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REA DER so vielseitig wie unsere Leser.
frühjahr 2019.
Piper Verlag GmbH Georgenstraße 4 80799 München
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editorial vor einiger Zeit, es ist bald hundert Jahre her, schickte der Piper Verlag Buchhändlern, interessierten Lesern und Freunden des Hauses neben den aktuellen Programmprospekten eine Hauszeitschrift. Sie hieß „Der Piperbote“, erschien ab 1924 „in zwangloser Folge“ und brachte „Bildnisse und kurze Erzählungen“ von wichtigen Autoren des Verlags „sowie fesselnde Leseproben aus ihren Büchern“. Die Zeitschrift lud dazu ein, an der Verlagsarbeit teilzunehmen, und bot eine Innenschau dessen, was bei Piper vor sich ging. Nichts anderes will auch der „Piper Reader“ tun. Er ist kein Leseexemplar und kein Verlagsprospekt, sondern versteht sich als Einlese- und Lustmachbuch auf das Frühjahr 2019 mit Blicken auf Autorenschreibtische und in die Lektoratswerkstatt. Er enthält sieben Sneak-Previews zu höchst unterschiedlichen Büchern, Autoren, Stimmen und Temperamenten, die uns hier im Verlag begeistern, berühren und beschäftigen, gedanklich wie handwerklich. Natürlich sind mehrere der Bücher, um die es in unserem Reader geht, noch nicht ganz fertig, und mancher Satz wird bis zum Erscheinen noch mehrfach umformuliert werden.
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Konkurrenz belebt, zumal wenn sie von anderen Disziplinen herrührt. Kein Wunder, dass dies, allen angespannten Buchmarktstudien zum Trotz, glänzende Zeiten für Leser sind. Und wann, wenn nicht jetzt, da alle Augen gesenkt sind auf Bildschirme aller Art, lohnt es sich, den Blick zwischen zwei Buchdeckel wieder zu kultivieren? Wer also mag, soll mit uns lesen. Der große Reiz des immer schon etwas merkwürdigen und oft asynchronen Berufs des „Verlegens“ ist es, dass er es in einer Zeit fortschreitender Spezialisierung erlaubt, ja sogar fordert, ganzheitlich tätig zu sein. Mit jedem neuen Werk schaut man nach vorn, in eine Zukunft, die es vorzustellen und zu gestalten gilt, und zugleich sind die Bücher ein Wissens- und Erfahrungsspeicher dessen, was sich nicht binnen Kurzem überlebt. Die Quersumme dessen, was wir als Verlag tun, ergibt: Gegenwart. Wir vertrauen darauf, dass die Lust und das Abenteuer des Lesens unbesiegbar sind. Allen, denen es ähnlich geht, wünschen wir Inspiration, Neugier und Faszination beim Weiterlesen.
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I n h a lt s ver zeichnis
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Janina FINDEISEN Mein Zimmer im Haus des Krieges
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catherine steadman Something in the Water
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lawrence osborne welch schรถne tiere wir sind
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REZENSION VON LIONEL SHRIVER
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Niklas Natt och Dag 1793
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Jennifer sieglar umweltliebe
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Stephanie von Hayek als die tage ihr licht verloren
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intervie w GEFÜHRT VON OL AF PETERSENN
Es gibt Menschen, bei denen man spürt, dass sie ein erzählerisches Talent haben. Das betrifft vor allem diejenigen, denen man noch nicht persönlich begegnet ist, sondern sie nur zu kennen meint, weil man sie schon so oft gesehen und gehört hat. So ist es mir mit Axel Milberg gegangen, den ich neben seinen Film- und Fernsehrollen auch als Hörbuchsprecher und Vorleser kannte, bevor ich ihn das erste Mal traf. Da ich die prägenden Jahre meines Zivildienstes, Studiums und Berufseinstiegs in Kiel verbrachte, sind mir der gebürtige Kieler Milberg und sein „Tatort“-Alter-Ego Borowski ohnehin grundvertraut und höchst sympathisch. Als jemand, der Mankell genauso eindrucksvoll und eigenartig sprechen kann wie Pepys und Feuchtwanger, hat er darüber hinaus meinen größten Respekt. Der Eindruck, dass er es versteht, das Material seines Lebens zu nutzen, um daraus spielerisch, klug und packend einen Roman zu machen, hat nicht getrogen. Wie er dazu kam und was er zu erzählen hat, lesen Sie auf den nächsten Seiten. Ich wünsche Ihnen einen beschwingenden Einstieg in ein großes Lesevergnügen!
An welche Bücher erinnerst Du Dich am intensivsten? Ich habe Karl May und Kafka gelesen, Storm und Roald Dahl. Es waren Abenteuer, die meine Sicht auf mein Leben verändert haben. Selma Lagerlöf und Astrid Lindgren, Enid Blyton und Poe. Intuitiv glaubte ich Kafkas Erzählungen vollständig zu verstehen, selbst da, wo sie als rätselhafte Gleichnisse gedeutet werden. Wilde und Shaw, Sartre und Camus waren wie Freunde.
Hast Du Dir immer schon gewünscht, einmal selbst einen Roman zu schreiben? Ich wollte tatsächlich eine Zeit lang Schriftsteller werden. Ich schrieb Gedichte und Aphorismen und hatte begonnen, Nabokovs Ada zu einem Drehbuch umzuschreiben. Damals war alles noch recht ichbezogen. Wenn ich heute schreibe, ist das Interessante das, was ich beobachtet habe. Begegnungen, Abschiede, im Kleinen die Welt, dabei habe ich immer im Blick, dass es für jeden Leser interessant sein muss. Nicht speziell für mich. Das Allerpersönlichste ist das Allgemeine, was uns am meisten verbindet. Davon bin ich überzeugt.
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Wann schreibst Du am liebsten? Am Liebsten schreibe ich nachts, frühmorgens oder sozusagen dazwischen. In abgerungenen Pausen. Auf dem iPad-Touchscreen, nicht auf einer externen Tastatur. So kann ich auch in der Finsternis schreiben, wenn meine Frau im Bett neben mir schläft. Ich finde den normalen, wilden Alltag nicht störend, sondern hilfreich für mein Schreiben. Darüber bin ich selbst am meisten erstaunt.
Welche Bedeutung haben Bücher für Dich? Dass ich viel gelesen habe, macht mich extrem misstrauisch, was die Originalität meines Stils angeht. Ich bilde mir aber ein, inzwischen durch epigonale Übungen mäandert zu sein. Ich habe das Gefühl, wie ich jetzt schreibe, kann es nicht anders sein. Die Texte haben ihren speziellen Klang, sie sind quasi fertig, ich schreibe sie nur noch rasch auf – ihr Inhalt bringt dabei seine notwendige Form mit. Das Daran-Feilen geschieht in den folgenden Wochen und Monaten und würde wahrscheinlich nie aufhören, wenn man mir das Blatt nicht entreißt. Ich höre innerlich die Texte, sie werden beim Erfinden gesprochen, und daher freue ich mich auf die öffentlichen Lesungen.
Warum wolltest Du keine Autobiografie schreiben? Eine Autobiografie finde ich bei einem Schauspieler eitel. Bei einem Politiker mag es über die Zeitgeschichte Neues zu berichten geben.
Was bedeutet Deine Herkunft für Dich? Die Kindheit und die ersten fünfundzwanzig Jahre sind besonders aufregend. Bei jedem, denke ich. Weil so vieles zum ersten Mal passiert. Deswegen vergeht auch die Zeit in diesen Jahren scheinbar so langsam. Die Tage sind angefüllt mit Neuem, mit lauter Erfahrungen, die man zum ersten Mal macht. Reisen, Gerüche, Konflikte, das Entdecken eigener Talente, neue Sportarten u.v.m., die Sexualität, wie die anderen auf einen reagieren, wohin man gehört. Oder ob man weiterwandern muss.
Erinnern oder Erfinden? Was ist wichtiger/interessanter? Das Erfinden ist dabei der größere Genuss. Das Erinnern ist der Vorhang, durch den ich in die erfundene Welt husche. Was erinnern wir zu welchem Zwecke? Die Erinnerung ist keineswegs neutral. Die Erinnerung gibt einem eine Rolle im Leben: Täter, Opfer der Umstände, sie kann unsere Mutlosigkeit oder das versäumte Leben rechtfertigen. ‚Schuldig‘ sagen wir und deuten auf andere. Erinnern wir aber anders, kann es uns beflügeln! Dabei aktiviert das Spielerische die Fantasie, die mir erzählt, wenn nicht so, dann anders. Ins Grausame, ins Komische gewendet oder ins Sentimentale. Dieses innere Sehen von verschiedenen Möglichkeiten ist der Arbeit des Schauspielers nahe. Genauso wie der Wechsel der Perspektiven. Ich kann ich sein, aber auch der andere, Beobachter oder Beobachteter. Und so weiter.
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Die Grafen von Cumberland Meine Eltern sind ja eigentlich schüchtern, immerhin im letzten Augenblick fertig sein – und wie es schon mit Anfällen von Geselligkeit und anmaßenden Ur- duftet, dann das schöne Meißen aus dem Barockteilen. Es war anstrengend, all die Jahre dabei zu sein. schrank, das geputzte Silberbesteck mit den Initialen, die Kerzen und ihr Licht, als Allerletztes wird rasch Mama gab Anweisungen: der Knoten der Schürze am Rücken gelöst, und „wohin mit der Schürze, ach, halt mal“, da hatte es aber schon „Hört mal, Kinder, heute kommen ein paar Leute zum zum zweiten Mal geklingelt. Abendessen. Ihr seid auf euren Zimmern, aber vorher brauche ich eure Hilfe. Wir müssen das Silber putzen, Mein Vater hat dabei drei Aufgaben: nicht im Weg zu stedie Klos, ich muss noch auf den Wochenmarkt, Axel hen und sich um den Wein zu kümmern und drittens … fegt die Treppe vor dem Haus, aber nimm den Besen für draußen, das Fleisch ist schon aus der Kühltruhe Das schrille Klingeln. raus, ach, Papa hat wieder viel zu große Portionen eingefroren, wer soll das alles jemals essen?“ „Wer kann das sein? Das gehört sich aber auch nicht, so was von pünktlich. Das macht man einfach nicht. Meine Mutter ist wieder einmal kurz vorm Über- Merkt euch das für euer ganzes Leben, Kinder!“ schnappen. Meine Eltern und wir Kinder fangen etwa eine halbe Ich habe mich immer gewundert, warum die Toi- Stunde vor der Ankunft der Gäste an, albern zu werletten erst gereinigt werden, wenn Besuch kommt. den, damit wir in eine lustige Stimmung kommen, Warum nicht auch für uns? Aber alles wird natürlich das wäre besser, ahnten wir alle.
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Gurgelnde Geräusche an der Haustür, Rufe hinunter, Trinkgefäße, Deckelpokale, Miniaturen in ElfenRufe von unten nach oben. beinrahmen, Schmuckdolche und Kinderrasseln, Porzellanmäuse, Flacons und Flohfallen aus Kristall. Ich kenne alle Stimmen, oft, scheint mir, haben die Alles mindestens zweihundert Jahre alt, das, was Damen tiefere Stimmen als ihre Männer. Sie erschei- andere lieblos als Staubfänger oder Vitrinenmöpse nen keuchend auf dem Treppenabsatz, eine Parfum- bezeichnen. Die Briefmarken und griechischen Münwolke kommt mit. zen aus der Zeit Alexanders des Großen liegen in den abschließbaren Fächern unseres Bücherschranks. Alle sprechen gleichzeitig und zu laut, der Duft aus der Küche wird diskutiert, die Speisen erraten, eine Meinen Eltern bedeutet das viel. Meine Mutter samerste Übersicht über die neuen Krankheiten gegeben. melt, und es erregt sie ungeheuer und sie kann immer wieder einen Kristallpokal oder eine hauchdünne Man legt ab, die Hutablage war vorsorglich schon Gemme, die das brennende Rom zeigt, in ihrer Hand freigeräumt worden, nimmt einen Drink im Wohn- gegen das Nachmittagslicht halten und erklärt mir zimmer ein, im Stehen, unter dem Empireleuchter, an dann: „Willst du wissen, wie ich an diesen Schatz gedessen runder Kristallkugel auf der Unterseite Flie- raten bin? Also, Herr Kusserow weiß ja gar nicht, was geneier kleben. er da hat. Das ist ein Museumsstück. So was gibt’s sonst gar nicht im Handel. Ein Dümmling von KunstUnser schmaler Flur hat hier im ersten Stock rechts händler, der müsste mal mehr in die Museen gehen, zwei Türen. Die erste bleibt immer verschlossen, weil nach Dresden oder Potsdam oder Wien. Na, Gott sei dahinter das Barockzimmer ist. Es heißt so, weil es Dank tut er es nicht. Also, ich trau mich gar nicht von einem Riesenschrank beherrscht wird, dem mehr zu dem hin ...“ Barockschrank, dessen geschmiedeter Schlüssel die zwei Eichentüren öff net, hinter denen sich Silbertab- Die Gäste bestaunen unsere kleinen Kostbarkeiten, letts, Tischdecken, Kerzen, Saftkrüge, Blumenvasen, und meine Mutter prostet allen unter der KristallTortenheber und noch mehr Silber stapeln. kugel mit Fliegeneiern im Wohnzimmer zu und sagt lächelnd: „Also, tja dann, Tschüss!“ statt „Zum Wohl, Die zweite Tür führt in das Wohnzimmer, genannt schön, dass ihr da seid. Herzlich willkommen!“ Wohnzimmer, dessen Boden von mehreren Teppichschichten bedeckt ist. Bunte Teppiche aus Isfahan und Als mein Vater darüber am lautesten lacht, blickt sie Täbris. Die Wände sind mit Tischen und Schränken, ihn strafend an. Langsam gleitet ihr Blick an ihrem Vitrinen und Kommoden vollgestellt, alle aus dem Mann herunter, bis sie schließlich seine Schuhe Barock, Empire oder Rokoko. sieht. Er trägt einen gelben mit Kreppsohle und einen schmalen schwarzen mit Ledersohle. Die Tapeten führen die Muster der Epochen in fröhlichen Variationen weiter, in jedem Zimmer andere. Die „Klaus?“ Sie schüttelt resigniert den Kopf. Nun schauVitrinen und Schränke beherbergen die Sammlungen en alle. Manche besorgt, viele ernst. Hat er einen meiner Eltern, hauptsächlich meiner Mutter. Haschmich? Sie sammelt Fächer, bemalt und mit Straußenfedern Mein Vater aber lacht weiter und sagt: „Komisch, verziert, sogar welche aus Elfenbein, die Lamellen oben steht noch so ein Paar.“ der Fächer sind aus Seide, Schildpatt, Pergament oder Holz. Im Regal darunter gibt es eine Sammlung Nun lachen wieder alle, und er behält das ungleiche zierlicher Pfeifen aus Meerschaum oder Bernstein, Paar den Abend lang an. Vergisst es einfach.
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Auch meine Eltern sind ein ungleiches Paar. Meine Mutter eher die Ledersohle und mein Vater der Krepp. In diesen zentralen Raum werden alle später zurückfinden, wenn die drei Gänge im Barockzimmer eingenommen worden sind. Vor dem Wild beginnt es mit einer Mockturtlesuppe und endet mit Gudbrandsdalsost, dem Karamellkäse aus Norwegen, und Pumpernickel.
So eine habe ich das letzte Mal bekommen zu Hause, in Ostpreußen. Seitdem nicht mehr. Ach! Ich möchte nun mein Glas erheben auf …“ Als Letztes hörte ich oben unterm Dach in meinem Bett, wie mein Vater an das Barometerglas klopfte, um ein letztes Zittern des Zeigers hervorzurufen, dann kennt er das Jagdwetter des nächsten Tages.
Es folgen dann immer Portwein, Cognac, dazu werden Käsegebäck und Chesterstangen gereicht. Tessen von Gerlach hatte die Cousine meines Vaters geheiratet, Mieze von Schroeder, die auf dem Gut HoMeine Mutter hat wieder alles allein eingekauft und henstein aufgewachsen ist. Das verspielte Herrenzubereitet und gemacht und ist überfordert und fix haus mit einem Türmchen, von wildem Wein berankt, und alle, wenn schließlich Graf Reventlow aus Wulfs- liegt an der Schlei und dort sind mein Vater und ich hagen und seine Frau und die Rantzaus aus Rastorf oft im Januar zur Treibjagd eingeladen. und Dr. Engelin, die Bethmann-Hollwegs und Frau von Radenhausen erneut unter dem Lüster zu stehen Immer liegt Schnee, ist es kalt durch den Ostwind, und gegen 7.30 Uhr in der Früh versammeln sich alle kommen. im ersten Licht vor dem Gutshaus. Wir Kinder haben uns also in den anderen Räumen aufzuhalten und lauern, ob einer der Gäste eine Tafel Zwanzig, dreißig Jäger, kaum Frauen, es wird das Jagdhorn geblasen: „Auf, auf zur Jagd!“ Ein Butler Schokolade mitgebracht hat. trägt auf einem Silbertablett Schnapsgläser und „Wo seid ihr, kommt mal bitte!“ In der kleinen Küche bietet diese den Jägern an. Sie tragen die Drillinge, ist sofort ein Gedränge. „Was macht ihr hier? Wer hier Schrotgewehre, Bockdoppelfl inten über die Schulter oder den geknickten Lauf nach unten gerichtet über nichts zu tun hat, geht am besten raus!“ den Unterarm gelegt, einige haben ihre Hunde dabei, und wenn das Jagdhorn ertönt, legen die Jagdhunde „Mama, du hast uns gerade gerufen!“ die Köpfe nach hinten und jaulen. „Ja, was, ich? Ach so, ja, warum? Bitte, jemand muss das hier mit der Hand abwaschen, ich hab zu wenig „Zigarren, Zigaretten, Drops!“ Der Butler bietet noch einmal allen an, bevor er sich frierend in das HerrenGeschirr.“ haus zurückzieht. Die Ofenklappe geht auf und zu, der Hirschrücken, die Damwildschulter, die Rehkeule werden geprüft: Mein Onkel Tessen breitet eine Karte aus und erklärt „Zu früh! Zu spät! Abgießen, ich mach die Soße! Was ist den Gästen seine Aufstellung: „Also, Chapeaurouge, mit den Kronsbeeren? Hat mal jemand die Cumber- du stehst an der Senke, etwa zehn Meter Abstand zum landsoße probiert? Mehr Senf dran?“ Knick. Klaus, du gehst davon zwanzig Meter in Richtung hoch zum Rübenschlag. Fritz Reventlow kommt Einmal lauschte ich an der verschlossenen Tür zum mit mir, wir machen dicht bis zum Waldrand. KönigBarockzimmer und hörte, wie bei einer Ansprache Tes- liche Hoheit Herzog von Mecklenburg, du stehst sen von Gerlach aus Hohenstein meine Mutter lobte: direkt unterhalb vom Hochsitz. So, von da gehen wir „Das war heute wirklich eine echte Cumberlandsoße. langsam los, Richtung Süden.
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Versucht, die Abstände einzuhalten. Fragen?“
Bei Hasen und Kaninchen, bevor sie im Rucksack verschwinden, drückt der Jäger den Darm noch aus und eine braungraue Wurst ringelt sich aus dem Hinterteil.
Der Herzog von Mecklenburg ist der Nachbar vom Gut Hemmelmark. Er ist zwei Meter groß und hat Schuhgröße 48. Sein Herzogtum ist in der DDR, aber seine Am Mittag kommt vom Hof ein Trecker. Punkt 12.00 Uhr Frau hat das Nachbargut geerbt, und so passt alles ... wird der Hänger abgekoppelt, und wir Treiber klettern rauf. Wir setzen uns auf die gepressten Strohballen Mein Onkel Tessen war bei General Rommel in Afrika und löffeln dampfende Erbsensuppe mit Speck- und gewesen. Er hatte bei verschiedenen Verwundungen Wurststücken. Niemals in meinem Leben habe ich während des Krieges ein Bein, einen Arm und ein Köstlicheres gegessen als in dieser Mittagsstunde. Auge verloren und war selig, wenn er die Landkarte des Jagdgebiets mit markierten Posten ausbreiten Am Nachmittag dann passiert es: Ich verlaufe mich. und den Freunden ihre strategischen Positionen mit- Plötzlich höre ich die Stimmen der Treiber und der teilen konnte. Jäger nicht mehr. Die vereinzelten Rufe bleiben aus.
Als seine Söhne, Gero und Bogislav, größer wurden, Ich bin in einem Gestrüpp gelandet, vor oder zurück, machten sie sich einen Spaß daraus, Papas Krücke beides kann falsch sein. Aber da sehe ich, vor mir ist am Sonntagmorgen aus dem Schlafzimmer zu tragen es weniger dicht. Ich mache mich ganz klein und gehe und zu verstecken. Dann lauschten sie an der Tür und unter den untersten Zweigen hindurch. Mit meinem freuten sich, wenn sie ihn irgendwann fluchen hörten. Ast, den ich sonst an die Stämme schlage, drücke ich alles zur Seite und richte mich schließlich wieder Ich bin als Sohn eines geladenen Gastes sogenannter auf und stehe auf einer Lichtung. Komisch, hier ist Ehrentreiber. Stehe am Anfang bei den Jungen und kein Schnee. Hier ist es ganz trocken, und fast ist das Mädchen aus dem Dorf, und wir halten Stöcke in den niedere Gras verdorrt. Ist es nicht sogar an manchen Händen. Die sind zuvor geschnitten und dann an uns Stellen angebrannt? Treiber verteilt worden. Damit schlagen wir auf die Baumstämme und rufen: „Hoss, Hoss, Hoss, Hoss!“ Als wäre hier eine andere Jahreszeit. Mir scheint auch, die Wiese ist ganz rund. Da ist ein Licht über mir, ich Dann fliehen die Hasen und Kaninchen, die Fasane wage nicht hinaufzuschauen. und Wildenten aus ihren Verstecken im Wald, im Erlenbruch oder in der Ackerfurche. Es folgt meist ein Ich weiß, sie sind wieder da, in meiner Nähe, sie Schuss, oft ein zweiter, dann Stille, gedämpfte Rufe, passen auf. die die Hunde zum Apportieren auffordern: „Bringverlornapport!“ Und schließlich folgt das Lob des Ein Schuss ganz in der Nähe, ich gehe den gleichen Jagdhundes. Weg zurück, den ich hergekommen bin. Mein Papa steht da oben, er hat mit dem Schrotgewehr in den Der erfolgreiche Jäger steht hinter seiner Atemwol- Himmel geschossen, es war ein gedämpfter Knall, ich ke in der klirrenden Morgenkälte, der Reif funkelt renne auf einen Vogel zu, der wenige Meter vor mir auf auf den schwarzen Ästen, stumme Anerkennung der dem Boden flattert. Ich knie nieder, eine Wildtaube, Treiber, der Jäger nimmt seinem Hund das tote Tier sie ist ganz weiß. Ich hebe sie vom Acker auf und will aus dem Maul, dabei redet er lobend auf ihn ein, damit sie meinem Vater bringen. Ein kleiner roter zähflüsdieser die Beute abgibt, oft hängt er die Jagdbeute au- siger Tropfen dringt durch ihre Brustfedern, ihre ßen an den grünen Rucksack, an einen kurzen roten Augen sehen mich direkt an. So komisch milchig-blau Lederstrick, der Galgen heißt, und stapft dann weiter. sind sie. Und dann schließen sich die Augenlider.
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Und mit der aufkommenden Dämmerung ist die Jagd vorbei, man kehrt auf den Gutshof zurück, und die Strecke wird verlegt. Vor dem Herrenhaus liegen die Tiere geordnet am Boden, die Hunde bekommen ihren Anteil oder Cuvée, sie jaulen wieder mit, als die Hörner blasen: „Jagd vorbei!“, und der Jagdherr zählt auf, was geschossen wurde:
Der Tag endet im Herrenhaus, wohin zum Jagdessen mit Frauen gebeten wurde, tatsächlich, auch einige Ehefrauen tauchen jetzt auf, es wird mit Rotwein angestoßen, Reden werden gehalten, das Jagdglück diskutiert. Man überbietet sich in der Schilderung von kühnen und kuriosen Abenteuern, von Jagdreisen nach Afrika oder Alaska. Oder ins Jagdrevier von Tito.
Mein Vater sitzt in einem gelben Stoffsessel, Ich lasse „Liebe Jagdfreunde, noch einmal herzlich willkom- mich auf der Lehne nieder, die anderen Treiber sind men. Es sind noch alle da, es ist niemand verletzt, nicht mehr dabei, und höre in dem Stimmengewirr nur niemand verloren gegangen? Oder fehlt jemand?“ einzelne Satzfetzen, unverständlich in der Jägersprache: Man lacht. „Nein, niemand meldet sich, also wunderbar. Bei angenehmen 4 Grad unter Null hatten „Fiel im Knall ... zielte genau auf den Träger ... war doch wir heute kein Tauwetter, gute Spuren im Gelände, ne Krickente... ich hatte schon hochgezogen, aber ... es war eine Drückjagd auf Niederwild, wie wir sie mein Jagdnachbar stand zu nah, das war mir zu rislange nicht mehr hatten. Auf Hasen, Fasane, Wild- kant ... wäre unter Umständen ins Nachbarrevier abenten, Wildtauben, Karnickel, Rebhühner. Aber gegangen, und dann die Nachsuche im Dunkeln ...“ auch Kreaturen wurden geschossen, ich sehe hier also Marder und eine Wildkatze liegen, zwei Krähen Blanke Läufe hatte jemand, der gar nicht zum Schuss und, was mich freut, drei Elstern - also wirklich, ihr gekommen war. wisst das alle aus euren Revieren und Forsten, was großen Schaden anrichten kann, die Eier werden Man verabredet sich übernächstes Wochenende zum in den Nestern zerstört, Jungtiere totgebissen, es Tontaubenschießen in Waterneversdorf. Das Feuer kommt an Nachwuchs nichts im Revier hoch, weder im Kamin kracht, diesmal ist mein Vater Jagdkönig bei den Singvögeln noch dem Niederwild, weil wir geworden. Es scheint ihm gar nicht so wichtig zu sein, dort diese immer hungrigen Räuber haben. Am Fluss ich bin überrascht. und See ist es der Kormoran, der die Fischbestände gefährdet. Ihr wisst das! Ich glaube, jeder kam heute Meine Mutter findet das alles scheußlich. Sie will die mehrmals zu Schuss und was mir gemeldet wurde, Gehörne und Geweihe nicht an den Wänden haben, ist nun Folgendes...“, und Tessen angelt mit seinem nennt sie Totenschädel. Von dem Kreis, unter dem der einen Arm nach der Brille und verliest die Strecke, Schnee geschmolzen war, erzähle ich ihr aber nichts. nennt den Jagdkönig. Die Cumberlandsoße, die Onkel Tessen so lobt, geht Ich hatte mich hineingefunden in diese Treibjagden so: Man verrührt Johannesbeergelee mit Senf. Schon mit meinem Vater, in die wortkarge Gemeinschaft fast fertig. mit den anderen aus dem Dorf und vom Hof. Die klirrende Kälte, die nicht klirrte, aber knirschte bei je- Wer es genauer will: Portwein, Orangenschalen reindem Schritt, der wache Blick meines Vaters, da ist das gerieben, ganz wenig kleinstgehackte Schalotte einGlück in seinem Gesicht, ich staune, ihn in seiner Welt geköchelt, Orangen- oder Zitronensaft dazu. Wird zu zu erleben. kaltem Braten oder Wild gereicht.
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Axel Milberg Düsternbrook Roman 224 Seiten Hardcover mit Schutzumschlag 22,00 € (D) 22,70 € (A) ISBN 978-3-492-05948-0 Erscheint am 1. März 2019 Auch als Hörbuch zum 1. März 2019 über Osterwoldaudio erhältlich Bestellen Sie Ihr digitales Leseexemplar zum Erscheinungstermin auf www.piper.de/leseexemplare … oder schreiben Sie eine E-Mail an: sales_reader@piper.de (Buchhändler) press_reader@piper.de (Presse)
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Mein Zimmer im Haus des Krieges der piper reader | janina findeisen
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Die folgende Geschichte hat uns alle hier im Verlag tief beeindruckt, deshalb war sofort klar, dass wir dieses Buch unbedingt bei Piper veröffentlichen müssen: Die Journalistin Janina Findeisen wird 2015 in Syrien gekidnappt und 351 Tage gefangen gehalten. Sie war nach Syrien gereist, um ihre zum Islam konvertierte Schulfreundin zu treffen und zu verstehen, wie es zu deren Radikalisierung kam. Im Vertrauen auf eine Sicherheitsgarantie macht sich die Reporterin, die ihr erstes Kind erwartet, auf den Weg, über die türkisch-syrische Grenze, hinein in das vom Krieg erschütterte Land. Kurz nach dem Treffen mit ihrer Freundin wird sie entführt und verbringt die nächsten Monate an unterschiedlichen Orten, in unterschiedliche Zimmer eingesperrt, von bewaffneten Männern bewacht. In einem dieser Zimmer bringt sie ihr Kind zur Welt. Das Buch erzählt von 351 Tagen im Krieg, von Janina Findeisens Überlebenswillen, schier unglaublichem Mut und innerem Widerstand, vom Überleben in Isolationshaft und den ersten Monaten ihres Sohnes in Gefangenschaft, schließlich von der Befreiung. Es ist eine Geschichte von Hoffnung, Freundschaft und Liebe, von tiefer Verzweiflung und Angst. Darüber hinaus wird dieses Buch aber auch eine Reise in unsere deutsche Gegenwart und erzählt von jungen Menschen aus unserer Mitte, die sich dem Dschihad angeschlossen haben. Janina Findeisen recherchiert seit Jahren in diesem Bereich und veröffentlichte zahlreiche Berichte und Reportagen zum Thema.
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J A N I N A F I N D E I S E N · MEIN ZIMMER IM HAUS DES KRIEGES
Als ich Janina das erste Mal in Berlin treffe, begegne ich einer selbstbewussten jungen Frau, die mich mit ihrer großen Offenheit und Stärke beeindruckt. Aber es wird im Laufe unserer vielen Treffen und unserer Gespräche über das Buch und ihre Erlebnisse auch klar, warum sie ihr Leben in ein Davor und Danach einteilt. Eine Entführung macht vollkommen machtlos, und natürlich haderte sie immer wieder mit der Entscheidung, sich und sein Kind einer solchen Gefahr ausgesetzt zu haben. Janina Findeisen geht alle diese Fragen sehr direkt und ohne Scheu vor den Antworten an, das macht ihre Erzählstimme und ihren Text so besonders. Und es wird deutlich: Sie ist nicht gebrochen worden – aber ihr Blick auf unser Leben in Deutschland, auf die aktuellen Entwicklungen ist nun ein völlig anderer. Es geht in ihrem Buch auch um den Verlust einer Freundin, der Person, mit der Janina Findeisen aufgewachsen ist, der sie vertraut hat und mit der sie die ersten Schritte ins Erwachsenenleben unternommen hat. Wenn man so jemanden verliert, sich dieser Mensch nicht nur von den eigenen Lebenseinstellungen völlig entfernt, sondern schlichtweg von der Bildfläche verschwindet, dann ist verständlich, warum Janina Findeisen versuchte, wieder Kontakt zu ihrer Freundin herzustellen. In ihrem Buch erzählt sie, welch hohen Preis sie dafür bezahlen musste.
Programmleitung Sachbuch
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Safehouse in Antakya 3. Oktober 2015, Antakya, Süd-Türkei
L schreibt mir per E-Mail: »Die Fahrt bis zur Grenze ist komplett sicher. Habe noch nie gehört, dass da was passiert ist. Da du auch keine dschihadistische Kämpferin bist, droht dir im schlimmsten Fall, dass du zurückgeschickt wirst. Beim Grenzübergang gibt es verschiedene Arten, je nachdem, was gerade offen ist. Für Muslime, die Arabisch sprechen, gibt es sogar die Möglichkeit, offiziell durchzufahren. Dann gibt es Grenzübergänge, die eigentlich nicht offiziell sind, aber die Polizisten erhalten Schmiergeld und lassen einen durch. Und es gibt Wege mit ca. zwanzig Minuten Fußweg. Deshalb immer festes Schuhwerk dabei haben.« Sie versucht mich zu ermutigen: »Wenn du die Grenze überquert hast, ist es gar nicht mehr gefährlich, außer natürlich, dass du dich im Kriegsgebiet befindest. Aber Polizei ist hier natürlich keine. Entweder ich bin dabei, wenn du abgeholt wirst auf unserer Seite, oder du wirst zu mir gebracht.« Sie beschreibt die Situation vor Ort: »Auf den Wegen gibt’s alle paar
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Kilometer Grenzposten. Keine Panik, die gucken immer nur kurz ins Auto oder winken einen sogar direkt durch, wenn sie den Fahrer kennen. Der Bruder, der dich fahren wird, ist vertrauenswürdig. Da musst du dir keine Gedanken machen. Was vor Ort passieren kann, siehst du nahezu täglich im Fernsehen, aber wie gesagt, die Brüder sind sehr vorsichtig in Bezug auf die Muhajereen-Frauen (Anmerkung: Arabisch die »Auswanderer«) und bringen sie immer zu den sichersten Orten.« Und weiter: »Aber du bist eine Frau. Du bist draußen hier bedeckt, die Leute werden sich gar nicht um dich kümmern. Wären wir auf der Seite von ISIS, wäre das eine andere Sache.« Sie spricht auch über die Ausreise: »Rein- oder rauskommen ist kein großer Unterschied. Und täglich bewegen sich Leute. Wenn du reingekommen bist, sehe ich keine große Gefahr mehr. Risiko einer Bombardierung ist immer gegeben, wird aber gering gehalten. Und ich hab’s ja immerhin sechseinhalb Jahre durchgehalten ...«
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Die Wohnung, zu der wir fahren, gehört W Schwager. Er heißt S . Die Wohnung befindet sich im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses, das ein wenig außerhalb vom Stadtzentrum Antakyas in einer Seitengasse neben dem größten Krankenhaus der Stadt liegt. Das Haus ist weiß und hat eine braune massive Holztür. Es besteht aus drei Stockwerken jeweils mit Balkon. Im linken Nebenhaus ist eine Bäckerei, in der es ab dem frühen Morgen nach frisch gebackenem Brot duftet, im anderen Nachbarhaus an Ich bin gemeinsam mit meinem Kamerateam von Is- der Ecke ist ein Restaurant mit weißen Plastikstühtanbul aus nach Antakya geflogen. Hier soll der Schleu- len und roten Tischdecken, wo gegrilltes Fleisch und ser mich abholen, der mich nach Nordsyrien bringen Linsensuppe angeboten werden. Gegenüber liegt ein wird. Plötzlich klingelt mein Telefon. Ein Typ meldete türkisches Regierungsgebäude. In dieser Nacht sind sich auf meinem türkischen Telefon, dessen Nummer die Sirenen eines Krankenwagens zu hören, der einen per E-Mail geschickt hatte. Er spricht Notfall einliefert. Sonst ist die Nacht ruhig in Antakya. ich nur L sehr gutes Deutsch mit leicht französischem Akzent, ein Relikt aus der Kolonialzeit. »Der Schleuser ist in Seit drei Tagen bin ich im Safehouse. Ich warte auf Antakya«, sagt er mit fester Stimme. Mein Herz rast. die Einreise nach Syrien. Zwei Nächte habe ich schon Ich bin angespannt. L reiste im Frühjahr 2009 nach auf der Couch im Wohnzimmer verbracht. Ich konnte Waziristan. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. kaum schlafen, habe mich unruhig hin und her Es rauscht in der Leitung. »Komm zum großen Kran- gewälzt, kam nicht zur Ruhe, die Gedanken ratterten kenhaus in Antakya«, fährt der Anrufer fort. Das Team ununterbrochen in meinem Kopf. Es ist Nachmittag, bleibt im Hotel, und draußen ist es heiß, hier drinnen surrt der Ventilator vor sich hin. Ich solle mich nicht am Fenster Ich mache mich auf den Weg zum Krankenhaus, dort blicken lassen, das könnte die Nachbarn misstrautreffe ich das erste Mal den Schleuser. Sein Name ist isch machen, ermahnt mich S . »Nicht mal zum W .L hat den Kontakt zu ihm hergestellt. Er ist Wäsche aufhängen. Nur mit Niqab, sonst stellen sie groß und hager, hat ein ovales Gesicht und trägt sei- Fragen«, ergänzt er. Ich ziehe vorsichtig die weiße ne Haare mittellang, sodass seine dunklen Locken zu Gardine zur Seite und schaue auf die Straße. Dort sehen sind, die er mit Gel frisiert hat. Seine braunen spielen Kinder mit einem roten Fußball. Eine NachAugen wirken freundlich, wenn er spricht. Er trägt barin sitzt auf dem Balkon im Nachbarhaus und ein schwarzes T-Shirt und blaue Jeans. Immer wenn schält Kartoffeln. Hier ist zwar noch kein Krieg, aber W lächelt, und das tut er oft, sieht man seine wei- die heile Welt hat doch schon erste Risse. ßen Zahnreihen blitzen, sein linker Eckzahn steht etwas zurückversetzt. Er hat wohl keine Zahnspange Als ich ins Wohnzimmer komme, spielt der Junge mit getragen, denke ich – anders als L und ich. W einem Tablet-Computer. Alles scheint normal zu sein, und ich gehen zu einem Taxi. Der Taxifahrer, der uns beinahe westlich. Bei S und seiner Frau steht ein von dem Krankenhaus zum Safehouse bringt, erzählt Fernseher im Wohnzimmer, er läuft häufig im Hinuns, dass die Benzinpreise immer weiter gestiegen sind. tergrund. S Frau heißt F . Sie kocht, bringt mir Essen. Wir essen Hummus, Hühnchen, Salat, BaEr schaut uns misstrauisch im Rückspiegel an, als W klava, gebackene klebrig-zuckrige Teigkringel, zum nicht auf Türkisch, sondern auf Arabisch antwortet. Nachtisch. Die beiden haben einen kleinen Sohn, der Ich schaue aus dem Fenster, Antakya zieht vorüber. M heißt, er ist sechs Jahre alt. Während ich das lese, denke ich an die Zeit zurück, als wir zusammen in der Grundschule waren. Dann geht es um die Sicherheitsgarantie: »Eine Garantie, dass dir nichts angetan wird und du bestens behandelt wirst, habe ich schon von den Brüdern bekommen. Somit hast du auch eine mündliche Garantie über mich von ihnen. Wirklich krass verfeindete Gruppen gibt’s hier nicht. Entgegenkommen in die Türkei kann ich dir natürlich nicht.«
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Er hat lockige, schwarze Haare und große Kulleraugen. Freudig lacht er mich an und scheint sich über Besuch zu freuen. Er erzählt mir stundenlang etwas auf Arabisch und schaltet zwischendurch grinsend mit der Fernbedienung durch die Programme. Der Sender Al-Quds erscheint auf dem Bildschirm, Männer in Kampfmontur laufen durch das Bild. Dann arabische Nachrichten auf Al Jazeera. M schaltet weiter bis zu einem Cartoon: Tom und Jerry, Arabisch synchronisiert. Er kichert, als die Maus vor der Katze wegläuft und sie austrickst.
