Meer, den Felsen, die Blumen. Sah die Bienenstöcke, die sich den Hang hinaufzogen. Sah die Bienenstöcke. Die Biene summte erneut. Aber sie war lauter ge worden. Berger blickte zur Zimmerdecke, jetzt saßen zwei oben in der Ecke. Lebten Bienen Ende November noch? In Schweden? To bee, or not to bee … »Er züchtet Bienen«, sagte Berger laut. Kent und Roy beäugten ihn skeptisch, Steen sah ihn lediglich neutral an. »Was?«, fragte Roy schließlich. »Hier drinnen?« »Wohl kaum«, antwortete Berger. 7
ARNE DAHL
»Ist das nicht ein Trend?«, fragte Kent. »Bienenstöcke auf Hausdächern?« »Was für ein Quatsch«, schnaubte Roy. Steen runzelte die Stirn. »Es gibt drei Wege hinauf aufs Dach. Das Treppenhaus, eine Feuertreppe und die Balkone. Grahn, können Sie noch zwei Stockwerke weiter hinaufklettern?« Roy warf einen Blick zum Balkon, auf den zwei Seile herabhingen. Er nickte. Steen fuhr fort: »Döös die Feuertreppe. Berger das Treppenhaus. Ich suche eine Überblicksposition. Vor herige Abstimmung. Teilt euer Eintreffen mit. Wartet meine Anweisungen ab. Und: Beeilt euch.« Roy lief auf den Balkon, Berger und Kent stürzten durch die Wohnungstür hinaus. Berger schaltete das Licht an und ging den Flur entlang. Als er das Treppenhaus be trat, sah er eine Biene an der Wand entlangkrabbeln. Es gab zwei Alternativen. Entweder waren die Bie nen Ausreißer, oder sie waren eine Geschmacksprobe, ein Hinweis. Wenn sie Ausreißer waren, konnte der Täter ganz ahnungslos mit seinem Entführungsopfer dort oben sitzen. Wahrscheinlicher war allerdings, dass er die Polizisten aus einem bestimmten Grund aufs Dach hinauflocken wollte. Dennoch mussten sie dort hoch, es führte kein Weg 8
FÜNF PLUS DREI
daran vorbei. Und es gab auch keine andere Spezi altruppe, die man hätte hinzuziehen können, in diesem Fall herrschte absolute Geheimhaltung. Berger wusste nicht einmal, inwieweit Kent und Roy eigentlich ein geweiht waren. Er beobachtete einen Moment lang, wie die Bienen scheinbar ziellos über die Wand wan derten. Dann begab er sich nach oben. Das schmuddelige, von Neonröhren erleuchtete Treppenhaus führte zu einer robusten Stahltür mit ei nem Knauf. Berger nahm sein Walkie-Talkie zur Hand und meldete seine Ankunft. Es knisterte, und Roys Stimme erklang. »Auf Position.« Neuerliches Knistern, dann meldete sich August Steen. »Überblick von der benachbarten Immobilie. Es gibt tatsächlich ein kleines, niedriges Häuschen auf dem Dach, nordöstliche Ecke. Grahn, du bist vielleicht fünf Meter entfernt. Die Tür liegt aber in Ihrer Richtung, Berger, von Ihnen aus sind es zwanzig Meter. Döös befindet sich zehn Meter entfernt auf der Feuertreppe auf der gegenüberliegenden Seite.« »Verstanden«, sagte Roy. »Kent?« »Zugestellte Feuertreppe«, keuchte Kent. »Brauche noch ein paar Minuten. Melde mich.« Stille breitete sich aus. 9
ARNE DAHL
Die Neonröhren im Treppenhaus erloschen, und die Dunkelheit umfing Berger. In der Stille ertönte ein Summen, in der Dunkelheit leuchtete ein roter Licht schalter. Berger streckte sich danach. Das Licht ging blinkend wieder an. Die Biene summte weiter, blieb jedoch unsichtbar. Jetzt hieß es warten. Unerträgliches Warten. Aus Bergers Erinnerung trat ein dunkles Motelzim mer hervor, in das lediglich die Lichter der dröhnenden Autobahn hereinsickerten. Berger schlüpfte mit seiner traurigen Plastiktüte in der Hand hinein, gefüllt mit Tankstellensandwiches und Trinkjoghurts, und wollte sich gerade in dem Sessel niederlassen, als er bemerkte, dass dort schon jemand saß. Sein Herz schlug bis zum Hals, und August Steen sagte: »Das nennen Sie unter tauchen?« Die Sekunden verstrichen. Berger fuhr mit der Hand über seine Brust: Die Konturen der schusssicheren Weste waren ihm so vertraut wie die seiner eigenen Rippen. Erneut drängte sich das Motelzimmer vor seinem in neren Auge auf. Mittlerweile saß Berger auf dem Bett und atmete schwer, sein Blick fixierte Steen in dem Sessel. 10