von ihrer Angst während des Bombenhagels. »Wir sind aus Latakya geflohen, das liegt im Westen Syriens am Mittelmeer, wegen der Bomben von Assad. Unser ganzes Viertel, in dem wir geboren sind und gelebt haben, wurde dem Erdboden gleichgemacht.« Aus ihrem Blick spricht eine tiefe Traurigkeit. »Bumbum-bum«, mit ihrer Hand imitiert sie die fallenden Bomben und deren Einschlag. Ich glaube für einen Moment die Angst in ihrem Blick zu sehen, die sie damals empfunden hat. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Auch M sei ganz verängstigt gewesen, fügt sie hinzu. Beide seien in der Türkei traut sich erst nach einiger Zeit auf Englisch mit wegen ihres Traumas behandelt worden. »Geh nicht F mir zu reden. Zuerst sagt sie nur ein paar Worte, aber nach Syrien, es ist zu gefährlich«, rät sie mir. Ich windann kommt sie ins Erzählen. Sie spricht besser Eng- ke ab. »Ich habe eine Sicherheitsgarantie von meiner lisch als ihr Bruder und ihr Mann. »Antakya ist ein Freundin«, entgegne ich ihr. »Geh nicht«, wiederholt sehr alter Ort«, erklärt sie mir. »Hier wurde bereits sie ihre Worte, die eine Mischung aus Rat und Bitte im 4. Jahrtausend vor Christus Handel betrieben. In sind, dabei schaut sie mich mit ihren weit aufgerisseder Bronzezeit lag in der Nähe das Handelszentrum nen braunen Augen an. Alalach. Und an dieser Stelle trafen sich die Handelsstraßen von Aleppo, Mesopotamien und Palästina In mir steht alles auf Autopilot. Die Station im Safehouse nach Anatolien, die dann weiter Richtung Mittelmeer ist wie die Ruhe vor dem Sturm. Ich schreibe in mein führten. Durch den Fluss Orontes war die Stadt direkt schwarzes Tagebuch, das ich mir einige Wochen vormit dem Mittelmeer verbunden. In der Antike befand her gekauft habe: »Die Einreise nach Syrien steht kurz an einer Straßenecke in Ansich an gleicher Stelle die Metropole Antiochia, wie bevor. Habe mich von N die Stadt lange genannt wurde.« Sie wischt sich mit takya verabschiedet. Dann habe ich ein Taxi genommen, ihrer kleinen Hand eine Strähne aus dem Gesicht. um den Schleuser zu treffen. Er hat mich zum Haus seihat langes braunes Haar. In der Wohnung trägt nes Schwagers gebracht. Ich soll mich nicht mehr in der F sie weder Kopftuch noch Niqab. Sie hat dünnes Haar Stadt bewegen. Zu gefährlich. W und ich sind zum am Ansatz, das fällt mir auf. Basar in Antakya gefahren. W ist ein freundlicher Typ. Und doch habe ich schreckliche Angst.« »Was ist dein Beruf?«, will ich wissen. »In Syrien bin ich Koranlehrerin für Kinder gewesen«, erzählt S bedeutet auf Arabisch »der Glückliche«. Sein sie. Ich bin überrascht, dass sie einen so religiösen Name passt zu ihm: Wenn er lacht, steht sein großer Beruf hatte. Sie erzählt, dass sie hier in der Türkei Mund weit offen, und sein ganzes Gesicht formt sich nicht allein rausgehe, nur mit einem zu einem freundlichen Smiley. Er hat diese Art von männlichen Begleiter wie ihrem Mann oder Bruder. Lachen, die für andere ansteckend ist. Er hat eine Sie fühle sich nicht wohl. Es gefalle ihr hier nicht, sagt untersetzte Statur, eine Halbglatze, dazu trägt er sie. Aber in Syrien habe die Familie nicht mehr sicher einen leicht gestutzten schwarzen Vollbart. Mit dem leben können. Sie schaut zu Boden, ich sehe, wie sie rechten Bein humpelt er. S und ich sitzen bei sich eine Träne von der Wange wischt. Abends, als süßem Schwarztee zusammen und essen frittierte Mohammed schläft und wir allein auf dem weich ge- Teigrollen. Plötzlich schaut er mich ernst an und polsterten Sofa mit Blumenmuster in ihrem Wohn- richtet sich auf dem Sofa vor mir auf. »Ich habe jezimmer sitzen, erzählt sie vom Krieg in Syrien und den Tag starke Schmerzen. Besonders schlimm ist es
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des weißen klapprigen Toyota-Kombis. Wir steigen ein und fahren durch Antakya. Es ist eine moderne Stadt mit über 200 000 Einwohnern. Die Temperaturen sind Anfang Oktober mild im südlichsten Zipfel der Türkei, was gleichzeitig auch der südlichste Zipfel der Zivilisation, wie wir sie kennen, ist: ShoppingMalls, Frauen in kurzen Röcken und mit tiefem Ausschnitt, Polizei, Militär, Krankenhäuser, Latte macchiato und alles andere, was wir unter modernem oder westlichem Lebensstil verstehen. Aber auch Moscheen, Frauen im Niqab, es gibt Knaefe, die palästinensische Nachspeise aus Teigfäden und Zucker, und natürlich türkischen Kaffee. Auf den ersten Blick wirkt die Universitätsstadt in der südtürkischen Provinz Hatay westlich orientiert, und sie kommt harmlos daher. Das ist jedoch nur der oberflächliche Eindruck. Darunter verläuft ein ganzes Netzwerk von illegalem Grenzverkehr, Import und Export von Waffen, Personen und Gütern. Das ganze Programm. Menschen und Erdöl werden ausgeführt, offiziell nur Lebensmittel und Medikamente eingeführt. Seit dem Beginn des Kriegs kamen zu der Bevölkerung zehntausende von syrischen Flüchtlingen hinzu. Sie präFahrt zur syrischen Grenze gen das Straßenbild im Süden der Türkei, nahe der Grenze. Sie arbeiten in Restaurants, sitzen in den Am Nachmittag kommt W zurück, es herrscht Fußgängerzonen und betteln, sie stehen in den KranAufregung in der Wohnung. Endlich soll es einen Weg kenhäusern Schlange. Sie sind ein Teil der Türkei geüber die Grenze geben, eine Möglichkeit, nach Syrien worden, aber sie werden als Menschen zweiter Klasse zu reisen, anders als in den letzten beiden Tagen. Im- behandelt. Sie sind hilflos, mittellos, gestrandet, und mer wieder spricht W von einem Tarik, Arabisch manche betteln, viele arbeiten im Untergrund. Sie für »Weg«. F läuft hektisch durch die Wohnung. leben in Armut. Es sind Kriegsverletzte, körperlich Dann näht sie noch zwei Knöpfe am Ärmel meines und seelisch. quadratmetergroßen Überwurfs an, damit ich die Kutte, die sie zuvor gewaschen hat, am Handgelenk Die Provinz Hatay hat eine enge Verbindung zu Syrien befestigen kann. Rasch packe ich meine letzten behalten. Seit der Gründung der Türkei durch AtaSachen zusammen. »Wohin fahren wir?«, frage ich türk ist Hatay von Syrien getrennt. Sie behielt jedoch W . »Nach Al Dana«, antwortet er mir. »Im Nord- einen Sonderstatus innerhalb des Waren- und Grenzwesten von Idlib.« verkehrs. So gibt es in der Region elf Grenzübergänge, zum Teil für Personen und Fahrzeuge, zum Teil sind Ich ziehe alles zurecht, schaue in den Spiegel, zupfe, es Eisenbahnübergänge. Die Grenze verläuft entlang schaue erneut in den Spiegel. Der Niqab ist recht der alten Strecke der Bagdadbahn, die zwischen 1903 schwierig zu tragen für eine Anfängerin wie mich. bis 1918 gebaut wurde. Sie führte durch das damalige Wir gehen die Treppe hinunter und verlassen das Osmanische Reich von Konya, das auf dem heutigen Haus. W packt meine Tasche in den Kofferraum Gebiet der Türkei liegt, bis nach Bagdad im Irak. morgens, nach dem Aufstehen«, sein Gesicht ist dabei schmerzverzerrt. Er hebt vorsichtig sein T-Shirt hoch und zeigt mir seinen Rücken. Lange tiefe Narben sind dort zu sehen. »In Syrien hat mich eine Bombe erwischt. Was du siehst, sind die Reste der Granatsplitter, die sie mir herausoperiert haben«, erklärt er mir. Aber es sei immer noch nicht besser geworden. »Die medizinische Versorgung hier ist zwar besser als in Syrien, aber sie konnten mir in der Türkei auch nicht helfen. Ich habe immer noch starke Schmerzen, deshalb humpele ich auch.« Er hält kurz inne, dann atmet er tief ein und fährt fort: »Kannst du uns helfen, nach Deutschland zu kommen? Wir wollen unbedingt nach Deutschland. Dort habt ihr doch so gute Ärzte, und die können mir vielleicht helfen«, er schaut mich dabei fast flehend an. Ich überlege, wie ich ihm helfen kann. »Ich werde es versuchen, sobald ich aus Syrien zurück bin«, antworte ich ihm. Ich gebe ihm meine E-Mail-Adresse. Für alle Fälle. Er solle sich bei mir melden, wenn ich zurück bin und falls wir uns nicht mehr sehen.
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Plötzlich hält ein Auto links neben unserem Wagen, zwei bärtige Männer steigen aus. Das müssen die Schleuser sein. Die beiden sprechen mit W Arabisch und untereinander Türkisch. Sie wirken bereits auf den ersten Blick eher wie Gangster und nicht wie Islamisten. Zwei muskulöse Typen. Der Kräftigere von beiden trägt ein weißes Muskelshirt, und auf seinem rechten Oberarm ist ein Adler eintätowiert, der seine Schwingen ausbreitet. Der andere hat Jogginghosen an, er ist etwas schmaler, aber trägt dafür eine umso größere goldene Kette um den Hals. Zwei zwielichtige Gestalten, aber wie stellt man sich schon den letzten Schleuser vor der Grenze vor? Als ich fragen will, wann wir über die Grenze gehen, F unterbricht sie mich. »Tschhhhh«, zischt sie. »Jetzt kein Wort mehr«, sagt sie zu mir und presst den Zeigefinger vor ihren Mund, über dem der schwarze Stoff ihres Gesichtsschleiers hängt. Redeverbot für Obwohl wir Oktober haben, ist es immer noch so mich. Sonst fliegt meine Tarnung sofort auf. Von der heiß wie in Deutschland nur an manchen Tagen im kleinen Tankstelle kommt einer der Schleuser mit Hochsommer. Wir kommen zu einer abgewrack- zwei Flaschen gekühltem Heineken zum Auto zurück. ten Tankstelle irgendwo im Nirgendwo, dem ver- Dschihadisten, die ein kühles Bier am Nachmittag abredeten Treffpunkt mit den türkisch-syrischen trinken und eine Zigarette nach der anderen rauchen? und S steigen aus dem Wagen Eher unwahrscheinlich. Schleusern. W und gehen hinüber zur Tankstelle. Sie kommen mit Wasser, Cola, Plastikbechern und Schokoriegeln zu- Wir folgen dem Wagen der beiden Schleuser. Sie wohnen rück. Wir essen und trinken. Hin und wieder fährt in einem kleinen Dorf direkt an der Grenze zu Syrien. ein Auto vorbei. Sonst passiert nichts. Schließlich Auf einem Straßenschild am Eingang steht: Cilvegözü. beginnt W zu beten. Er schließt die Augen und Es liegt in einer bergigen Region, umgeben von grünen murmelt leise eine Sure vor sich hin. Ich denke über Wäldern, der Grenzturm ist in Sichtweite. Hoch oben seine Absicht nach. Seine wahre Absicht. Irgendwie auf einem Berg weht die türkische Flagge in der Sonne. beruhigt es mich, dass er betet. Das bedeutet, dass Der weiße Halbmond mit dem Stern, der »Mondstern« er sich an Regeln hält, wenigstens an islamische Re- wie er auf Türkisch heißt, auf rotem Hintergrund. Es geln. Besser, als wenn er nicht beten würde, denke ist ein verschlafenes Dorf. Einige ältere Leute sitzen in ich bei mir. der Mittagshitze im Schatten einer Markise vor ihren Geschäften. Dort werden Lebensmittel und andere Ich schaue aus dem Fenster des Autos, dort ist direkt Dinge des täglichen Bedarfs verkauft. Orangen, Wasneben der Tankstelle ein Olivenhain. Ein Falke stürzt sermelonen, Äpfel sowie Tomaten, Gurken und Spinat darüber und beobachtet seine Beute. Vielleicht eine liegen in der Auslage, und mehrere große Säcke mit Maus oder einen kleineren Vogel. Der Falke fliegt Kartoffeln stehen daneben. Es sind keine Fußgänger plötzlich aus der Höhe im rasanten Sturzflug hinab. unterwegs, die Bürgersteige wie leer gefegt. Kinder Für einen Augenblick verschwindet er zwischen den spielen Ball auf einem Platz neben der Straße. Bei jeOlivenbäumen. Kurze Zeit später taucht er wieder auf, dem ihrer Schritte wird Staub aufgewirbelt, der in der mit einer Maus im Schnabel fliegt er hastig davon. Nachmittagssonne glitzert und zu Boden fällt.
Der Wagen rollt durch ein paar ruhige Seitenstraßen in Richtung Rehanli, der türkischen Region nahe der syrischen Grenze. Neben mir auf der Rückbank sitzt F mit M auf dem Schoß. W sitzt auf dem Beifahrersitz. Wir fahren nach Osten in Richtung syrisches Grenzgebiet, durch Antakya hindurch, hinaus auf die Ausfallsstraße. Wir nehmen die kleinen Schleichwege, nicht die großen offiziellen Straßen. An einer Ecke sitzt ein alter Mann auf einer Bank, er trägt einen braunen Hut und stützt sich auf einen Stock auf. In seiner Hand hält er eine Gebetskette. Wir bewegen uns jetzt auf einer staubigen Landstraße, die Sonne brennt. Tagsüber klettern die Temperaturen noch auf über 30 Grad Celsius. F fächert sich mit einem Papier Luft zu. Andere Autos überholen uns mit höherem Tempo. Ortsschilder auf Türkisch ziehen vorbei. Auf einem lese ich: Besasla.
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Um keinerlei Verdacht zu wecken, steigen W und ich aus dem Auto seines Schwagers und nehmen für einige Stationen einen Minibus, ich als seine Frau oder seine Schwester verkleidet. Als wir einsteigen, sitzen dort schon einige Leute. Andere Frauen mit Kopftüchern, Taschen und Kindern. Aber ich bin die einzige vollverschleierte Frau. Einige halbstarke Jugendliche mit Smartphones kommen herein. Nach und nach füllt sich der Bus. Ein älteres Ehepaar und einige Männer mit gestutztem Bart steigen ein, einer von ihnen trägt mehrere Einkaufstüten mit Lebensmitteln. Schließlich ist der Wagen fast bis auf den letzten Platz besetzt. Wir verlassen den Parkplatz,
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Unser Auto hält neben einem kleinen weißen Haus mit Vorgarten. Ein paar Kinder huschen neben unserem Wagen vorbei, schauen neugierig durch die Scheibe hinein. Die Männer stehen auf der Veranda und diskutieren. F , ihr Sohn und ich warten auf der Rückbank im Wagen. Die beiden Schleuser versuchen einen Weg zu finden, aber es scheint Probleme zu geben. Wir sollen am Abend wiederkommen, wenn es dunkel ist, das sei sicherer, raten die Männer uns. W und sein Schwager steigen wieder in den Wagen. Was für ein verschlafenes Örtchen das ist, denke ich noch, während wir uns schon auf dem Rückweg durch das Dorf befinden, doch dann versperrt ein grüner Militärpanzer die Straße. Die Luke des Fahrzeugs ist aufgeklappt, und der Oberkörper eines Soldaten in olivgrüner Uniform schaut heraus. Er trägt sein Maschinengewehr im Anschlag und blickt sich grimmig um. In diesem Moment wird klar, dass die Türkei die Grenze zu Syrien im Blick hat, und niemand einfach hindurchschlüpfen kann. Egal auf welchem Schleichweg oder zu welcher Tages- oder Nachtzeit parkt den alten man es auch immer versucht. S Wagen am Rand der Straße einige Meter weiter. Die beiden diskutieren. W steigt aus, kommt nach ein paar Minuten wieder. Wir sollen den Bus nehmen, entscheiden sie. Eine Kontrolle würde uns sofort auffliegen lassen. Es scheint ihnen zu riskant zu sein, bei Tag im Grenzgebiet. Die Soldaten kontrollieren Autos, Personen, Lastwagen und Fußgänger. Vor allem Fremde fallen in diesem Nest auf.
und der Minibus setzt sich in Bewegung. Nach rund 15 Minuten steigen wir an einer Haltestelle an der Schnellstraße aus. Wir warten einige Minuten in der gleißenden Nachmittagshitze, dann stoppt S Wagen neben uns. W öffnet die Tür, und ich setze mich auf die Rückbank. Der erste Anlauf, bei Tag nach Syrien einzureisen, hat nicht funktioniert. Wir brechen ab und fahren zurück in Richtung Antakya. Doch anstatt direkt zurück zur Wohnung zu fahren, wollen die anderen unbedingt zum Einkaufszentrum. Antakya hat zwei davon. Es gibt eine Etage voller Restaurants, in denen Alkohol ausgeschenkt wird. In wenigen muslimischen Ländern gibt es so ein offenes Nebeneinander von Religion und Alkohol wie in der Türkei. Ich schwitze unter der muslimischen Kluft, kann kaum Luft holen. Trotz Klimaanlage bin ich schweißgebadet. Ich gehe auf die Toilette, schließe die Tür meiner Kabine und reiße mir hastig den nassen Nylonstoff vom Gesicht, dann atme ich tief durch. Wie machen das die konservativen muslimischen Frauen nur auf Dauer? Nachdem ich die Toilette verlassen habe, irre ich noch im Einkaufszentrum umher. Wir essen Fruchtstücke mit Schokoladensoße. Eine logistische Herausforderung. Ich hantiere umständlich mit dem Niqab und der tropfenden Soße herum. Anschließend fahren wir mit dem Wagen zur Wohnung von S und seiner Frau zurück. Dort warten wir bis zum späten Abend. Es ist schnell Nacht geworden in Antakya. Plötzlich stürmt W ins Wohnzimmer und ruft: »Der Weg ist offen. Heute Nacht gibt es eine Möglichkeit, nach Syrien einzureisen.« Jetzt wird es ernst, das spüre ich. Die Fahrt am Nachmittag zur Grenze scheint wie eine Generalprobe gewesen zu sein. Mein Magen knurrt. Ich habe am Abend vor Aufregung kaum etwas gegessen. Mir ist mulmig zumute. Ich streife den Niqab über, schaue noch ein letztes
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Mal in den Spiegel. Vergewissere mich, ob meine islamische Kleidung richtig sitzt. Dann winkt mir W zu, ich solle kommen. W lächelt mich an. »Es ist alles fertig. Bist du bereit?« Ich nicke, aber bin ich wirklich bereit? Ich hadere mit mir. Dann gebe ich mir einen Ruck, stehe auf und nehme meine Tasche. Hastig dreht er sich zu mir um und wirft mir einen prüfenden Blick zu, indem er mich von oben bis unten mustert. Dann schüttelt er den Kopf. »Dein Gesicht musst du noch bedecken«, ermahnt er mich. Das hatte ich vollkommen vergessen. Ich streife mir den Schleier über. Es wird alles schwarz den Stoff zuvor meinen Augen, dann zupft W recht, und ich blicke durch einen schmalen Schlitz in die Welt. Draußen ist alles dunkel. S sitzt bereits im Auto und nickt mir zu, als ich einsteige. Er dreht den Zündschlüssel um. Der Motor heult auf, und das Auto setzt sich langsam in Bewegung. S lenkt den Wagen durch die leeren Straßen und dann weiter durch verlassene Gassen. Bei Nacht haben die meisten Geschäfte in Antakya die Rollläden heruntergelassen. An einer Tankstelle halten wir. An der Zapfsäule neben uns stoppt ein Polizist auf einem Motorrad. Er schaut kurz zu uns herüber. Wird er uns kontrollieren? Findet der Polizist die nächtliche Reisegruppe so nahe der Grenze auffällig? Zwei Frauen komplett verhüllt, ein Kind, zwei Männer. Anscheinend nicht. Der Polizist tankt ebenfalls und ist mit seinem Tankdeckel statt mit uns beschäftigt. S zahlt, dann startet er den Motor. Die Fahrt geht weiter. Der Wagen klappert, als wir über den Kiesweg auf die Schnellstraße fahren. Wir sind bereits außerhalb von Antakya. Die Straße wird von großen Laternen in orangefarbenes Licht getaucht. Es ist nach Mitternacht. Kaum ein Auto ist auf den Straßen unterwegs. Die Fahrt führt uns hinaus aus der Stadt in Richtung Grenze. W ist seit vier Jahren Schleuser. Er hat schon Russen, Europäer und andere Leute in sein Heimatland gebracht. Und jetzt mich.
nen Niqab, ich sehe nur ihre Augen, keine Mimik mehr. Ist es wirklich eine gute Idee, nach Syrien zu reisen? Oder sollte ich jetzt einfach umkehren? Stoppen, nicht weiterfahren, sondern umdrehen und zurückfahren nach Istanbul, zurück nach Berlin und den Plan endgültig verwerfen. Den Plan, L , meine alte Grundschulfreundin, die in den Dschihad gezogen ist, nach so vielen Jahren wiederzusehen. Um hinter die Kulissen zu schauen, hinter die Kulissen des Dschihad, hinter die Kulissen des Kriegs. Es ist der Blick, der jenseits der journalistischen Distanz liegt, ein Blick, der diese Freundschaft im Fokus hat. Ich bin verunsichert. Von der ganzen Konstellation und vor allem von meiner eigenen, ganz persönlichen Situation. Meiner Schwangerschaft. Ich habe ein mulmiges Gefühl im Bauch. Im wahrsten Sinne des Wortes. Doch dann denke ich, dass ich es schaffen kann. Rein und wieder raus. Drei Tage, Maximum eine Woche. So wie es geplant war, so wie wir hunderte Male darüber gesprochen haben. Warum sollte es nicht funktionieren? Ich versuche mir selbst Mut zu . machen. Ich habe eine Sicherheitsgarantie von L Die dschihadistische Gruppe, bei der sie lebt, wird mich während meiner Anwesenheit schützen. So hat L es mir per E-Mail zugesagt. Eine solche Garantie gilt in Syrien viel, sage ich mir, und versuche, mir dadurch Mut zu machen. Es wird schon alles gut gehen. Ich wiederhole diesen Satz mantraartig. Dann beiße ich die Zähne zusammen. Noch kann ich umkehren, denke ich bei mir.
Die Fahrt führt über Serpentinen. Das Auto klappert bei jedem Schlagloch. Die Luft ist trocken, die Hitze aus der Wüste zieht vorbei. Obwohl es Nacht ist, ist es immer noch recht warm. Der Süden der Türkei und die Grenze zu Syrien stehen unter massiver Beobachtung. »In Syrien lebten vor dem Krieg rund 20 Millionen Menschen. Unser Land grenzt im Westen an das Mittelmeer und den Libanon, im Süden an Israel Ich schaue aus dem Fenster und sehe die Silhouette und Jordanien, im Osten an den Irak und im Norden der dunklen Hügel vorbeirauschen. Links neben mir an die Türkei«, erklärt W , während die Landauf der Rückbank des Wagens sitzt die Frau von S schaft vorbeizieht. »Die Soldaten des Regimes von mit ihrem Sohn und schaut mich an. Auch sie trägt ei- Baschar al-Assad, dem Despoten, der Syrien seit dem
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Das Dröhnen des Motors wird jetzt immer lauter. . Er peitscht den Wagen, der Dann schaue ich zu S nicht so recht will, den steilen Berghang hinauf. Die Karosserie ächzt. Rechts und links von der Schotterpiste geht es steil den Berg hinab. In einer Kurve drehen plötzlich die Reifen durch, wir rutschen zur Seite ab, Steine fallen neben der Straße den Hang herab. Dann greifen die Reifen des Wagens wieder, und wir setzen unsere Fahrt fort. Ich kurble die Fensterscheibe runter und halte mein Gesicht, das von dem schwarzen Schleier bedeckt ist, in den kühlen Fahrtwind. Dann schaue ich durch den Augenschlitz in den Himmel: Es ist eine klare Nacht. Keine Wolke ist zu sehen. Nur die Sterne funkeln im Schwarz und werden von keinem nächtlichen Licht einer großen Stadt verschlungen. Es ist ruhig an der Grenze zur Schutzzone, zur Flugverbotszone. Es ist ruhig an der Grenze zum Krieg. Ich denke an all die Dinge, die ich über Syrien und den Krieg dort gehört, gelesen und recherchiert habe:
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Tod seines Vaters im Jahr 2000 regiert, kontrollierten von den elf Grenzübergängen zur Türkei zeitweise nur noch zwei. Die anderen waren in der Hand des Islamischen Staates, der Dschihadisten der Al-NusraFront und einiger anderer Gruppen.« Die Grenze kommt immer näher. W dreht sich zu mir um. Zunächst sagt er gar nichts, sondern schaut mich nur durchdringend an. Ich blicke wie gebannt zurück. Ob es gefährlich wird, frage ich ihn, wie schon die letzten Tage. Er zuckt mit den Achseln, fährt sich mit der Hand durch den Bart. Ich frage mich, ob es ein Zurück gibt. Es gibt immer ein Zurück, denke ich. Aber ob das wirklich stimmt? Ich schaue ihn an, starre förmlich in sein Gesicht und versuche seinen Blick zu deuten, versuche zu verstehen, was er wirklich denkt. Ob diese Reise zu gefährlich sei, frage ich ihn noch einmal. Sein Blick löst sich von meinem Gesicht und schweift nach rechts aus dem Fenster des Autos hinaus. Immer noch zieht die Landschaft vorbei, immer noch ist es Nacht, immer noch habe ich ein mulmiges Gefühl, und immer noch sind wir auf dem Weg nach Syrien. Heute ist die Nacht der Entscheidung.
Was im Frühjahr 2011 als Teil des Arabischen Frühlings in Syrien mit Demonstrationen gegen das Regime von Baschar al-Assad begann, die vom Regime brutal niedergeschlagen wurden, verwandelte sich in einen brennenden Bürgerkrieg, der nach Schätzungen der UNO bisher mindestens 500 000 Menschen das Leben kostete. Es ist vollkommen unklar, wie Tote und Neugeborene in diesem Chaos erfasst werden können. Es gibt keine zentrale Datenbank. Daher sprechen andere Experten des Konflikts in Syrien von einer unkalkulierbar hohen Dunkelziffer von Toten. Angst steigt in mir auf. Das Angstgefühl drückt aus der Mitte meines Magens die Kehle hinauf. Meine innere Stimmung kippt. Plötzlich hält S an. Am Wegesrand in der Dunkelheit stehen die beiden Schleuser vom Nachmittag. »Jetzt fahren wir mit zwei Autos weiter. Und dann müssen wir das letzte Stück zu Fuß gehen«, erklärt mir W . Wir wechseln das Auto. Steigen aus dem Wagen von S aus und setzen uns in die der Schleuser. In dem einen sitzen der türkische Schleuser mit W und mir, in dem anderen S , seine Frau und sein Sohn. Wir fahren auf einer staubigen Landstraße in Richtung Krieg. Die Fahrt ist abenteuerlich, der Typ rast wie ein Wilder über die holprige Geröllpiste. Das Auto scheppert bei jedem Schlagloch. Wir fahren schnell in Kurven hinein und Schleichwege entlang, die voller Steine sind, abseits der Hauptstraße, immer tiefer hinein in die verbotene Zone. Er scheint es sehr eilig zu haben. Die Tachoanzeige seines Autos leuchtet blau, sonst ist es dunkel im Inneren des Wagens. Ich blicke durch die Windschutzscheibe auf den Weg vor uns. Die Straße wird nur im Kegel der Scheinwerferlichter erleuchtet. Der Schleuser wirkt gehetzt. Immer wieder schaut er in den Rückspiegel, um zu sehen, ob uns ein Auto folgt. Wir fahren rund zwanzig Minuten durch die menschenleere türkische Bergregion. Von hier aus ist Syrien nur einen Steinwurf entfernt. Der Nicht-Ort kommt immer näher. Auf der Straße ist nichts zu sehen außer der ruhigen Nacht, die da draußen liegt und auf uns wartet. Und dann immer wieder nur das Geräusch des Motors,
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der bei Steigungen kurz aufheult und ächzt und ansonsten gleichmäßig vor sich hin rattert. Ich betrachte den Fahrer. Er macht nur seinen Job, er hat ihn schon oft gemacht, für ihn ist nichts dabei, Leute über die Grenze zu bringen, es ist sein Broterwerb. Dann erreichen wir ein kleines Dorf. Die Straßenlaternen tupfen helle Inseln in das Schwarz. Wir halten an einer Kreuzung. Wir sind jetzt nicht mehr ganz allein irgendwo in den Bergen zwischen der Türkei und Syrien, sondern fahren in den vielleicht letzten Außenposten der Türkei. Ich bin überrascht, wie viel Trubel an diesem abgelegenen Ort herrscht. Hier scheint der Schleuser-Knotenpunkt zu sein. Minibusse kommen uns entgegen, abgewrackte Modelle, die Nummernschilder hängen schief, die Seitentüren sind verbeult. Menschen hasten geschäftig umher, wechseln die Straßenseite. Die Grenze scheint offen zu sein.
Türkei und Syrien umkämpft und offiziell geschlossen. »Die Schlupflöcher sind zwar da, aber können sich innerhalb von wenigen Stunden verschieben. Wenn irgendwer nach Syrien will, dann ist das machbar, aber der Weg zurück ist in jedem Fall schwerer, wenn man nicht aufgegriffen werden will.« Dann fährt er fort. »Sonst ist es natürlich egal. Raus kommt man immer an irgendeiner Stelle an der Grenze, man muss nur die richtigen Leute kennen«, versichert er mir. Ich möchte ihm in diesem Augenblick glauben. Wir halten an einem kleinen Hang. W und der Schleuser steigen aus, sie warten an einer Straßenecke unter einem Baum. Ich schaue auf meine Uhr. 00:30 zeigen die Pixel an. Es ist nach Mitternacht. Wir warten auf den Grenzübertritt.
bedeutet mir, im Auto zu warten. Ich habe keiW nen Grund, etwas anderes zu tun als das, was er mir Die ersten Leute sind zu sehen, denen die Angst noch sagt. Also bleibe ich im Wagen, während er aussteigt ins Gesicht geschrieben steht. Sie kommen aus der und die Tür hinter sich schließt, in diesem kleinen anderen Richtung. Direkt aus Syrien. Sie tragen ihre Dörfchen in der Türkei, am letzten Punkt, an dem Taschen und Säcke auf dem Rücken, haben Kinder man noch nicht in Syrien ist, aber auch schon fast auf dem Arm, huschen durch die Schatten, meiden nicht mehr in der Türkei. Ich sitze allein im Auto. die Leuchtkegel der Straßenlaternen. Sie sind auf der Dann komme ich erneut ins Grübeln: Ich werde es mir Flucht, blicken sich nervös um, Anspannung liegt in nie verzeihen, wenn etwas mit meinem Kind passiert. der Luft. Ein Schlepper zischt ein Kommando durch Das schwöre ich mir in diesem Moment. Aber es ist die Nacht, daraufhin rennt eine Gruppe von einigen bisher in meinem Leben immer alles gut gegangen. Dutzend Menschen mit einem Mal los bis zu einem Immer. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Mein Wagen, dort kauern sie sich auf den Boden und stei- Bauchgefühl ist aber schlecht. Ich denke, ich sollte es gen auf erneuten Befehl nacheinander in den Wagen. nicht tun, lieber zurückkehren, aber ich mache trotzHier schert keiner aus der Reihe, denn das kann zur dem weiter. Ich will nicht auf mein Gefühl hören. Gefahr für die ganze Gruppe werden, und auch für den Schmuggler. Nach zehn Minuten kommt W von der Straßenecke zurück, wo er mit S gestanden hat. Er öffnet Dann läuft eine Frau direkt neben unserem Wagen langsam die Tür und steigt wieder in den Wagen. vorbei, sie trägt ein Kopftuch. Ich sehe ihr Gesicht, es Er setzt sich neben mich und schaut mich ernst an. ist angstverzerrt. Auf dem Arm trägt sie ein schrei- »Gleich geht es los. Ich warte nur noch auf das letzte endes Baby, an der einen Hand hält sie ein kleines grüne Licht. Heute wird es klappen.« Es ist unser Kind, das weint. Über ihrer Schulter trägt sie eine letztes Gespräch vor Syrien. Ich habe keine Fragen kleine Tasche, ihr Hab und Gut. Mehr konnte sie nicht mehr oder stelle keine mehr. Ich bringe kein Wort mitnehmen über die Grenze, hinaus aus Syrien. mehr heraus. Die Angst schnürt mir die Kehle zu. Ich befinde mich in einem Tunnel. Ich gehe immer wei»Einzureisen ist viel leichter als auszureisen«, er- ter und hoffe nur noch, dass ich aus diesem Tunnel klärt mir W . Seit 2011 ist die Grenze zwischen der irgendwann wieder ins Freie komme.
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Wir gehen jetzt auf dem Schleichweg rein, aber es gibt auch zwei offizielle Grenzübergänge, die für Hilfskonvois und Krankentransporte geöffnet werden. Aus- oder einreisen kann niemand mehr einfach so, sondern nur noch mit einer Spezialgenehmigung, die nur in Ausnahmefällen erteilt wird, zum Beispiel für die Hilfslieferungen oder andere Ladungen. Wir gehen querfeldein zwischen Olivenbäumen. Sie werfen knorrige Schatten durch das Licht des Mondes. Der Trampelpfad führt über verschlungene Wege, erst durch den endlosen Olivenhain, dann einen Pfad entlang eines Berghangs. Ich kann genau sagen, woran ich in diesem Moment zwischen den Bäumen gedacht habe, denn es war einer von jeden Momenten, an die man sich für immer erinnert. Ich schaute in den Himmel und dachte, dass ich es schaffen muss. Ich wusste, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Das bedeutete, ich musste es schaffen, was auch immer kommen sollte.
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»Yallah«, sagt W , was auf Arabisch so viel heißt wie »Los geht’s«. Dann fährt er fort: »Steig aus dem Auto aus und komm. Wir laufen jetzt los!« Er bedeutet mir, ihm zu folgen, und holt meine beiden Taschen aus dem Kofferraum. Zu meiner Beruhigung finden sich noch einige andere zusammen, die in dieser Nacht zu Fuß über die Grenze wollen. Wir gehen zu einer Gruppe von jungen Syrern, die das Gepäck über die Grenze tragen sollen. Zwei von ihnen heuert W an. S bringt uns noch bis zum Rand eines Olivenhains und klopft mir zum Abschied auf die Schulter. Er lächelt mich dabei freundlich an und wünscht mir alles Gute. Dann hebt er seine rechte Hand zum Gruß, ruft mir hinterher: »Bismillah!« Was der Anfang von nahezu jeder Sure des Korans ist und auf Deutsch »im Namen des Gnädigen und Barmherzigen« bedeutet. Wir laufen los. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Die beiund ich hinterher. Es ist den Träger laufen vor, W mitten in der Nacht, es ist dunkel, die Sterne funkeln, der Mond ist fast voll und spendet uns etwas Licht auf unserem Marsch durch die Dunkelheit.
An manchen Stellen rutsche ich im Geröll ab. Ich denke nicht an die Gefahr, ich denke an gar nichts. Nur an den nächsten Schritt auf dem Weg. Ich gehe einen Schritt nach dem anderen. Schritt für Schritt – wie die Perlen einer Kette. Das aufgeregte Rufen einer Eule durchbricht die Stille. Ich bleibe stehen, halte inne. W ist schon vorausgegangen. Ich sehe ihn kaum noch. Ich eile hinter ihm her und hole wieder auf. Der Weg führt jetzt steiler bergauf. Unser Marsch wird immer anstrengender, ich schwitze heftig. Wir zwängen uns zwischen Gestrüpp durch, das rechts und links den Weg versperrt. Die Büsche ragen wie schwarzes Gestein aus dem Boden. Unscheinbaren Pfaden folgend, schlagen wir uns durch das Grenzgebiet. Es sind noch andere Gruppen in dieser Nacht unterwegs, wir sind nicht die Einzigen. Das Gelände ist zwischendurch steinig und schwer zu passieren, aber hilft mir an den unwegsamen Stellen. PlötzW lich sehen wir eine andere Gruppe, schemenhaft sind Menschen zu erkennen, die am Rand einer Böschung mit Blick auf die Grenze kauern. Auch sie wollen nach Syrien. Als wir näher kommen, sieht man, dass es mehr Leute sind als wir. Männer und Frauen. Wir kauern uns ebenfalls auf den Boden. Weil die anderen Handzeichen geben, sind wir gewarnt. Wir verhalten uns so unauffällig wie möglich, weil auch wir auf keinen Fall die Aufmerksamkeit der türkischen Soldaten auf uns ziehen wollen. Nach einigen Minuten gehen wir alle zusammen weiter. Jetzt ist wieder alles dunkel. Es sind keine Soldaten mehr zu sehen.
Die Grenze zwischen der Türkei und Syrien ist 899 Kilometer lang und erstreckt sich vom Mittelmeer bis nach Anatolien. Es ist die längste internationale Grenze, die der NATO-Staat hat, gleichzeitig auch die am härtesten umkämpfte. Als die ersten Aufstände gegen das AssadRegime im Jahr 2011 begannen und die Situation zum Bürgerkrieg führte, war das auch der Anfang des Kampfes um die Grenze. Die Region hat Abertausende von illegalen Grenzübertritten zu verzeichnen. Viele spätere dschihadistische Attentäter reisten aus Syrien über Es ist ein schwieriges Gelände. Meine blauen Turn- die Türkei ein und manche auch wieder auf diesem Weg schuhe aus Deutschland haben eine glatte Sohle zurück. Diese Route ist gewissermaßen die der Dschiund sind eher zum Segeln gedacht als zum Wandern. hadisten und natürlich auch der Journalisten gewesen.
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Seit 2015 fuhr jedoch kaum ein ausländischer Jour- einzelne Schuhe, leere Plastikflaschen, auch leere nalist nach Syrien. Für Syrien ist es nicht die längste, Taschen liegen kreuz und quer über den Hang verteilt. aber trotzdem eine der wichtigsten Grenzen. Zurückgelassener Ballast, der beim Überqueren der Grenze offenbar zu groß, zu schwer oder zu unhandJeder mag andere Gründe haben, in dieser Nacht nach lich war. Der Grenzverkehr scheint hier ein florierenSyrien zu gehen. Aber wir alle gehen gemeinsam über des Geschäft zu sein. Diese Grenze ist ein Nadelöhr, die Grenze. Die anderen in der Gruppe sind Syrer, die manche schlüpfen unerkannt hindurch, andere weraus unterschiedlichen Gründen nach Hause zurück- den festgenommen. wollen, nur ich gehe in die Fremde und fühle mich als Fremde unter ihnen. W zurrt mir mein Kopftuch Ich schaue zum Grenzturm hoch: Die Scheinwerfer zurecht, es ist komplett verrutscht. Ein Mann aus der tauchen alles in grelles Licht. Ein eckiger Betonquader, Reisegruppe zischelt »Saudi-Arabia«, als er an mir der hoch über den Zaun ragt, mit einer Reihe von vorbeigeht. Wie unrecht er hat, denke ich bei mir. Fenstern. Die türkischen Grenzsoldaten müssen von dort oben eine gute Sicht auf die ganze Landschaft Wir kommen vom Grenzgebiet zur eigentlichen haben. Die Soldaten drücken in diesem Moment wohl Grenze. Nur noch wenige Meter bis nach Syrien, nur ein Auge zu, weil ihnen Bakschisch gezahlt wurde, noch wenige Meter bis zum Krieg. Einige Hundert Trinkgeld, wie es auf Deutsch heißt, oder in diesem Meter entfernt ist eine Bergkuppe zu erkennen. Ein Fall Schmiergeld. Dies sollte der letzte Moment in Militärfahrzeug fährt über den Kamm eines Berges. Freiheit für mich sein, so wie wir sie kennen. WirkDer Zaun und das Sperrgebiet hinter ihm werden von liche und absolute Freiheit. amperereichen Flutscheinwerfern beleuchtet. Durch die schwarze Nacht schwenken die Lichtkegel von Einer nach dem anderen aus unserer Gruppe rennt Zielscheinwerfern scheinbar wahllos umher. Der kauernd zum Zaun und klettert hastig hinüber. MinZaun ist jetzt in Sichtweite. Wir stehen unmittelbar destens fünfzehn Leute. Am Ende sind nur noch vor der Grenze. Mein Herz rast. Die türkischen Solda- W und ich übrig. Alle anderen sind jetzt schon in ten versuchen, Menschen im Gebüsch und am Zaun Syrien, und kein Soldat ist eingeschritten, alle durfzu orten. Illegale Ein- und Ausreisende. Menschen ten diese Grenze, diese Grenze der Welten vom Friewie uns. Wir schleichen weiter Richtung Dunkelheit. den zum Krieg passieren. Das Fenster ist offen, aber es Es geht immer weiter, und jeder weitere Schritt ist ein wird sich bald schließen. Werden sie W und mich Schritt in die Katastrophe, aber das ahne ich natürlich auch noch durchlassen? Wir sind die letzten beiden auf nicht. Nichts und niemand scheint mich davon abzu- türkischer Seite. W geht als Erster über den Zaun. halten, sehenden Auges in mein Unglück hineinzulau- Hilft mir, als wir den Zaun erklettern. Die Spitzen des fen. In die Falle zu tappen, die sich schließen sollte. Stacheldrahts stechen durch den dünnen Nylonstoff der Handschuhe in meine Hände, als ich mich auf den Und dann kommen wir zum Grenzzaun. Der Grenz- NATO-Draht stütze. Meine Finger schmerzen, dann turm ist unbeleuchtet. Dafür ist der Stacheldraht- gebe ich mir einen Ruck und steige drüber. Dort steht zaun massiv und sehr hoch. Wir gehen nun den W und ich hangle mich vorsichtig herunter. Auf letzten Anstieg bis zum Turm hinauf. Es ist ein aus- dieser Seite des Zauns, in Syrien, herrscht eine seltsagetretener Weg direkt am Hang, der steil bergauf me Stille. Es scheint, als würde die Welt für den Bruchführt, auf diesem Stück sind schon Hunderte, wenn teil eines Augenblicks anhalten. Ich stehe mit beiden nicht Tausende Menschen aus Syrien geflohen oder Füßen auf syrischem Boden und hole tief Luft. Jetzt bin eingereist. Er sieht wie eine Schneise aus. Auf dem ich in Syrien. Ich setze vorsichtig einen Fuß vor den Boden liegen Massen von zurückgelassenen Gegen- anderen. Inside Syria. Es sollte fast ein Jahr dauern, bis ständen: aufgeklappte Koffer, zerrissene Kleidung, ich diese Grenze erneut überqueren konnte.