FÜNF PLUS DREI
»Wir glauben, dass wir den Ort lokalisiert haben, wo sich Carsten mit Aisha befindet«, sagte Steen. »Halten Sie sich morgen früh bereit.« Berger schüttelte langsam den Kopf und sah sich in dem deprimierenden Motelzimmer um. »Was um Himmels willen mache ich hier?«, fragte er. »Sie sind Schwedens meistgesuchter Mann«, antwor tete Steen. »Aber Sie halten sich versteckt.« »Und Sie sind einer der hochrangigsten Säpo-Chefs«, sagte Berger. »Ich bin nicht bei der Säpo, das war ich auch nie. Warum sollten Sie mir helfen?« »Wir helfen uns gegenseitig«, entgegnete Steen. Die Biene summte weiter durch das Treppenhaus, konnte die nächtliche Szene jedoch nicht vertreiben. Berger starrte weiter in die Dunkelheit und auf Au gust Steen, der sich am Ende genötigt sah fortzufahren: »Sie gehören jetzt zu meinem Team, Sam. Sobald wir mehr darüber wissen, was hier gerade vor sich geht, werde ich Sie dringend brauchen. Bis dahin muss ich Sie um Geduld bitten. Ein Safehouse wird für Sie vor bereitet, aber morgen müssen Sie unbedingt auf der Matte stehen.« »Was zum Teufel passiert hier gerade? Irgendein Ter roranschlag?« »Der schlimmste Terroranschlag aller Zeiten …« 11
ARNE DAHL
»Schon klar«, fiel Berger ihm ins Wort. »Der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte Schwe dens. Aber ich weiß verdammt noch mal nichts darü ber. Und ich kann diese dämliche Geheimniskrämerei der Säpo nicht ertragen.« Steen seufzte laut und lehnte sich in dem mottenzer fressenen Sessel zurück. »Carsten war mehrere Jahre mein engster Vertrauter, eine der wichtigsten Stützen der Säpo. Dann wurde er als Spitzel enttarnt, als jener Landesverräter in der Organisation, nach dem ich schon eine Weile gesucht hatte. Er hat Aisha Pachachi aus demselben Grund ent führt, aus dem er auch Ihre Kollegin und Freundin Ka tharina Andersson, also Cutter, ermordet hat. Um aus ihnen herauszupressen, wo sich mein wichtigstes Ass – nämlich Aishas Vater, Ali Pachachi, der Mann mit dem Netzwerk – aufhält. Kurz gesagt: Er hat Aisha entführt, um Ali mundtot zu machen.« Als Berger dort in dem tristen Motelzimmer auf dem Bett saß, spürte er widerwillig, wie sein Polizistenin stinkt erneut zum Leben erweckt wurde. »Weil Ali gerade herausfindet, wann und wie der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte Schwe dens stattfinden soll?«, fragte er. »Ja.« Steen nickte. »Meiner Einschätzung nach will 12
FÜNF PLUS DREI
eine internationale Terrororganisation Ali zum Schwei gen bringen und hat deshalb Carsten gekauft. Vermut lich handelt es sich dabei um den IS, den sogenannten Islamischen Staat, aber das ist noch nicht sicher.« Berger sah sich noch einmal in dem deprimierenden Motelzimmer um, aber es gab nichts, worauf er seinen Blick heften konnte. Nichts als den ausweichend ant wortenden Chef der Abteilung für Nachrichtendienste bei der Säpo. »Also hat mir Carsten diesen ganzen Mist eingebrockt?«, fragte Berger. »Er hat mich zum meistgesuchten Mann gemacht? ›Fahndung nach Ex-Polizist wegen Mordes an Tatverdächtiger‹. Der mit meiner alten Dienstwaffe einen Mörder erschossen hat. Warum zur Hölle?« Steen schüttelte den Kopf. »Das ist noch nicht geklärt«, sagte er. »Aber er hat irgendeine emotionale Bindung zu Molly Blom entwi ckelt. Wie Sie sich sicher erinnern, hat er dort oben im Inland observiert. Seine Berichte hatten einen komi schen Unterton, das ist mir erst im Nachhinein bewusst geworden, als ich sie am Stück las. Er nannte Sie ›den Mann und die Frau‹, wenn auch mit Symbolen.« »Symbolen?« »Solchen hier«, antwortete August Steen, zog einen Stift hervor und malte zwei Zeichen auf die Rückseite 13
ARNE DAHL
einer Tageszeitung. Berger sah zwei Symbole – ♂ und ♀ – und zog die Augenbrauen hoch. Steen fuhr fort und zeigte mit dem Finger auf die Bilder. »♂ waren Sie, und ♀ war Molly.« »Molly, die im Koma liegt und mein Kind in sich trägt«, erwiderte Berger finster und schüttelte den Kopf. Steen stemmte sich aus dem schäbigen Sessel hoch und legte die Hand auf Bergers Knie. Das kam ein we nig unerwartet. »Wir haben einen großen Vorteil gegenüber Carsten«, sagte er mit einer Stimme, wie sie Berger noch nie bei ihm gehört hatte. »Er ist zweifellos ein sehr gefährlicher Mensch – wir dürfen ihn wohl als einen erfahrenen Berufskiller bezeichnen –, aber er ist kurz davor zu erblinden. Er ist an der unheilbaren Augenkrankheit RP erkrankt, Retinitis pigmentosa. Morgen früh haben wir die beste Chance, ihn zu erwischen. Und dabei brauche ich Sie, Sam.« Dabei brauche ich Sie, Sam, hallte es in Bergers Kopf nach, in diesem nichtssagenden Hochhaustreppenhaus, vor dieser nichtssagenden Tür, während das Warten ihm immer unendlicher vorkam. Gewaltsam kehrte er in die Gegenwart zurück und betrachtete seine entsicherte Waffe. Sie zitterte in einem merkwürdigen, regelmäßigen Takt, der vermutlich dem seines Herzschlags entsprach. 14
FÜNF PLUS DREI
Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass Carsten allmählich erblindete. Das Summen einer unsichtbaren Biene war weiterhin das einzige Geräusch, das Berger hörte. Lang und monoton. Plötzlich knisterte das Walkie-Talkie. »Auf Position«, sagte Kents Stimme. »Na dann«, entgegnete Steen. »Drei. Zwei. Eins.« Berger schob die Tür auf und blickte hinaus. Die ers te Morgendämmerung verbreitete ihren vagen Schein über das Hausdach. Zwanzig Meter weiter rechts lag das kleine Haus wie ein Betonklumpen. Schräg vor sich sah Berger Kent die Feuertreppe emporklimmen und auf das Haus zustürzen. Im selben Moment zog sich Roy an einem der Seile hoch und rollte über die kleine Mauer am Rand des Dachs. Jetzt rannte Berger los. Dabei fühlte er sich eigen tümlich abwesend, er betrachtete alles aus der Distanz, verzerrt, und wartete nur auf die Schüsse. Roy kam als Erster an, Kent kurz darauf. Dann spur tete auch Berger auf die Hütte zu und sah aus der Ent fernung, wie Roy den Fuß hob, die Tür eintrat und verschwand. Kent war ebenfalls da, er zögerte kurz, ehe er in das Häuschen abtauchte. Berger hatte es fast erreicht, da verspürte er einen starken Schmerz am Hals, als hätte jemand eine lautlose 15
ARNE DAHL
Waffe auf ihn abgefeuert. Reflexartig fasste er sich an den Nacken, und nun schmerzte auch seine Hand. In dem Moment stolperte Kent seltsam gebeugt aus dem Häuschen. Er schlug um sich, wobei die Dienstwaffe wie in Zeitlupe in hohem Bogen davonflog. Kent sack te auf die Knie, warf sich zu Boden und wälzte sich he rum. Das Summen wurde immer lauter. Berger selbst quälte nun ein stechender Schmerz, der sich in seinem Körper ausbreitete und bis in die Glieder brannte. Eine weitere Gestalt kam aus dem Haus. Sie sah aus wie ein Bär, ein Bär im aufrechten Gang. Die Gestalt hob ihre Arme wie zum Gebet, doch da waren keine Hände, da waren Pfoten, Tatzen, die mit dickem, flauschigem Fell überzogen waren. Der restliche Körper wirkte ebenfalls bullig, geradezu wollig, doch aus der bärengleichen Ge stalt ragte ein kreidebleiches Gesicht hervor, ein Schädel mit starrem Blick und einem weit geöffneten, aber stum men Mund. Und das Summen wurde immer lauter. Da verstand Berger endlich, was er sah. Dies war Roys Gesicht. Nur war sein ganzer Körper von Bienen bedeckt. Roy taumelte mit eigentümli chen, schweren Schritten wie bei einer Mondlandung an der Befestigung des Seils vorbei zur Dachkante. Dort kletterte er auf die kleine Mauer, hinter der sich der Abgrund auftat. 16