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Janina Findeisen Mein Zimmer im Haus des Krieges 351 Tage gefangen in Syrien 288 Seiten Hardcover mit Schutzumschlag 20,00 € (D) 20,60 € (A) ISBN 978-3-492-05940-4 Erscheint am 19. März 2019 Bestellen Sie Ihr digitales Leseexemplar zum Erscheinungstermin auf www.piper.de/leseexemplare … oder schreiben Sie eine E-Mail an: sales_reader@piper.de (Buchhändler) press_reader@piper.de (Presse)
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intervie w GEFÜHRT VON LISA SOENO ÜBERSETZT VON MICHAEL A SAPPLER Dieser Artikel ist ursprünglich auf rockmystyle.co.uk erschienen.
Catherine Steadmans Something in the Water – Im Sog des Verbrechens ist ein packender Thriller, der nicht nur deswegen so neugierig macht, weil die Autorin keine geringere als die Schauspielerin aus The Inbetweeners und Downton Abbey ist. Die Story packt einen von der ersten Seite an! Es ist die Geschichte eines jungen Paares, das scheinbar alles hat. Erin ist eine aufstrebende Filmproduzentin und Mark Investmentbanker. Sie sind jung, leidenschaftlich verliebt und haben eine schillernde Zukunft vor sich. Doch als sie während ihrer Flitterwochen auf Bora Bora einen Koffer voller Dollarnoten finden und sich entscheiden, das Geld zu behalten, werden sie immer tiefer in einen Sog aus Verbrechen und gefährlichen Wendungen hineingezogen. Catherine Steadman schlägt den Leser von Anfang an in ihren Bann. Die erste Zeile, gesprochen von Erin, lautet: „Haben Sie sich jemals gefragt, wie lange es dauert, ein Grab zu schaufeln?“, und ein paar Seiten später stellen wir fest, dass das Grab, das ausgehoben wird, für ihren Mann gedacht ist. Je tiefer man in das Buch eintaucht, desto mehr nehmen Spannung und Tempo zu – bis die Handlung schließlich in einem atemlosen Showdown gipfelt. Wenn Sie auf der Suche nach einer Strandlektüre sind, ist Something in the Water das richtige Buch für Sie. Und das findet übrigens auch Reese Witherspoon: Ihre Produktionsfirma ist gerade dabei, das Buch in einen Film zu verwandeln. Mehr darüber im folgenden Interview mit Catherine Steadman.
Wie sind Sie auf die Idee für die Handlung gekommen? Die Idee zu dieser Geschichte kam mir bei Dreharbeiten an der Grenze zur namibischen Wüste. Es war so heiß, dass die Komparsen in der Hitze ohnmächtig wurden. Da verliebte ich mich in die Vorstellung von kristallklarem Wasser. Und mir kam der Gedanke – was täte ein Mensch wie Sie oder ich, wenn er eine Tasche voller Geld im Meer fände? Und wie würde sich diese Entscheidung auswirken?
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Wie wichtig ist es Ihrer Meinung nach, ein guter Menschenkenner zu sein? Können Sie sich auf Ihre Intuition verlassen? Das Problem beim Einschätzen anderer Menschen ist, dass wir alle manchmal falsch liegen. Immer wenn etwas Schreckliches passiert, hören wir in den Nachrichten, dass die verantwortliche Person nett und unscheinbar wirkte. Nur sehr selten sagen die Leute, dass sie es die ganze Zeit geahnt hätten. Zusätzlich vermitteln uns die Medien immer wieder, dass Soziopathen und Psychopathen Menschen sind, die sehr gut darin sind, sich einzufügen und andere zu manipulieren. Es ist also eigentlich kein Wunder, dass wir nicht wissen, wer jemand wirklich ist, bis wir es am eigenen Leib erfahren. Wir alle machen manchmal Fehler – das ist nur menschlich –, und wir können nur hoffen, dass uns diese Fehler am Ende nicht zu viel kosten.
Wie haben Sie für das Buch recherchiert? Ich habe viel gegoogelt. Es war mir wichtig, dass alles, was Erin im Buch macht, auch für einen normalen Menschen ohne spezielle Ausbildung oder Kenntnisse möglich wäre. Alles, was sie tut, kann man im Internet lernen oder herausfinden. Ich habe viele fragwürdige YouTube-Videos über Schusswaffen und Diamantenhandel angeschaut. Würde jemand meine Internet-Suchhistorie finden, ohne zu wissen, dass das Recherchen für Something in the Water waren, wäre das ziemlich beunruhigend!
Wie lange hat es gedauert, das Buch zu schreiben? Mein erster Entwurf dauerte etwa drei Monate – und die nachfolgenden Bearbeitungen mit meiner Lektorin noch einmal mehrere Monate.
Können Sie uns mehr über die Verfilmung des Buchs durch Reese Witherspoons Produktionsfirma erzählen? Dass das Buch tatsächlich von Reese Witherspoons Produktionsfirma Hello Sunshine verfilmt werden soll, kam mir zunächst völlig surreal vor.
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So richtig begriff ich es erst, als ich kürzlich mit Reeses Team telefonierte. Die Vorproduktion befindet sich jetzt in der Drehbuchphase, also ist alles sehr aufregend, und wir werden hoffentlich bald mehr hören! Ich vertraue voll auf Hello Sunshine und Reeses Instinkte, da sie in den letzten Jahren Produzentin von einigen Filmadaptionen meiner Lieblingsbücher war. Ich liebe die Verfilmungen von Cheryl Strayeds Der große Trip, Gillian Flynns Gone Girl und Liane Moriartys Big Little Lies – alles brillante Geschichten mit tollen, starken Protagonistinnen.
In einem Interview haben Sie einmal gesagt, dass Sie versuchen, pro Woche ein Buch zu lesen, was recht eindrucksvoll ist! Wie läuft's damit? Das stimmt. Letztes Jahr hatte ich mir selbst die Aufgabe gestellt, ein ganzes Jahr lang ein Buch pro Woche zu lesen, was nicht ganz geklappt hat. Aber ich habe alle zwei Wochen ein Buch geschafft – was für mich ziemlich gut war! Ich konnte feststellen, dass ich ein bisschen weniger ferngesehen und etwas weniger auf mein Handy geschaut habe, was nie schlecht ist. Und ich habe es ruhiger angehen lassen, Zeit gewonnen und mich entspannt. Bisher führe ich den „Jede zweite Woche ein Buch“-Plan auch in diesem Jahr weiter ...
Was bevorzugen Sie, physische Bücher oder E-Books? Definitiv Bücher. Ich habe E-Books ausprobiert, aber ich liebe die körperliche Tätigkeit des Lesens einfach viel zu sehr, um umzusteigen. Man kann das Gewicht eines Buches, diesen Papiergeruch und das Geräusch des Umblätterns von Seiten nicht überbieten.
Welches ist das beste Buch, das Sie je gelesen haben? Und was war Ihr Lieblingsbuch als Kind? Wow, das ist eine große Frage – mit einer sich ständig verändernden Antwort. Aber ich würde sagen, dass Stoner von John Williams mein aktuelles Lieblingsbuch ist. Als Kind war ich von Douglas Adams besessen. Ich habe Per Anhalter durch die Galaxis oft gelesen. Eigentlich habe ich wirklich sehr viel von allem gelesen.
Welches Buch, das Sie gelesen haben, hat Sie am meisten beeinflusst? Es gibt ein paar Bücher, die mir in den Sinn kommen, aber Jane Eyre wäre definitiv eines davon. Ich liebe den direkten Kontakt, den Jane mit dem Leser hat, er macht das Buch so modern und bedeutend, ganz unabhängig davon, wann es geschrieben wurde – ich habe nicht das Gefühl, dass ich diese Verbindung zwischen Protagonist und Leser in diesem Ausmaß zuvor in irgendeinem Buch erlebt habe. Für mich haben Chuck Palahniuk und Gillian Flynn diese gleiche Unmittelbarkeit. Das finde ich aufregend, und auf dieser Grundlage würde ich alles lesen, was die beiden schreiben.
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Was ist Ihr Lieblingsgenre bei Büchern? Ich glaube, meine Genre-Vorlieben ändern sich ziemlich saisonal. Im Frühling und Sommer lese ich gern Psychothriller, Sachbücher und Frauenromane (Gillian Flynn, Yuval Noah Harari, Libby Page), und im Herbst und Winter fühle ich mich dann zu etwas düstereren Stoffen wie Mystery, Horror oder Sci-Fi (Shirley Jackson, MR James, Philip K Dick) hingezogen. Es ist keine bewusste Entscheidung, aber ich habe das Gefühl, dass es meist so ist.
Was wollten Sie werden, als Sie klein waren? Schauspielerin. Eines Tages lief eine Krankenhausserie im Fernsehen, und ich fragte meine Mutter, welchen Job der Mann dort ausübe. Sie sagte mir, er sei Schauspieler und nicht wirklich ein Arzt. Sie erklärte, dass er an einem Tag Arzt und am nächsten Anwalt sein könnte oder Astronaut oder eine historische Figur oder ein Geist ... und damit hatte sie mich.
Auf welche Leistung in Ihrer Karriere sind Sie besonders stolz? Was das Schreiben betrifft, bin ich sehr stolz darauf, dass mein erstes Buch erschienen ist! Es war eine absolut großartige Erfahrung, vom ersten Entwurf bis zur Veröffentlichung mit so vielen brillanten und talentierten Lektoren, Agenten und Verlegern zusammenzuarbeiten. Ich freue mich, dass Something in the Water in Großbritannien, den USA und in sechzehn weiteren Sprachen weltweit veröffentlicht wird. In meiner Schauspielkarriere war es die Rolle in Downton Abbey, das war ein tolles Arbeitsumfeld, und ich bin so stolz darauf, in einer Sendung mitgespielt zu haben, die die Leute wirklich lieben und gern anschauen.
Was bevorzugen Sie und warum – schreiben oder schauspielern? Ich liebe beides, aber es sind zwei sehr verschiedene Dinge.
Haben Sie Pläne oder Ideen für weitere Bücher? Ich arbeite gerade an meinem zweiten Buch. Es basiert lose auf einer Zeitungsnotiz aus dem Jahr 2005 über einen Mann, der im Anzug und ohne Erinnerung an einem Strand von Kent gefunden und später als der „Piano Man“ bekannt wurde.
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1 | Das Grab
Samstag, 1. Oktober
Haben Sie sich jemals gefragt, wie lange es dauert, ein Grab zu schaufeln? Dann können Sie aufhören, darüber nachzudenken. Es dauert eine Ewigkeit. Was immer Sie geschätzt hätten, setzen Sie einfach die doppelte Zeit an. Ich bin mir sicher, dass Sie so etwas schon in Filmen gesehen haben. Den Helden, vielleicht mit einer Waffe am Kopf, wie er sich schwitzend und stöhnend tiefer und tiefer in die Erde hineinarbeitet, bis er einsachtzig tief in seinem eigenen Grab steht. Oder die beiden unglückseligen Schurken, die wie wahnsinnig schaufeln, sich dabei streiten und manisch Witze reißen. Und die Erde fliegt locker zum Himmel hoch wie in einem Cartoon. So ist es nicht. Es ist anstrengend. Mit locker hat das nichts zu tun. Der Boden ist fest und schwer und widerspenstig. Es ist so verdammt anstrengend.
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Und langweilig. Und dauert. Aber es muss erledigt werden. Der Stress, das Adrenalin, der verzweifelte animalische Drang, es hinter sich zu bringen, geben einem zwanzig Minuten lang Kraft. Dann bricht man zusammen. Die Muskeln in Armen und Beinen sind längst übermüdet. Das Herz tut nach dem anfänglichen Adrenalinstoß nur noch weh, der Blutzucker sackt ab, man taumelt gegen die Wand. Heftig und mit dem ganzen Körper. Aber man weiß, man weiß mit kristallener Klarheit, dass man – gut drauf oder nicht, erschöpft oder nicht – dieses Loch einfach graben muss. Dann schaltet man unwillkürlich in den nächsten Gang. Es ist wie nach der ersten Hälfte eines Marathonlaufs – der Reiz des Anfangs ist verflogen, und
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Also buddelt man weiter. Man macht es einfach, denn trotz allem ist die Alternative viel schlimmer als das Graben eines gottverdammten Lochs in dieser harten, verdichteten Erde. Mit einer Schaufel, die man in der Hütte irgendeines alten Mannes gefunden hat.
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man muss diese verdammte, freudlose Angelegenheit irgendwie hinter sich bringen. Man hat etwas investiert. Man steckt schon zu tief drin. Man hat sämtlichen Freunden gesagt, man würde mitlaufen; man hat ihnen das Versprechen einer Spende für eine Wohltätigkeitsorganisation abgerungen, zu der man nur eine äußerst vage Verbindung hat. Und von Schuldgefühlen getrieben, haben sie einen höheren Geldbetrag zugesagt, als sie eigentlich geben wollten. Aus Pflichtgefühl und weil sie selbst an der Uni mal an einem Radrennen teilgenommen haben, mit dessen Details sie einen jedes Mal langweilen, wenn sie etwas getrunken haben. Ich rede immer noch über den Marathon, also schön dabeibleiben. Jedenfalls ist man Abend für Abend losgezogen, allein, ein Pochen in den Schienbeinen, mit aufgesetzten Kopfhörern, um Kilometer abzureißen und sich auf diesen einen Tag vorzubereiten. Um sich selbst zu besiegen, den eigenen Körper zu besiegen, in diesem einen, entscheidenden Moment. Um zu sehen, wer gewinnt. Und keiner schaut zu. Keiner außer man selbst schert sich einen Dreck darum. Man ist ganz allein in seinem Kampf ums Überleben. Genau so fühlt es sich an, wenn man ein Grab schaufelt. Als hätte die Musik aufgehört und man könnte einfach nicht aufhören zu tanzen. Weil man sterben müsste, wenn man zu tanzen aufhörte.
Der Kopf ist komplett leer. Das Zentralnervensystem betrachtet diese Überanstrengung als Kampfoder-Flucht-Situation. Durch Beanspruchung getriggerte Neurogenese – zusammen mit der in Sportmagazinen so gern zitierten „Freisetzung von Endorphinen durch körperliche Beanspruchung“ – führt dazu, dass das Gehirn gleichzeitig blockiert und vor dem fortwährenden Schmerz und Stress geschützt wird. Erschöpfung ist ein fantastischer emotionaler Plattmacher. Ganz egal, ob durch Rennen oder Graben. Ungefähr an der Fünfundvierzig-Minuten-Marke komme ich zu dem Entschluss, dass eine Tiefe von einem Meter achtzig für dieses Grab unrealistisch ist. So tief werde ich es nicht schaffen. Ich selbst bin einsachtundsechzig. Wie sollte ich da überhaupt wieder rauskommen? Ich war im wahrsten Sinne des Wortes dabei, mir mein eigenes Grab zu schaufeln. Nach einer Meinungsumfrage aus dem Jahr 2014 ist einsachtundsechzig die ideale Größe für eine britische Frau. Damit ist offenbar die Körpergröße gemeint, die sich der durchschnittliche britische Mann bei seiner Partnerin wünscht. Glück für mich. Und Glück für Mark. Ich wünschte, Mark wäre jetzt hier. Wenn ich also nicht einsachtzig tief grabe, wie tief dann? Wie tief ist tief genug?
Leichen neigen dazu, entdeckt zu werden, wenn man sie schlecht vergräbt. Das soll mir nicht passieren. Beim Graben sieht man Farben vor den Augen vorbei- Auf keinen Fall. Das wäre ganz bestimmt nicht das ziehen: Lichterscheinungen, hervorgerufen durch Ergebnis, auf das ich aus bin. Und schlechtes Vergradie metabolische Stimulation von Neuronen im visu- ben hat – wie jedes schlechte Irgendwas – im Wesentellen Cortex als Folge eingeschränkter Sauerstoffzu- lichen drei Gründe: fuhr und Unterzuckerung. In den Ohren rauscht das Blut: niedriger Blutdruck dank Dehydrierung und 1. Mangel an Zeit. Überanstrengung. Und die Gedanken? Die Gedanken huschen durch das sanfte Wogen des Bewusstseins und 2. Mangel an Initiative. kommen nur ganz vereinzelt an die Oberfläche. Stets sind sie wieder weg, ehe man sie zu fassen bekommt. 3. Mangel an Sorgfalt.
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Was die Zeit betrifft: Ich habe drei bis sechs Stunden zur Verfügung. Drei Stunden sind meine konservative Schätzung. Sechs Stunden sind die Zeitspanne, die mir bleibt, bis das Tageslicht schwindet. Also habe ich Zeit.
Und ich wiederhole es gern: Ein Grab zu schaufeln ist sehr anstrengend.
Bloß um es Ihnen zu verdeutlichen: Dieses Loch, mein Loch, misst 1,0 x 0,6 x 1,8 Meter. Das entspricht ungefähr einem Kubikmeter Erdreich, was wiederum Ich glaube, meine Entschlusskraft ist groß genug. annähernd anderthalb Tonnen entspricht. Und das – Hoffe ich. Ich muss nur einfach Schritt für Schritt ab- das – ist das Gewicht eines Autos mit Schrägheck arbeiten. oder eines ausgewachsenen Belugawals oder eines kleinen Nilpferds. Diese Masse habe ich nach oben Und Nummer drei: Sorgfalt? Mein Gott, gründlicher und ein Stück nach links bewegt. Und dabei ist das hätte ich nicht planen können. In meinem ganzen Le- Grab nur halb so tief geworden wie geplant. ben habe ich keine derartige Sorgfalt an den Tag gelegt. Ich schaue über den Lehm hinweg, den ich aufgeschütNeunzig Zentimeter ist die Mindesttiefe laut Empfeh- tet habe, und stemme mich langsam hinaus. Meine lung des ICCM (Institute of Cemetery and Crematori- Unterarme zittern unter meinem Gewicht. Die Leiche um Management). Das weiß ich, weil ich es gegoogelt liegt nicht weit von mir unter einer zerrissenen Plane, habe. Vor dem Graben habe ich es gegoogelt. Sehen deren leuchtendes Kobaltblau einen schreienden Sie: Initiative. Sorgfalt. Ich habe mich, feuchte Blätter Kontrast zum Braun des Waldbodens bildet. Ich habe und Schlamm unter den Füßen, neben die Leiche ge- sie herrenlos und wie einen Schleier von einem Ast hockt und gegoogelt, wie man sie am besten vergräbt. herabhängend gefunden, in der Nähe der Parkbucht, Dazu habe ich das Wegwerfhandy der Leiche benutzt. im stillen Dialog mit einem entsorgten Kühlschrank. Falls man die Leiche findet … man wird die Leiche Die Tür des Gefrierfachs quietschte leise in der Brise. nicht finden … und die Daten irgendwie rekonstru- Achtlos entsorgt. iert … niemand wird die Daten rekonstruieren … dann wird der Suchverlauf ein echter Lesespaß. Weggeworfene Gegenstände haben etwas ziemlich Trauriges an sich, nicht wahr? Etwas Trostloses. Aber Nach zwei Stunden mache ich Schluss mit Graben. irgendwie auch Schönes. Auf gewisse Art und Weise Das Loch ist einen knappen Meter tief. Ich habe kein bin ich jetzt hier, um einen menschlichen Körper zu Bandmaß dabei, erinnere mich aber, dass es bis zum entsorgen. Unterleib gut neunzig Zentimeter sind. Was zufälligerweise auch der höchste Sprung war, den ich bei Der Kühlschrank hat schon eine Weile dort gelegen. meinem Reiturlaub vor zwölf Jahren geschafft habe, Das weiß ich, weil ich ihn durchs Wagenfenster gekurz bevor ich zur Uni ging. Der Urlaub war ein Ge- sehen habe, als wir vor drei Monaten hier entlangkaschenk zum achtzehnten Geburtstag. Schräg, was men, und offenbar hat ihn niemand haben wollen. Wir einem im Gedächtnis bleibt, oder? Da stehe ich nun waren damals auf dem Weg von Norfolk zurück nach hier, bis zur Hüfte in einem Grab, und erinnere mich London, Mark und ich, nachdem wir unseren Jahresan ein Reiterfest. Übrigens habe ich den zweiten Preis tag gefeiert hatten. Und der Kühlschrank liegt immer gewonnen, womit ich sehr zufrieden war. noch hier. Es ist ein seltsames Gefühl, dass seitdem so viel geschehen ist – mit mir, mit uns –, hier aber alles Wie auch immer, ich habe also einen knappen Me- so aussieht wie damals. Als wäre dieser Ort losgelöst ter in die Tiefe gegraben, sechzig Zentimeter in die von der Zeit, ein Wartebereich. Genau so fühlt es sich Breite und einsachtzig in die Länge. Ja, dafür habe ich an. Aber vielleicht ist nach dem Kühlschrankbesitzer zwei Stunden gebraucht. einfach kein Mensch mehr hier gewesen, und wer
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weiß, wie lange das schon her ist. Der Kühlschrank sieht eindeutig nach den Siebzigern aus – Sie wissen schon, auf diese klobige Art und Weise. Warum muss ich jetzt an Kubrick denken? Ein Monolith in einem feuchten englischen Wald. Aus der Zeit gefallen. Seit mindestens drei Monaten steht er hier, und keine Müllabfuhr hat sich erbarmt. Niemand kommt hier vorbei, so viel ist klar. Außer uns. Kein Arbeiter der Stadtverwaltung, keine übellaunigen Anwohner, die Briefe an die Gemeinde schreiben, niemand, der morgens seinen Hund ausführt und zufällig auf meine Grube stoßen könnte. Einen sichereren Ort hätte ich mir nicht aussuchen können. Nun denn. Es wird eine Weile dauern, bis die ganze Erde sich wieder gesetzt hat, doch der Kühlschrank und ich haben Zeit.
Ich blättere durch die Fotogalerie. Wir. Tränen steigen mir in die Augen und laufen in zwei heißen Rinnsalen mein Gesicht hinunter. Ich nehme die Plane komplett weg, sodass nichts mehr verborgen bleibt. Ich wische das Handy wegen der Fingerabdrücke ab und stecke es wieder in die warme Brusttasche. Dann gehe ich in die Knie und beginne zu ziehen. Ich bin kein schlechter Mensch. Oder vielleicht doch. Vielleicht sollten Sie entscheiden?
Aber erklären möchte ich es auf jeden Fall. Und um es zu erklären, muss ich ein Stück zurückgehen. Zurück zum Morgen jenes Jahrestags. Das war vor drei Ich sehe ihn mir noch einmal an. Den von der knitt- Monaten. rigen Plane bedeckten Hügel. Darunter liegen Fleisch, Haut, Knochen, Zähne. Tot seit dreieinhalb Stunden.
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Freitag, 8. Juli
Der Morgen des Jahrestags Ich frage mich, ob er noch warm ist. Mein Ehemann. Wenn ich ihn berühren würde. Ich googele es. So oder An diesem Morgen erwachen wir vor Sonnenaufgang. so, auf den Schock kann ich verzichten. Mark und ich. Es ist der Morgen unseres Jahrestags. Das Jubiläum des Tags, an dem wir uns kennengelernt Okay. haben. Okay, die Arme und Beine sollten sich inzwischen kalt anfühlen, doch der Rumpf dürfte noch warm sein. Wir haben in einem Boutiquehotel mit Pub an der Küste von Norfolk übernachtet. Mark hat es in der FiAlso gut. nancial-Times-Beilage „How to Spend It“ entdeckt. Er Ich atme tief durch. hat zwar ein Abo, kommt aber immer nur zum Lesen der Beilagen. Allerdings hat die FT recht gehabt. Es ist tatsächlich das „ländlich-gemütliche Refugium, von Gut, los geht’s … dem Sie träumen“. Und ich bin froh, dass wir unser Geld hier ausgeben. Natürlich dürfte ich streng geIch halte inne. Warte. nommen nicht von „unserem“ Geld sprechen, aber Ich weiß nicht warum, aber ich lösche den Suchver- das wird sich vermutlich bald ändern. lauf des Wegwerfhandys. Ich weiß, dass es unnötig ist. Das Telefon lässt sich nicht zu ihm zurückverfolgen, Das Hotel ist ein perfektes kleines Nest mit frischem und nach ein paar Stunden in der oktoberfeuchten Fisch, kaltem Bier und Kaschmir-Überwürfen. „ChelErde funktioniert es sowieso nicht mehr. Aber viel- sea-on-Sea“, so nennt es der Reiseführer. leicht täusche ich mich ja. Ich stecke es zurück in seine Manteltasche und nehme sein privates iPhone aus der Wir sind die letzten drei Tage so viel gewandert, dass Brusttasche. Es befindet sich im Flugmodus. unsere Beine jetzt wacklig und schwer sind, unsere
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Wangen gerötet von der englischen Sonne und dem Wind. Unsere Haare riechen nach Wald und dem salzigen Meer. Wandern und anschließend unter die Decke kriechen, dann baden und essen. Himmlisch. Das Hotel war ursprünglich im Jahr 1651 als Herberge einer Poststation errichtet worden. Für Zollbeamte, die sich auf die holprige Reise von London die Ostküste hinauf begeben hatten. Es brüstet sich damit, dass der aus Norfolk stammende Sieger der Schlacht von Trafalgar, Vizeadmiral Horatio Lord Nelson, Stammgast gewesen sei. Er habe stets in Zimmer 5 gewohnt, gleich neben unserem, und sei während einer fünfjährigen Periode der Arbeitslosigkeit offenbar jeden Samstag hierhergekommen, um seine Depeschen abzuholen. Interessant, dass Lord Nelson zeitweise arbeitslos war. Ich meine, ich hatte immer gedacht, dass man, wenn man zur Navy geht, einfach in der Navy ist. Aber da sieht man es. So etwas kann jedem passieren. Wie auch immer, im Laufe der Jahre ist das Hotel Schauplatz von Viehauktionen, Gerichtsverhandlungen und allen Veranstaltungen des lokalen Jane-Austen-Festivals gewesen.
Weg in den Mehlsack der Taylors und von dort in die Knödel gefunden, an denen Mrs. Taylor verstorben war. Ich schätze, dass Mr. Taylor an jenem Abend keinen Hunger hatte. Vielleicht machte Mr. Taylor auch eine Diät, bei der er auf Kohlenhydrate verzichtete. Weitere Informationen, die eine andere Nachbarin zur Verhandlung beisteuern konnte, ergaben, dass eine Mrs. Catherine Frary an jenem Tag Zugang zum Haus der Taylors gehabt hatte und dass sie zu Fanny vor deren Vernehmung gesagt hatte: „Bleib stark, dann können sie uns nichts anhaben.“ Schließlich stellte sich heraus, dass Catherines Ehemann und ihr Kind vierzehn Tage zuvor ebenfalls ganz plötzlich verstorben waren. Wegen des Verdachts auf ein mögliches Verbrechen wurden die Mägen von Catherines Mann und ihrem Kind nach Norwich gebracht, wo die medizinische Untersuchung ebenfalls Arsenspuren zutage förderte. Ein Zeuge gab zu Protokoll, er habe gesehen, wie Catherine im Haus der Taylors die kranke Hausherrin besucht habe – nach ihrem Würgeanfall – und „auf einer Messerspitze ein weißes Pulver aus einem Päckchen“ in ihren Haferschleim gegeben und Mrs. Taylor ein zweites Mal vergiftet habe. Diesmal mit tödlichen Folgen. Außerdem hatten die beiden Frauen in der Woche zuvor Catherines Schwägerin vergiftet.
Die kleine Informationsmappe in unserem Zimmer hat uns mit spürbarem Stolz davon in Kenntnis gesetzt, dass die Voruntersuchung im Falle der berüchtigten Burnham-Mörderinnen in dem Raum im Erdgeschoss stattgefunden hat, der nun als privates Esszimmer dient. „Berüchtigt“ erscheint mir fraglich. Ich hatte jedenfalls noch nie von ihnen gehört. Also lese ich weiter. Catherine und Fanny wurden in Norwich wegen der Morde an ihren Ehemännern, Mrs. Taylor, CatheriDie im Jahr 1835 spielende Geschichte begann damit, nes Kind und ihrer Schwägerin gehängt. Laut Niles’ dass die Frau eines Schuhmachers beim Abendessen Weekly Register vom 17. Oktober 1835 wurden die mit der Familie heftig zu würgen begann. Mrs. Taylor, beiden „in die Ewigkeit überführt, inmitten einer die Würgende, war mit Arsen vergiftet worden. Je- riesigen Zuschauermenge (20 000 oder 30 000), wovon mand hatte das Mehl in der Vorratskammer mit dem die Hälfte Frauen waren“. In die Ewigkeit überführt. Zeug versetzt, und bei der späteren Autopsie wurden Welch nette Metapher aus dem Transportwesen. auch in ihrer Magenschleimhaut Spuren von Arsen entdeckt. Die nachfolgende Untersuchung ergab, Schon seltsam, dass die „Burnham-Mörderinnen“ in dass Mr. Taylor eine Affäre mit der Nachbarin, einer die Mappe mit den Hotelinformationen aufgenomMrs. Fanny Billing hatte. Diese Fanny Billing hatte men worden waren, vor allem wenn man bedenkt, unlängst bei einem Apotheker am Ort Arsen im Wert dass die Gäste hier überwiegend romantische Wovon drei Pennys erworben. Dieses Arsen hatte seinen chenendausflüge buchen.
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Der Wecker reißt uns um halb fünf am Morgen aus unseren Träumen unter Gänsedaunen und ägyptischer Baumwolle. Schweigend ziehen wir an, was wir am Abend zuvor bereits herausgelegt haben: dünne Baumwoll-T-Shirts, Wanderschuhe, Jeans und Wollpullover für die Zeit vor Sonnenaufgang. Ich mache uns mit der kleinen Maschine auf dem Zimmer einen Kaffee, während Mark sich im Bad um seine Frisur kümmert. Mark ist nach herkömmlichen Maßstäben alles andere als eitel, doch wie die meisten Männer in den Dreißigern scheint er sich morgens zunehmend auf seine Haare zu konzentrieren. Ich mag diese leichte Nervosität, diesen winzigen Riss in seiner Perfektion. Und ich genieße es, schneller fertig zu sein als er. Wir trinken unseren Kaffee fertig angezogen und schweigend auf der Bettdecke. Das Fenster steht offen, und er hat den Arm um mich gelegt. Wir haben noch genügend Zeit, um in den Wagen zu springen und den Strand rechtzeitig zum Sonnenaufgang zu erreichen. Auf der Karte mit Informationen zum Tag, die auf dem Nachttisch liegt, ist der Sonnenaufgang für 5 Uhr 5 angekündigt.
Unser Wagen ist heute einer der ersten auf dem kiesbedeckten Parkplatz. Später wird hier – wie immer – wesentlich mehr los sein, wenn erst die Hunde und die Familien auftauchen, die Wagen mit Pferdeanhänger und die Reiter, ganze Familienclans, die das schöne Wetter unbedingt nutzen wollen. Denn diese Hitze wird sich nicht lange halten. Andererseits hört man das jedes Jahr, oder? Während wir den Schotterweg hinunter zur wilden, großartigen Strandlandschaft nehmen, begegnet uns keine Menschenseele. Vier Meilen weiß-goldener Sand, gesäumt von Kiefernwald. Der Nordseewind biegt die Wildgrasbüschel und peitscht an den Kanten der hoch aufragenden Dünen den Sand auf. Meilenweit sauberer Strand und Meer und alles menschenleer. Unmittelbar vor der Morgendämmerung wirkt die Umgebung überirdisch. Eine eben entstandene, kahle Landschaft. Es fühlt sich jedes Mal wie ein Neubeginn an, wie am Neujahrstag.
Mark nimmt meine Hand, und wir nähern uns dem Weitgehend schweigend fahren wir zum Holkham Wasser. Bei dem Streifen aus angeschwemmten Algen Beach. Wir sind zusammen, aber in unsere jeweiligen ziehen wir unsere Schuhe aus und lassen uns – die Gedanken versunken. Noch wollen wir die Schläf- Jeans bis zu den Knien hochgeschoben – das eiskalte rigkeit nicht ganz abschütteln. Dies alles fühlt sich Wasser um die Füße plätschern. an wie eine Art rituelle Handlung. So ist es bei uns manchmal, so hat es sich einfach entwickelt. Eine Sein Lächeln. Seine Augen. Seine warme Hand, die Spur von Magie schleicht sich in unser Leben ein, meine festhält. Das Stechen des eisigen Wassers an und wir hegen und pflegen sie wie eine empfindliche meinen Füßen, das Ziehen in den Beinen vor Kälte. Pflanze. Wir machen das nicht zum ersten Mal, für Eine brennende Kälte. Wir haben genau die richtige uns gehört es dazu. Der Morgen des Jahrestags. Wäh- Zeit abgepasst. Der Himmel beginnt sich aufzuhellen. rend wir auf den Parkplatz fahren, frage ich mich, ob Wir lachen. Mark schaut auf seine Armbanduhr und wir diesen Tag auch noch feiern werden, wenn wir in zählt die Zeit bis 5 Uhr 5 herunter. Geduldig schauen zwei Monaten verheiratet sind. Oder wird dann der wir über das Wasser Richtung Osten. Hochzeitstag unser neuer Tag? Erst als sich das Dämmerlicht über den ganzen HimAls wir aussteigen, umhüllt uns die dichte Stille mel ausgebreitet hat, taucht die Sonne als glühender von Holkham Hill. Ein Schweigen, das nur hin und Punkt über dem silbrigen Wasser auf und wird zusewieder von klangvollem Vogelgesang durchbrochen hends größer. Gelb überzieht den Horizont, das sich zu wird. Eine Gruppe Rehe auf dem angrenzenden Feld Pfirsich- und Pinktönen abschwächt, wo es die unteschaut auf, als wir die Autotüren zuwerfen, und hält ren Wolkenränder streift. Und darüber – erstrahlt der regungslos inne. Wir erwidern ihre Blicke, bis sie ihre ganze Himmel in Blau. Himmelblau. Oh, Mann. Es ist Aufmerksamkeit wieder dem Gras zuwenden. so wunderschön. So schön, dass mir schwindlig wird.
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Als ich die Kälte nicht mehr aushalte, wate ich zurück ans Ufer. Im flachen Wasser beuge ich mich hinab, um meine Füße vom Sand zu befreien, ehe ich die Schuhe wieder anziehe. Das vom kristallklaren Wasser gebrochene Sonnenlicht fängt sich in meinem Verlobungsring. Der frühmorgendliche Nebel hat sich verzogen, die Luft ist feucht, salzig und frisch. So hell. So klar. Der Himmel zeigt ein fast schon unwirklich intensives Blau. Es ist der schönste Tag des Jahres. Immer wieder. So viel Hoffnung, jedes Jahr aufs Neue. Im letzten Oktober hat Mark mir einen Heiratsantrag gemacht, nach seinem fünfunddreißigsten Geburtstag. Obwohl wir schon jahrelang zusammen sind, kam es irgendwie überraschend. Manchmal frage ich mich, ob ich die Dinge mehr an mir vorbeirauschen lasse als andere Menschen. Vielleicht bin ich nicht aufmerksam genug, oder ich lasse vieles nicht richtig an mich heran. Ich erlebe immer wieder Überraschungen. Jedes Mal bin ich überrascht, wenn Mark mir erzählt, dass dieser sich nicht mit jenem verstanden hat, dass jemand sich zu mir hingezogen gefühlt oder eine andere deutliche Reaktion gezeigt hat. Ich bemerke es einfach nicht. Wahrscheinlich ist es auch gut so. Was man nicht weiß, kann einem nichts anhaben. Mark dagegen ist aufmerksam. Er kann sehr gut mit Leuten umgehen. Ihr Gesicht hellt sich auf, wenn sie ihn kommen sehen. Sie lieben ihn. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn wir jeder für sich etwas unternehmen, fragt man mich oft in leicht enttäuschtem Tonfall: „Kommt Mark denn nicht?“ Ich nehme es nicht persönlich, denn schließlich geht es mir genauso. Mit Mark ist es in jeder Situation besser. Er hört zu, hört wirklich zu. Er hält Augenkontakt. Nicht auf aggressive Weise, sondern so, dass die Leute sich bestätigt fühlen. Sein Blick sagt: Ich bin hier, und das ist alles, was ich will. Er interessiert sich für Menschen. Marks Blick ist immer offen und ohne Hintergedanken. Er ist einfach da, bei einem. Wir sitzen hoch oben auf einer Düne und schauen über die endlose Weite des Wassers und des Himmels.
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Hier oben ist der Wind stärker. Er heult in unseren Ohren. Ich bin dankbar für die dicken Pullover. Die grobe irische Wolle riecht, wenn sie sich erwärmt, nach Tier. Unser Gespräch kommt auf die Zukunft. Auf unsere Pläne. Am Jahrestag haben wir immer Pläne geschmiedet. Wie Neujahrsvorsätze irgendwie, nur mitten im Sommer. Ich habe immer gern vorausgeplant, schon als Kind. Und ich mag es, Bilanz zu ziehen. Mark dagegen hat, bevor wir uns kennenlernten, nie groß Pläne gemacht. Aber dann hat er gleich Gefallen daran gefunden – der vorausschauende, zukunftsorientierte Aspekt entspricht seinem Naturell. Meine Mittjahresvorsätze sind nicht besonders ungewöhnlich. Das Übliche halt: mehr lesen, weniger fernsehen, effizienter arbeiten, mehr Zeit mit lieben Menschen verbringen, besser essen, weniger trinken, glücklich sein. Und dann sagt Mark, er wolle sich mehr auf die Arbeit konzentrieren. Mark ist Banker. Ja, ich weiß, Buhrufe und Pfiffe. Aber ich kann nur sagen: Er ist kein Arschloch. In diesem Punkt müssen Sie mir schon vertrauen. Er ist alles andere als ein typischer Eton-Absolvent, der sich im Saufclub und im Poloteam hervorgetan hat. Sondern ein Junge aus Yorkshire, der es zu etwas gebracht hat. Zugegebenermaßen hat sein Dad nicht gerade im Kohlenbergwerk gearbeitet. Inzwischen ist Mr. Roberts im Ruhestand, aber früher war er Rentenberater bei der Prudential-Versicherung in East Riding. Mark hat in der City schnell seinen Weg gemacht. Er bestand die nötigen Prüfungen, wurde Trader, spezialisierte sich auf Staatsanleihen, wurde abgeworben, wurde befördert, und dann passierte es – der Crash. Der Finanzbranche brach der Boden unter den Füßen weg. Jeder, der etwas davon verstand, war vom ersten Tag an panisch. Sie alle sahen das Unabwendbare kommen. Rein praktisch gesehen lief es für Mark ganz gut. Sein Job war sicher – vielleicht sogar noch sicherer als zuvor, weil er sich genau auf das spezialisiert hatte, was nach dem Crash das große Thema war, nämlich Staatsschulden. Doch die Bonuszah-
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Mark ging zu einer anderen Bank. Dort, wo er gearbeitet hatte, waren sämtliche Kollegen entlassen worden, und er hatte plötzlich die Arbeit von fünf Leuten am Hals. Also nutzte er die Chance und suchte sich etwas Neues.
Ich mag diese neue Bank nicht. Irgendetwas stimmt da nicht. Die Männer dort schaffen es, gleichzeitig fett und kräftig auszusehen. Sie sind außer Form, und sie rauchen, was mir früher nichts ausgemacht hat, inzwischen aber den Eindruck verzweifelter Nervosität bei mir hervorruft. Das alles macht mir Sorgen. Es riecht nach Zorn und zerplatzten Träumen. Manchmal gehen Marks Kollegen etwas mit uns trinken. Dann spotten und lästern sie über ihre Frauen und Kinder, als wäre ich gar nicht da. Sie tun so, als wären ihre Frauen daran schuld, dass sie nicht irgendwo gemütlich an einem Strand herumliegen.
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lungen stürzten für alle gleichermaßen ab. Was so weit in Ordnung war, denn wir lebten nicht gerade an der Armutsgrenze. Viele seiner Freunde allerdings wurden entlassen, was beängstigend war. Es ist mir damals ziemlich an die Nieren gegangen, zu sehen, wie erwachsene Menschen einfach bankrott gingen. Sie hatten Kinder auf teuren Schulen und Hypothekenzahlungen, die sie sich plötzlich nicht mehr leisten konnten. Ihre Ehefrauen hatten seit der Schwangerschaft nicht mehr gearbeitet. Niemand hatte einen Plan B. Es war das Jahr, in dem Leute zu uns zum Abendessen kamen und weinten. Sie verließen das Haus unter Entschuldigungen, lächelten tapfer und versprachen, sich wieder zu melden, wenn sie erst in ihre Heimatstadt zurückgekehrt seien und sich ein neues Leben aufgebaut hätten. Von den meisten hörten wir nichts mehr. Und wenn, ging es darum, dass sie wieder bei ihren Eltern eingezogen oder nach Australien ausgewandert waren. Oder dass sie sich hatten scheiden lassen.
Tag zusammen mit diesen Typen in einem Raum. Ich weiß, dass er willensstark ist, aber offensichtlich zermürbt es ihn. Und ausgerechnet heute, am Tag der Tage, erklärt er mir, er wolle sich in der nächsten Zeit mehr auf die Arbeit konzentrieren. Konzentrieren bedeutet, dass ich ihn weniger sehen werde. Er arbeitet schon jetzt zu hart. Wochentags steht er um 6 Uhr auf, verlässt das Haus um 6 Uhr 30, isst mittags an seinem Schreibtisch und kommt um 19 Uhr 30 total erschöpft zu mir nach Hause. Wir essen zu Abend und unterhalten uns, schauen uns vielleicht einen Film an, und um zehn liegt er im Bett und hat das Licht ausgemacht, weil es am nächsten Tag wieder von vorn losgeht. „Ich will mir etwas Neues suchen“, sagt er. „Ich arbeite jetzt seit einem Jahr dort. Als ich anfing, hat man mir versprochen, dass ich nur übergangsweise auf dieser Position bleibe, bis wir die Abteilung umstrukturiert haben. Aber die bremsen mich aus. Sie lassen mich nicht umstrukturieren. Also mache ich nicht das, wofür ich eigentlich eingestellt wurde.“ Er seufzt und reibt sich mit der Hand übers Gesicht. „Was an sich in Ordnung wäre. Trotzdem muss ich ein vernünftiges Gespräch mit Lawrence führen. Wir müssen auch über meinen Jahresbonus reden oder über Veränderungen im Team, weil ein paar von diesen Komikern nicht die geringste Ahnung haben, was sie eigentlich machen.“ Er hält inne und wirft mir einen Blick zu. „Ernsthaft, Erin. Ich wollte es dir eigentlich nicht erzählen, aber nachdem wir am Montag diesen Deal abgeschlossen hatten, rief Hector mich weinend an.“ „Warum hat er geweint?“, frage ich überrascht. Hector arbeitet schon seit Jahren mit Mark zusammen. Als Mark bei der anderen Bank gekündigt hat, weil dort alles in die falsche Richtung lief, versprach er Hector, eine Stelle für ihn zu finden. Und er hielt Wort. Mark machte Hector zur Bedingung für seinen Wechsel. Sie würden zusammen kommen oder gar nicht.
Mark ist nicht wie sie. Er achtet auf sich. Er läuft, er „Du weißt doch, dass wir neulich auf diese Zahlen schwimmt, er spielt Tennis, er kümmert sich um gewartet haben, damit wir den Deal endgültig festseine Gesundheit. Und jetzt sitzt er elf Stunden am machen konnten?“ Er schaut mich forschend an.
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„Ja, du hast den Anruf auf dem Parkplatz angenommen“, sagte ich und forderte ihn mit einem Nicken zum Weiterreden auf. Er hatte sich gestern während des Mittagessens aus dem Pub verdrückt und war eine Stunde lang auf dem Schotter auf und ab gelaufen, während sein Essen kalt wurde. Ich hatte in der Zeit in meinem Buch gelesen. Ich arbeite freiberuflich, sodass mir das Telefonieren im Auf- und Ablaufen vertraut ist.
„Leider nicht, Schatz. Jedenfalls hat Hector mich angerufen und zu erklären versucht, dass er es einfach für korrekt gehalten hätte, obwohl er normalerweise immer, immer alles nachprüft … aber Andrew hätte gesagt, schick es ab, und … und dann fängt er an zu weinen. Erin, ich hab … ich hab einfach das Gefühl, ich bin von kompletten …“ Mark bremst sich gerade noch rechtzeitig und schüttelt bekümmert den Kopf. „Ich werde also die Fühler nach etwas Neuem ausstrecken. Ich habe nicht das geringste Problem mit einem geringeren Bonus oder mit Gehaltseinbußen. Der Markt kommt sowieso nicht mehr aufs alte Niveau zurück. Warum sollten wir uns etwas vormachen? Ich brauche diesen Stress nicht mehr. Ich will mein Leben zurück. Ich will dich, ich will Babys … und unsere gemeinsamen Abende.“
„Ja, er sagte, er hätte die Zahlen. Die Typen vom Trading Desk wollten sich über die Feiertage nicht ins Büro bequemen und haben es ihm ziemlich schwer gemacht. Sobald wir zurück in London sind, wird es ein Meeting zum Thema Überstunden und Unternehmenskultur geben. Es ist lächerlich. Jedenfalls hat Hector mit New York telefoniert und erklärt, dass niemand im Haus sei und warum die Zahlen so spät kämen. Sie sind völlig ausgeflippt. Andrew … Du er- Das klingt gut. Sehr gut sogar. Ich umarme ihn. Verinnerst dich an Andrew in New York, oder? Ich hab grabe meinen Kopf an seiner Schulter. „Das will ich auch.“ dir von dem …“ „Der Kerl, der dich bei Briannys Hochzeit am Telefon „Gut.“ Er küsst mich sanft aufs Haar. beschimpft hat?“, unterbreche ich ihn. „Ich werde etwas Gutes finden, fristgerecht kündigen Er schnaubt und lächelt mich an. „Ja, Andrew. Er und mich über die Hochzeit und die Flitterwochen steht … maximal unter Strom. Aber wie auch immer. freistellen lassen. Und dann vielleicht im November Andrew brüllt Hector also am Telefon an, worauf- wieder anfangen. Jedenfalls rechtzeitig zu Weihhin Hector ausflippt, den Preis für den Deal einfach nachten.“ selbst eintippt und abschickt. Dann geht er ins Bett. Als er aufwacht, warten Hunderte entgangene Anru- Er war schon einmal „freigestellt“. Alle, die in der fe und E-Mails auf ihn. Es stellt sich heraus, dass sie Finanzbranche arbeiten, müssen zwischen zwei eine Null zu viel an die Zahl angehängt hatten. Greg Jobs eine Zwangspause einlegen. Das soll dazu dieund die anderen Typen vom Trading Desk hatten ihm nen, möglichem Insiderhandel vorzubeugen, ist im die falsche Summe genannt, um den Deal zu verzö- Prinzip aber nichts anderes als ein zweimonatiger gern. Sie hatten geglaubt, Hector würde alles noch bezahlter Urlaub. Das klingt alles nach einem tollen einmal überprüfen, ehe er irgendwas abschickt. Und Plan. Toll für ihn. Aber auch ich könnte sicher ein sie dann auffordern, nächste Woche noch einmal al- paar Wochen freimachen. Wir könnten richtig was les neu zu berechnen, wenn alle zurück im Büro sind. draus machen, echte Flitterwochen zum Beispiel. Ich Bloß dass Hector es nicht mehr geprüft hat. Er hat arbeite momentan an meinem ersten abendfüllenden es abgezeichnet und losgeschickt. Und wir reden von Dokumentarfilm, aber bis zur Hochzeit habe ich den ersten Teil der Dreharbeiten abgeschlossen. Bis zum einem rechtsverbindlichen Vertrag.“ zweiten Teil bleibt eine drei- bis vierwöchige Lücke. „O mein Gott, Mark. Können sie nicht einfach sagen, Und diese drei bis vier Wochen könnten wir auf jeden Fall nutzen. dass es ein Irrtum war?“
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„Wo wollen wir hin?“, fragt er.
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Ich spüre, wie sich ein warmes Gefühl in meiner Brust breitmacht. Richtig so. Das wird uns guttun.
nen wir zusammen tauchen.“ Ich sage es, weil es in meinen Augen der größtmögliche Liebesbeweis ist. Ich komme mir vor wie eine Katze mit einer toten Maus im Maul. Ob er sie will oder nicht, ich lege sie ihm zu Füßen.
„Flitterwochen?“ Es ist das erste Mal, dass wir ernsthaft darüber reden. Die Hochzeit findet in zwei Monaten statt. Darum haben wir uns gekümmert, aber die Urlaubsfrage ist noch offen. Unberührt sozusagen, wie ein noch verpacktes Geschenk. Aber nichts spricht dagegen, jetzt darüber zu reden. Ich bin ganz aufgeregt bei der Aussicht, ihn all die Wochen für mich allein zu haben.
„Ernsthaft?“ Er starrt mich besorgt an. Zum Schutz vor dem Sonnenlicht hat er die Augen leicht zusammengekniffen, und der Wind zerzaust sein dunkles Haar. Damit hat er nicht gerechnet.
Mark ist ausgebildeter Taucher. Bei jeder Reise, die wir gemeinsam unternommen haben, hat er mich zum Mitmachen überreden wollen, aber ich habe mich nie getraut. Bevor wir uns kennenlernten, habe „Lass uns etwas Verrücktes machen. Vielleicht ist es ich mal eine schlechte Erfahrung gemacht. Ich war in das letzte Mal, dass wir die Zeit oder das Geld dazu Panik geraten. Nichts wirklich Schlimmes, aber die haben.“ Es platzt einfach aus mir hinaus. Erinnerung macht mir bis heute Angst. Ich hasse es, mich in einer Falle zu fühlen. Der Gedanke an den „Ja!“, brüllt er und lässt sich von meinem Enthusias- Druck und die langsamen Aufstiege erfüllt mich mit mus anstecken. Grauen. Aber diesmal will ich es um seinetwillen tun. Ein neues gemeinsames Leben mit neuen Herausfor„Zwei Wochen – nein, drei Wochen?“, schlage ich vor. derungen. Dann kneife ich die Augen zusammen und gehe im Geiste den Zeitplan für meine Dreharbeiten und In- Ich grinse. „Ja, unbedingt!“ Ich schaffe das. Wie terviews durch. Drei Wochen schaffe ich. schwer kann es schon sein? Sogar Kinder schaffen es. Wird schon gut gehen. „Jetzt reden wir endlich Klartext. Die Karibik? Die Malediven? Bora Bora?“, fragt er. Er schaut mich an. „Verdammt, ich liebe dich, Erin Locke“, sagt er. Einfach so. „Bora Bora. Das klingt toll. Ich hab keine Ahnung, wo das liegt, aber es klingt toll. Scheiß drauf. Erste Klas- „Verdammt, ich liebe dich auch, Mark Roberts.“ se? Können wir uns erste Klasse leisten?“ Er beugt sich zu mir, dreht meinen Kopf zu sich und Er grinst mich an. „Also erste Klasse. Ich kümmere küsst mich. mich um die Buchung.“ „Bist du echt?“, fragt er und schaut mir tief in die Augen. „Großartig!“ Ich bin noch nie erster Klasse geflogen. Dieses Spiel haben wir schon häufiger gespielt, bloß Und dann sage ich etwas, was ich vermutlich mein dass es kein Spiel ist. Oder doch? Ein Gedankenspiel Leben lang bereuen werde. vielleicht. „Ich will mit dir Gerätetauchen machen. Wenn wir Eigentlich meint er: „Ist das hier echt?“ Weil es so gut fahren. Ich will es noch einmal versuchen. Dann kön- ist, dass es nur eine Täuschung sein kann, ein Fehler.
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Weil es gar nicht anders sein kann, als dass ich ihn anlüge. Lüge ich ihn an? Ich überlege eine Sekunde. Als er mich anschaut, gleiten meine Gesichtsmuskeln nach unten. Ich lasse meine Pupillen sich zusammenziehen wie ein implodierendes Universum. Dann erwidere ich ruhig: „Nein.“ Nein, ich bin nicht echt. Es ist beängstigend. Ich habe das nur wenige Male getan. Mich von meinem eigenen Gesicht absentiert. Mich verschwinden lassen. Wie ein Handy, das auf die Werkseinstellungen zurückgesetzt wird.
Salzwiese und wir fallen übereinander her, spüren nur noch Wollpullover und feuchte Haut. Als er kommt, flüstere ich ihm ins Ohr: „Ich bin echt.“
3 | Der Anruf Montag, 11. Juli
Im letzten Jahr erhielt ich von einer Wohltätigkeitsorganisation, die sich um Gefängnisinsassen kümmert, endlich die Zusage zur finanziellen Beteiligung an meinem ersten unabhängigen Projekt. Nach Jahren der Recherche und Planung wird er jetzt endlich „Nein, ich bin nicht echt“, sage ich einfach mit aus- Wirklichkeit: mein erster eigener, abendfüllender drucksloser, offener Miene. Dokumentarfilm. Ich habe es geschaff t, mir zwischen meinen Jobs als Freelancerin die Zeit für Recherche Es soll so aussehen, als würde ich es so meinen. und Preproduction zu nehmen, und beginne in neun Tagen mit dem Dreh der Interviews. In dieses Projekt Es funktioniert am besten, wenn es echt aussieht. habe ich viel Herzblut gesteckt und hoffe mehr als alles andere, dass es gelingt. Planung hilft letztendSeine Augen flackern und huschen über mein Gesicht, lich nur bis zu einem gewissen Punkt. Danach heißt suchen nach einem Haken, nach einer Bruchstelle, es abwarten und schauen, was passiert. Es ist ein nach etwas, woran er sich festhalten kann. Doch es großes Jahr. Für mich. Für uns. Der Film, die Hochgibt nichts. Ich bin verschwunden. zeit – alles scheint auf einmal zu passieren. Aber tief drinnen glaube ich, dass ich in meinem Leben einen Ich weiß, dass ihn das beunruhigt. Tief in seinem magischen Punkt erreicht habe, wo sämtliche Pläne, Inneren fürchtet er, dass ich eines Tages tatsächlich die ich in meinen Zwanzigern geschmiedet habe, endverschwinde. Fortgehe. Dass das hier wirklich nicht lich Wirklichkeit werden, und zwar gleichzeitig. Als echt ist. Dass er aufwacht, und im Haus ist alles un- hätte ich es gezielt so eingefädelt, obwohl ich wahrverändert, nur ich bin nicht mehr da. Ich kenne diese haftig nicht behaupten kann, es bewusst so geplant Angst. Ich sehe sie in zufälligen Momenten, wenn wir zu haben. Ich schätze, so läuft es im Leben, oder? mit Freunden ausgehen oder an entgegengesetzten Lange geschieht nichts, und dann alles auf einmal. Enden eines überfüllten Raums stehen. Ich sehe ihn, diesen Blick, und dann weiß ich, dass er echt ist. Ich Die Idee für meinen Film ist im Prinzip ganz simsehe den Blick auch jetzt in seinem Gesicht. Und das pel. Sie flog mir zu, als ich Mark eines Abends vom Leben im Internat erzählte. Wenn dort abends das genügt mir. Licht ausgeschaltet wurde, brachten wir Mädchen Ich lasse das Lächeln heraus, und sein Gesicht scheint in der Dunkelheit noch Stunden damit zu, uns laut vor Freude fast zu platzen. Er lacht. Läuft vor Glück auszumalen, was wir tun würden, wenn wir endlich rot an. Ich lache, dann nimmt er mein Gesicht wie- nach Hause kämen. Was wir essen würden, wenn wir der in die Hände und drückt seine Lippen auf meine. die freie Wahl hätten. Endlos schilderten wir uns geAls hätte ich ein Rennen gewonnen. Als käme ich ge- genseitig diese imaginären Mahlzeiten. Fast schon rade aus dem Krieg zurück. Gut gemacht, Erin. Gott, zwanghaft redeten wir über Yorkshire-Pudding ich liebe dich, Mark. Er zieht mich ins hohe Gras der in Bratensaft oder Cocktailwürstchen auf Spießen.
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dass ich die Interviews im Knast ganz allein führen werde. Nur ich und eine fest positionierte Kamera, die alles aus einer einzigen Perspektive filmt. Die Aufnahmen werden also ziemlich kunstlos aussehen, aber das passt zum Inhalt, von daher bin ich zufrieden. Während der zweiten Phase, wenn meine Kandidaten auf freiem Fuß sind, werden Phil und Duncan mich begleiten.
So entstand die Idee zu dem Dokumentarfilm. Das Format ist, wie gesagt, denkbar einfach. Der Film wird drei Gefangene während und nach Ablauf ihrer Haftzeit begleiten, mit Interviews und Alltagsbeobachtungen. Zwei Frauen und ein Mann, die ihre Hoff nungen und Träume von der Freiheit schildern, und zwar vor und nach der Entlassung. Heute steht mein vorbereitender Anruf mit dem dritten und letzten Häftling an, dann werde ich mit allen dreien im Gefängnis die Interviews vor der Entlassung führen. Bisher habe ich mehrmals mit den beiden weiblichen Kandidaten gesprochen. Den Kontakt zu dem männlichen Häftling herzustellen war wesentlich schwieriger. Heute haben wir endlich unser schwer erkämpftes Telefonat. Jetzt warte ich auf einen Anruf von Eddie Bishop. Dem Eddie Bishop, einem der letzten verbliebenen Gangster aus dem Londoner East End. Einem hundertprozentig authentischen, Ich-zerhacke-dich-mit-der-Axt-, Nachtclub-Casino-Gangster. Ursprünglich war er Mitglied der Richardson-Gang und in späteren Jahren der Kopf von Londons größter Verbrecherbande südlich der Themse.
Phil ist ein Kameramann, dem ich bedingungslos vertraue – er hat ein tolles Auge, und unsere ästhetischen Vorstellungen liegen nahe beieinander. Das klingt jetzt wahrscheinlich ein bisschen hochgestochen, ist aber wichtig, Ehrenwort. Mit Duncan habe ich schon ein paarmal zusammengearbeitet. Er ist witzig, aber vor allem ist er eigentlich viel besser, als ich es mir leisten könnte. Duncan und Phil werden in diesem Fall beide zu einem Freundschaftspreis arbeiten, denn das Projekt ist finanziell ordentlich, aber nicht wirklich üppig ausgestattet. Zum Glück finden sie das Konzept genauso spannend wie ich und glauben an meinen Film.
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Wir malten uns aus, welche Kleidung wir anziehen würden, wenn wir selbst entscheiden dürften; wohin wir gehen und was wir tun würden, wenn wir endlich frei wären. Mark sagte an dem Abend, für ihn klinge das nach Gefängnis. Dass wir auf eine Art und Weise von zu Hause geträumt hätten, wie es auch Strafgefangene tun.
Ich schaue in die Plastikmappe mit meinen hart erkämpften Genehmigungspapieren vom Justizministerium und von Her Majesty´s Prison Service, der obersten Strafvollzugsbehörde. Worum es mir in dem Film vor allem geht, ist, nicht in die Muster der üblichen Darstellung von Strafgefangen zu verfallen. Ich will diese drei Menschen als Individuen präsentieren, unabhängig davon, wofür sie verurteilt wurden. Holli und Eddie haben Strafen von vier beziehungsweise Ich starre auf das Festnetztelefon. Es klingelt nicht. sieben Jahren für Verbrechen bekommen, bei denen Es sollte aber klingeln. Es ist 13 Uhr 12, und ich warte niemand zu Tode kam. Alexa wurde zu lebenslänglich seit zwölf – nein, jetzt seit dreizehn – Minuten auf mit Bewährung verurteilt. Aber sagen diese Strafen einen Anruf aus dem Pentonville-Gefängnis. Die An- irgendetwas darüber aus, wer diese Menschen sind? rufe meiner anderen Gesprächspartnerinnen, Alexa Lassen sie einen Rückschluss darauf zu, wer wie geund Holli, waren auf die Minute pünktlich eingegan- fährlich ist? Wer ein besserer Mensch ist? Wem man gen. Ich frage mich, wo das Problem liegt, und hoffe vertrauen kann? Wir werden sehen. nur, dass Eddie nicht seine Meinung geändert und einen Rückzieher gemacht hat. Ich bete, dass die Ge- Ich ziehe das Telefon mit Schnur und allem zum Sofa fängnisleitung ihre Meinung nicht geändert hat. hinüber und setze mich auf eine von der Sonne beschienene Stelle unter dem Fenster. Sofort wärmt das Es war jedes Mal schwierig, von der Gefängnisleitung vom Laub der Bäume gefilterte Licht meine Schultern irgendwelche Genehmigungen dafür zu bekommen, und meinen Nacken. Irgendwie zieht der britische
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Sommer sich in diesem Jahr ungewöhnlich lange hin. Normalerweise haben wir bloß ein paar Sommertage, doch diesmal ist es schon drei Wochen am Stück richtig warm. Angeblich soll das Wetter sich ändern, aber offenbar ist es noch nicht so weit. Mark ist im Büro, und hier im Haus ist alles still. Nur das gedämpfte Gerumpel der Lastwagen und das Brummen von Motorrädern dringen von der Stoke Newington High Street herüber. Ich schaue durch das typisch georgianische Schiebefenster in unseren Garten. Eine Katze, schwarz mit weißen Pfoten, schleicht an der Mauer entlang.
Eddie hatte eine natürliche Begabung zum Kriminellen. Er war verlässlich, direkt und sorgte dafür, dass die Dinge erledigt wurden. Welche Dinge auch immer. Ohne Wenn und Aber. Für die Richardson-Brüder wurde er bald unverzichtbar. Das ging so weit, dass Eddie, als die Richardsons in jenem Sommer 1966 schließlich verhaftet wurden, die Geschäfte reibungslos weiterführte, während die Brüder und der Rest der Bande hinter Gittern saßen.
Angeblich baute Eddie das komplette Syndikat in South London wieder auf und stand zweiundvierzig Jahre lang an dessen Spitze, bis zu seiner Verhaftung Ich musste alle möglichen Leute um einen Gefallen wegen Geldwäsche vor sieben Jahren. Vier Jahrzehnte bitten, um so weit zu kommen. Fred Davey, der Film- lang war Eddie in South London der Boss, mordete, regisseur, bei dem ich meinen allerersten Job hatte, schlitzte, erpresste, wo immer er wollte. Und sieben verbürgte sich in einem Brief ans Justizministerium Jahre wegen Geldwäsche waren alles, was man ihm für mich. Ich bin ziemlich sicher, dass Freds zwei aufbrummen konnte. BAFTAs und die Oscar-Nominierung verdammt viel mehr bewirkt haben als das Exposé, das ich für die Klingeling. Beantragung der Dreherlaubnis geschrieben habe. ITV hat bereits Interesse bekundet, meine Doku nach Das Läuten des Telefons durchbohrt die Stille. Schrill der Kinoauswertung auszustrahlen, und auch Chan- und nachdrücklich. Ganz plötzlich bin ich nervös. nel 4 hat in einem Brief für meine Arbeit gebürgt – der Sender hat schon zwei meiner Kurzfilme gezeigt. Klingeling. Klingeling. Und natürlich hat meine Filmhochschule mich unterstützt. Die Galerie White Cube hat ein Empfehlungs- Ich sage mir, dass alles in Ordnung ist. Solche Gespräschreiben aufgesetzt, was auch immer das beim Jus- che habe ich schon mit vielen anderen geführt. Alles tizministerium ausrichten kann. Das gilt ebenso für in Ordnung. Zittrig atme ich durch und hebe den Hösämtliche Produktionsfirmen, für die ich freiberuf- rer ans Ohr. lich gearbeitet habe, und Creative England, die mir bisher mit Geldmitteln und sonstiger Unterstützung „Hallo?“ zur Seite gestanden sind. „Hallo, spreche ich mit Erin Locke?“ Die Stimme klingt Und dann habe ich natürlich Eddie Bishop. Er ist ein weiblich, barsch und nach Mitte vierzig. Nicht ganz echter Hammer, der absolute Traum für einen Doku- das, was ich erwartet habe. Und sicher nicht Eddie Bimentarfilmer. Das Interview mit ihm ist der Grund, shop. weshalb ich meine Finanzierung zusammenbekommen habe. Er schloss sich damals mit sechzehn der „Ja, hier spricht Erin Locke.“ Richardson-Gang an, als diese auf dem Höhepunkt ihrer Macht war, unmittelbar vor ihrem Aus im Jahr „Hier ist Diane Ford aus dem Pentonville-Gefängnis. 1966. Es war das Jahr, in dem England die Weltmeis- Ich habe einen Anruf von einem Mr. Eddie Bishop für terschaft gewann und der Wirbel um die Kray-Zwil- Sie. Soll ich Sie verbinden, Ms. Locke?“ Diane Ford klingt gelangweilt. Es interessiert sie nicht, wer ich linge begann.
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bin. Oder wer er ist. Für sie ist das bloß ein ganz nor- meine bevorstehende Hochzeit, die geplante Namaler Anruf. mensänderung oder über Mark weiß, es sei denn, er hätte Nachforschungen über mich angestellt. Und da „Ähm, ja, danke, Diane. Vielen Dank.“ Und weg ist sie. er im Gefängnis sitzt, bedeutet das, er hätte NachforEin leises Klicken und ein Summton. schungen anstellen lassen. Und für Nachforschungen über mich ist deutlich mehr nötig als eine schnelle Eddie hat noch nie ein Interview gegeben. Er hat mit Online-Recherche. Ich nutze keine sozialen Medien. keinem einzigen Menschen über seine Geschäfte ge- Ich halte mich von Facebook fern. Alle guten Dokusprochen. Niemals. Keine Sekunde lang gebe ich mich mentarfilmer wissen, was man mit Informationen der Illusion hin, diejenige sein zu können, die ihn aus den sozialen Medien alles anfangen kann. Deszum Auspacken bringt. Und ich bin nicht mal sicher, halb lassen wir die Finger davon. Um es auf den Punkt ob ich das überhaupt wollte. Eddie war schon Berufs- zu bringen: Eddie Bishop hat mir gerade mitgeteilt, verbrecher, als ich noch nicht mal auf der Welt war. dass er professionelle Nachforschungen über mich Keine Ahnung, warum um alles in der Welt er zuge- in Auftrag gegeben hat. Er hat mich überprüft. Er ist stimmt hat, bei meinem Dokumentarfilm mitzuma- am Drücker und weiß alles über mich. Und über Mark. chen, aber er hat es getan. Ich schätze ihn als einen Und unser Leben. Mann ein, der nichts ohne Grund tut, also werde ich über kurz oder lang schon herausfinden, was dieser Ich lasse mir einen Augenblick Zeit mit der Antwort. Er stellt mich auf die Probe. Ich will nicht so früh im Grund ist. Spiel einen falschen Schritt machen. Noch einmal atme ich zitternd durch. „Ich sehe, wir haben beide unsere Hausaufgaben gemacht, Mr. Bishop. Haben Sie etwas Interessantes Dann kommt die Verbindung zustande. herausgefunden?“ „Hier ist Eddie.“ Eine tiefe, warme Stimme mit typischem Cockney-Einschlag. Sie endlich zu hören fühlt In meiner Vergangenheit gibt es nichts allzu Brisantes, keine Leichen im Keller. Obwohl ich das weiß, sich merkwürdig an. komme ich mir bloßgestellt vor, bedroht. Dies ist eine „Hallo, Mr. Bishop. Ich freue mich, endlich mit Ihnen Demonstration seiner Macht, ein Warnschuss. Eddie sprechen zu können. Ich bin Erin Locke. Wie geht es mag sieben Jahre hinter Gittern verbracht haben, Ihnen?“ Ein guter Einstieg. Sehr professionell. Ich doch er lässt mich wissen, dass er weiterhin die Fäden höre schlurfende Schritte am anderen Ende der Lei- zieht. Würde er das nicht auf derart offenherzige tung, dann scheint er es sich bequem zu machen. Weise tun, hätte ich jetzt sicher Angst. „Hallo, meine Liebe. Schön, von Ihnen zu hören. Locke, richtig? Also noch keine Roberts? Wann ist der große Tag?“ Seine Frage klingt fröhlich und locker hingeworfen. Ich kann sein Lächeln beinahe hören. Unter praktisch allen Umständen wäre es eine nett gemeinte Frage gewesen, und ich bin drauf und dran, ebenfalls zu lächeln. Doch sie lässt mich innehalten. Denn es ist völlig ausgeschlossen, dass Eddie etwas über
„Alles sehr beruhigend, würde ich sagen. Es hat meine Bedenken zerstreut, meine Liebe. Man kann nie vorsichtig genug sein.“ Eddie ist also zu dem Schluss gekommen, dass ich keine Bedrohung darstelle, aber ich soll wissen, dass er ein Auge auf mich hat. Ich stehe auf, versuche das Telefonkabel zu entwirren und spule professionell meine Einleitung ab. „Danke, dass Sie sich zum Mitmachen bereit erklärt haben. Ich weiß Ihre Zusage wirklich zu schätzen.
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Sie sollen wissen, dass ich die Interviews so unvoreingenommen und geradeheraus führen werde, wie ich kann. Mir liegt nichts daran, irgendjemanden vorzuführen, ich will einfach Ihre Geschichte erzählen. Oder besser gesagt, ich werde Sie diese Geschichte erzählen lassen. Und zwar so, wie Sie es wollen.“ Hoffentlich glaubt er mir, dass ich es ernst meine. Wahrscheinlich haben schon eine Menge Leute versucht, ihm ein X für ein U vorzumachen.
„Haben Sie im Augenblick noch irgendwelche Fragen zu den Interviews oder zum Zeitplan, Mr. Bishop?“, frage ich.
„Ich weiß, meine Liebe. Was glauben Sie, warum ich Ihnen zugesagt habe? Sie sind etwas Besonderes. Aber enttäuschen Sie mich nicht, ja?“ Er lässt die Worte einen Augenblick wirken, um ihnen dann das Drohende zu nehmen und einen leichteren Ton anzuschlagen. „Also, wann geht es richtig los?“ Jetzt klingt er munter und geschäftig.
„Danke gleichfalls, Eddie. Es war mir ein Vergnügen.“
Er lacht. „Nein, ich schätze, wir sind durch für heute, meine Liebe. Allerdings sollten Sie mich Eddie nennen. Aber es war schön, endlich mit Ihnen zu sprechen, Erin, nachdem ich so viel von Ihnen gehört habe.“
„Oh, und grüßen Sie Mark von mir, meine Liebe. Er scheint ein netter Kerl zu sein.“ Es klingt wie eine arglose Bemerkung, und doch raubt sie mir den Atem. Also hat er auch Mark ausspioniert. Meinen Mark. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die kleine Pause, die ich mache, wächst sich zum längeren Schweigen aus, „Nun, unser erstes Interview ist für den 24. September das er schließlich bricht. geplant, also in zweieinhalb Monaten. Und Anfang Dezember werden Sie ja entlassen. Dann können wir „Wie haben Sie beide sich denn kennengelernt?“ Er kurz vorher entscheiden, an welchen Tagen die Dreh- lässt die Frage in der Luft baumeln. Scheiße. Hier darf arbeiten nach Ihrer Entlassung stattfinden. Wäre es es nicht um mich gehen. Ihnen recht, wenn wir Sie am fraglichen Tag selbst begleiten?“ Jetzt bin ich in meinem Element, und „Das geht Sie wirklich nichts an, Eddie, oder?“ Ich meine Planungen zahlen sich aus. Es wäre großartig, zwinge mich zu einem freundlichen Ton. Tatsächlich wenn wir tatsächlich bei Eddies Entlassung dabei kommen mir die Worte ruhig und selbstbewusst über sein könnten. die Lippen, bizarrerweise sogar mit einem leichten erotischen Unterton. Völlig unpassend und gleichzeiEr antwortet freundlich, aber eindeutig. „Ich will tig absolut passend. ehrlich sein, meine Liebe, das wäre für mich nicht ideal. An diesem Tag wird eine Menge los sein, falls „Ha! Nein. Ganz genau, meine Liebe. Das geht mich Sie verstehen, was ich meine. Vielleicht könnten Sie überhaupt nichts an.“ Eddie lacht dröhnend. Ich höre mir einen oder zwei Tage Zeit lassen? Wäre das für Sie sein Lachen durch den Gang des Gefängnisses hallen. in Ordnung?“ Jetzt verhandeln wir. Er will mir etwas „Sehr gut, meine Liebe, sehr gut.“ anbieten – das ist auf jeden Fall ein gutes Zeichen. Na also. Wir sind wieder auf dem richtigen Weg. Es „Natürlich. Wir klären das später genauer. Sie haben ja scheint gut zu laufen. Wir scheinen miteinander meine Nummer, sodass wir einfach wegen der Termine klarzukommen. Eddie Bishop und ich. in Kontakt bleiben können. Kein Problem.“ Ich beobachte die Katze draußen, wie sie, Rücken und Kopf Erst lächele ich das Telefon an, dann muss ich plötzdicht über dem Boden, am Zaun entlangschleicht. lich breit grinsen. Zufrieden stehe ich in meinem leeren Wohnzimmer, ganz allein. In Sonnenlicht Eddie räuspert sich. gebadet.
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VON LIONEL SHRIVER ÜBERSETZT VON FR ANZISK A ZINTZSCH Dieser Artikel ist am 13. Juli 2017 in der Washington Post erschienen.
Als Weltenbummler kennt sich Lawrence Osborne mit den oft katastrophalen Folgen der Kulturclashs aus, die eine mobile Welt mit sich bringt. Gut möglich, dass er deswegen die Unterscheidung unterschreiben würde, die sein Schriftstellerkollege David Goodhart ins Spiel gebracht hat: Da sind zum einen die Irgendwo-Menschen, die an einen Ort und eine Kultur gebunden sind, und zum anderen die Überall-Menschen, die herumschweifenden, hochgebildeten Eliten, die ihre Verwurzelung allein daraus ziehen, dass sie einander hier und da Gesellschaft leisten. Osborne ist zweifellos darüber im Bilde, wie dekadente Touristen immer wieder in die Welt der Einheimischen hineinpoltern, die es mit der Moral etwas ernster nehmen. Sein zynischer Blick auf den Niedergang des Westens ist, genau genommen, erbarmungslos. Osbornes fesselnder dritter Roman, Denen man vergibt, hat uns vor Augen geführt, was für ein ungeheuerliches Ende es nehmen kann, wenn verruchte Europäer im konservativen Marokko eine Party nach der anderen feiern. Nun nimmt uns sein neuer Roman, Welch schöne Tiere wir sind, mit auf die griechische Insel Hydra, wo zwei junge Frauen, die den Sommer mit ihren Familien verbringen, eine nicht ganz hierarchiefreie Freundschaft eingehen. Die welterfahrenere und mit ihren vierundzwanzig Jahren etwas ältere der beiden, Naomi Codrington, ist die Tochter eines wohlhabenden britischen Kunsthändlers, der schon seit den Achtzigern ein Haus auf der Insel besitzt. Samantha Haldane scheint naiver und ist deswegen – natürlich – Amerikanerin. Als das umtriebige Gespann auf Faoud trifft, einen syrischen Flüchtling, der an einen verwaisten Strand gespült worden ist, beschließt Naomi, ihn zum Projekt ihres Sommers zu machen. Doch der Altruismus ihres Versuchs, ihm bei der Flucht auf das europäische Festland zu helfen, wirkt schnell hohl. Stattdessen sät sie Zwietracht und ist selbst von Faoud angezogen, der Geschenken von Nichtgriechen instinktiv mit Misstrauen begegnet. Um an Geld zu kommen und so das neue Leben ihres Syrers in Italien zu finanzieren, will Naomi Faoud dabei helfen, ihr eigenes Haus auszurauben. Samantha sträubt sich zunächst dagegen, in die Sache verwickelt zu werden, erliegt am Ende aber doch dem Einfluss ihrer gerisseneren Kumpanin. Der Leser ahnt schnell, dass Naomis fragliches Vorhaben weniger mit einem erwachenden sozialen Gewissen zu tun hat als mit der ambivalenten Beziehung zu ihrem Vater und ihrer Stiefmutter. Natürlich geht ihr Plan fürchterlich schief. Osborne beherrscht es meisterhaft, seiner Handlung zugleich Furcht und Unerbittlichkeit einzuschreiben. Dass es nicht gut enden kann, durchdringt jede Zeile von Welch schöne Tiere wir sind.
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Wenn ein Autor sich nicht gerade Hals über Kopf in eine humanitäre Perspektive stürzt, die Osbornes Sache nicht ist, hält die europäische Migrationskrise für ihn viele Fallstricke bereit (falls wir sie überhaupt noch als Krise bezeichnen wollen; der stetige Strom von Menschen, die aus Afrika und dem Nahen Osten nach Südeuropa kommen, scheint vielmehr zum Normalzustand zu werden). Dass sich Osborne dem Thema auf weniger eindeutige Weise nähert, ist deswegen ideal. … Überdies hat er ein gutes Gespür für die Verachtung, die viele der armen Einheimischen den wohlhabenden Überall-Menschen entgegenbringen, von denen sie finanziell abhängig sind. So muss das Hausmädchen in Naomis Sommerresidenz etwa bezeugen, wie „die Codringtons längst schliefen. Ihr Schnarchen war im ganzen Haus zu hören, sogar in ihrer kleinen, unter dicken Fußböden im Keller eingelassenen Kammer. Es war ein widerwärtiges, ihren viehischen Dienstherren angemessenes Geräusch. … In dieser Nacht dröhnte das Schnarchen, als wären sie riesige, fette Tropenfrösche.“ Osborne ist überragender Stilist und scharfsinniger Beobachter zugleich. Italienische Provinzstädte strahlen eine „trotzige Verdrossenheit“ aus. Ein Spaziergang in der Mittagssonne ist „die Art von Folter, der sich nur die gut situierten Arbeitslosen freiwillig unterzogen“, und die älteren Europäer gehören bei ihm einer Generation an, „in der die Leute getrunken hatten, wie man sich das heute gar nicht mehr vorstellen konnte. Es war für sie wie zu duschen oder den Hund auszuführen“ (und siehe da, Osborne hat in seinem 2013 erschienenen Buch The Wet and the Dry verschiedene Trinkgewohnheiten rund um den Globus erkundet). Manchmal scheint in seinen Dialogen auch ein Funken Weisheit auf: „Du glaubst, es gibt so etwas wie bedingungslose Liebe, aber das gibt es nicht. Es kommt immer auf die Bedingungen an.“ Lassen Sie es mich klipp und klar sagen: Dies ist ein großartiges Buch. Es entfaltet einen verstörenden Sog, der schwer zu fassen ist. Sein Wendepunkt und die Auflösung werden Sie nicht enttäuschen. Seine soziale Perspektive ist sophisticated, smart und unbequem, die Geschichte hat es in sich. Lawrence Osborne hat in den Jahren 1986 und 1990 zwei Romane veröffentlicht und sich dann dem Sachbuch und dem Journalismus zugewandt, um schließlich 2012 mit Denen man vergibt wieder als Romanautor in Erscheinung zu treten. Dennoch wirkt es beinahe schon abgedroschen, ihn mit Graham Greene und Paul Bowles zu vergleichen. Er, der in den letzten fünf Jahren vier Romane publiziert hat, scheint einiges nachzuholen und sich dabei eines überbordenden Konvoluts mit dem Titel „Anmerkungen zur Conditio humana“ zu bedienen. Gut für uns!