FÜNF PLUS DREI
Berger hörte sich selbst rufen, doch es war die Stim me eines anderen: »Bleib stehen, bleib stehen, ver dammt!« Stattdessen wankte Roy einfach weiter und stieg auf die Mauer, als würde er von einer fremden Kraft an getrieben. Dann tat er den fatalen Schritt in den Ab grund. Es sah so aus, als würde er kurz in der Luft stehen. In einem Brummen, das immer mehr einer Kakofo nie glich, schien Roys Körper für einen Moment in der Unendlichkeit zu schweben, als wäre die Schwer kraft aufgehoben, als gäbe es kein Oben und Unten mehr. Dann ließen die Bienen wie auf Befehl von ihm ab und flogen von seinem Körper auf wie ein kleiner Tornado. In diesem Moment blickte Berger Roy in die Augen. Und was er sah, war der Tod. Er schaute dem Tod di rekt ins Gesicht. Bis Roy fiel. Berger hörte sich selbst brüllen. Er stolperte vor wärts, und der Schmerz, der für einige Sekunden wie weggeblasen gewesen war, kehrte mit voller Kraft zu rück. Unterdessen rappelte Kent sich auf und bürstete mit der Hand wie wild seinen Körper ab. Zusammen mit Berger wankte er zum Rand des Dachs. Wo Roy in die Tiefe gestürzt war. 17
ARNE DAHL
Genau in dem Moment, als sie dort ankamen, wand te Berger sich um und sah einen enormen Bienen schwarm aus der weit geöffneten Tür des Häuschens schwirren. Er bildete eine schwarze Wolke über der ohnehin noch dunklen Stadt. Berger und Kent wechselten einen Blick. Kent zupf te eine Biene von seiner bleichen Wange und nickte. Dann sahen sie über die Kante. Roys Körper war in zwei Stücke gerissen und lag dreißig Meter unter ihnen auf dem Parkplatz. Die eine Hälfte auf einem Auto. Kent entfuhr ein Laut, der nicht mehr menschlich klang. »Berger!«, bellte das Walkie-Talkie. »Rettungswagen unterwegs. Sichert das Haus.« Langsam erhob sich Berger neben dem zusam mengesunkenen Kent, der vor Trauer und Schmerz schrie. Er sammelte die Bienen von allen freilie genden Hautoberflächen seines Körpers und spürte, wie sich ein seltsamer Rausch in ihm ausbreitete. Schwankend bewegte er sich auf das kleine Haus zu. Dort presste er sich an die Betonwand und warf einen hastigen Blick hinein, ehe er schnell den Kopf zurückzog. Drinnen war kein Mensch, und es gab auch keine verborgenen Räume. Dafür mindestens 18
FÜNF PLUS DREI
sechs geöffnete Bienenstöcke. Es waren nur noch einzelne Bienen zu sehen, von denen ein zähes Summen ausging. Es sollte also möglich sein, das Häuschen zu betreten. Berger griff seine Waffe fes ter und betrat die Hütte. Wild fuchtelnd versuchte er, die letzten Bienen hin auszuscheuchen. Dann sah er sich um. Außer den Bie nenstöcken gab es einen Tisch und einen Stuhl, sonst nichts. Hier hatte Carsten Aisha wohl kaum gefangen ge halten. Sein Ziel war es gewesen, auch die Polizisten hier heraufzulocken. Um ihnen zu schaden, um sie zu töten? Wohl kaum, Carsten war kein Sadist. Wahnsin nig, das schon. Ein Landesverräter. Skrupellos. Aber rational. Er hatte einen anderen Grund gehabt, sie her zuführen. Boden, Decke, Wände – nichts. Ein vollkommen neutraler Raum. Demnach musste in den Bienenstö cken oder auf dem Tisch irgendetwas zu finden sein. Den Bienenstöcken wollte Berger sich nicht weiter nä hern, er hatte schon genug Körperkontakt mit ihren Bewohnern gehabt. Erst jetzt sah er, dass einige der Insekten auf dem kleinen Tisch ausharrten. Sie waren ruhiger als ihre Verwandten und krabbelten in einer festen Formation 19
ARNE DAHL
umher, einem Rechteck, etwa einen Dezimeter breit. Berger nahm seine frisch ausgehändigte Säpo-Pistole und wischte die Bienen damit von der Tischplatte. Un ter ihnen lag ein Stück Papier. Er wagte es nicht, das Blatt anzufassen, stellte jedoch fest, dass es mit etwas Süßem, Klebrigem bestrichen war. Einer Substanz, die Bienen vermutlich mochten. Das Papier sah aus wie ein kleiner Umschlag von der Sorte, die normalerweise Glückwunschkarten enthielten. Berger reinigte ihn ganz von den Bienen, ließ ihn jedoch liegen. Gegen alle Instinkte wollte er auf die Kriminaltechniker von der Säpo warten. Da entdeckte er unter der Tischplatte eine Schublade. Er ging in die Knie und zog sie vorsichtig heraus. Der Knall war überirdisch, und die Kraft, die Berger zurückwarf, gigantisch. Ein alles umfassender Schock, ein verwirrender Schmerz. Berger wurde schwarz vor Augen. Es existierte nur noch ein einziger, einfacher Gedan ke, der im unendlichen Nichts kreiste: Dies ist eine beschissene Art zu sterben. Dann umfasste ihn die Dunkelheit. Als Berger seine Augen wieder aufschlug, war er sich nicht sicher, ob er noch lebte. Doch er sah in einen eis grauen Blick, darüber ein metallgrauer Bürstenschnitt. 20
FÜNF PLUS DREI
»Tatsächlich ist der perfekte Spion ein kastrierter Spi on«, sagte August Steen. »Aber ganz so drastisch hätte es auch nicht sein müssen.« »Wie bitte?«, keuchte Berger. »Hätten Sie sich nicht hingekniet, wäre Ihnen der Schwanz weggeschossen worden.« Berger blickte an seiner schusssicheren Weste hinab. Es war deutlich sichtbar, wo die Kugel ihn getroffen hatte. Mitten ins Herz. »Verdammte Axt«, sagte er. Steen streckte ihm die Hand entgegen. Berger ergriff sie, kam, begleitet von einer Kaskade von Schmerzstrahlen, wieder auf die Beine und stand vor der offenen Schublade. Hinter der weggeschossenen Front war eine Pistole eingeklemmt, deren Abzug mit einem Stahldraht verbunden war. Berger erkann te die Waffe sofort wieder. Es war eine Sig Sauer P226. Höchstwahrscheinlich Bergers eigene ehema lige Dienstwaffe. Am Lauf klebte ein kleiner hand geschriebener Zettel. Darauf stand, kurz und knapp: »Boom!« »Carsten hat es auf Sie abgesehen, Sam«, sagte Steen. »Jetzt müssen wir Sie aber definitiv unsichtbar machen.« Berger warf einen letzten Blick auf den kleinen Umschlag, seufzte schwer und stolperte zur Tür. Steen 21
holte ihn ein und stützte ihn. Am blassgrauen Novemberhimmel näherte sich lang sam, beinahe unwirklich, ein Rettungshubschrauber. ––––
22
FÜNF PLUS DREI
ll von a F e u e n r e D BLOM & R E G R E B
Ab sofort im Buchhandel!
ISBN 978-3-492-05812-4
Auch als Hörbuch erhältlich:
ISBN 978-3-86952-338-5
www.piper.de 23
ARNE DAHL
GROSSES GEWINNSPIEL!
Reisen Sie mit uns nach SCHWEDEN!* Gewinnen Sie mit uns und andersweg.reisen, Ihrem Experten für exklusive Reiseerlebnisse in Schweden, Norwegen und Finnland eine 8-tägige Reise für zwei Personen nach Stockholm und in die malerische Countryside inklusive Ausflug in die weltbekannten Schärengärten. Flug – Übernachtung – Unterkunft und Mietwagen inklusive. Weitere Infos zur Reise und den Teilnahmebedingungen unter:
piper.de/arne-dahl-serie Teilnahmeschluss ist der 30.9.2018
*
Reisezeitraum: Juni bis Sep 2019, nach Absprache mit dem Reiseveranstalter
Mit freundlicher Unterstützung von
www.piper.de
24
www.andersweg.reisen