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L aw r e n c e Osborne über… … die Verbindung zwischen seinem Roman und Homers Odyssee Die Odyssee ist die Geschichte einer Migration, wenn Sie so wollen, oder zumindest eine Geschichte darüber, wie es ist, aus dem Leben gerissen zu werden. Odysseus bei Nausikaa, da nimmt sie doch im Grunde einen Flüchtling, nackt noch dazu, in den Palast ihres Vaters auf. Wie sie ihn am Ufer entdeckt, gehört zu den unvergesslichen Szenen der westlichen Literatur.
… die entlegenen Schauplätze seiner Romane Es überrascht mich immer wieder, dass die Gegenwartsliteratur so wenig Gefühl für ihre Orte hat. Für den Geist der Orte, wie D.H. Lawrence gesagt hat. Dabei ist es doch genau dieses Gefühl für seinen Ort, das einen Thriller vorantreibt – um nur ein Genre zu nennen, das von ihm abhängt. Philip Marlowe ohne die Atmosphäre des versengten Los Angeles, unvorstellbar! Für mich geht in einer Geschichte alles von dem Ort aus, an dem sie spielt, und so muss es auch sein. Abstraktionen und Science Fiction interessieren mich nicht, zumindest nicht als Roman.
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… die egoistischen Motive, die hinter Naomis Selbstlosigkeit stecken Am Anfang stand die Überlegung: Was, wenn diese Figur nur darauf aus ist, ihre Eltern abzuzocken, und den Flüchtling dabei als Mittel zum Zweck benutzt? Das war mein Ausgangspunkt, eine ziemlich düstere Prämisse also. Dann dachte ich aber, nein, Moment mal, ein Mensch kann auch mehrere Motive haben. Möglich, dass eines davon ihn untergründig beschäftigt, ihm aber ein anderes vor Augen steht. So funktionieren die Menschen. Schuld mag eine Rolle spielen, Sühne, ein schlechtes Gewissen, das einige Weiße verspüren, weil nicht jeder so privilegiert ist wie sie. All dies kann in einem Menschen vorgehen. Ich wollte eine komplexe Figur entwerfen. Niemanden, der am laufenden Band Böses oder Gutes tut. Beides ist immer miteinander verknüpft.
… die Frage, ob man seine Figuren immer lieben muss Mögen die Leute denn wirklich immer die liebenswerten Figuren? Ich nicht. Oder zumindest interessieren sie mich weniger. Wenn jemand einmal nicht liebenswert ist, heißt das doch nur, dass ihn etwas umtreibt. Mich fasziniert diese Pein in all ihren Formen. Deswegen musste auch Naomi eine komplexe, gepeinigte Seele sein, mit der ganzen fehlgeleiteten Energie, die das so mit sich bringt. Sie ist genau so geworden, wie ich sie mir vorgestellt habe.
… seine Schreibroutinen Ich arbeite im Freien, auf meinem Balkon in Bangkok, von 10 Uhr nachts bis 3 Uhr morgens. Chinesischer Tee, Zitronenkekse, der Monsun – das ist schon eine gute Kombination. Und wohl das absolute Gegenteil von einer schäbigen englischen Schreibstube! Irgendwie kurios, aber ich arbeite grundsätzlich nur nach Sonnenuntergang. Es muss an einer Art Vampir-Gen liegen, das ich in mir trage.
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Hoch oben am Berghang über dem Hafen verschliefen die Codringtons die trockenen Junimorgen in ihrer von Zypressen und über den Türen hängenden Markisen verdunkelten Villa. In pyjamagewandeter Pracht lagen sie inmitten ihrer byzantinischen Ikonen, umgeben von Gemälden hydriotischer Kapitäne, und wussten nicht, dass ihre Tochter begonnen hatte, frühmorgens schwimmen zu gehen, dass sie sich eine Stunde vor Sonnenaufgang in der Kühle ihres Zimmers ankleidete, halb gespiegelt in einem antiken Kippspiegel. Sie zog ein Batisthemd mit Umschlagmanschetten an, legte eine dünne Lederhalskette um, warf sich eine kleine Strandtasche aus Jeansstoff über die Schulter und ging dann die gekalkten Stufen hinunter, die unterhalb des Hauses ihres Vaters verliefen. Eine enge Spirale führte sie über Treppenabsätze mit eisernen Gittern und unvermitteltem Ausblick aufs Meer, wo die steinernen Bögen die nächtliche Kühle speicherten, zum Hafen hinab; die verwilderten Grundstücke mit den Poleitai-Schildern und den
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Doppelschlafzimmern waren jetzt dem Himmel preisgegeben und von reglosen Schmetterlingen bevölkert. Unten im Ort ging Naomi am Hotel Miranda vorbei, vor dem ein Anker an seiner Kette aufgehängt war und eine Tür zu einem geheimen, in blauem Bleiwurzschimmer versunkenen Garten führte. Ein Priester, der auf den Stufen saß, als wartete er auf etwas, nickte ihr zu. Sie kannten einander, ohne den Namen des anderen zu wissen. Der heilige Bart, der immer gleich aussah, das Mädchen, das Sommer für Sommer mit leisen Schritten dahinging, als könnte es nichts um sich hören. In dem kleinen Hafen umrundete sie die überteuerten Jachten, ohne in die Cafés einzukehren. Sie ließ den Touristenhafen hinter sich und beschritt einen Pfad oberhalb des Meeres, geräuschlos in ihren Espadrilles, bis sie anfing zu singen und im Gehen ihre Schritte zu zählen. Sie kam an einer Reihe von Kanonen vorbei, die in eine Mauer eingelassen waren, und an dem Denkmal für Antonios Kriezis,
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Auf der Bergkuppe über Mandraki standen einige imposante, von langen Mauern umgebene Villen, deren Türklopfer wie das Haupt der Athena geformt waren. In der Bucht lag ein heruntergekommenes Resort namens Mira Mare, wo man ein kleines Wasserflugzeug an den Strand gehievt und die Fenster mit Sichtblenden verkleidet hatte. Strohlose Sonnenschirmgerippe waren über das Grundstück hinter dem Strand verstreut, doch von Mandraki an wurde der Weg sauberer. Er schlängelte sich durch hügeliges Buschland auf Zourva zu, und dort fegte ein brennender Wind über weite Steinfelder zum Wasser hinunter. Es war kalt und fast schwarz, solange die Sonne nicht hoch genug stand, um es zu erhellen. Hier schwamm Naomi immer, bis ihr kalt war und ihre Finger taub wurden. Ihrem Vater und Phaine erzählte sie nie von ihren morgendlichen Schwimmausflügen, und es gab auch keinen Grund dazu. Was hätten sie gesagt? Das Alleinsein war etwas, das ihnen nichts bedeutete. Sie hätten nicht verstanden, dass Naomi jeden Morgen die gleiche lustlose und diffuse Erwartung hatte, auf die gleiche Weise unzufrieden war mit dem Tempo der Welt, wie sie sie kannte. Manchmal dachte sie, sie hätte diese ewige Enttäuschung von Kindesbeinen an verinnerlicht, ohne dass sie den Grund dafür hätte benennen können. Vielleicht war es auch die Insel selbst. Die nicht enden wollenden Sommer, die für rein animalische Aktivitäten zu heißen Nachmittage. Und schlimmer noch, die steinalten Bohemiens, mit denen ihre Eltern Umgang pflegten. Die überwältigende Leere langweilte Naomi nicht einmal; sie fühlte sich dadurch nur dem Hedonismus wie dem Tourismus überlegen, ohne sich selbst eine Alternative bieten zu können.
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hinter dem sich vom Wind zerrupfte Agaven wie Totempfähle vom Hang abspreizten. Sie umrundete die Insel in nördlicher Richtung auf einem Weg, der zu der kleinen Bucht namens Mandraki führte, in der sich, wie ihre griechische Stiefmutter oft sagte, das Wasser nicht bewegte. Sie hatte nie herausgefunden, warum sich am Wegrand rostiger Schrott auftürmte, Boiler und Eisenträger, vor langer Zeit zwischen die Blumen gekippte Zementmischer.
Nach dem Schwimmen trocknete sie sich, von Wespen umgeben, auf dem steinigen Hang ab. Sie schrieb in ihr kleines Tagebuch, das sie bei sich trug, während der lange und vielversprechende Schatten des Festlands auf die gegenüberliegende Seite der Meerenge fiel. Hinter dem Nebel lagen die Argolis und der Landungssteg von Metochi, beides außer Sichtweite. Wenn sie nach Mandraki zurückgelaufen und auf der Suche nach einem Kaffee in das Resort spaziert war, war es meist gegen acht. Hoch über der Bucht reckten raue Berghänge ein weißes Kloster in die ersten Sonnenstrahlen. Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, dass dort Heilige lebten, windgegerbte Einsiedler. Doch sie hatten sich nie gezeigt. Unter den Jungen, die die Schirme und die zugeteilten Liegestühle über den Sandstreifen schleiften, war sie inzwischen bekannt. Die Flirtversuche hatten nachgelassen, und sie betrachteten sie zunehmend mit verdrossener Skepsis, weil sie ihre Avancen hundertundeinmal zurückgewiesen hatte. Es dauerte nicht lange, bis ihr Blick auf die Reihen marineblauer Badetücher fiel, die die Jungen in der Hitze auf den Sonnenliegen ausgebreitet hatten. All dies war schäbig, aber abgeschieden; manchmal war Ersteres der Preis für Letzteres. Die Bucht war so klein, dass der Ozean davor im Vergleich zu dem eingeengten Strand eine weitwinklige Grenzenlosigkeit besaß. In jedem Fall waren dort schon zwei Frauen angekommen und stiegen mit ihren Strandtaschen von dem Pfad herab; bei jeder Bewegung erzitterten ihre Strohhüte mit der besonnenen Behändigkeit von Käfern. Sie besetzten zwei Sonnenliegen, und die Jungen brachten ihnen Tabletts mit Eiswasser; es war offensichtlich, dass sie jeden Tag herkamen und das Personal sie gut kannte. Wahrscheinlich bestellten sie Frühstück und Mittagessen, dazwischen reichlich alkoholische Getränke, denn im Verhalten der Griechen lag eine gewisse Vertrautheit. Das Resort starb, da waren zahlende Nichtgäste nicht weniger wichtig als Gäste. Diese hier, eine ältere und eine junge Frau, waren offenbar Mutter und Tochter. Aber Naomi kannte sie nicht von den endlosen Partys, zu denen ihr Vater und ihre
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Stiefmutter eingeladen wurden und die auch sie über sich ergehen ließ, weil es auf der Insel sonst nichts zu tun gab. Also waren sie nicht berühmt, gehörten nicht zu den Reichen und Schönen, und Jimmie und Phaine kannten sie vermutlich auch nicht. Trotzdem waren sie hier, tranken ihren Kaffee aus großen blauen Bechern und vertrieben die Fliegen mit – ausgerechnet – tropischen Fliegenwedeln. Das Mädchen war bemerkenswert zart, gertenschlank, ihre Haare wie gesponnenes Gold, zu blass für diese Sonne, was ihren Augen einen noch wild entschlosseneren und begierigeren Ausdruck verlieh. Wenn das Licht auf sie fiel, erfüllte sie das unmenschliche Leuchten blauer Edelsteine. Die Wedel waren amüsant, und innerlich zollte Naomi den beiden selbst dann noch Respekt, als ihre Akzente zu ihr herüberwehten und nahelegten, dass es sich um Amerikanerinnen handelte. Das waren sie tatsächlich, und noch bevor sie ihre Kaffeebecher geleert hatten, schauten sie zu dem englischen Mädchen mit seinem Joghurt und dem Honig auf einer hölzernen Spule hinauf, und in ihren Augen leuchtete eine leichte, heimelige Neugierde. Du auch hier in Mandraki? Die weibliche Hälfte der Familie Haldane hatte die Bucht gleich am ersten Tag entdeckt, an dem sie mit dem Schiff aus Piräus angekommen waren. Sie hatten einen langen Spaziergang um die Insel unternommen, ohne Mr Haldane, und wenn Amy darüber nachdachte, musste sie sich eingestehen, dass sie die besten Entdeckungen immer dann machte, wenn ihr Mann nicht dabei war, um sie ihr zu verderben. „Samantha hat sie gefunden – sie hat die Putzfrauen im Hotel gefragt, was sehr schlau war. Aber ich glaube, du warst schon vor uns hier.“ „Ich komme seit Jahren her“, sagte Naomi mit bewusst matter Stimme. „Dann kennst du –“ Das andere Mädchen war jünger als Naomi mit ihren vierundzwanzig Jahren, vielleicht neunzehn oder zwanzig. Ein steter, kühler Blick: Wahrscheinlich
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erforschte sie wie Naomi selbst die Menschen und ihre Miseren. „Wohnst du hier?“, unterbrach sie ihre Mutter seelenruhig. „Mein Vater hat hier ein Haus. Es gehört ihm seit den Achtzigern.“ „Herr im Himmel“, sagte die Mutter. „Wir sind auf eine Expertin gestoßen. So lange ist er schon hier? Dann musst du dein ganzes Leben auf dieser Insel verbracht haben.“ „Die Sommer.“ „Sommer auf der Insel. Wir haben ein Ferienhaus auf einer Insel in Maine, die fast so schön ist wie die hier. Aber wir kommen aus New York. Vielleicht kennen wir deinen Vater?“ Sie war etwas übereifrig, und Naomi musste ihr einen Dämpfer verpassen. „Ich glaube nicht. Mein Vater und meine Stiefmutter sind ziemlich zurückhaltend.“ „Mein Mann, weißt du … er kuriert eine Verletzung aus. Er ist hergekommen, um gesund zu werden, was keine schlechte Idee zu sein scheint. Es geht ihm schon besser, meinst du nicht, Sam?“ „Er kann den schlimmen Fuß beim Gehen schon wieder belasten.“ Naomi ging zu der Liege neben ihnen. Sie streckte sich aus, und in der Art und Weise, wie sich ihr Körper entfaltete, lag etwas, das Aufmerksamkeit auf sich zog. Eine Narzisstin, dachte die Mutter. „Ich spreche Griechisch“, sagte Naomi lächelnd. „Ich kann euch alles bestellen, was ihr möchtet. Sie haben einige Sachen, die nicht auf der Karte stehen.“ Die Mutter schaute zu den Kellnern an der Bar hinauf, den Mund unschlüssig verzogen.
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„Wie wär’s mit Joghurt?“, murmelte sie und zeigte auf „Hier gibt es sonst nicht viel zu tun. Ich male auch.“ Das Naomis halb verspeistes Frühstück. „Gegen ein biss- war gelogen, aber die beiden Frauen schienen es nicht chen Joghurt hätte ich nichts einzuwenden.“ zu merken, und falls doch, war es ihr auch gleich. „Yaourti “, rief Naomi mit schneidender Stimme nach oben. „Me meli.“
Sie unterhielten sich eine Zeit lang. Es war das Geplauder von Menschen, die einen ähnlichen sozialen Rang haben, auf dezente Weise getrennt durch eine gemeinsame Sprache. Seevögel kreisten über ihnen, und es gab keine Musik. Noch wurde die Bouzouki für die Touristen nicht gebraucht.
Die Hitze kroch ihnen in den Nacken, und als sie sich einmal hinter ihren Ohren niedergelassen hatte, weigerte sie sich, ihren stillen Griff zu lockern. Zwei Bäume schwebten auf der Kuppe des Berghangs und loderten in ihrem eigenen grauen Licht. Die Frauen spürten Hunde, die noch unter ihnen schliefen, Sie hörten nur die Bewegungen des Wassers an den konnten sie aber nicht sehen, und Naomi fragte leise, Steinen und die ersten Zikaden, die sich regten, als was Mr Haldane denn zugestoßen war. sich die Sonne über den Berghang ausdehnte. Die Hitze störte alle Lebewesen auf. Amy lehnte sich „Er ist im Zoo in einen Käfig mit Waranen gestiegen“, schließlich zurück und versank in ihrem komatöantwortete das Mädchen ausdruckslos. „Einer von sen Sonnenbad, während die beiden jüngeren Frauen ihnen hat ihm in den Fuß gebissen. Er hat die Sehnen beschlossen, gemeinsam zu den Felsen der äußeren durchtrennt, und sie haben Bakterien im Speichel.“ Bucht hinauszuschwimmen. Im gleißenden Sonnenschein, der jetzt ihre Gesichter verbrannte, gingen „Sam, bitte.“ sie zum Wasser hinunter und stiegen langsam zusammen hinein. Sie schwammen nahezu geräuschlos, In Wahrheit war er beim Anstreichen eines Ge- und während ihre Hände unter der Wasseroberfläche wächshauses in der Nähe von Blue Hill von der Leiter nach vorn glitten, erschien es Naomi, als hätten sie gefallen. sich, ohne es zu merken, vom ersten Augenblick an freundschaftlich aneinander gerieben. Wie so etwas „Es ist peinlich. Jeffrey kann einfach nicht mit Leitern kam, ließ sich schwer sagen, aber Samantha – sie umgehen. Um genau zu sein, hat er sich die Hüfte und könnte sie auch einfach Sam nennen, ihre Mutter den Fuß gebrochen.“ tat es schließlich auch – war auf eine Art lässig und trocken, die Naomi neu war. Sie war das ältere Kind „Keine Warane?“ eines wohlhabenden Mannes, ein Journalist im Ruhestand und zudem ein vermögender Erbe. Ihr fünfAmy wandte sich ihrer Tochter zu. „Nicht, dass ich zehnjähriger Bruder war ebenfalls in der gemieteten wüsste.“ Villa geblieben und spielte mit Mr Haldane Schach. Sam räumte ein, sie habe eigentlich nicht mitkom„Er saß für einen Monat im Rollstuhl“, sagte Samantha, men wollen, doch ihre Mutter habe wie immer nicht „und jetzt ist er auf einer Insel ohne Autos oder Fahr- lockergelassen. Über Freunde in New York hatten sie räder. Er meinte, das sei ja der Sinn der Sache – hier sei das perfekte Haus gefunden. er zum Laufen gezwungen. Aber jetzt, wo wir da sind –“ „Es ist in der Nähe von Vlichos, du kennst es bestimmt. „Sitzt er den ganzen Tag in seinem Sessel und malt.“ Im Garten gibt es einen Esel.“ „Na ja“, sagte Naomi und blickte zum Himmel hinauf. „Einen Esel?“
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die Frau, die in diesem Moment hoch oben in den Bergen in den Armen ihres Vaters schlief, war ein Thema „Ich glaube, das kenne ich – es ist das Haus von Mi- für sich. Doch Amy hatte anfangs normal gewirkt, und nun flirtete sie mit den beschürzten Strandjungs. chael Gladstone.“ Lag es daran, dass ihr Mann den Sommer über einen „Das ist es. Es gehört ihm seit Jahren. Dad sagt, es ist verkrüppelten Fuß hatte? das beste Haus, das er je gesehen hat. Aber ich glaube, er meint, es ist das beste Haus, in dem er je invalide Sie wandte sich zu Sam um. war. Und ihr?“ „Du verstehst dich gut mit deiner Mutter – ich bin nei„Unser Haus liegt hoch oben über dem Hafen. Meine disch. Meine ist nur meine Stiefmutter. Sie ist nicht Eltern haben es gekauft, als sie jung waren und Leo- verkehrt, aber eben auch nicht meine Mutter. Und manchmal kann sie wirklich anstrengend sein.“ nard Cohen noch darin wohnte.“ „Na ja, er kommt und geht.“
Nachdem Sam ihr mit einem „Das tut mir leid“ entgegengekommen war, erzählte Naomi ihr in wenigen „Sie haben es gut durchgerechnet“, antwortete Naomi. Sätzen die Geschichte. Ihr Vater war Kunstsammler und Philanthrop. Da er viele Leute kannte und viele „So macht man das bei uns.“ Kunstwerke kaufte, erregte er oft Aufmerksamkeit. Sie schwammen an einem Steg vorbei, der sich seit- Ihre Stiefmutter war Griechin, sie stammte aus Kifiwärts ins Wasser neigte und von Treibgut umgeben sia bei Athen, aber die Kyriakous hatten schon immer war: kunstvoll geformten Eisenpfosten, hellgrünen in South Kensington gelebt. Fischernetzen und Drahtgittern. Es war, als wären ganze Dörfer von heftigen Winden verwüstet und der „Sie ist jünger als deine“, fuhr Naomi fort, „und hat eine Schutt über die Küste verteilt worden. Wo der Pfad illustre Ahnenreihe von Militärfaschisten vorzuweium die erste Ecke bog, türmte sich wieder der Schrott sen. Ich mag deine Mutter. Sie sagt, was sie denkt.“ auf. Dort stiegen sie aus dem Wasser, legten sich auf einen kleinen Vorsprung aus Bruchstein und blickten „Ist das gut?“ zum Strand hinüber. Die düsteren Reihen der Sonnenliegen sahen aus wie ausrangierte Spielzeuge oder „Es ist nicht schlimm. Oder es gibt Schlimmeres. Sagst Maschinen, identisch mit den Trümmern hinter ih- du denn, was du denkst?“ nen. Es war merkwürdig, so als sollte dieser Ort für immer aufgegeben werden. Die umgekippten Weg- „Nicht immer. Sagen Militärfaschisten etwa nicht, weiser, die mineralischen orangen Flecken auf den was sie denken?“ Felsen. Selbst die wiedererbaute Festung über ihnen – falls es sich um eine solche handelte – wirkte wie Naomi ließ sich leicht ein Lächeln entlocken, doch es etwas, das man in den Wind geschrieben hatte. Und zeigte sich nie ganz. Sie schien es zurückzuhalten, wie doch erstrahlte darüber das weiße Heiligendomizil ein Kind einen Drachen an einer langen Schnur hält. im Licht der Sonne. Sam blickte in den gleichförmigen Himmel hinauf. Sams Mutter war endlich von einem der Jungen an- An dieser Stelle konnte man das winzigste Geräusch gesprochen worden und lächelte ihn, während sie mit aus der Ferne hören. Die Regungen einer Zikade in ihm redete, übertrieben an. Bei Müttern wusste man einem anderthalb Kilometer entfernten Mauerspalt, nie. Naomis eigene Mutter war schon lange tot, und den Widerhall von Wellen in einer nicht einsehbaren „Das war schlau von ihnen.“
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Bucht. Doch wenn sich der Wind plötzlich erhob, löschte er alles andere aus, und man hörte nur noch das melancholische Pfeifen des Salbeis, der die Berghänge bedeckte und erzitterte, wie durch einen ängstlichen Gedanken der beiden bewegt. Die Haldanes würden bis zum Ende des Sommers hierbleiben, und Sam würde während der gesamten Zeit die Minuten und, ja, auch die Sonnenuntergänge zählen. Vielleicht würde sie auch einen Jungen finden, eine kleine Sommerliebe. Meist kam es so. Wenn nicht, würde sie, falls sich keine Freundschaft mit Naomi ergab, einfach allein bleiben und in ihrem kleinen weißen Zimmerchen hinter Kamini hundert Romane lesen. Sollte es so kommen, würde sie das auch nicht stören. Alles war besser als ein Sommer in der Stadt, ein Besuch bei den Großeltern in Montauk, das Leben von einem Tag auf den anderen, das das Lesen in Bibliotheken immer mit sich brachte. In der Stadt schloss sie selten neue Freundschaften, und der alten war sie längst überdrüssig. Was sie dort ganz sicher nie finden würde, war eine Freundin mit Ecken und Kanten. Die Mädchen in ihrem Alter waren alle gleich, es war zum Verzweifeln, so als hätte sie eine Menschenfabrik in der Landesmitte nach einem bewährten Muster gefertigt. Unvermittelt hatte Sam jemanden gefunden, der anders war.
ressen inzwischen weitergewandert, und während sie so liefen, waren sie froh, kein Wort sprechen zu müssen, bis sie um eine Ecke bogen und die ersten Häuser von Hydra erblickten.
„Ich bin mir über den Ausblick nie ganz schlüssig geworden“, sagte Jimmie Codrington zu seiner Frau, als das Hausmädchen mit ihren Gin Tonics und einer Schüssel in Öl eingelegter Kalamata-Oliven auf die Terrasse trat. Man hörte sie immer erst im allerletzten Augenblick, und dann erschien ihr Liebreiz wie durch Zufall, sodass man Notiz davon nehmen musste. „Findest du nicht, dass er im Laufe der Jahre verloren hat? Das Merkwürdige ist, dass ich nicht sagen könnte, woran es liegt. Er scheint einfach kleiner und schäbiger geworden zu sein.“ „Vielleicht sind wir ja auch größer und prachtvoller geworden.“
Jimmie gefiel der Gedanke, aber es stimmte nicht. Der Hafen war noch immer da, ganz wie zu Beginn ihrer gemeinsamen Vergangenheit, das Meer funkelte noch immer bis nach Thermisia, die Kapitänshäuser mit ihren Irgendwann standen sie auf und schlenderten wieder Palmen, Miniaturkanonen und angestrichenen Kleiderzu dem Café unter dem Strohdach hinunter, wo auf schränken gehörten noch immer Mitgliedern der feinen einem gedeckten Tisch im Schatten eine Flasche San- Gesellschaft, und die Glocken der Kirchen hoch über den torini und ein Tomatensalat mit schwarzen Oliven Straßen sandten ihr Läuten herab und störten die Ruhe standen. Die Mutter hatte sie bestellt. Wieder ließ der der Plätze, auf denen sich gebrechliche Katzen versamWind alles ein wenig unheilvoll wirken. Sam lehnte melten, um jede einzelne Abenddämmerung zu bezeugen. das angebotene Brot leicht theatralisch ab. Sie sagte, sie habe eine Glutenunverträglichkeit. „Oder wir sind selbst kleiner und schäbiger geworden. Aber der Gedanke ist mir auch schon gekommen, Funny, „Eviva“, sagte Amy und erhob ihr Glas. „Das habe ich der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Du könngestern unten am Hafen gelernt. Prost, stimmt’s?“ test recht haben.“ „Eviva“, entgegnete Naomi und stieß mit ihr und Sam an. Phaine sprach auf Griechisch mit dem Hausmädchen. „Es gibt noch einen Spruch, den ihr kennen solltet: Na pethani o charos – möge der Tod sterben. Tod dem Tod!“ „Bereitest du für heute Abend etwas vor, oder sollen wir auswärts essen?“ Sie aßen einige Baklava, tranken dazu schwarzen Kaffee und beschlossen dann, gemeinsam zum Hafen zu- „Ganz wie Sie wünschen, Madame. Ich kann Psarosoupa rückzugehen. Tatsächlich waren die Schatten der Zyp- machen.“
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„O Gott, nicht schon wieder. Wir essen auswärts, „Sei nicht so streng mit ihr“, protestierte er. „Sie hat Carissa. Du kannst gehen, wenn du die Drinks abge- schwere Zeiten durchgemacht. Ich glaube nicht, dass irräumt hast.“ gendwer in ihrem Alter den Tod der eigenen Mutter leicht verkraften würde. Aber genug davon. Gehen wir essen.“ „Sehr wohl, Madame.“ Sie willigte ein, war aber äußerst verärgert. Phaine wandte sich wieder ihrem Mann zu, während das Mädchen davonging und ihre schwarze Uniform „Also gut. Darf ich mich betrinken?“ einen erotisch aufgeladenen Strich in das Weiß der Terrasse schnitt. „Nicht im Mindesten, du Monster. Bestes Betragen, wenn es dir nichts ausmacht. Wenn sie mich nach dei„Wollen wir zum Hafen hinuntergehen und Oktopus nem Namen fragen, sage ich, du heißt Funny, und waressen? Das wäre doch schön.“ te ab, was sie erwidern. Das wird sehr aufschlussreich.“ „Nobbins hat angerufen.“ Das war Jimmies Kosena- „Meinetwegen. Ich gehe sowieso früh schlafen.“ me für seine Tochter. „Sie sagt, wir sollen ins Sunset kommen, um ein paar Amerikaner kennenzulernen. Er schnaubte und griff nach den Oliven. Der ehemalige Eigentümer der Fluggesellschaft Belle Air konnte Sie hat sich mit jemandem angefreundet.“ sehr wohl einschätzen, was seine Frau am Ende eines Abends tun oder nicht tun würde. Schlaf war der letz„Ach?“ te Posten auf diesem umfangreichen Menü, und so „Irgendein Journalist und seine Familie. Ich habe noch brachten sie einen gewohnheitsmäßigen Toast aus: nie von ihm gehört.“ „Wer ist besser als wir, Funny?“ „Wie lästig. Sollen wir sagen, wir hätten Sodbrennen?“ „Niemand!“ „Nein, ich finde, wir sollten hingehen. Ich will Nobbins nicht immer vor den Kopf stoßen. Ich finde, wir soll- Das Hausmädchen verharrte in der Mitte der weitten uns Mühe geben und etwas gesellig sein, so wie räumigen Terrasse und lauschte halb unsichtbar auf eine richtige Familie, meinst du nicht auch? Außer- sein Stichwort. Außer ihm hörte niemand die Schwaldem ist es gut, dass sie Leute kennenlernt.“ ben pfeifend um die Steinpfeiler herumschießen, welche die äußere Begrenzung der Terrasse bildeten. „Nun ja, Leute kennenzulernen war nie ihr Problem, Sie waren nahezu allein hier in den Bergen, die letzte Jimmie.“ Villa am Hafen mit ihrer eigenen schwindelerregenden Treppe, durch uralte, mit Vorhängeschlössern „Es geht nicht immer um Probleme. Und selbst wenn versperrte Türen und Eisengitter mit Eleganz und sie einige hat, ist sie damit wohl nicht allein. Jeder hat Nachdruck gegen die übrigen Exemplare ihrer SpeProbleme.“ zies abgeriegelt. Hier fühlte sich das Meer näher und wirklicher an als die Häuser unter ihnen. Die einzi„Das ist, als würde man sagen: Jeder bekommt mal ge andere Villa auf der gegenüberliegenden Seite des Kopfschmerzen.“ Stegs war verrammelt; die griechischen Eigentümer hatten im Zuge der Finanzkrise Bankrott gemacht. Ein altes Gespräch, es war schon so oft geführt worden, und Bezahlte Gärtner pflegten die Zypressen und Olivendie offensichtliche Sinnlosigkeit brachte ihn leicht auf. bäume im Garten, doch davon abgesehen war es ein
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Geisterhaus. Es waren vor allem die Ausländer auf der Insel, die nach wie vor zahlungskräftig blieben, die weiterhin ihren Sommer hier verbrachten und dafür sorgten, dass ihre Türen stets ordentlich gestrichen wurden. Als Einheimische hatte Carissa ein ganzes Leben lang verfolgt, wie sie sich veränderten. Zuerst die Dichter und Schriftsteller, die für zehn Dollar im Monat Fischerhütten gemietet hatten. Dann die wohlhabenden Städter mittleren Alters, dann die Flugunternehmer mit Kunstgeschmack. In ihren Augen waren sie alle barbarische Eindringlinge.
neigende Pinien beschatteten die Terrasse bei Sonnenschein. An der Außenwand mit den aufgereihten Kanonen saßen schon die Haldanes und Naomi, ein erstaunliches Arrangement auf Eis gelegter Meeresfrüchte zwischen sich, und eine angenehme Energie ging von ihnen aus. Jimmies Blick fiel sofort auf das junge Mädchen neben seiner Tochter: the Huckleberry friend, dachte er sofort mit innerer Zustimmung und nickte sich selbst anerkennend zu. Die Tische um sie herum waren mit britischen und französischen Familien besetzt: Hier und dort saßen vermögende Athener, die vor ihrer nationalen Tragödie flohen und vielleicht froh waren, endlich wieder unter ihresgleichen zu sein. Den Paaren, die jeden Sommer kamen, den Männern mit den Jachten, die für die Dauer eines Monats anlegten und dann wieder verschwanden. Sam bemerkte Jimmies Blick und taxierte ihn. Er wirkte wie ein Nachtklubsänger auf dem absteigenden Ast. Dass Naomis Stiefmutter ein fürchterlicher Snob war, merkte man auf Anhieb. Sie waren eines dieser Paare, das die potenziellen Freunde der Tochter auf Herz und Nieren prüfte, und sei es nur mit einem einzigen Blick.
Codrington hatte sein Haus sogar „Belle Air“ getauft, was nicht nur ziemlich albern, sondern auch grammatikalisch falsch war (Bel Air hätte allerdings nicht an seine Fluglinie denken lassen), und er hatte es mit Kunstwerken von Leuten angefüllt, die im Laufe der Jahre zu seinen Freunden geworden waren. Das Mädchen wusste nicht, was er an diesen Objekten fand, mit denen jeder einzelne Raum vollgestellt war. Im Wohnzimmer stand die Keramikbüste eines rauchenden Hitlers, über die sie jedes Mal lachten. Alle sprachen sie von ihrer Ironie. Aber worin lag der Witz? Ihr Vater war Kommunist und sagte immer, den EngBald jedoch beruhigte sich die Lage, und alles floss wieder ländern sei nicht zu trauen. … ruhig dahin, denn es war unter Reichen Gesetz, dass die Muße im Sommer wie ein breiter und anmutiger Strom Sie erreichten den Hafen, als gerade die letzte Fähre dahinfließen sollte. Es galt, eine gute Zeit zu haben und zurück zum Festland ablegte. Einige Soldaten stan- sich auf der leuchtenden Oberfläche treiben zu lassen. den mit geschulterten Gewehren am Kai und starrten Niemand durfte kneifen oder irgendeine Schwäche zeireglos und stumm auf das hellenische Schiff, das mit gen. Das Ganze unterschied sich nicht sehr vom Schrestrahlenden Lichtern und von Touristenmusik beleb- cken der Hamptons, nur dass dies hier weniger prätentiös ten Decks ausfuhr. Auf dem kleinen Berg zur Linken und etwas weniger seelenlos war. Das Mädchen begann, des Hafens pochte Jimmies Gehstock auf das Pflaster, diese Menschen zu mögen. Immerhin interessierten sie und sie erreichten die erste Wegbiegung, an der die sich für Fremde; sie löcherten Sam mit Fragen, lechzten Klippen steil zum Wasser hin abfielen und sich junge nach Einblicken in ihre rätselhafte Generation. Jugend Menschen wie prähistorische Tiere an die Felsplatten war hier keine rein körperliche oder sexuelle Qualität, sie unter ihnen schmiegten. Tische mit dunkelblauen speiste die Neugierde anderer Menschen – was dachte sie, Tischdecken standen auf Terrassen, sonnengebräun- was wollte sie später einmal werden, wie war ihre Einte slawische Frauen mit geöltem Haar rekelten sich stellung den Alten gegenüber? Sie hörten ihr amüsiert zu. mit ihren Drinks auf Sofas. Über der Terrasse eines Und es amüsierte sie, weil es bedeutsam war. Restaurants stand eine der alten Windmühlen der Insel, weit über die frustrierten und gehetzten Kellner Sam beantwortete derlei Fragen nie ganz wahrheitsin ihren Schürzen erhaben. Sich wie riesige Bonsais gemäß. Während sie unter dem wachsamen Blick ihrer
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Mutter einige Gläser Wein zu sich nahm, drangen weniger angenehme Gedanken auf sie ein. Obwohl sie noch jung war, war sie zu dem Schluss gekommen, wenn sie irgendeinen beliebigen Moment noch einmal erleben könnte, würde sie das Angebot ausschlagen. Doch warum war das so? Es könnte tausend Sommer wie diesen geben, jeder so schön wie der vorangegangene und dennoch nicht wert, ihn ein zweites Mal zu erleben. Ein erstaunlicher Gedanke.
suchtes von Rossini gespielt. Von den Griechen blickte keiner auf, nur eine betuchte französische Familie.
Danach gelangten sie nach Kamini hinunter, wo Boote im Sand lagen. Auf der anderen Seite des Strands war ein zerstörtes Café, blutrot, mit eingeschlagenen Fensterscheiben und einem alten Schild, auf dem in griechischen Buchstaben Mouragio Cafe-Bar zu lesen war. Über dem vertrockneten Berg ging ein Halbmond auf, in dessen Licht allmählich die Umrisse von PferNaomi und Sam verständigten sich durch stumme Bli- den auf den Feldern sichtbar wurden. An den Geruch cke. Das ältere Mädchen zog sie auf diese Weise an sich von Menschen gewöhnt, standen sie völlig reglos da. heran, und einen Moment lang hatte Sam das Gefühl, diesmal der Drachen zu sein. Jimmie war ein Anekdoten- Das Haus lag über dem Weg zu ihrer Linken – ein Stück erzähler, das Schlimmste, was es gab. Naomi wandte sich vor Vlichos –, und die Felder darunter fielen zu tückihalb zu ihr, und in ihrem eingefrorenen Lächeln lag Ge- schen Klippen und dem Meer ab. Doch selbst dort, auf ringschätzung. Ist das nicht schrecklich?, sagte der Blick diesen gefahrvollen Weiden, standen Pferde und machihrer neuen Freundin. Ist er nicht schrecklich? Sie ge- ten sich still über das feuchte Gras her. Es war eines der nossen diesen Augenblick der gemeinsamen Verachtung, üblichen weißen Häuser mit ägäisblauen Fensterrahdoch Sam war nicht ganz so abschätzig wie sie. Sie fand men und Säulen, umgeben von Zitronenbäumen. Überall den alten Herrn eher vergnüglich – und ein wenig billig. lagen aufgequollene Früchte unbeachtet im Gras herum. „Kommst du noch auf einen Tee mit rauf?“, fragte Amy, Also geht es Naomi wie mir, dachte sie. Sie wird gequält. als sie die Außenmauer der Villa erreicht hatten und das Tor aufschwang. Naomi beugte sich zu ihr herüber und flüsterte ihr ins Ohr: „So geht das stundenlang. Wer weiß, wen er Sie gingen zu ihrer Terrasse hinauf, wo sie Jeffrey dabei niedermäht. Er ist wie ein Schneepflug ohne mit seiner Pfeife und einer Streichholzschachtel steGetriebe. Soll ich etwas sagen? Deine armen Eltern.“ hen sahen. Sein überraschter Blick schien nicht nur ihnen zu gelten. Vielleicht, dachte Naomi, schaut er Aber Amy litt kein bisschen. Faszinierend, dachte sie. immer so. Eine Überraschung dem Leben gegenüber Ein Mann mit Feuer! oder einfach eine Art liebenswerter Unfähigkeit. Er zündete die Öllampen an, schaltete aber auch noch Nach dem Abendessen trennte sich Naomi am Sunset die helleren elektrischen Lampen mit den orangen von ihrem Vater und Phaine, um die Haldanes noch zu Glasschirmen ein. Es gab zwei Schaukelstühle und ihrem Haus in Vlichos zu begleiten. Kurz vor Kamini zwei Rattansofas, dazwischen stand ein mit getrockstieg der Weg an und führte zu einer Reihe von Pla- neten Zierschwämmen bedeckter Glastisch. Die Insel teaus und Stufen und einem Restaurant namens Ko- war einst das Zentrum des griechischen Schwammdylenia, dessen Terrasse noch geöffnet war. Einige alte handels gewesen. Sie verteilten sich auf die Kissen, Männer hockten dort mit ihren Ouzo-Gläsern, um- und Naomi dachte, der Abend gehe weit besser zu geben von einer Aura zeitloser Geduld. Aus den Laut- Ende, als er begonnen habe. Die Haldanes waren entsprechern dröhnten alte Tsitsanis-Lieder, und die an spannter, wenn sie unter sich waren, fernab der eineinem Spalier hängenden Öllampen schaukelten im schüchternden Scheinwerfer ihres Vaters und seines Takt vor und zurück. Tagsüber, so erinnerte sich Nao- überwältigenden Selbstbewusstseins, das sie auf eine mi, wurden hier hauptsächlich Mahler und Ausge- subtile und nicht greifbare Weise niedergedrückt
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„Hat dein Vater uns wirklich angeboten, auf seiner Jacht mitzufahren?“, fragte er und stieß Rauch aus. „Ich würde nicht mitkommen, aber Sam und Chris fänden es herrlich.“
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hatte, ohne dass sie sich dessen vollends bewusst waren. Sam hockte am Rand der Terrasse, und ihre Haare peitschten im Wind. Ihre Augen bewegten sich langsam und nahmen alles auf, während ihr Vater redete.
Die Geschwister Haldane erschienen allein mit ihrem Vater am Hafen und tranken mit Naomi vor der Abfahrt einen Kaffee in der Pirate Cove. Amy war lieber zu Hause geblieben, um ein wenig zu malen und zu kochen, und Jeffrey wirkte, als wäre er von seinen Kindern nun doch zum Mitkommen genötigt worden. Dennoch machte er gute Miene zum bösen Spiel und trank eine Tasse Sketos nach der anderen.
Die dreiköpfige Besatzung der „Black Orchid“ war ebenfalls da, und alle saßen zusammen an einem Tisch. Die „Ja“, antwortete Naomi. „Er hat es angeboten. Wir kön- Griechen interessierten sich prompt für die explosive nen einmal um die Insel segeln. Das machen wir oft. Schönheit des amerikanischen Mädchens, und Jeffrey Dort draußen kann man gut schwimmen.“ strotzte vor beschützerischer Widerborstigkeit, als ihm das Koffein zu Kopf stieg. Naomi beobachtete sie „Ich fände es in der Tat herrlich“, sagte Sam, aller- aufmerksam. Die männlichen Haldanes trugen ähnlidings ganz unaufgeregt. che Kakihosen und schwarze Turnschuhe, die gleichen Sweatshirts der University of Pittsburgh und die glei„Hättest du Lust, Amy?“ chen Baseballkappen. Eine Familie, deren Männer eine Uniform hatten. Es war fantastisch – sie kannte derglei„Natürlich. Ich würde gern die wilde Seite der Insel chen aus Filmen –, und auf eine gewisse Weise erleichtersehen.“ te es den Umgang mit ihnen. Der Junge war gut gelaunt, redete aber nicht viel. Das musste er offensichtlich auch „Da kommt man zu Fuß nicht hin, oder?“ nicht. Er tat genau das, was er an diesem Tag tun wollte. „Eine echte Jacht“, sagte er schließlich zu Naomi, und sein Gesicht leuchtete vor Anerkennung. „Fahrt ihr damit „Ich mache mir nichts aus den wilden Seiten von In- auch zum Fischen raus? Ihr könntet Roten Thun fangen.“ seln“, sagte Jeffrey. „Auch wenn ich mich manchmal selbst gern von der wilden Seite zeige. Ich bleibe hier Sams Blick traf auf Naomis, und sie lachten stumm. und wälze mich mit meinem verkrüppelten Bein her- Als sie über den Steg zum Boot gingen, tauschten sie ein stilles Yassou aus. Sam wirkte außerordentlich um, aber die anderen …“ lebhaft auf Naomi, mehr noch als am Tag zuvor. Vielleicht war es die unelegante Uniform der anderen, die „Dann organisiere ich alles“, sagte Naomi. ihre Vorzüge zur Geltung brachte. Außerdem hatte sie eine leichte Sonnenröte. „Können wir speerfischen?“, fragte Sam. Naomi schüttelte den Kopf. „Kaum.“
„Ich wüsste nicht, was dagegenspräche.“ Sam wollte gar nicht speerfischen, sie wollte nur wissen, ob es in diesen unbekannten Gewässern möglich wäre.
Sie gingen an Bord der Jacht, und der Junge lief herum, nahm alles in Augenschein und stieß dabei immer wieder ein kehliges „Wow!“ aus.
„Hier unten gibt es ein Schlafzimmer!“, rief er zu sei„Du wirst nur Delfine sehen“, warf ihre Mutter erha- nem Vater herauf. „Über dem Bett hängt ein Schild, ben ein. „Und die kann man nicht aufspießen.“ … auf dem Schande steht.“
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„Das ist ein Kunstwerk“, erklärte Naomi. Sam und sie traten aufs Achterdeck hinaus und setzten sich dort auf die Stühle. Die Sonne fiel auf sie, und die Mannschaft spannte das Sonnensegel. Auf dem Tisch standen ein Eiskübel, ein Flaschenkühler, Gläser und Porzellanteller bereit. Sam schaute auf die braunen, verbrannten Hügel, und etwas in ihr sträubte sich. Es war wie im Nahen Osten, einem Winkel vom Libanon oder von Syrien Jahrhunderte vor ihrer Zeit. Hoch oben in den Höhlen, inmitten der grell leuchtenden Felsen, bewegten sich Sklaven zwischen den gesattelten Eseln hindurch. Ein sehr eigenes Mysterium. Es war nicht ganz das, was sie erwartet hatte. Als sie aufs offene Meer hinausfuhren, ragte der nach Eros benannte Berg über der Miniaturstadt aus Cafés, Discos und Läden für Taucherbedarf auf. Sie sah Leute auf dem Weg oberhalb des Sunset und die frühmorgendlichen Schwimmer auf den flachen Felsen darunter. Die kollektive Pantomime eines Ferientags. Dann drehte die Besatzung die Motoren auf, und sie bewegten sich flink an der Küste entlang, vorbei an Vlichos und dem Haus der Haldanes. Plötzlich war Amy da, die ihnen schwungvoll zuwinkte wie eine einsame, hagere Gestalt auf einem Gemälde von Andrew Wyeth, und die Jacht ließ ihr Horn erschallen. Sie passierten Molos und die abgelegeneren Landzungen, Kap Bisti, die Insel Tsingri und Agios Konstantinos. Dann drehten sie bei und fuhren am Ufer der Insel entlang auf das Kap Agios Ioannis zu. Auf dieser weniger belebten Seite gab es keine Häuser oder Straßen; die Strände zwängten sich zwischen dramatische Klippen und Felsformationen. Das Meer war dunkler und unberechenbarer. Als sie für einen ersten Zwischenstopp ankerten, brandeten die Wellen gegen eine Seite des Bootes und brachten es leicht zum Schwanken. Unter dem Sonnensegel wurden ihnen Fruchtsaft und Kaffee, Croissants und Tulumba serviert. Es wurde Musik gespielt – Calypso, erklärte Naomi, und ein wenig Louis Armstrong vom Soundtrack zu High Society. Ihr Vater liebte diese Musik. Sie ging mit Sam ins Schlafzimmer hinunter, wo sie ihre Badeanzüge anzogen. Sam sah, dass über dem Bett tatsächlich eine gewundene Neonröhre hing, und las das Wort Schande.
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„Krank, oder?“, flüsterte Naomi. „Das hat ihn 20 000 Dollar gekostet.“ Sam betrachtete die ungeordnete Mischung aus Kunstwerken, die Nachttischlampen aus massivem Glas und die in die Wand eingelassenen Bilder von Keith Haring. Es hätte so cool sein können, dachte sie, doch irgendwie war es das nicht. Sie gingen wieder an Deck, wo die Besatzung gerade die Leiter ins Wasser hinabließ. Jeffrey und der Junge spähten mit zusammengekniffenen Augen auf einige Hornhechte hinunter, die wie lebendige Nadeln durch das Blau schossen. Das Ufer war etwa hundert Meter weit entfernt, eine Distanz, die sich schwimmend gut bewältigen ließ. Vom Boot aus war jetzt der Sandboden zu erkennen, ein Schimmer von dunklem Gold. Sam und Naomi zogen sich Schwimmflossen über und setzten Taucherbrillen auf, verzichteten aber auf Schnorchel. Sie glitten ins Wasser und schwammen leise von Calypso, dem funkelnden Silber und dem besorgten väterlichen Blick davon. Jeffrey dachte, dass er sich in Bezug auf dieses selbstsichere britische Mädchen doch nicht ganz sicher war. Sie hatte ihre Tochter ein wenig von ihnen losgeeist, und seine Frau und er wussten es beide. Doch er glaubte nicht, dass es absichtlich geschehen war. Naomi gehörte zu den Menschen, die einen gänzlich unbewussten Einfluss auf andere ausüben und nicht für die Folgen verantwortlich gemacht werden können. Es war Tropismus und keine Verschwörung. Was sie natürlich noch gefährlicher machte. Darüber hinaus erregte die Lässigkeit, mit der sie sich bewegte und mit anderen umging, sein ehrliches und aufrechtes Gemüt – sie war der Ausweis einer Überlegenheit, die er schmälern musste, um zu überleben. Innerhalb weniger Minuten waren sie am Ufer, stemmten sich wieder an die Luft und legten sich, der Jacht zugewandt, flach auf die Felsen. Noch konnten sie Louis Armstrong und die Calypso-Rhythmen hören, und die Besatzung hatte eine Flasche Champagner hervorgeholt, wohl ebenso für sich selbst wie für die unbekannten und unbedeutenden Gäste. Der Schaum schimmerte kurz auf, als er sich ins Wasser ergoss. „Eviva!“
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Naomi schüttelte ihre nassen Haare aus und lehnte sich zurück. Wieder diese aristokratische Lässigkeit in ihren Bewegungen und Gesten. Sam tat es ihr nach und streckte ihre Zehen mit der blutroten Kriegsbemalung. Sie hatte sie am Abend zuvor lackiert. Eidechsen huschten raschelnd unter Steine, und Sam drehte sich nach ihnen um, doch die Echsen waren zu schnell für ihre Augen.
„Was bedeutet skatofatsa?“, fragte sie, während sie hinter ihrer Führerin herging. Naomi drehte sich um und sagte: „Arschgesicht.“ „Ist das ein nützlicher Ausdruck?“ „Ich benutze ihn so gut wie täglich.“
Nach einigen Minuten standen sie auf und erklommen einen steilen Berghang. Bald hatten sie ein Felsplateau erreicht, von dem aus sie auf das Boot hinunterblicken konnten, wo Vater und Sohn unter dem Sonnensegel zusammenhockten und wieder einmal Schach spielten. Wie erholsam es doch war, endlich von ihnen getrennt zu sein, dachte Sam, fort von dem Gezänk und den familiären Nichtigkeiten. Ein Besatzungsmitglied schwamm um das Boot herum, seine Stimme drang mit großer Klarheit zu ihnen herauf. „To nero einai gamo kryo!“, rief einer der anderen ihm zu. Dass auf dem Boot niemand mehr Griechisch sprach, hatte ihre Zungen gelockert. Der Berghang unter ihnen warf seinen Schatten weit über das Wasser. Gerade eben streifte er das Heck des Bootes und verdunkelte die dort hängende kleine griechische Flagge. Ein weiterer strubbeliger Hang führte zu einer von Felsen und Geröll überschwemmten Bucht, die vom Boot aus uneinsehbar sein musste. Weglos und von Kakteen überwuchert, hatte sie etwas Verlockendes an sich. Als sie sich aus der Sichtweite des Bootes entfernten, blickte Jeffrey kurz besorgt auf, doch die Besatzung bemerkte es nicht. Ein kleiner Schatten war plötzlich auf seine Welt gefallen. Die Besatzung dagegen wusste, dass Naomi die Insel kannte. In Wahrheit jubelten die Mädchen. Die schimmernde Reinheit des Himmels, ganz frei von Wolken und Verunreinigungen, gab ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Sie hüpften über die gestaffelten Steine zu der zweiten Bucht hinunter, und die Hitze schlug ihnen ins Gesicht. Sobald sie außer Sichtweite ihres Vaters war, fühlte Sam sich freier. Ihr fiel ein, wie ihre Mutter sie am Morgen vor der Sonne gewarnt hatte. Ach, zum Teufel mit ihr. Zum Teufel mit der Familiennorm. Ihrer Haut gefiel die ungezähmte Wildheit der Sonne.
„Skatofatso. Fantastisch.“ „Fatsa. Du kannst ihn auch in Amerika verwenden.“ Auf der anderen Seite der Bucht setzten sie sich wieder und verschnauften. Das Boot war hinter der Landmasse verschwunden, aber die Musik von High Society wehte noch immer zu ihnen herüber. Erst als der Wind über den Hang fegte, verklang sie, und sie hörten nur noch Staub und Sand durch die Luft wirbeln. „Wollen wir weitergehen?“, fragte Sam. „Vielleicht folgen sie uns und sammeln uns ein Stück weiter ein.“ „Ich habe kein Telefon dabei. Wir müssten ihnen von irgendwo zuwinken.“ „Dann winken wir eben.“ Sie drehten sich um und erklommen die nächsten Hänge, bis sie das Boot wieder sehen konnten. Sie winkten, doch niemand sah sie. Schon sind wir vergessen, dachte Sam belustigt und mit einer gewissen Befriedigung. Sie riefen, und ihr Echo kam unvermittelt zurück. Sie fragten sich, was sie als Nächstes tun sollten; jenseits ihres Aussichtspunkts lagen Schluchten und Buchten, in dunkelblauem Licht schimmerndes Wüstengestrüpp. Es war so still und unberührt, dass in ihnen eine kindische Lust aufstieg, es durcheinanderzubringen und weniger rein zu machen. Ohne darüber zu reden, liefen sie weiter, stießen ein zweites Mal auf das Meer und sangen dabei, bahnten sich zum Text von „Paperback Writer“ behutsam einen Weg durch die Kakteen. Welch schöne Tiere wir sind, dachte Sam, schön wie
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Panther. Als sie bei den weißen Felsen am Wasser ankamen, sah sie im Vorübergehen zwei rote Flecken. Blut, schoss es ihr durch den Kopf. Sie blieb stehen und kniete sich hin, um es genauer zu betrachten, und mit einem Mal legte sich Verwunderung auf ihr Gesicht. Sie hatte recht gehabt. Da waren zwei getrocknete Blutflecken, wie kleine, zufällig verlegte Gegenstände. Sie spürte einen kurzen Kitzel, dessen Ursprung ihr verborgen blieb.
Der Mann war halb nackt, nur mit einer Trainingshose und Zehensandalen bekleidet. Ein zerschlissener Pullover hing wie zum Trocknen auf einem wenige Meter entfernten Kaktus. Der Mann sah jung aus; er hatte lange Haare und einen ungestutzten, ungepflegten Bart. Ein erschöpfter Vagabund des Meeres. Naomi erkannte sofort, dass er kein Grieche war. Etwas an seiner Kleidung, an seiner totalen Erschöpfung verriet ihn. Sam aber dachte über etwas anderes nach. Sie blickte „Das kann nicht sein“, sagte Naomi. die Küste hinunter und sah nichts. Nicht einmal das mickrigste Beiboot oder ein fortgeworfenes Paddel. Als „Gibt es hier Tiere?“, fragte Sam. Tochter eines Journalisten las sie eifrig Zeitung und hatte bereits eine Ahnung. Obschon sie zu dem gleichen „Niemand jagt in dieser Gegend.“ Ergebnis wie Naomi gekommen sein mochte, betrachtete sie es weniger moralisch. Sie konnten jetzt nicht Etwas in Sam erstarrte, und ihr Instinkt übernahm mehr so tun, als hätten sie ihn nicht gesehen, konnten die Führung. Sie berührte einen der Flecken. „Nur nicht mehr zur Jacht zurückgehen, ohne sich einen zwei Flecken? Es ist von weiter oben heruntergetropft.“ Reim auf die Sache gemacht zu haben. Sie verspürte einen Anflug von Neugierde, doch dann bemerkte sie „Könnte sein“, sagte Naomi. die extreme Konzentration, die in Naomis Blick lag. Nach und nach fiel die Beunruhigung von dem englischen Mädchen ab; es war Sam, die angespannt blieb und doch lieber gleich zurückgehen wollte. Naomi machte einige Menschen kamen auf Privatbooten her, so wie sie beschwichtigende Gesten. Der Schlafende hatte nichts Bedrohliches an sich. Er wirkte kläglich und verlassen, auch. Doch Naomi war skeptisch. beinahe als hätte er sich selbst aufgegeben. Die zwei Bluttropfen stammten von ihm. Ein Schnitt in der Hand, „Wir haben kein Boot wegfahren sehen.“ einer im Fuß: Sein Leid hatte sich offenbart. Man merkte, „Dann müssen sie über die Berge gewandert sein.“ dass er aus dem Meer kam und nicht vom Hafen und dass sein Schlaf kein müßiger war. Plötzlich bewegte sich etwas am Himmel, und sie blickten auf. Zwei riesige Vögel „Nein.“ kreisten dort oben, flogen hin und her und schauten auf Sie standen auf und blickten sich um, sahen jedoch die drei Menschen hinunter, als gäbe es an ihrer Anordnichts. Zweifel regten sich in ihnen, aber sie schwiegen. nung etwas zu entschlüsseln. Langsam ließen sie sich heSie liefen einfach weiter und erklommen die nächste An- rabsinken. Der Mann drehte sich ebenso langsam auf den höhe, bis sie auf Abhänge hinabschauten, die vor glän- Rücken, und sein Mund klappte auf. Lange Striemen und zenden Disteln strotzten. Felsen wölbten sich schützend Kratzer bedeckten seinen bloßen Oberkörper, seine Haut über das Wasser, Wellen schäumten einige Meter weit hatte sich dunkler gefärbt. Schritt für Schritt gingen draußen auf den verborgenen Steinen. Anfangs war sie zu der Felskante zurück, von der sie gekommen wanichts zu sehen. Aber dort, mitten im Sonnenschein, lag ren, und vermieden es, auf den kleinsten Stein zu treten. eine Gestalt ausgestreckt in den Thymianbüschen, ein auf der Seite schlafender Mann, von Lumpen umgeben, „Er stirbt nicht“, sagte Naomi. „Er schläft nur. Er wurde eine Plastikflasche neben sich auf dem Boden. vom Meer angespült.“ „Das muss von einem Menschen stammen. Vielleicht Wanderer?“
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Sam fragte sich laut, ob sie dennoch wieder zurückgehen und mit ihm sprechen sollten. Es kam ihr feige vor, sich einfach davonzumachen, ohne irgendetwas zu tun, ohne mit ihm in Kontakt zu treten. „In Kontakt treten?“ Naomi lächelte. „So habe ich das nicht gemeint. Ich meinte … einfach nur runtergehen und schauen, wer er ist. Er hat geblutet.“ „Heute nicht. Ein andermal.“ Naomi machte ein Handzeichen, und sie gingen den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Diesmal beeilten sie sich. Als sie die Stelle erreichten, an der sie ursprünglich an Land gegangen waren, sagte Naomi: „Deinem Vater sollten wir definitiv nichts sagen. Gar nichts. Einverstanden?“ „Kein Wort.“ „Er würde mit Sicherheit überreagieren. Wahrscheinlich würde er direkt zur Polizei gehen. Er wäre der Meinung, das einzig Richtige zu tun.“
Lawrence Osborne Welch schöne Tiere wir sind Aus dem Englischen von Stephan Kleiner PIPER HARDCOVER
Sie hatte eine Hand ausgestreckt und sie sanft um Sams Handgelenke gelegt. So zwang sie das jüngere Mädchen, in ihre sie unverwandt anstarrenden blauen Augen zu schauen. In den Pupillen zitterte eine leichte Bedrohung.
Ca. 352 Seiten Hardcover mit Schutzumschlag 22,00 € (D) 22,70 € (A) ISBN 978-3-492-05926-8 Erscheint am 19. März 2019
„Er ist Araber, oder?“, platzte es aus Sam heraus. Bestellen Sie Ihr digitales Leseexemplar
Zwischen ihnen breitete sich eine lange Stille aus, während sie sich ihren Weg zurück in Sichtweite der Jacht bahnten, die doch noch nicht abgelegt hatte, um nach ihnen zu suchen. Als sie den ersten Hang auf ihrer Route wieder hinaufstiegen, winkten sie wie zuvor, und die Besatzung, die ob ihrer langen Abwesenheit vielleicht etwas nervös geworden war, gab ihnen ihrerseits Zeichen, als wären sie es, die eine Zeit lang verschollen gewesen waren.
zum Erscheinungstermin auf www.piper.de/leseexemplare … oder schreiben Sie eine E-Mail an: sales_reader@piper.de (Buchhändler) press_reader@piper.de (Presse)
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brief der Lek torin WARUM WURDE DIESER TEXT EINGEKAUFT? Wer sucht sie nicht, die besonderen Stoffe, die einen mu-
einem so packenden Ganzen zu verweben, dass man das
tigen neuen Dreh haben und Genregrenzen austesten?
Gefühl hat, sich selbst im Jahr 1793 zu befinden. Überall
Im Verlag waren wir uns sofort einig: 1793 ist eines dieser
herrschen Armut und Paranoia, Gewalt und Krankheit
Bücher, die einen sofort einnehmen und einen Nerv tref-
bestimmen das Leben der einfachen Leute. Fast kann
fen. Schon lange hat kein historischer Kriminalroman den
man die schrecklichen Zustände unmittelbar vor sich se-
ganzen Verlag so begeistert wie dieser. Das Buch ist sehr
hen. Die atmosphärisch dichten Beschreibungen Stock-
spannend, liest sich süffig und ist wahnsinnig gut recher-
holms zu dieser Zeit gehen unter die Haut, und die Einzel-
chiert. Der Autor Niklas Natt och Dag entstammt der ältes-
schicksale erschüttern bis ins Mark. Ja, stellenweise tun
ten Adelsfamilie Schwedens und hat nicht zuletzt deshalb
die Schilderungen sogar weh.
eine besondere Verbindung zur schwedischen Geschichte. Uns war sofort klar, dass wir sein großartig komponiertes Debüt unbedingt in Deutschland veröffentlichen wollen.
1793 greift ein Setting auf, das es auf dem Buchmarkt so noch nicht gibt: Stockholm im 18. Jahrhundert. Wir lernen die Stadt »von unten« kennen, bekommen beispielsweise
Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag. Im Jahr
Einsicht in das Gefängnisleben, in die Gosse, in Bordelle
1793 wird in Stockholm eine mit höchster chirurgischer
und Spelunken. Spannungsleser sind immer wieder auf
Präzision verstümmelte Leiche an Land gespült. Leere
der Suche nach neuen Schauplätzen – und bei diesem
Augenhöhlen starren ins Nichts, die Arme und Beine feh-
Roman kommen sie definitiv auf ihre Kosten.
len, der Rest ist fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Von Anfang an schockiert den Leser, wie grausam dieses
Die internationalen Rechte waren heiß umkämpft. Über
Verbrechen ist. Unvorstellbar das Motiv, das rechtferti-
Nacht wurde der Roman in mehr als dreißig Länder ver-
gen würde, einen Menschen einer Folter dieses Ausma-
kauft. In Schweden ist 1793 der Erfolgstitel der letzten
ßes zu unterziehen.
Jahre. Er wurde mit dem Krimipreis für das beste Debüt ausgezeichnet, steht auch ein Jahr nach Erscheinen noch
Der Wunsch nach Gerechtigkeit treibt zwei Männer an, den
auf der Bestsellerliste und ist auf der Shortlist für das
Fall aufzuklären. Cecil Winge, ein begnadeter Ermittler
Buch des Jahres 2018.
vom Schlage eines Sherlock Holmes, steht im Dienste der Stockholmer Polizeikammer und ist für »besondere Verbre-
Niklas Natt och Dag revolutioniere mit dem wilden und
chen« zuständig. Er liebt es, der rohen Gewalt die Kraft der
ungewöhnlichen Mix aus verruchtem historischen Set-
Logik entgegenzusetzen. Dieser Mordfall wird ihn jedoch
ting und Krimi das ganze Krimigenre, sagt Arne Dahl, und
an seine Grenzen treiben, denn Winge ist an Tuberkulo-
Fredrik Backman meint, diesen Roman zu lesen sei, wie
se erkrankt, und sein Gesundheitszustand verschlechtert
sich selbst ein Geschenk zu machen. Dieses besondere
sich rapide. Er zieht Jean Michael »Mickel« Cardell, einen
Geschenk wollen wir den deutschsprachigen Leserinnen
traumatisierten Veteranen mit einem Holzarm und einem
und Lesern nicht länger vorenthalten! Unser ganzes Team
erheblichen Alkoholproblem, als Sparringspartner hinzu.
arbeitet gerade unter Hochdruck an der Veröffentlichung.
Da Cardell im Krieg selbst ein Körperteil hat einbüßen müssen, ist er ein Spezialist auf dem Gebiet der Amputationen. Niklas Natt och Dag schafft es meisterhaft, den Kriminalfall, die Schicksale der Figuren und die Atmosphäre zu
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intervie w 5 F R A G E N A N N I K L A S N AT T O C H D A G
Was hat Sie zu Ihrem Roman 1793 inspiriert? In Schweden gab es in den Neunzigerjahren einen Comic, Arne Anka. Arne war eine zynische und rechthaberische Ente und sah Donald Duck verblüffend ähnlich. So sehr, dass sein Schöpfer fürchtete, von Walt Disney verklagt zu werden, und der Ente deshalb einen spitzeren Schnabel verpasste. Arne war ein gescheiterter Poet, und Carl Michael Bellman, unser Nationaldichter, war sein großes Vorbild. Über Arne kam ich mit Bellman in Berührung, der 1740 bis 1795 lebte, sehr versiert war, aber die heiklen Themen seiner Zeit vermied. Er schrieb lieber Lieder, die das Leben der einfachen Leute – darunter auch Trunkenbolde und Prostituierte – dokumentierten und die auf den Straßen Stockholms spielten. Bellmans Werk beeindruckte mich zutiefst, und ich verlor mich in seiner Menagerie an Karikaturen und in den unvorhersehbaren Wendungen der Geschichten. Plötzlich donnerten Emotionen über die Jahrhunderte hinweg auf mich zu. Und so kaufte ich mit fünfzehn meine allererste CD, eine Sammlung von Bellman-Liedern in einer Neuinterpretation. Schließlich schlich ich mich in die Schulbibliothek, stahl ein Buch mit Bellman-Notationen und lernte daraus, Gitarre zu spielen. Etwa zwanzig Jahre später, ich hörte noch immer seine Musik, erschien mir Stockholm im 18. Jahrhundert ein bisschen wie ein zweites Zuhause.
Was war die größte Herausforderung beim Schreiben? Erst einmal mit dem Schreiben anzufangen! Ich war ein einsames Kind und verbrachte die meiste Zeit mit Lesen. Ich entwickelte Beziehungen zu den Romanfiguren, und ihre Welten wurden in mir lebendig. Von klein auf träumte ich davon, selbst eine Geschichte zu schreiben, um auch einmal die Stimme für jemand anderen zu sein. Doch ich hatte großen Respekt und auch Angst davor, zu scheitern und meinen Traum womöglich platzen zu sehen. Es hat lange gedauert, bis ich die ersten Sätze zu Papier gebracht habe. Das war wohl meine größte Herausforderung.
Und was hat am meisten Spaß gemacht? Die ganze Recherchearbeit, um den Roman mit Leben und spannenden Details zu füllen! Tolkiens Mittelerde wäre für mich nie lebendig geworden, wenn er nicht auch die Blumen auf dem Weg nach Bruchtal beschrieben hätte, fiktive Sprachen
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mit Wortschatz angereichert oder eine funktionierende Syntax geschaffen hätte. Umberto Ecos Der Name der Rose ist ein Füllhorn an obskurem Wissen über Ketzerei und so vieles mehr. Ich wollte in diesem Sinne auch mein Bestes geben, und das hat mich zu einer Schatzkammer voller historischer Quellenbücher gebracht. Das war zweifellos das größte und schönste Leseabenteuer meines Lebens.
Was fasziniert Sie an der Kriminalistik im späten 18. Jahrhundert? Ich denke, dass jeder, der mit dem 18. Jahrhundert in Berührung kommt, von derselben Sache fasziniert sein wird. Nämlich wie die Aufklärung begann, eine mehr oder weniger feudale Gesellschaft zu durchdringen. Das Spannende dieser Zeit sind die Umbrüche. Auf der einen Seite gab es mittelalterliche Werte, auf der anderen Seite revolutionäre Ideen, die sich später zur Demokratie entwickelt haben. Ähnliches galt für die Strafverfolgung. Die Rechtsprechung war ungerecht, und die Rechte des Einzelnen waren, gelinde gesagt, kaum vorhanden. Die Strafen waren drakonisch. In 1793 verkörpert mein Protagonist Cecil Winge den Geist der Aufklärung. Als er die übel zugerichtete Leiche sieht, treibt ihn der Wunsch nach Gerechtigkeit an, den Fall aufzuklären. Doch auch er muss im Laufe der Geschichte lernen, dass man mit dem Verstand nicht alles lösen kann.
Angenommen, Sie könnten einen Tag im Jahr 1793 verbringen. Was würden Sie tun? Ich würde in jedes Nasenloch einen Korken stecken und ins Kaffeehaus gehen, um den neuesten Klatsch und Tratsch aufzufangen. Dabei würde ich meine – im hohen Alter von 38 Jahren – vergleichsweise perfekten Zähne zur Schau stellen, eine Kreidepfeife rauchen und dabei den Corday Waltz aus Peter Weiss’ Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade singen. Und schließlich würde ich natürlich auch Bellman einen Besuch abstatten, der zu der Zeit im Schuldnergefängnis saß, und ihn mit einer neuen Lieferung an Tinte, Papier und Feder versorgen.
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1 Mickel Cardell treibt in kaltem Wasser. Mit der freien rechten Hand packt er den Kragen von seinem Kameraden Johan Hjelm, der reglos mit rotem Schaum in den Mundwinkeln neben ihm herdriftet und dessen Waffenrock von Blut und Brackwasser verschmiert ist. Als eine Welle Cardell anhebt und ihm den Stoff aus den Fingern reißt, will er am liebsten schreien, doch aus seiner Kehle dringt lediglich ein Winseln. Neben ihm verschwindet Hjelm wie ein Stein in der Tiefe. Cardell taucht mit dem Kopf unter und blickt
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für einen Moment dem hinabsinkenden Körper nach. Ein Stück weiter unten, an der Grenze dessen, was er erkennen kann, glaubt er noch etwas anderes zu sehen: Zu Tausenden sinken dort verstümmelte Matrosen bis vor das Höllentor. Des Todesengels Schwingen legen sich um ihre Leiber, und obenauf thront ein blanker Schädel. In der Strömung öffnet sich der Unterkiefer zu einem stummen, höhnischen Lachen. »Häscher Mickel! Wachen Sie auf!«
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Widerwillig schlägt er die Augen auf und sieht als Erstes die fleckige Landschaft einer Tischplatte vor sich. Sowie er versucht, den Kopf zu heben, spürt er, dass seine Wange am Holz festklebt. Als er sich schließlich aufrichtet, zieht ihm der klebrige Dreck die Perücke vom Kopf. Er flucht und schiebt sie sich zerstreut unter die Jacke, nachdem er sich damit den Schweiß aus dem Gesicht gewischt hat. Sein Hut ist zu Boden gefallen, die Krone eingedellt. Er schlägt die Delle heraus und setzt ihn wieder auf.
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Als Stadtknecht Jean Michael Cardell unter den unermüdlichen Stößen langsam zu sich kommt, verspürt er für einen Moment Schmerzen im linken Unterarm, der nicht mehr da ist. Anstelle der abgetrennten Gliedmaße sitzt dort nur mehr eine geschnitzte Hand aus Buchenholz. Der Stumpf selbst ruht in einer Vertiefung an seiner Seite, während das Holz mit Lederriemen an seinem Ellbogen befestigt ist. Die Riemen schneiden ihm ins Fleisch. Mittlerweile müsste er es besser wissen und sie aufknoten, sobald er einzunicken droht.
eben erst aufgewacht zu sein. Er hat sich zwischen die beiden Kinder und den Stolz des »Kellers« geschoben, der hinter Schloss und Riegel in einem blauen Schrank verwahrt wird: eine Sammlung geritzter Gläser. Hier im »Hamburger Keller« machen die Todgeweihten halt, bevor sie auf dem Karren hinauf zum Galgenberg am Skanstull gebracht werden. Hier bekommen sie einen letzten Schluck zu trinken. Dann werden ihre Gläser eingesammelt, mit ihren Namen versehen und der Sammlung hinzugefügt. Wer immer später daraus trinken will, wird streng beaufsichtigt und muss einen Preis entrichten, der sich an der Berühmtheit des Toten bemisst – und das soll Glück bringen. Cardell hat nie richtig verstanden, warum. Er wischt sich den Schlaf aus den Augen. Natürlich ist er immer noch alkoholisiert. Als er die Stimme hebt, klingt sie breiig. »Was zur Hölle ist hier los?«
Langsam kehrt die Erinnerung zurück. Er befindet sich noch immer im »Hamburger Keller«. Offenbar hat er sich an seinem Tisch bewusstlos gesoffen. Ein Blick über die Schulter – da sind noch andere, denen es ähnlich ergangen sein muss. Eine Handvoll Betrunkener, die der Wirt offenbar für hinreichend betucht gehalten hat, um sie nicht hinaus in den Rinnstein zu befördern, liegt auf Bänken und unter den Tischen und wartet auf den Morgen, um sich endlich nach Hause zu schleppen und die Standpauke der daheim Wartenden über sich ergehen zu lassen. Bei Cardell ist das anders. Als Krüppel lebt er allein, und nur er selbst bestimmt über seine Zeit. »Mickel, Sie müssen kommen! Da liegt ein Toter im Fatburen!« Zwei Straßenkinder haben ihn geweckt. Ihre Gesichter kommen ihm vage bekannt vor; an die Namen kann er sich nicht mehr erinnern. Hinter den beiden steht Bagge, der fette Liebhaber und Handlanger der Wirtin. Sein Gesicht ist stark gerötet, auch er scheint
Das Mädchen – das ältere der beiden Kinder – antwortet. Der Junge, nach der Ähnlichkeit zu urteilen womöglich der Bruder, hat eine Hasenscharte und rümpft die Nase, als er Cardells Atem riecht. Er geht hinter seiner Schwester in Deckung. »Im Wasser liegt ein Toter, direkt am Ufer.« In ihrer Stimme liegt eine Mischung aus Schrecken und Erregung. Die Adern um Cardells Stirn fühlen sich an, als könnten sie jeden Moment zerplatzen, und sein Puls droht die wattigen Gedanken zu übertönen, zu denen er schon wieder in der Lage ist. »Und was hab ich damit zu tun?« »Bitte, Mickel, es ist sonst niemand da, und wir wussten, dass Sie hier sein würden.« In der vergeblichen Hoffnung auf ein wenig Linderung reibt er sich die Schläfen.
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Über Södermalm beginnt es gerade erst zu dämmern. Die nächtliche Finsternis hängt noch immer in der Luft, die Sonne hat sich noch nicht hinter der Sicklaön und dem Danviken heraufgeschoben. Cardell stolpert über die Treppe des »Hamburger Kellers« nach draußen und dann hinter den zwei Kindern her die leere Borgmästaregatan entlang. Mit halbem Ohr hört er zu, wie sie von einem durstigen Zugochsen erzählen, der am Ufersaum des Fatburen mit einem Mal zurückschreckte und dann in Richtung Tanto flüchtete. »Er hat mit seinem Maul die Leiche berührt, und die hat sich dann einmal um die eigene Achse gedreht.« Am See, wo der Weg nicht mehr gepflastert ist, wird der Boden lehmig. Hier unten am Fatburen war Cardell schon lange nicht mehr, aber es hat sich nichts verändert. Angeblich sollte das Ufer für neue Anlegestellen und Brücken geräumt werden, aber nichts dergleichen ist passiert. Kein Wunder, da Stadt- und Staatskasse leer sind – das weiß er genauso gut wie jeder andere, der seinen mickrigen Lohn mit allerhand zusätzlichen Einkünften aufbessern muss. Sämtliche Güter am Ufer wurden zu Manufakturen umgebaut, und die Werkstätten leiten ihren Dreck ungefiltert in den See. Der für Ausscheidungen vorgesehene Holzverschlag ist überschwemmt, wird von den meisten aber ohnehin gemieden. Cardell stößt einen saftigen Fluch aus, als sein Stiefelabsatz durch den Lehm furcht und er den gesunden Arm nach hinten reißen muss, um das Gleichgewicht zu halten.
durch den Kopf, dass es zu klein ist. Das kann kein Mensch sein. »Das sind Schlachtabfälle, genau wie ich vermutet habe. Irgendein Tierkadaver.« Doch das Mädchen bleibt stur, und der Junge nickt nachdrücklich. Cardell schnaubt resigniert. »Ich bin betrunken. Verstanden? Besoffen. Nicht bei Sinnen. Merkt euch das, falls irgendwer euch fragt, wie ihr einen Stadtknecht dazu gebracht habt, im Fatburen baden zu gehen, und er euch anschließend verdroschen hat, als er tropfnass und stinksauer wieder aus dem Wasser kam.« Nur unter Mühen, wie es jedem Einarmigen gegangen wäre, schält er sich aus seiner Jacke. Die Wollperücke, die er schon wieder ganz vergessen hat, fällt auf den Lehmboden. Auch egal, er hat das Ding für eine Handvoll Zwölftelschillinge gekauft, es ist inzwischen ohnehin längst aus der Mode, und er trägt das Teil nur noch, weil mit einem ordentlichen Auftreten seine Chancen als Kriegsveteran steigen, den einen oder anderen Schluck spendiert zu kriegen. Cardell legt den Kopf in den Nacken. Hoch über dem Årstafjärden funkeln immer noch die Sterne wie auf einer Perlenschnur. Er schließt die Augen, um die Schönheit dieses Anblicks in seinem Innern zu verschließen, und setzt erst dann den rechten Stiefel in den See.
»Euer Rindvieh hat sich erschreckt, weil es die Überreste eines alten Kameraden gewittert hat. Hier kippen Schlachter ihre Abfälle ins Wasser. Ihr habt mich wegen ein paar Ochsenrippen oder dem Rückgrat eines Schweins geweckt!«
Der durchweichte Ufersaum kann sein Gewicht nicht tragen. Er sinkt bis zum Knie ein und spürt, wie das Wasser in den Schaft des Stiefels strömt, der prompt im Schlamm stecken bleibt, als er das Bein nachziehen muss, um nicht zu stolpern. In einer Mi»Wir haben ein Gesicht im Wasser gesehen, das Ge- schung aus Waten und Schwimmzügen arbeitet er sicht eines Menschen!« sich voran. Wasser plätschert und spült fahlgelben Schaum ans Ufer. Die Kinder haben insofern recht, als ein paar Meter in den See hinein etwas Verrottetes im Wasser treibt, ein dunkles Bündel. Als Erstes schießt Cardell
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Das Wasser fühlt sich zwischen seinen Fingern zäh und dickflüssig an. Um ihn herum treibt all das, was man nicht einmal in den Elendsvierteln Södermalms für aufhebenswert hält.
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Er schiebt sich mit Beinschlägen vorwärts und streckt sich nach dem Kadaver. Erst glaubt er, dass er recht gehabt hat: Es ist kein menschliches Wesen. Es ist ein totes Tier, das aus der Schlachtschwemme gespült wurde und jetzt an die Wasseroberfläche getrieben ist, weil Faulgase sich in den Eingeweiden ausbreiten. Doch dann dreht sich das Bündel, und er sieht sich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
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Der Alkohol beeinträchtigt sein Urteilsvermögen. Er empfindet Panik, sobald er keinen Boden mehr unter den Füßen hat. Dieser Tümpel ist tatsächlich tiefer, als er vermutet hat, und mit einem Mal fühlt er sich in den Svensksund zurückversetzt – drei Jahre zuvor, inmitten der Schrecken eines Malstroms, der den schwedischen Verband zu verschlingen drohte.
Und wieder machen die Kinder keine Anstalten. Sie sind ebenso darauf erpicht, sicheren Abstand zu halten, wie einen Blick auf Cardells Fang zu erhaschen. Erst als er die Faust hebt, setzen sie sich in Bewegung. Als er ihre kleinen Füße nicht mehr hören kann, dreht er den Kopf zur Seite und übergibt sich. Am Ufer ist es wieder totenstill, und dort unten allein am Wasser spürt er, wie eine kalte Hand die Luft aus seiner Lunge presst und ihm der Atem stockt. Sein Herz hämmert immer schneller, Blut schießt durch die Adern an seinem Hals, und eine überwältigende Angst ergreift von ihm Besitz. Er weiß nur zu gut, was als Nächstes kommt: Er spürt, wie sich sein nicht länger vorhandener Arm aus dem Dunkel heraus förmlich verdichtet, bis jede Faser seines Leibs ihm zuraunt, dass der Arm wieder da sei, wo er hingehöre. Er spürt, wie sich vom Unterarm ein Schmerz ausbreitet, der so übermächtig ist, dass er die Welt übertönen könnte: ein Schädel mit eisernen Zähnen, die durch Fleisch und Knochen nagen.
Verrottet ist es nicht, trotzdem starren ihn leere Augenhöhlen an. Hinter den zerfetzten Lippen kein einziger Zahn. Nur das Haar scheint noch zu schimmern, auch wenn die Nacht und der Fatburenschlamm ihr Bestes tun, um die Farbe zu verschleiern. Doch der Schopf ist ohne Zweifel blond. Cardell schnappt hek- Panisch reißt er die Lederriemen vom Ellbogen und tisch nach Luft und schluckt Wasser. lässt die Holzhand auf den Lehmboden fallen. Dann packt er mit der Rechten den Stumpf und knetet die Als er endlich aufhört zu husten, lässt er sich kurz vernarbte Haut, um seine Sinne wieder daran zu erneben der Leiche im Wasser treiben. Er sieht ihr ins innern, dass jener Unterarm, den sie zu spüren glauzerstörte Gesicht. Von den Kindern am Ufer hört er ben, nicht länger da und die schmerzende Wunde keinen Mucks mehr. Stumm warten sie darauf, dass schon seit Jahren verheilt ist. er wiederkommt. Er macht kehrt und stößt sich mit dem nackten Fuß ab in Richtung Ufer. Die Attacke währt nicht länger als eine Minute. Endlich kriegt er wieder Luft, atmet erst ganz flach, Dort, wo das Wasser ihrer beider Gewicht nicht mehr dann immer ruhiger und langsamer. Die Angst trägt, wird die Bergung zusätzlich erschwert. Car- schwindet, und die Welt nimmt wieder erkenndell rollt sich über den Rücken ab, stemmt sich auf bare Konturen an. Derlei jähe Panikattacken überdie Beine und schleppt seinen Fund mithilfe der Fet- kommen ihn schon seit drei Jahren – seit er mit nur zen, in die er gehüllt ist, aus dem Wasser. Die Kin- einem Arm und um einen Kameraden ärmer zurück der machen keine Anstalten zu helfen, im Gegenteil, an Land gekrochen ist. Dabei liegt der letzte Anfall sie weichen erschrocken zurück und halten sich die schon eine Weile zurück. Er hat eigentlich geglaubt, Nase zu. Cardell hustet Wasser und spuckt auf den ein, zwei Mittelchen gefunden zu haben, die den Alb Lehmboden. auf Abstand halten: den Branntwein und Schlägereien. Cardell sieht sich trostsuchend um, doch es »Lauft zur Schleuse, und holt die Stadtwache!« sind nur er und die Leiche da.
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Er nimmt nicht einmal zur Kenntnis, wie lange die Stadtwache braucht. Still sitzt er am Ufer und starrt vor sich hin. Seine durchnässte Kleidung ist eiskalt, aber noch hat er genügend Branntwein in den Adern, dass ihm warm ist. Als sie kommen, sind sie zu zweit: zwei Männer in blauen Uniformjacken über weißen Hosen, jeder mit einer bajonettbewehrten Muskete im Arm. Ihrem Gang kann er ansehen, dass auch sie getrunken haben, was zwar strafbar, aber an der Tagesordnung ist. Einen der beiden kennt er sogar namentlich. Viele jener schlecht bezahlten Ordnungskräfte neigen dazu, ihre Sorgen im Branntwein zu ertränken, und die Wirtshäuser sind brechend voll. »Sieh mal einer an: Mickel Cardell auf Badeausflug in der Stadtlatrine. Haben Sie darin etwas von Wert gesucht, was Sie versehentlich vor ein paar Tagen verschluckt und nicht mehr aus der Schüssel haben retten können? Oder haben Sie nach einer verirrten Hure gesucht, die ins Wasser gegangen ist?« »Halten Sie die Klappe, Solberg. Ich mag gerade nach Kloake stinken, aber Sie und Ihr Freund – Sie stinken nach Fusel. Gehen Sie besser runter ans Wasser, und gurgeln Sie durch, bevor Sie Ihren Korporal wecken.« Cardell steht auf und streckt den steifen Rücken durch. Dann zeigt er neben sich auf die Leiche. »Da.«
den eingebüßten Stiefel erinnert. Er wirft sein Bündel auf den Hang, macht kehrt und watet steifbeinig und doch so würdevoll, wie er nur kann, in seinen eigenen Fußstapfen zurück, bis er den eingesunkenen Stiefel findet. Dann zerrt er das Leder aus dem Schlamm, der wie zur Antwort enttäuscht schmatzt. Solberg hat das Glück auf seiner Seite und darf sich auf den Weg in die Stadt machen. Sein Kamerad steht derweil wortlos da und legt weder Spott noch Hohn an den Tag. Der Schrecken, der einen überkommt, wenn man allein mit einer Leiche zurückbleibt, ist ihm anscheinend nicht fremd. Cardell nickt ihm im Vorbeigehen zu. Er hat einen Cousin, der hier im Viertel wohnt und der einen Brunnen und mit etwas Glück auch eine Kanne Seifenwasser übrig hat, die er bereit ist, mit Cardell zu teilen.
2 Auf dem Sekretär liegt ein Bogen Papier mit einem aufgezeichneten Schachbrettmuster. Cecil Winge legt die Taschenuhr vor sich auf die Arbeitsplatte, nimmt die Kette ab und zieht den Leuchter mit dem hellen Wachslicht ein Stück näher heran. Schraubendreher, Pinzette und die eine oder andere Zange liegen aufgereiht vor ihm. Er hält die Hände vor sich ins Kerzenlicht. Nicht das geringste Zittern.
Sowie Kalle Solberg sich ihr nähert, zuckt er erst ein- Konzentriert macht er sich an die Arbeit. Er öff net mal heftig zurück. das Gehäuse, zieht die Stifte heraus, auf denen die Zeiger sitzen, und legt sie in den jeweils vorgesehenen »Pfui Teufel!« Quadranten auf dem Papierbogen. Dann nimmt er das Ziffernblatt, legt das Uhrwerk frei, hebt es ebenfalls »Genau. Einer von Ihnen bleibt am besten hier, würde aus dem Gehäuse. Er nimmt es auseinander und ölt ich sagen, während der andere in Richtung Schloss- Zahnrad um Zahnrad. Aus ihrem Gefängnis befreit, berg läuft und einen Konstabler von der Wache holt.« lockert sich die flach aufgerollte Feder zu einer zierlichen Spirale. Darunter liegt der Unruhring, dann das Cardell wickelt seine Jacke um die Holzhand und Federhaus. Mit Schraubendrehern, die kaum breiter klemmt sich das Bündel unter den Stumpf. Gerade als Nähnadeln sind, zieht er die winzigen Schrauben will er sich auf den Weg machen, als er sich wieder an aus den Gewinden.
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Ohne funktionsfähige Uhr ist Winge auf den Klang der Kirchenglocken angewiesen, die die fortschreitende Stunde verkünden. Im Ladugårdslandet ist es die große Glocke der Hedvig-Eleonora-Kirche. Vom Saltsjön her kann er das schwache Echo vom Glockenturm der Katarinenkirche hören. Die Zeit verrinnt.
ihrem Platz, und er will die ganze Prozedur gerade von Neuem angehen, als er mit einem Mal Essensgeruch wahrnimmt. Dann kratzt das Mädchen an der Kammertür, und eine Stimme ruft zu Tisch.
Eine blau gemusterte Suppenterrine wird auf den Tisch gestellt. Der Gastgeber, Reepschläger Olof RoSobald er das Uhrwerk komplett auseinandergenom- selius, neigt den Kopf zu einem kurzen Tischgebet, men hat, macht er sich daran, es in umgekehrter Rei- ehe er die Hand ausstreckt und den Deckel von der henfolge wieder zusammenzufügen. Indem jeder Teil Terrine hebt. Er verbrennt sich am Griff, verkneift an seinen angestammten Platz gelegt wird, nimmt es sich einen Fluch und schüttelt die Finger aus. nach und nach wieder Gestalt an. Winges schlanke Finger beginnen sich zu verkrampfen, und er muss Auf seinem Platz zur Rechten des Reepschlägers tut mehrmals Pausen einlegen, damit sich Muskeln und Cecil Winge so, als studierte er die hölzerne TischSehnen erholen. Er ballt die Fäuste, spreizt die Finger, platte, auf der das Kerzenlicht Schattenstreifen reibt sich die Hände, presst die Handgelenke auf die erzeugt. Währenddessen eilt die Magd mit einem Knie. Die unbequeme Sitzhaltung fordert ihren Tri- Handtuch zu Hilfe. Der Duft von Rüben und gebut, und die Krämpfe in der Hüfte, die er immer häu- gartem Fleisch glättet die Runzeln in der Stirn des figer hat, breiten sich über seinen unteren Rücken Reepschlägers. Mit seinen siebzig Jahren ist jegliaus und zwingen ihn, in einem fort die Sitzposition che Farbe aus seinem Kopfh aar und dem Bart gewichen. Leicht gekrümmt sitzt er auf seinem Stuhl. zu ändern. Roselius eilt der Ruf eines rechtschaffenen Mannes Als die Zeiger wieder an ihrem Platz sitzen, führt er voraus. Jahrelang hat er sich für die Arbeit des Arden winzigen Schlüssel ins Loch, dreht ihn herum menhauses der Hedvig-Eleonora-Kirche eingesetzt und spürt den Widerstand der Feder. Sobald er los- und andere großzügig an seinem Vermögen teillässt, kann er das wohlbekannte Ticken hören und hat haben lassen, das einst hinreichend war, um den zum bestimmt hundertsten Mal seit dem vergange- Gutshof des Grafen Spens am Rande des Ladugårdsnen Sommer ein und denselben Gedanken: Genau so landet zu erwerben. Doch in den letzten Jahren forsollte die Welt funktionieren, rational und greifbar – dern missglückte Geschäfte mit seinem Nachbarn jedes Zahnrad an seinem ureigenen Platz, präzise Ekman, Kämmerer der Verwaltungsbehörde, ihren Bahnen, die man anhand des benachbarten Zahnrads Tribut. Ein Sägewerk im Västerbottnischen hat sich exakt berechnen kann. als Fehlinvestition entpuppt. Winge hat so eine Ahnung, dass Roselius sich für Jahrzehnte der WohlDoch der Trost, den er diesem Gedanken abgewinnt, tätigkeitsarbeit ungerecht entlohnt fühlt. Eine geist nicht von Dauer. Er ist verflogen, sobald die Ab- wisse Bitterkeit scheint wie eine Glocke über dem lenkung vorbei ist und die Welt, in der für einen Au- gesamten Besitztum zu hängen. genblick die Zeit stillgestanden hat, um ihn herum wieder Gestalt annimmt. Er hängt seinen Gedanken Winge kann als Mieter nicht umhin, sich selbst als nach, legt einen Finger aufs Handgelenk und zählt eine Mahnung an schlechtere Zeiten zu betrachten. die Pulsschläge, während der Sekundenzeiger über Doch heute Abend macht Roselius einen noch niedas eingelassene Ziffernblatt wandert, auf dem der dergeschlageneren Eindruck als sonst, und er beName des Uhrmachers steht: Beurling, Stockholm. gleitet jeden Löffelvoll mit einem Seufzer. Als er sich Einhundertvierzig Schläge pro Minute. Die Schrau- schließlich räuspert und die Stille durchbricht, ist bendreher und das übrige Werkzeug liegen wieder an sein Teller beinahe leer.
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»Der Jugend Ratschläge zu erteilen ist bekanntlich mühsam; man kassiert dafür nur Schelte. Trotzdem will ich Klartext reden, Cecil. Seien Sie so gut, und hören Sie mir zu, ich will nämlich Ihr Bestes.« Roselius erlaubt sich einen neuerlichen Seufzer, ehe er ausspricht, was offenbar ausgesprochen werden muss.
Selbst in seinen eigenen Ohren klingt diese Erwiderung wie die Rechtfertigung eines bockbeinigen Kindes. »Cecil, was immer Sie damit beabsichtigt hatten – es ist anders gekommen.« Winge kann seine Hände nicht am Zittern hindern. Er legt den Löffel beiseite, damit es nicht auffällt. Seine Stimme ist zu seinem Verdruss kaum mehr als ein heiseres Flüstern.
»Was Sie da tun, ist nicht natürlich. Ein Ehemann muss bei seiner Frau sein. Haben Sie ihr nicht geschworen – und sie Ihnen –, in guten wie in schlechten Tagen bei- »Es hätte funktionieren müssen.« einanderzubleiben? Kehren Sie zu ihr zurück.« Als Roselius antwortet, ist seine Stimme weicher als Blut steigt Winge in das blasse Gesicht, und er ist ob zuvor. der Vehemenz seiner Gefühle selbst überrascht. Ein derart getrübtes Urteilsvermögen und übermächti- »Ich habe sie heute gesehen, Cecil, ihre Frau – beim ger Zorn stehen einem Mann der Vernunft nicht gut Fischhändler am Katthavet. Sie erwartet ein Kind. Sie zu Gesicht. Er atmet tief ein, hört das Blut in seinen kann ihren Bauch nicht länger verbergen.« Ohren rauschen und ringt um Fassung. Währenddessen bleibt er dem Reepschläger die Antwort schuldig. Winge rückt seinen Stuhl zurecht und sieht dem Winge weiß, dass sich die List, die sein Gegenüber Reepschläger jetzt erstmals ins Gesicht. einst zum Erfolgreichsten seiner Zunft gemacht hat, über die Jahre nicht gemindert hat. Er kann regel- »War sie allein?« recht hören, wie hinter dessen Stirnfalten ein argwöhnischer Gedanke den anderen jagt. Die Spannung Roselius nickt und lehnt sich vor, um die Hand auf zwischen ihnen schwillt in der Stille an und verebbt Winges Unterarm zu legen, doch der weicht intuitiv wieder. Roselius seufzt, lehnt sich zurück und hebt aus, und zwar so schnell, dass es ihn selbst verblüff t. die Hände zu einer versöhnlichen Geste. Winge schließt die Augen, um sich wieder zu sam»Wir haben schon oft miteinander gegessen, Sie und meln. Er hat erneut den Eindruck, als stünde die Zeit ich. Ich kenne Sie. Sie sind belesen und haben einen still, während er in der Bibliothek seiner Gedanken scharfen Verstand. Ich weiß überdies, dass Sie kein steht, in der um ihn herum die Bücher stumm aufgeschlechter Mensch sind, ganz im Gegenteil. Aber reiht sind. Er wählt einen Band von Ovid, schlägt das Sie lassen sich von neuen Ideen blenden, Cecil. Sie Buch auf einer wahllosen Seite auf. Omnia mutanglauben, Sie könnten alles kraft des Verstandes lö- tur, nihil interit. Alles wandelt sich, aber nichts geht sen – kraft Ihres Verstandes. Aber da liegen Sie falsch. komplett zugrunde. Derlei tröstliche Worte braucht Gefühle lassen sich nicht an die Kette des Verstan- er gerade. des legen. Kehren Sie zu Ihrer Frau zurück, um Ihrer beider willen, und wenn Sie ihr etwas angetan haben Als er die Augen wieder aufschlägt, verrät sein Blick sollten, bitten Sie sie um Verzeihung.« nicht das geringste Gefühl. Mit Mühe hält er seine zitternden Hände unter Kontrolle, rückt behutsam »Was ich getan habe, war zu ihrem Besten. Ich hatte den Löffel zurecht, schiebt seinen Stuhl zurück und es mir gut überlegt.« steht vom Tisch auf.
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gleich kein Besuch mehr erwartet wird. Dann ruft jemand seinen Namen. Er zieht den Rock über, und als er auf die Stimme zuläuft, entdeckt er zwei Gestalten. Roselius’ Magd hält die Laterne. Neben ihr steht ein Die Stimme des Reepschlägers folgt ihm nach drau- kleiner, vornübergebeugter Kerl, stützt die Hände auf die Knie, ringt um Atem, und von den Lippen trieft ßen. der Speichel. Als Winge näher tritt, drückt ihm die »Wenn der Gedanke das eine, die Wirklichkeit aber Magd ihre Laterne in die Hand. das andere sagt, muss doch der Gedanke falsch gewesen sein. Wie kann das ausgerechnet Ihnen mit »Besuch für den Herrn. In dem Zustand lass ich den Ihrer humanistischen Ausbildung nicht einsichtig aber gewiss nicht rein.« sein?« Sie macht auf dem Absatz kehrt und marschiert breitDarauf hat Winge keine Antwort, aber indem er da- beinig zurück ins Hauptgebäude, während sie über vonmarschiert, kann er so tun, als hätte er es nicht die Torheit der Welt den Kopf schüttelt. Der Kerl ist jung, hat immer noch eine helle Stimme, und unter gehört. all dem Schmutz sind seine Wangen glatt. Auf unsicheren Beinen stolpert Cecil Winge hinaus in den Flur und dann die Treppe hoch zur Kammer, die »Also?« er seit dem Sommer im Haus des Reepschlägers angemietet hat. Er kommt im Moment sehr leicht außer »Sind Sie Winge? Cecil Winge, der im Inbetoska arbeiAtem und muss sich vornübergebeugt an den Türrah- tet?« men lehnen. »Die Polizeikammer ist im Hause Indebetou unterVor seinem Fenster erstreckt sich das stille Gut. Die gebracht und nirgends sonst. Nichtsdestoweniger: Ja, Sonne ist schon vor einer Weile untergegangen. In der bin ich.« der Fensterscheibe sieht Winge sein Spiegelbild. Er ist noch keine dreißig, und sein bleiches Gesicht Unter dem schmutzig blonden Haarschopf blinzelt zeichnet sich scharf gegen sein dunkles Haar ab, das der Junge ihn an. Ohne einen Beweis will er ihm ofer im Nacken zusammengebunden hat. In der Dun- fenbar nicht glauben. kelheit kann er nicht mehr erkennen, wo der Horizont aufhört und das Himmelszelt ansetzt. Erst ein »Auf dem Schlossberg heißt es, der Herr zahlt dem ganzes Stück weiter oben funkeln die Sterne. So ist Schnellsten ein Trinkgeld.« wohl die Welt – jede Menge Finsternis und nur wenig Licht. Am oberen Rand kann er durch die Schei- »Ach ja?« be eine Sternschnuppe sehen – einen Strich, der blitzschnell über den Himmel schießt. Als er noch Der Junge kaut auf einer Haarsträhne herum, die aus ein kleiner Junge war, durften sie sich immer etwas seiner Kappe gerutscht ist. wünschen, wenn sie eine Sternschnuppe entdeckten. Dem Aberglauben kann er schon lange nichts mehr »Ich war schneller als die anderen. Jetzt hab ich abgewinnen; dennoch formuliert er einen stummen Seitenstechen und schmecke Blut, und heute Nacht Wunsch. muss ich in nassen Kleidern draußen auf der Straße schlafen. Einen Zwölftelschilling will ich dafür Zwischen den Linden im Hof sieht er ein Licht, ob- schon haben.« »Ich danke Ihnen für die Suppe und Ihr Mitgefühl, aber rechnen Sie damit, dass ich das Abendessen von nun an in meiner Kammer zu mir nehme.«
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Der Junge hält den Atem an, als hätte Winge seine Dreistigkeit mit einem Würgegriff gestraft. Doch der wirft ihm nur einen abschätzigen Blick zu.
Laufschritt in Richtung Ladugårdslandet. Im Handumdrehen verschlucken ihn die Schatten. Cecil Winge muss unwillkürlich an die Sternschnuppe denken.
»Du hast gesagt, es gebe noch andere, die sich auf den Weg hierher gemacht haben. Da muss ich ja nur * einen Moment warten, bis die Angebote nur so hereinströmen.« Kammerdirektor Johan Gustaf Norlin hat seine Perücke abgelegt, und zwischen Uniformjacke und Hose Er kann regelrecht hören, wie der Junge mit den Zäh- hängt ein Zipfel seines Nachthemds heraus. nen knirscht und sich für seinen Lapsus verflucht. Trotzdem zückt Winge seine Geldbörse, nestelt die »Cecil. Danke, dass du so kurzfristig kommen konngewünschte Münze heraus und hält sie zwischen test.« Daumen und Zeigefinger. Winge nickt und lässt sich auf Norlins Geste hin auf »Heute Abend hast du Glück. Geduld ist nämlich nicht einem Stuhl nieder, den jener neben den Kachelofen gerade meine Stärke.« gerückt hat. Erleichtert grinst ihn der Junge an. Ihm fehlen zwei »Catharina hat schon Kaffee aufgesetzt, und warm Schneidezähne. Blitzschnell schiebt er die Zunge wird es auch gleich.« durch die Lücke und leckt sich den Rotz von der Oberlippe. Dann nimmt der Kammerdirektor erschöpft gegenüber seinem Besucher Platz und räuspert sich, bevor »Der Kammerdirektor will sich mit dem Herrn unter- er zur Sache kommt. halten, und zwar jetzt gleich, in der Yxsmedsgränd.« »Im Fatburen auf Södermalm ist ein Mann tot aufgeWinge nickt und streckt die Hand mit der Münze funden worden. Ein paar Kinder haben einen betrunaus. Der Junge macht ein paar Schritte nach vorn und kenen Häscher überreden können, ihn aus dem Wasschnappt sich seine Belohnung. Dann wirbelt er he- ser zu ziehen. Der Zustand des Toten allerdings … Der rum, rennt los und springt mit einem so langen Satz Kerl, der mich in Kenntnis gesetzt hat, ist seit knapp über das Mäuerchen, dass er beinahe die Balance ver- zehn Jahren bei der Wache, und in dieser Zeit hat er sicher das Schlimmste gesehen, was ein Mensch einem liert. anderen antun kann. Trotzdem musste er eine Weile »Kauf Brot davon«, ruft Winge ihm nach, »und kei- zusammengekrümmt und keuchend hier auf meiner nen Branntwein!« Schwelle stehen, um ja sein Abendbrot bei sich zu behalten, während er mir den Zustand der Leiche schilDer Junge bleibt stehen. Dann zieht er sich die Hose derte.« herunter, dreht Winge die Kehrseite zu, klatscht sich mit der flachen Hand deutlich vernehmbar auf beide »Wenn du denselben Mann meinst wie ich, dann mag Gesäßbacken und ruft über die Schulter: »Noch mehr sich da auch der Branntwein bemerkbar gemacht hasolcher Botengänge, und ich werde so reich, dass ich ben.« mir beides leisten kann!« Keiner der beiden lacht, und Winge reibt sich die müDann lacht er triumphierend und verschwindet im den Augen.
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Norlin steht auf, um den brodelnden Kupferkessel aus dem Nachbarzimmer zu holen, und gießt ihnen zwei Becher Kaffee ein.
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»Johan Gustaf, wir haben uns darauf geeinigt, dass mein jüngster Auftrag für dich auch mein letzter sein sollte. Ich bin der Kammer im vergangenen Jahr gern behilflich gewesen. Aber es ist höchste Zeit für mich, meine eigenen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.«
wo dort draußen ist ein Ungeheuer immer noch auf freiem Fuß. Die Leiche ist zur Marienkirche gebracht worden. Tu mir diesen einen Gefallen, und ich werde dich in Zukunft nie wieder um etwas bitten.«
3 So sauber, wie er sich am Brunnen seines Vetters waschen konnte, und in einem geliehenen frischen Hemd stapft Cardell den Kvarnberget hinab und spuckt braunen Kautabak in die Gosse. Hinter den weiß gekälkten Gebäuden, die bis hinunter zum Gullfjärden an den Hängen stehen, kann er die Stadt auf ihrer Insel und direkt daneben Riddarholmen erahnen. Zusammen bilden sie einen düsteren Koloss, der sich aus dem Mälarsee erhebt und von vereinzelten Lichtern erhellt wird.
»Niemand wäre dir für alles, was du getan hast, dankbarer als ich, Cecil. Ich kann mich nicht an eine einzige Gelegenheit erinnern, bei der du meine Erwartungen als Ermittler nicht übertroffen hättest. So wie du seit dem letzten Winter die Zahlen der Kammer verbessert hast, muss es für einen Außenstehenden aussehen, als hättest du mir einen enormen Dienst erwiesen. Korrigiere mich, wenn ich falschliege, Cecil … aber habe ich damit nicht auch dir einen Dienst Kaum dass er die Gegend hinter sich gelassen hat, bleibt erwiesen?« sein Blick an einem Mann mit Pockennarben im GeNorlin versucht über den Becherrand hinweg, Winges sicht hängen, der die silberne Erkennungsmarke eines Blick aufzufangen – vergebens. Er nimmt noch einen Polizeikonstablers an einer Kette um den Hals trägt. Schluck und stellt den Becher beiseite. »Verzeihung, aber Sie wissen nicht zufällig, was mit »Wir waren alle einmal jung, Cecil, hatten das Juridi- der Leiche aus dem Fatburen passiert ist? Ich heiße cum gerade hinter uns gelassen und waren begierig Cardell. Ich hab sie vorhin herausgefischt.« darauf, uns im Rechtswesen einen Namen zu machen. Du warst immer der Idealist, hast von uns allen stets »Hab schon gehört. Sie sind Stadtknecht, oder nicht? am vehementesten für deine Überzeugungen ein- Die Leiche liegt fürs Erste im Beinhaus der Mariengestanden und warst willens, dafür jeden Preis zu kirche. Grausam, ehrlich wahr, so was Schlimmes zahlen. Die wenigsten Fälle, in denen du für mich hab ich wirklich noch nie gesehen. Wenn man beermittelt hast, waren deiner Aufmerksamkeit wert! denkt, wie Sie über die Sache gestolpert sind, sollte Falschmünzer, die nicht buchstabieren konnten. Ehe- man annehmen, dass Sie damit nicht länger zu tun männer, die ihre Frauen erschlagen und nicht einmal haben wollen. Aber jetzt wissen Sie ja Bescheid. Ich das Blut vom Hammer gewischt hatten. Gewalttäter muss weiter, mein Bericht soll bis Sonnenaufgang im und andere Delinquenten, die der Branntwein und Indebetou sein.« der anschließende Kater zur Raserei getrieben hatten. Aber das hier, das ist etwas anderes, das hat kei- Sie gehen ihrer Wege, und Cardell marschiert weiter ner von uns beiden je zuvor erlebt. Wenn ich irgend- durch den taunassen Dreck. Am Fuß des Hügels hat jemand anderen kennen würde, dem ich eine solche er im Handumdrehen die Kirchenmauer erreicht. GeSache anvertrauen könnte, hätte ich nicht lange gefa- nau wie Cardell selbst ist die Marienkirche ein Krüpckelt. Aber ich kenne niemand anderen. Und irgend- pel: Im selben Jahr, da er zur Welt gekommen ist, hat
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sich ein Funke aus einer Backstube zu einer Feuersbrunst ausgewachsen, die zwanzig Straßenzüge tief alles in Schutt und Asche gelegt hat. Der Tessin-Turm stürzte durch das gegipste Deckengewölbe, und bis heute hat er seine Spitze nicht wieder, auch wenn seither gut drei Jahrzehnte vergangen sind.
Der Schatten macht einen Schritt ins Licht. »Mein Name ist Cecil Winge.«
Cardell mustert ihn. Er sieht jünger aus, als die kratzige Stimme vermuten ließ. Seine Kleidung macht einen ordentlichen Eindruck, auch wenn sie leicht altmodisch Jenseits eines Törchens liegt der Friedhof. Die Grä- wirkt: schwarzer, eng geschnittener Leibrock mit abgeber scheinen stumm zu ihm herüberzuspähen. Dann stochenen Schößen und Stehkragen, dezent bestickte durchbricht ein unheimliches Geräusch die Stille Weste, Kniehose aus schwarzem Samt. Das weiße Kradieses Ortes, und im Zwielicht braucht Cardell einen wattentuch ist hoch oben am Hals zu einem doppelten Moment, ehe er versteht, was er da hört und dass der Knoten gebunden. Das lange pechschwarze Haar hat er Ursprung des Geräusches ein Mensch ist. Erst klingt es, mit einem roten Band im Nacken zusammengezurrt. als würde ein Hund unter der Erde kläffen, doch dann Seine Haut ist so weiß, dass sie fast leuchtet. entdeckt er in der Reihe, an der sowohl die Ställe als auch die Behelfshütten der Totengräber liegen, eine Winge ist zartgliedrig und dünn, beinahe unnatürlich einsame Gestalt im Kies, die in ein Taschentuch hustet. dünn. Er könnte Cardell kaum unähnlicher sein, der seinerseits aussieht wie so viele Männer auf StockRatlos bleibt Cardell stehen. Er weiß nicht, wo er sich holms Straßen – Männer, die durch Elend und Krieg hinwenden soll, als der Unbekannte wieder Herr über ihrer Jugend beraubt wurden und vorzeitig gealtert seinen Körper wird, auf den Boden spuckt und sich sind. Seine Schultern sind beinahe doppelt so breit wie umdreht. Von den Hütten hinter ihm dringt aus einer Winges, unschön spannt die Jacke über seinem muskuFensterluke der Schein einer Laterne, und während lösen Rücken, seine Beine sind kräftig wie zwei BaumCardell im Gegenlicht rein gar nichts mehr erkennen stämme, und die rechte Faust ist groß wie ein Schweikann, hat der andere für einen Moment Zeit, die er- nebug. Die abstehenden Ohren haben allem Anschein hellte Gestalt des Häschers zu mustern. nach schon eine Reihe Schläge abbekommen; entlang der Ränder sind die Ohrmuscheln knotig und verdickt. »Sie haben den Toten gefunden. Sie sind Cardell.« Cardell hüstelt verlegen, während Winge ihn von Kopf Cardell nickt bloß und wartet, was als Nächstes kommt. bis Fuß betrachtet, ohne im Geringsten von den Narben auf seinem Gesicht irritiert zu sein. Um seinen »Der Polizist war sich nicht mehr ganz sicher, aber größten Makel zu verbergen, dreht Cardell sich insCardell ist bestimmt nicht der vollständige Name?« tinktiv nach links. Cardell zieht den nassen Hut vom Kopf und verbeugt sich steif.
Die ungemütliche Stille, die Winge kein bisschen unangenehm zu sein scheint, treibt die Worte über Cardells Lippen.
»Wenn es nur so wäre … Jean Michael Cardell. Beim ersten Blick auf seinen Erstgeborenen wurde mein »Ich habe den Konstabler oben am Hügel getroffen. Vater prätentiös. Aber wie Sie sehen, hat es nichts ge- Kommen Sie auch vom Indebetou? Von der Polizeikamnutzt. Nennen Sie mich Mickel, wie alle anderen auch.« mer?« »Bescheidenheit ist eine Zier. Bedauerlich für Ihren Vater, dass er das nicht wusste.«
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»Ja und nein. In der Kammer nehme ich eine Sonderrolle ein. Ich bin Ermittler für besondere Verbrechen.
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Und selbst, Jean Michael? Was führt Sie zu dieser spä- abgeleckten Pfote über den Kopf. Schwalbe drückt ten Stunde ins Beinhaus der Marienkirche?« Cardell ein Licht in die Hand, zieht die Tür hinter sich zu und übernimmt hinkend die Führung. Am andeAls ihm dämmert, dass er auf die Frage keine glaub- ren Ende des Friedhofs steht eine gemauerte Halle. würdige Antwort hat, spuckt Cardell einen imaginä- Schwalbe hebt die Hand an den Mund und stößt einen ren Tabakkrümel zu Boden, um Zeit zu schinden. leisen Pfiff aus, bevor er die Tür aufschließt. »Ich habe meine Geldbörse verloren, als ich den Mann an Land gezogen habe. Womöglich ist sie ja noch bei ihm … Nicht dass viel drin gewesen wäre, aber immerhin genug, um einen nächtlichen Spaziergang zu rechtfertigen.«
»Wegen der Ratten. Besser, ich erschrecke sie, als dass sie mich erschrecken.« Die Leiche liegt auf einer niedrigen Bahre unter einem Tuch. Es ist kühl hier drinnen, doch unverkennbar hängt der Tod in der Luft.
Winge wartet einen Moment, ehe er reagiert. »Ich selbst bin hier, um den Toten in Augenschein zu nehmen. Inzwischen ist die Leiche gewaschen worden. Ich wollte mich gerade mit dem Totengräber unterhalten. Folgen Sie mir, Jean Michael, dann können wir ja sehen, ob wir Ihre Börse finden.«
Der Totengräber deutet hinüber zu einem Eisenhaken in der Wand, wo Cardell seine Laterne einhängen kann. Dann starrt er zu Boden und ringt die schwieligen Hände, während er unruhig von einem Fuß auf den anderen tritt. Ihm scheint nicht wohl zu sein in seiner Haut. Winge bedenkt ihn mit einem neugierigen Blick.
In seiner Baracke an der Friedhofsmauer hört es der Totengräber klopfen. Er ist schon alt, von kleiner »Wäre da noch etwas? Wir haben einiges zu tun und Statur und mit krummen Beinen, geht gebeugt und nur wenig Zeit.« hat die Andeutung eines Buckels über einem Schulterblatt. Ein deutscher Akzent klingt mit, wenn er Schwalbe hält den Blick auf den Boden gerichtet. spricht. »Niemand kann hier Gräber ausheben, ohne gewisse Dinge mitzubekommen, die anderen vielleicht entge»Herr Winge?« hen … Die Toten mögen ihre Stimme zwar nicht mehr »Ja.« erheben, aber sie haben andere Mittel und Wege, um sich mitzuteilen. Und der dort auf der Bahre … ist wütend. So »Mein Name ist Dieter Schwalbe. Sie sind hier, um etwas habe ich noch nie erlebt. Es ist fast, als verwitterte sich den Toten anzusehen? Sie haben bis Sonnenauf- unter seinem Zorn der Mörtel in diesem Gemäuer.« gang Zeit, der Pfarrer will ihn bis zur Morgenmesse unter die Erde bringen.« Was der Totengräber da sagt, beschert Cardell ein mulmiges Gefühl. Er will schon ein Kreuz schlagen, »Weisen Sie uns den Weg.« hält aber inne, als er den skeptischen Blick auffängt, mit dem Winge Schwalbe bedenkt. »Einen Augenblick bitte.« »Tote zeichnen sich durch die Abwesenheit von LeSchwalbe zündet mithilfe eines Spans zwei Leuch- ben aus. Die Seele hat den Körper verlassen. Ich kann ten an und wedelt das Hölzchen wieder aus. Auf dem Ihnen zwar nicht sagen, wo genau sie sich befindet, Tisch streicht sich eine wohlgenährte Katze mit der aber hoffen wir einfach, dass sie einen besseren Ort
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gefunden hat als jenen, den sie hinter sich gelassen »Ja. Karl. Karl Johan.« hat. Was immer aber übrig bleibt, kennt weder Regen noch Sonne, und nichts von dem, was wir hier tun, Schwalbe lächelt die beiden an und entblößt dabei kann seine Ruhe stören.« eine Reihe brauner Zähne. Was Schwalbe davon hält, kann man ihm an den miss- »Hervorragend. Und damit gute Nacht – selbst wider mutigen Stirnfalten ansehen. Er zieht die buschigen besseres Wissen –, Herr Winge und Herr …?« Augenbrauen kraus und macht noch immer keine Anstalten zu gehen. »Cardell.« »Er sollte nicht namenlos begraben werden. So er- Noch auf der Schwelle dreht Schwalbe sich um und schafft man Wiedergänger. Bis Sie seinen tatsächli- sagt über die Schulter: »Und Herr Karl Johan.« chen Namen kennen, möchten Sie ihm nicht vielleicht einen anderen geben?« Winge scheint zu überlegen. Cardell kann sich schon denken, dass dessen Antwort dem reinen Kalkül entspringen wird, denn er will den Totengräber offenbar schnellstmöglich loswerden.
Sein Gackern folgt dem Totengräber hinaus zwischen die Gräber, während Winge und Cardell allein im Schein der Laterne zurückbleiben. Winge schlägt das Tuch auf einer Seite um, sodass das Bein entblößt daliegt – oder vielmehr der Stumpf. Der Oberschenkel »Ich nehme an, es wäre auch für uns von Vorteil, wenn ist vielleicht zwei Handbreit lang. Winge hält einen wir ihm einen Namen gäben. Irgendwelche Vorschlä- Augenblick inne und wendet sich dann an Cardell. ge, Jean Michael?« »Treten Sie näher, und beschreiben Sie mir, was Sie Cardell schweigt; er hat nicht damit gerechnet, ange- sehen.« sprochen zu werden. Der Totengräber räuspert sich taktvoll. Der Anblick des Stumpfs, der kaum als menschlicher Körperteil erkennbar ist, kommt Cardell viel schlim»Nach guter alter Sitte erhalten die Ungetauften den mer vor als die Leiche in ihrer Gesamtheit, so wie er Namen des Königs.« sich an sie erinnert. Cardell schüttelt sich regelrecht. Er speit den Namen aus, als schmeckte er schlecht.
»Ein Beinstumpf. Viel mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Gustav? Ist der Tote nicht schon genug gestraft?«
Winge nickt nachdenklich, sagt aber nichts, und in der Stille kommt Cardell sich dumm vor, was ihn irritiert. Ohne den Blick von Cardells Gesicht abzuwenden, zeigt Winge auf dessen linke Körperhälfte.
Schwalbe runzelt die Stirn. Winge dreht sich zu Cardell um.
»Sie haben selbst eine Gliedmaße eingebüßt.« »Wie wäre es mit Karl?« Eigentlich weiß Cardell seinen Makel gut zu verIm Angesicht des Todes werden in Cardell alte Erin- bergen. Er hat mehr Stunden mit gewissen Übungen zugebracht, als er zählen könnte. Aus einiger Entfernerungen wach.
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nung geht das helle Buchenholz leicht als Haut durch, und er hat sich angewöhnt, den Arm immer halb hinter dem Rücken zu verschränken. Wenn er nicht gerade ausladende Gesten macht, entgeht sein Gebrechen den meisten, die ihm nicht sonderlich nahestehen, erst recht bei Nacht. Doch diesmal hat er keine andere Wahl, als widerwillig zu nicken.
Bahre zu stellen. Gemeinsam heben sie das Tuch an und legen es Kante auf Kante zusammen. Die Leiche verströmt einen fauligen, einen erdigen Geruch, bei dem sich Winge spontan das Taschentuch vor das Gesicht presst, während Cardell mit seinem Jackenärmel vorliebnimmt.
Karl Johan fehlen Arme und Beine. Alle viere sind so nah am Rumpf abgenommen worden, wie Messer und Säge Spielraum hatten. Und auch die Augen fehlen; die Augäpfel sind aus den Höhlen entfernt worden. Cardell schnaubt vernehmlich. Was von dem Mann übrig ist, wirkt unterernährt. Die »Ich bin hergekommen, um meine Börse wiederzu- Rippen zeichnen sich unter der Haut ab, und der Unterleib ist zwar von Gasen aufgebläht, die selbst den finden, nicht, um bemitleidet zu werden.« Nabel hinausdrücken, trotzdem sind die Konturen »Im Hinblick auf Ihr Missfallen, das sich beim Namen der Hüftknochen erkennbar. Die Brust ist mager und, unseres seligen Königs Gustav geäußert hat, nehme dem jungen Alter des Mannes entsprechend, schmal. ich an, dass Sie den Arm im Krieg verloren haben?« Sie hat nie die Breite eines erwachsenen Mannes erAls Cardell mürrisch nickt, fährt Winge fort: »Ich er- reicht. Die Wangen sind eingesunken. Das Haupthaar wähne es bloß, weil Ihre Sachkenntnis, was Amputa- ist noch am besten erhalten. Der hellblonde Schopf tionen angeht, meine deutlich übertrifft. Möchten Sie wurde von frommen Gemeindemitgliedern gewamir nicht den Gefallen erweisen und sich den Stumpf schen und über dem Rand der Bahre ausgekämmt. noch einmal genau ansehen?« Winge hat inzwischen die Laterne vom Haken geDiesmal nimmt Cardell sich mehr Zeit, um die Glied- nommen, um die Körperteile besser zu beleuchten, maße in Augenschein zu nehmen. Die Antwort liegt die er untersucht, während er langsam um die Bahre so deutlich vor ihm, dass er es schon auf den aller- herumgeht. ersten Blick hätte sehen müssen. »Im Krieg haben Sie sicher mehr Wasserleichen ge»Das ist keine frische Wunde. Der Stumpf ist bestens sehen, als Ihnen lieb war, Jean Michael?« verheilt.« Cardell nickt. Er ist an derlei Situationen nicht gewöhnt, an eine so sachliche, rationale Besichtigung Winge nickt. eines toten Leibs, und die Nervosität lockert seine »Völlig richtig. Wenn wir einen Toten in einem der- Zunge. artigen Zustand vor uns sehen, nehmen wir leicht an, dass die Verstümmelungen selbstredend auch die To- »Viele, die wir im Finnischen Meerbusen verloren hadesursache seien. Oder aber ein Täter hat entsprechen- ben, sind im Herbst zu uns zurückgekommen. Wir hade Maßnahmen ergriffen, um sein Opfer nach der Tat ben sie vor den Kaimauern von Sveaborg und unterleichter loswerden zu können. Aber in unserem Fall halb der Stellungen gefunden. Wer immer das Fieber hier verhält es sich anders, und es würde mich nicht überlebt hatte, wurde hingeschickt, um sie zu bergen. Dorsche und Krebse hatten sich an ihnen gütlich gewundern, wenn alle vier Gliedmaßen so aussähen.« tan, soweit sie konnten, und manchmal fingen sie Winge bedeutet ihm, sich auf die andere Seite der an zu zucken – das war das Schlimmste! Da drangen »Das tut mir leid.«
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Laute aus ihnen heraus … Die Leiber waren voller Aale, die sich darin fett gefressen hatten und die widerwillig über den Boden schlingerten, als wir der Völlerei ein Ende setzten.« »Und wie sieht unser Karl Johan im Vergleich dazu aus?« »Ganz anders. Unsere Toten damals waren blass, leicht schrumpelig und natürlich pudelnass … Karl Johan hat nicht allzu lang im Fatburen gelegen, wenn Sie mich fragen. Womöglich nur einige Stunden. Er muss ziemlich bald nach Einbruch der Dunkelheit ins Wasser geschafft worden sein.« Winge nickt nachdenklich. »Wie lang hat es gedauert, bis Ihr Arm verheilt war?« Cardell sieht Winge für einen Moment reglos an, ehe er sich einen Ruck gibt. »Gehen wir es ordentlich an. Nur so kommen wir auf einen gemeinsamen Nenner.« Winge hilft ihm, den linken Ärmel hochzukrempeln, bis die Schnallen bloß liegen, die das Holz am Ellbogen fixieren. Routiniert lockert Cardell die Riemen, nimmt den Holzarm ab und drückt ihn Winge in die Hand. Dann streckt er den entblößten Stumpf vor. »Haben Sie schon mal gesehen, wie Menschenfleisch durchschnitten wird?«
Der Patient wird mit lederumwickelten Ketten auf dem Bett fixiert, damit er dem Arzt nicht mit Tritten oder Krämpfen in die Quere kommt. Das Weichgewebe wird mit einem Messer entfernt, der Knochen mittels einer Säge. Mit ein bisschen Glück wird einem so viel Branntwein eingeflößt, dass man bewusstlos ist, allerdings wurde mir in der gebotenen Eile ein nüchternes Erlebnis zuteil. Die großen Adern müssen sofort abgeschnürt werden. Wenn aber alles gut geht, wird die Haut über den Stumpf gezogen, und dann wird sie mit Nadel und Faden über dem rohen Fleisch vernäht. Sehen Sie? Die Naht verläuft hier halbmondförmig, man kann sogar noch die Einstichstellen der Nadel erkennen. Sofern der Arm nicht anfängt zu faulen, braucht man nur noch zu warten, bis er wieder nachwächst.« Er grinst Winge schief an, der aufmerksam gelauscht hat. »Sie haben den Heilungsprozess besser im Blick gehabt, als man es sich wünschen könnte. Würden Sie bitte versuchen, Karl Johans Amputationen für mich zu datieren?« »Reichen Sie mir das Licht.« Diesmal zieht Cardell einen Kreis um den Toten. An jeder Ecke der Bahre beugt er sich stirnrunzelnd nach unten und sieht sich einen Stumpf nach dem anderen an. Mit der Laterne in der gesunden Hand kann er sich nun nicht mehr die Nase zuhalten. Er atmet die faulige Luft flach durch den Mund ein und stoßweise wieder aus.
»Nicht bei einem Lebenden. Aber ich habe einmal eine anatomische Vorlesung besucht, bei der ein Chirurg einen Frauenkörper seziert hat.«
»Soweit ich es sehe, ist der rechte Arm zuerst dran gewesen. Dann das linke Bein, anschließend der linke Arm, zuletzt das rechte Bein. Schätzungsweise wurde der rechte Arm vor drei Monaten amputiert, »Aus dem Lehrbuch war diese Operation hier nicht vorausgesetzt, dass Karl Johans Wundheilung in gerade … Ein zittriger Bootsmann hat mir mit seinem etwa so schnell verlief wie bei mir. Das rechte Bein … Messer den Unterarm unter dem Ellbogen gekappt. vielleicht vor einem Monat? Es muss gerade erst vollSpäter musste der Feldscher dann noch ein Stück ständig ausgeheilt gewesen sein, als er sich auf seine mehr abnehmen, weil mir der Wundbrand drohte. letzte Schwimmrunde begeben hat.«
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Bei dem, was Winge da andeutet, stellen sich Cardell die Nackenhaare auf.
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»Dann sind dem Mann also schön ordentlich nacheinander die Arme und Beine amputiert worden. Die erste Wunde wurde versorgt, ist verheilt, dann war die nächste Gliedmaße dran. Und auch die Augen fehlen. Außerdem sämtliche Zähne … und die Zunge. Nach den Narben zu urteilen, muss es mit seiner Verwandlung zu dem Wesen, das wir heute vor uns sehen, im Sommer angefangen haben, und vor wenigen Wochen war es abgeschlossen. Der Tod ist vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden eingetreten.«
wünscht. Als wäre er abergläubisch, spuckt er über die Schulter. »Teufel auch, was für ein unangenehmer Mensch Sie sind, Cecil Winge. Kein Wunder, dass Sie sich in der Gesellschaft von Toten so wohlfühlen. Aber lassen Sie mich Ihre scharfsinnige Beobachtung auf die gleiche Art vergelten: Sie essen zu wenig. Wenn ich Sie wäre, würde ich mehr Zeit am Esstisch verbringen und weniger auf dem Abort.« Winge geht auf die Tirade nicht ein.
»Sie sind aus einem anderen Grund gekommen. Winge klopft mit seinem Daumennagel nachdenklich Möchten Sie zu Ende bringen, was Sie angefangen haan seine Schneidezähne, ehe er noch einmal das Wort ben? Wollen Sie, dass dieser Seele Gerechtigkeit widerfährt? Die Kammer hat mir gewisse Kompetenzen ergreift. übertragen. Ich wäre Ihnen dankbar für Ihre Hilfe »Ich nehme an, dass zu dem Zeitpunkt der Tod durch- und bin bereit, dafür zu zahlen.« aus willkommen war.« Winge legt eine kurze Pause ein und blickt Cardell Er will das Tuch schon wieder über dem Leichnam aus großen Augen an. Irgendetwas hat sich darin ausbreiten, hält dann aber noch einen Augenblick entzündet, was zuvor nicht zu sehen gewesen war inne und reibt nachdenklich den Stoff zwischen Dau- und was Cardell zugleich verängstigt und verwirrt. Aber er spürt auch die Erschöpfung, die ihn von men und Zeigefinger. Kopf bis Fuß beschwert, und steht einfach nur rat»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Jean Michael. Trotz los da. allem scheinen Sie mir die Fähigkeiten unseres Toten als Taschendieb zu überschätzen. Ihre Bör- »Es gibt allerdings ein paar Dinge, die Sie wissen se steckt noch immer in Ihrer Tasche. Sie zeichnet sollten. Ich habe mit Kammerdirektor Norlin eine sich deutlich unter Ihrer Jacke ab, und überdies Absprache getroffen: In seinem Auftrag suche ich habe ich sie sehen können, als Sie sich im Licht vor- Karl Johans Mörder. Wie Sie sehen, haben wir es mit gebeugt haben. Aber das wissen Sie genauso gut wie einem äußerst eigentümlichen Verbrechen zu tun. ich. Sie haben sich gestern zwar einen ordentlichen Der Täter war kein kleiner Gauner. Denn welche MitRausch genehmigt, aber allzu viel ist davon nicht tel braucht man, um einen Mann über einen längeren mehr übrig.« Zeitraum gefangen zu halten und ihn derart zu verstümmeln, ohne dass man entdeckt wird? Überlegen Cardell schreckt sichtlich zusammen, und er ärgert Sie nur, welche Willensstärke dafür nötig ist. Welche sich darüber, dass seine spontane Reaktion die Lüge Zielstrebigkeit. Wenn wir dieser Sache nachgehen – auch noch entlarvt. Jetzt, da der Rausch in einen wer weiß, worauf wir stoßen? Mit jedem Reichstaler, Kater umgeschlagen ist, nimmt der Zorn über- den Sie verdienen, laufen Sie Gefahr, sich Feinde zu hand. Außerdem stört ihn Winges nüchterne Hal- machen, und zwar auf beiden Seiten des Gesetzes. tung gegenüber der Leiche; dabei hat doch er selbst Ich sage dies insbesondere, weil Sie das größere Rimehr Tote gesehen, als man seinem ärgsten Feind siko tragen.«
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Winge wendet sich kurz ab, blickt in die Ferne. »Ich bin an Tuberkulose erkrankt. Den Winter überlebe ich nicht mehr. Was immer passiert – Sie werden allein damit umgehen müssen.« Cardell schlägt die Augen nieder. Er ist Winge gerade erst begegnet, fragt sich aber bereits jetzt, ob bei dem Versuch, die Wunde zu schließen, die Johan Hjelm bei ihm gerissen hat, nicht eine neue Wunde zurückbleiben könnte. Trotzdem hat er sich entschieden. »Dann machen wir doch das Beste aus der Zeit, die uns noch bleibt.«
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Niklas Natt och Dag 1793 Roman 496 Seiten Klappenbroschur 16,99 € (D) 17,50 € (A) ISBN 978-3-492-06131-5 Erscheint am 1. März 2019 Auch als Hörbuch zum 1. März 2019 über Osterwoldaudio erhältlich Bestellen Sie Ihr digitales Leseexemplar zum Erscheinungstermin auf www.piper.de/leseexemplare … oder schreiben Sie eine E-Mail an: sales_reader@piper.de (Buchhändler) press_reader@piper.de (Presse)
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br ief der a u t or in Liebe Leserinnen und Leser, lange Zeit glich mein Leben einer Umweltkatastrophe. Ich fahre furchtbar gern Auto, kaufe oft zu viele Klamotten und komme aus einer Kleinstadt, die regelmäßig den Preis für die beste hessische Fleischwurst erhält – Vegetarierin bin ich demnach also auch nicht. In meinem Beruf als Fernsehmoderatorin und Reporterin für die Kindernachrichtensendung logo! verschlug es mich 2016 auf den UN-Klimagipfel in Paris. Die Tage dort wurden zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Ich sprach mit Politikern, die aus fast allen Ländern der Welt gekommen und sich im Grunde einig waren: Mit unserer verschwenderischen Lebensweise machen wir unseren Planeten systematisch kaputt. Durch den Klimawandel gibt es immer häufiger starke Unwetter, die Temperaturen steigen immer weiter an durch die Erhöhung des Meeresspiegels könnten ganze Inselgruppen verschwinden, und in unseren Meeren wird laut neuesten Studien im Jahr 2050 mehr Plastik schwimmen als Fische. Trotz dieser Einsicht folgten am Ende des Weltklimagipfels nur allgemeine Versprechungen und keine ambitionierten Taten. Also fragte ich mich, was ich selbst tun könnte, um nachhaltiger zu leben. Seitdem versuche ich, Umweltliebe zu betreiben. Dabei war mir von Beginn an klar: Eine vegane, völlig konsumkritische Öko-Vorbildfrau würde aus mir nicht werden, aber ich wollte zumindest versuchen, Schritt für Schritt grüner zu leben und meinen Alltag umweltfreundlicher zu gestalten. Schon vorher hatte ich mit der Aktion „2 Minute Beach Clean“ meine Follower bei Instagram dazu motiviert, es mir gleich zu tun und im Urlaub den Strand von Plastikmüll zu säubern, und im Rahmen einer logo!-Sondersendung hatte ich mit „Jennies Umwelt-Challenge“ jeweils eine Woche auf Plastikverpackungen, das Auto und Palmöl verzichtet. Mein neues Ziel ist nun: zwölf Monate – zwölf Veränderungen. Von Januar bis Dezember stelle ich mich jeden Monat einer Challenge für mehr Nachhaltigkeit: weniger Müll produzieren, Kleidung umweltfreundlicher auswählen, regional und saisonal essen und Mikroplastik und Palmöl aus meinem Leben verbannen. So viel kann ich jetzt schon verraten: Es ist gar nicht so schwer. In meinem Buch erfahren Sie, wie Sie Ihren Plastikflaschenverbrauch von 400 Stück pro Jahr auf ein Minimum reduzieren können, wie Sie mit dem Kauf der richtigen Klamotten und der richtigen Kosmetik dazu beitragen können, das Mikroplastik in den Ozeanen zu reduzieren, und wie Sie durch Ihre Lebensmittelwahl das Klima beeinflussen. Ich freue mich sehr, wenn ich mit meinen Ideen dazu beitragen kann, Ihre Umweltliebe zu wecken. Denn wenn viele ein bisschen was tun, kann das in der Summe Großes bewirken!
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Juli: Die Palmöl-Challenge – Wie vermeide ich Produkte mit Palmöl?
Februar: Die Trink-Challenge – Wie trinke ich umweltfreundlich?
August: Die Energie-Challenge – Wie verbrauche ich möglichst wenig Rohstoffe?
März: Die Essens-Challenge – Wie esse ich umweltfreundlich?
September: Die Mikroplastik-Challenge – Vom Fleecepulli bis zum Shampoo – wie vermeide ich Mikroplastik?
April: Die Fortbewegungs-Challenge – Kein Auto, mehr Bahn!
Oktober: Die Haus-Challenge – Wie wohne ich umweltfreundlich?
Mai: Die Mode-Challenge – Weniger und umweltverträglich shoppen!
November: Die Hobby-Challenge – Golfen verboten? Wie achte ich in meiner Freizeit auf die Umwelt?
Juni: Die Reise-Challenge – Nur noch in den Schwarzwald? Wie mache ich umweltfreundlich Urlaub?
Dezember: Die Weihnachts-Challenge – Wie feiere ich umweltfreundlich Weihnachten?
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Januar: Die Plastik-Challenge – Wie verursache ich möglichst wenig Plastikmüll?
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leseprobe Januar: Die Plastik-Challenge – Wie verursache ich möglichst wenig Plastikmüll?
An der Küste Norwegens strandete im Februar 2017 ein Wal. In seinem Magen wurden 30 Plastiktüten gefunden. Der Wal hatte sie mit Futter verwechselt und war quasi mit vollem Bauch verhungert. Er strandete und musste getötet werden. Meeresschildkröten müssen regelmäßig Strohhalme qualvoll aus der Nase entfernt werden. In den Mägen vieler toter Seevögel findet sich heutzutage Plastik. In Norwegen habe ich als Reporterin eine unbewohnte Insel besucht, die komplett voller Plastikmüll ist. Man kann einen Meter tief graben und findet Verpackungen mit Aufschriften aus Deutschland, den Niederlanden, Dänemark, England und Norwegen. Durch die Meeresströmung werden sie dort seit Jahrzehnten angespült. Plastik ist ein überaus beliebtes und für die Industrie sehr praktisches Material. Es ist billig, leicht und geht nicht schnell kaputt. Deshalb ist
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es überall. Man kann diesem Stoff kaum entkommen. Gurken sind in Plastik verpackt, Milchtüten sind mit Plastik beschichtet und wenn man endlich eine Nudelverpackung aus Pappe gefunden hat, bemerkt man darin doch noch ein Guckloch aus Plastik. Und es wird immer häufiger verwendet. Im Jahr 2015 wurden laut dem Kunststoff–Hersteller–Verband Plastics Europe weltweit 322 Millionen Tonnen Plastik produziert. Das ist siebenmal so viel wie Mitte der Siebziger. Schuld daran sind auch wir Verbraucher. Jede Stunde werden laut der Deutschen Umwelthilfe in Deutschland 320 000 plastikbeschichtete To–Go–Becher mit Plastikdeckel in den Müll geworfen. Das sind mehr als sieben Millionen pro Tag. Deutschland ist hier übrigens trauriger Spitzenreiter. Wir produzieren den meisten Müll in der gesamten EU.
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recycelbarer Müll wie Plastikverpackungen vom Restmüll getrennt und wiederverwertet wird. Man darf sich das aber keinesfalls so vorstellen, dass unsere Joghurtbecher ausgespült und dann noch mal verwendet werden. Die Becher und alle anderen verwertbaren Plastikabfälle werden stattdessen eingeschmolzen und zu Granulat verarbeitet, aus dem wieder neue Plastikprodukte hergestellt werden können. Aus einer Folie wird also nicht wieder eine Folie, sondern zum Beispiel eine Mülltonne. Diese Mülltonne besteht aber nie komplett aus recyceltem Plastik, sondern immer auch aus neuem, da sonst die Qualität des Materials zu schlecht wäre. Dazu kommt, dass tragischerweise nicht besonders viel des Plastikmülls aus unserem gelben Sack auch wirklich wiederverwertet wird. Zwar gilt alles, was in der Recyclinganlage des Grünen Punktes landet, auch als recycelt, tatsächlich sind es aber laut der Deutschen Umwelthilfe nur etwa 40 Prozent. Die anderen 60 Prozent werden wieder aussortiert, da viele Menschen schlicht und ergreifend falsch trennen. Jeder, der in einem Mehrfamilienhaus wohnt, weiß wahrscheinlich, was ich meine: Im Papiermüll ist Plastik, im gelben Sack sind Essensreste und im Restmüll Plastikverpackungen. Mehr als die Hälfte des Plastikmülls, der in die Recyclingfirma geht, muss also wieder aussortiert und zusammen mit dem Restmüll verbrannt werden. Er zählt in der Das zweite Problem: Bei der Herstellung von Plastik Statistik aber als recycelt. Der Dampf, der bei dieser wird viel Energie aufgewendet und es werden end- Müllverbrennung entsteht, wird zur Stromgewinliche Rohstoffe wie zum Beispiel Rohöl, aber auch nung oder für Fernwärme genutzt – eigentlich eine Erdgas verbraucht, die aus vielen unterschiedlichen gute Sache. Nur leider werden dabei auch Giftstoffe Ländern zur Produktionsstätte gebracht werden und Abgase in die Luft geblasen. Ein weiteres Promüssen. Durch diese meist langen Transporte gerät blem ist, dass der deutsche Plastikmüll häufig gar CO2 in die Atmosphäre. Schon deswegen ist es also nicht in Deutschland recycelt wird, sondern in weit gut, auf Plastikverpackungen zu verzichten, denn entfernten Ländern. Jahrelang wurde ein Großteil umso weniger Plastik überhaupt erst hergestellt davon nach China verschifft. Wie viel CO2 bei diesem wird, umso besser für die Umwelt. Transport angefallen ist, kann sich jeder vorstellen. Außerdem ist Recycling ein aufwendiger Prozess, Das dritte Problem: Das Recycling von Plastikmüll bei dem Rohstoffe verbraucht und CO2 produziert funktioniert nicht so, wie es sollte und könnte. In werden. Recycling ist also keinesfalls die Lösung des Deutschland gibt es ein Mülltrennungssystem, den Problems. Die beste Alternative wäre: einfach wenisogenannten Grünen Punkt, der dafür sorgt, dass ger Plastikmüll produzieren.
Dabei bereitet Plastik der Umwelt gleich vierfach Probleme. Da ist erstens das oben schon geschilderte Problem der verdreckten Meere. Laut Studien wird im Jahr 2050 in unseren Ozeanen mehr Plastik schwimmen als Fische. Denn Plastik zersetzt sich nicht richtig. Es ist im Grunde nicht abbaubar, sondern zerfällt über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg einfach nur in immer kleinere Teile. Ein nach einem Picknick liegen gelassener Plastikbecher zum Beispiel, der durch den Wind in einen Fluss gerät und auf diesem Weg ins Meer, wird durch Reibung und UV-Strahlung in winzige Partikel zerkleinert, die dann kaum mehr von Sand zu unterscheiden sind. Die Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften hat herausgefunden, dass diese Mikroplastikteilchen Schadstoffe anziehen wie ein Magnet. Sand tut das nicht. Fische oder Seevögel verwechseln das Mikroplastik dann häufig mit Nahrung oder nehmen es bei der Nahrungsaufnahme aus Versehen zusätzlich mit auf – und damit auch die daran haftenden krank machenden Substanzen. Aber auch für uns Menschen kann das zum Problem werden, wenn wir die betroffenen Tiere essen. Die Forschung dazu steht noch ganz am Anfang, weshalb bisher unklar ist, welchen Schaden das Mikroplastik bei uns Menschen anrichtet. Sicher ist aber, dass das Plastik in den Meeren Auswirkungen auf Menschen und Tiere hat.
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geklappt. Man kann zwar unverpackte Kartoffeln, Kiwis etc. in den Einkaufswagen laden, und nicht jede Ich habe mir als erste Herausforderung gleich die Kassiererin guckt einen an, als hätte man sie nicht wahrscheinlich schwierigste ausgesucht. Dieser mehr alle, wenn sie zwanzig einzelne Kartoffeln vom werde ich mich natürlich nicht nur für einen Monat Band fischen muss, aber die Auswahl ist doch sehr stellen, sondern werde versuchen, möglichst viele begrenzt. Sogar Gurken sind mittlerweile in Plastik der Lösungsansätze dauerhaft in meinen Alltag zu eingeschweißt, Paprika gibts häufig nur im Dreierintegrieren. Das habe ich übrigens bei allen Heraus- pack in der Plastikhülle. Sogar Salatköpfe stecken in forderungen vor. Plastik. Dass Plastikverzicht hart ist, weiß ich, weil ich für eine Sondersendung bei logo! schon mal eine Woche auf Plastikverpackungen verzichtet habe. Dazu habe ich zuerst alle Dinge in meinem Haushalt zusammengesucht, die mit Plastik verpackt sind. Das sind fast alle. Mein Deo zum Beispiel ist zwar aus Glas, hat aber einen Plastikzerstäuber. Müsli- und Spaghettipackungen sind häufig aus Pappe, innen drin ist dann aber doch wieder eine Plastikfolie. Im Grunde kann man, wenn man von heute auf morgen auf Plastik verzichten möchte, sich weder die Zähne putzen noch sich waschen, noch etwas essen. Noch nicht mal die Modezeitschrift, die ich abonniert habe, könnte ich lesen, denn auch sie steckt unsinnigerweise in einer Plastikfolie. Ein Plan muss also her. Bis ich den habe, kannst du ja mal gucken, was bei Ihnen zu Hause alles aus Plastik ist. Als wichtigste Regel meines Plastikmonats habe ich mir schließlich vorgenommen, vor allem auf „Wegwerfplastik“ zu verzichten. Das heißt, dass ich zwar auch wiederverwendbares Plastik möglichst vermeiden will, aber zum Beispiel die Brot- und Gefrierboxen aus Plastik, die ich eh schon besitze, weiterhin benutzen werde. Ich fände es unsinnig und verschwenderisch, sie ohne Not durch etwas Neues zu ersetzen. Auch meinen Schreibtischstuhl werde ich behalten, obwohl er aus Plastik ist. Denn hauptsächlich geht es mir ja darum, weniger Plastikmüll zu produzieren. Die ersten Tage habe ich versucht, wie bisher im normalen Supermarkt einzukaufen, nur eben plastikfrei. Zwei Stoffbeutel mitzunehmen war schon mal ein guter Einstieg, der Rest allerdings hat leider gar nicht
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Immerhin hatte ich ein erstes kleines Erfolgserlebnis: In fast jedem Supermarkt gibt es Milch und Joghurt im Glas. Das ist eine gute Möglichkeit, Plastikverpackungen einzusparen, denn das Pfandsystem für die Gläser funktioniert super. Zwar schneidet in der Umweltbilanz des Umweltbundesamtes die plastikbeschichtete Milchtüte auch nicht schlecht ab, weil sie leicht ist und damit nicht so viel CO2 beim Transport verursacht, allerdings stammt diese Studie aus einer Zeit, als die Tüten noch aufgeschnitten oder aufgerissen wurden. Heute haben alle Tüten einen aufgesetzten Plastikauslauf mit Deckel. Deshalb würde die Umweltbilanz heute wohl deutlich schlechter ausfallen. Glasflaschen, die bis zu fünfzigmal wiederbefüllt werden, sind also die deutlich bessere Wahl. Apropos Flaschen: Die meisten von uns trinken ein bis zwei Flaschen Wasser pro Tag, dazu immer mal noch eine Cola, einen Saft und so weiter. Ich schätze, dass jeder von uns auf etwa tausend Plastik- oder Glasflaschen pro Jahr kommt. Da kann man richtig was einsparen. Die absolut umweltfreundlichste Möglichkeit, seinen Durst zu löschen, ist Leitungswasser zu trinken. Der Grund liegt auf der Hand: Es ist sowieso schon da, in deiner Leitung! Daher entfallen die Transportwege von Wasser und Flasche. Leitungswasser hat in Deutschland eine hervorragende Qualität. Es spricht also absolut nichts dagegen, es zu trinken. Allerdings gibt es eine Ausnahme, die aber nur bei kaum jemanden zutreffen wird. Wenige Häuser in Deutschland haben noch Wasserleitungen aus Blei. Dieses sollte auf keinen Fall über das Trinkwasser in den Körper gelangen. Wenn ihr euch unsicher seid, ob eure Leitungen aus Blei sind, fragt bei eurem Vermieter nach.
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Nun habe ich allerdings ein anderes Problem. Ich finde schlicht und ergreifend, dass Leitungswasser nicht schmeckt. Erstens trinke ich gern Wasser mit Kohlensäure, und zweitens finde ich, dass Leitungswasser einen Eigengeschmack hat. Beim Dreh in einem Wasserwerk wollte mir das der Werkschef nicht glauben und machte eine Blindverkostung mit mir. Er schenkte in ein Glas Leitungswasser und in ein zweites stilles Mineralwasser. Ich habe den Unterschied sofort gemerkt. Also musste für mich eine andere Lösung her. Das Leitungswasser muss gefiltert und gesprudelt werden. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten: verschiedene Wasserfilter und etliche Systeme zum Aufsprudeln des Wassers. Allerdings ist es ein wenig umständlich, das Wasser erst durch den Filter zu jagen, es dann aufzusprudeln und am Schluss hat man meist nur einen halben Liter und muss gleich wieder von vorne anfangen. Als mein Freund und ich ein Haus kauften, das eine neue Küche brauchte, haben wir uns auf die Suche nach etwas Praktischerem gemacht und wurden fündig. Wir haben eine wasserfilternde Armatur eingebaut, mit der man sprudelndes gefiltertes Wasser direkt aus dem Wasserhahn bekommt. Sie kostete 1 200 € im Angebot, und ich kann sagen, dass sich selten etwas für mich so gelohnt hat. Zu jeder Zeit kann ich jetzt Wasser in meiner Wunschtemperatur direkt aus der Leitung zapfen, sowohl gesprudelt als auch still. Einmal im Monat muss man die Kohlensäureflasche tauschen. Sie wird in einem Mehrwegsystem wieder aufgefüllt, ist also auch umweltfreundlich. Einzig der Filter landet zwei Mal im Jahr im Hausmüll. Und der Müll, den mein Freund und ich durch diese Anlage gespart haben? Etwa 2 500 Plastikflaschen im Jahr. Dazu kommt, dass wir nichts mehr schleppen müssen. Um das Wasser mit zur Arbeit nehmen zu können, haben wir uns mehrere Glasflaschen mit Bügelverschluss gekauft. Ich benutze außerdem eine Edelstahlflasche. Ich musste mich zwar erst dran gewöhnen, die Flasche immer wieder mit nach Hause zu nehmen und sie nicht in der Arbeit zu vergessen, doch auch nach vier Monaten habe ich sie noch nicht verloren. Juhu!
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Kann auch der nicht helfen, kann man im Internet Tests bestellen, um die Leitungen zu überprüfen.
Sollte Leitungswasser für euch nicht infrage kommen, könnt ihr beim Kauf von Plastikflaschen Folgendes beachten: Meidet Einwegflaschen. Jahrelang habe ich Evian-Wasser aus Einwegflaschen getrunken, ohne mir dessen bewusst zu sein. Ich kannte schlicht den Unterschied zur Mehrwegflasche nicht. Da man ja auf beide Pfand bezahlt und sie wieder in den Laden zurückbringt, dachte ich, dass beides Mehrwegflaschen sind. Heute weiß ich: Einwegflaschen erkennt ihr daran, dass sie aus relativ weichem Plastik sind und ihr 25 Cent Pfand darauf zahlen müsst. Sie werden direkt, nachdem ihr sie zurückgebracht habt, im Pfandautomaten zerquetscht. Das bedeutet, diese Flaschen werden irgendwo in Deutschland hergestellt, dafür werden Erdöl und andere Stoffe verbraucht und CO2 entsteht, dann werden sie häufig durch halb Deutschland zum Laden gefahren – was ebenfalls CO2 freisetzt. Später werden sie ausgetrunken zurück zum Laden gefahren und im Automaten zu Plastikklumpen zerquetscht, die dann wieder durch halb Deutschland gefahren werden, um recycelt zu werden. Auch im Recyclingprozess wird Energie verbraucht, und so geht das Spiel von vorne los. Deswegen ist es deutlich umweltfreundlicher, Mehrwegplastikoder Mehrwegglasflaschen zu verwenden. Am besten von Mineralwassermarken aus eurer Region. Recherchiert im Internet, welche Firmen in eurer Nähe sind, oder fragt euren Getränkehändler. Diese Mehrwegflaschen kosten nur acht bis 15 Cent Pfand. Der Vorteil der Mehrwegflasche ist, dass sie bis zu fünfzigmal neu befüllt wird. Und wenn sie dann auch noch aus deiner Region kommt, legt sie nur kurze Strecken zurück, was zu einem geringen CO2-Ausstoß führt. Bei meinem letzten Ausflug an einen Hundestrand am Main kam ich dabei übrigens an meine Grenzen. Ich hatte mir natürlich Wasser mitgenommen, es war aber so heiß, dass es nicht genug war. Also bin ich an einer Tankstelle rausgefahren, um Nachschub zu kaufen. Dort gab es aber, wie an den meisten Tankstellen, ausschließlich Einwegflaschen. Meine Mission ist seitdem, jeden Tankwart darauf aufmerksam zu machen. Vielleicht macht ihr mit, und wir nerven die Tankstellen so lange, bis man dort Mehrwegflaschen
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kaufen kann. Übrigens: auch bei den Discountern Aldi und Lidl gibt es nur PET-Flaschen. Dort könnt ihr also auch lange nach Mehrwegflaschen suchen. Beim nächsten Einkauf war ich dann besser vorbereitet. Bewaffnet mit Jutebeuteln, Dosen und Einkaufsnetzen machte ich mich auf zum Wochenmarkt. Hier geht unverpackt einkaufen sehr gut, da Obst und Gemüse nur lose angeboten werden. Bei Käse und Wurst hatte ich allerdings ein Problem: Die Verkäufer weigerten sich zuerst, mir die Lebensmittel in meine Dosen zu füllen. Das sei laut Lebensmittelhygiene-Verordnung verboten, denn mit meiner Dose könne ich irgendwelche Keime oder Sonstiges hinter ihre Theke schleusen. Nach langem Hin und Her entschlossen sich dann sowohl der Käse- als auch der Wurstverkäufer, mir die Ware quasi in die Dose fallen zu lassen. Ich muss zugeben, dass mir das Ganze ziemlich peinlich war. Denn ihr könnt euch vorstellen, wie genervt viele Leute hinter mir von meiner Diskussion waren. Wenn man häufiger bei denselben Leuten einkauft, muss man dieses Gespräch aber zum Glück meist nur einmal führen.
ich weiß, dass ich mir unterwegs einen Kaffee kaufen will. Wenn ihr, wie ich, zu den Leuten gehört, die das regelmäßig vergessen, dann hilft es, euch zu bestrafen: entweder mit Kaffee-Entzug (sehr günstige Alternative) oder mit dem Kauf eines neuen Tumblers (teure Alternative). Ich habe mittlerweile seit mehr als einem Jahr keinen Kaffee mehr aus einem Plastikbecher getrunken. Übrigens: Auch wenn es anders draufsteht, kann man die meisten Tumbler bedenkenlos in die Spülmaschine tun. Und das ist, wenn die Maschine voll beladen ist, umweltfreundlicher als mit der Hand zu spülen.
Aber zurück zu den Dingen, die ich nicht hatte. Eine plastikfreie Zahnbürste musste her. Glücklicherweise gibt es die mittlerweile sogar bei großen Drogerieketten zu kaufen. Sie sind meist aus Bambus, was ein sehr schnell nachwachsender Rohstoff ist. Man könnte sagen, Bambus wächst wie Unkraut und ist biologisch abbaubar, kann also in den Biomüll geworfen werden. Bei den Borsten der Zahnbürste wird es dagegen schon schwieriger. Bei vielen dieser Bambuszahnbürsten sind sie einfach weiterhin aus Plastik. Man muss also den Stiel abbrechen und die BorIn der zweiten Woche geriet ich in eine Art Einkaufs- sten separat im Restmüll entsorgen. Es gibt aber auch wahn. Denn ich stellte fest, dass ich manche Plastik- Borsten aus Bambusviskose. Die ist zwar biologisch dinge wie zum Beispiel Zahnpasta, Zahnbürste und abbaubar, bei der Herstellung werden aber extrem Shampoo, aber auch Strohhalme und Coffee-2-Go- viele Chemikalien verwendet. Für die ganz HartgeBecher nicht einfach nur weglassen konnte, sondern sottenen gibt es Zahnbürsten mit Schweineborsten! eine Alternative brauchte. Von Letzteren besaß ich bereits einige, denn schon vor etwa einem Jahr hat- Außerdem brauchte ich plastikfreie Hygieneartikel te ich beschlossen, nicht mehr täglich einen Plastik- und landete auf meiner Suche ganz schnell bei der Art becher plus Deckel auf dem Gewissen haben zu wol- und Weise, wie man sich schon vor Jahrhunderten gelen. Bis dato hatte ich mir jeden Tag vor der Arbeit waschen hat: mit fester Seife. In jeder größeren Stadt einen Kaffee bei einem kleinen Tante-Emma-Laden gibt es ja diesen einen Seifenladen, den man schon mit einer fantastischen italienischen Siebträgerma- von Weitem in der Fußgängerzone riechen kann. Ich schine bei mir um die Ecke geholt. Seitdem bereite muss mich jedes Mal sehr überwinden, in den Laden ich meinen Kaffee jeden Morgen rituell mit meiner reinzugehen, denn der Geruch ist wirklich ziemlich eigenen – zugegebenermaßen deutlich kleineren und intensiv. Dort gibt es Seifen zum Duschen, zum Haavielleicht nicht ganz so guten – Siebträgermaschine rewaschen, als Spülung für die Haare, für das Gesicht zu. Die Kapsel-Kaffeemaschine wurde verschenkt. und sogar zum Eincremen. In vielen Öko-OnlineMittlerweile besitze ich fünf sogenannte Tumbler, shops kann man außerdem festes Deo und Zahnpastaalso Mehrweg-Coffee-2-Go-Becher, die ich entwe- Tabletten kaufen. Somit war ich fürs Erste ausgeder schon gefüllt mitnehme, oder mitnehme, wenn rüstet. Ich bin dann auch sofort duschen gegangen,
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Nachdem dieses Problem gelöst war, konnte ich mich ganz auf mein neues Duscherlebnis konzentrieren, und ich habe festgestellt: sich mit Seife zu waschen ist super! Es gibt so viele unterschiedliche Sorten, sie riechen gut, und man wird sauber. Alles tipptopp. Auch die Seife zum Eincremen ist erstaunlich gut, da sie keinen klebrigen Film hinterlässt, wie so viele Bodylotions und Cremes. Eine echte Katastrophe war dagegen die Haarseife. Erst dachte ich, meine Haare müssten sich einfach an die neuen Wirkstoffe gewöhnen, aber nachdem mich zwei Maskenbildnerinnen auf der Arbeit gefragt hatten, was denn mit meinen Haaren los sei, die sähen ja aus wie Stroh, habe ich das Haarewaschen mit Seife wieder aufgegeben. Noch schlimmer war das Deo: Ich habe geschwitzt, ich habe gestunken. Ich möchte jetzt nicht grundsätzlich von festem Deo abraten, denn sicher haben andere Menschen andere Erfahrungen damit gemacht – und, wenn man den Berichten im Internet trauen möchte, zum Teil sogar recht positive. Vielleicht habe ich auch einfach nur komische Achselhöhlen. Aus Rücksichtnahme auf meine Mitmenschen benutze ich jetzt jedenfalls wieder ein Deo in einer Glasflasche, die leider einen Sprühkopf aus Plastik hat. Schande über mein strohiges Haupt. Apropos Maskenbilderinnen: Ich werde ja an etwa 200 Tagen im Jahr, an denen ich entweder logo! oder die
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obwohl ich eigentlich schon morgens geduscht hatte – ich war einfach zu neugierig auf die ganzen Seifen. Mein erstes Problem war allerdings die Frage, wohin mit all den Dingern. Man bekommt sie im Laden in Papier eingewickelt oder in selbst mitgebrachte Dosen verpackt. In meiner Dusche sah es dementsprechend auch erst mal nach einer Tupperdosen-Party aus. So richtig praktisch war das aber leider nicht, denn in den Dosen sammelt sich das Wasser und die darin vor sich hin dümpelnden Seifen lösen sich bis zum nächsten Tag halb auf. Also mussten richtige Seifenbehälter her, auf denen die Seifen abtropfen konnten. Ich habe auch gelesen, dass es Netze gibt, in denen man die Seifen an der Duscharmatur aufhängen kann, das habe ich aber bisher nicht ausprobiert.
„Hessenschau“ moderiere, professionell geschminkt. Das geht leider nicht ohne Plastik, denn ich habe noch kein HD-Make-up und keine Mascara ohne Plastikverpackung gefunden. Falls ihr so etwas kennt, schreibt mir gern. Am Ende des Buches steht, wie ihr mich erreichen könnt. Zumindest beim Abschminken wollte ich aber auf Plastik verzichten. Bisher hatte ich dafür meist ein feuchtes Abschminktuch aus einer Plastikverpackung genommen, oder Reinigungsmilch aus einer Plastikflasche. Jetzt wollte ich es mit bei 60 Grad waschbaren Abschminkpads versuchen. Ihr müsst sie euch von der Haptik wie ein Fensterleder vorstellen. Man macht sie etwas feucht und schminkt sich dann einfach nur mit diesem Pad ab. Das verrückte ist, sie funktionieren wirklich. Ich brauche bei normalem Tagesmake-up ein Pad und bei Fernsehmake-up zwei. Die kommen danach in die Wäsche und sind dann sofort wieder einsatzbereit. Damit immer eines da ist, wenn ich es brauche, habe ich mittlerweile zehn Stück. Beziehungsweise hatte ich. Leider frisst meine Waschmaschine die Dinger wie Socken. Ich werde mir irgendwas einfallen lassen müssen. Vielleicht stecke ich sie in einen kleinen Kissenbezug beim Waschen. Der nächste Test waren die Zahnpasta-Tabletten. Sie sehen aus wie Pfefferminzdrops und schmecken auch so. Leider habe ich es auch nach vielem Darauf-Herumkauen noch nicht geschafft, sie richtig zum Schäumen zu bringen. Ehrlich gesagt befürchte ich, dass ich das mit den Drops nicht durchhalten werde. Wenn sie aufgebraucht sind, steige ich wahrscheinlich wieder auf normale Zahnpasta um. Oder ich mache dann meine Zahnpasta selbst, vielleicht in dem Monat, bei dem es um den Verzicht auf Mikroplastik geht. Viele Zahnpasta-Sorten sind nämlich voller Mikroplastik. Mein Fazit, nachdem ich plastikfreie Kosmetik und Hygieneartikel ausprobiert habe: Nicht alles davon wird es dauerhaft in mein Badezimmer schaffen. Feste Seifen werde ich definitiv weiter verwenden, Bambuszahnbürsten und Abschminkpads auch. Bei Zahnpasta, Schminke und dem Shampoo brauche ich noch Alternativen.
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In meinem Shoppingwahn hat es übrigens noch ein weiteres Produkt in meinen Haushalt geschafft: Strohhalme aus Edelstahl. Laut dem WWF sind Strohhalme aus Plastik der am fünfthäufigsten aus dem Meer gefischte Gegenstand. Täglich werden weltweit drei Milliarden davon benutzt und weggeworfen. Sie sind eines der unsinnigsten Wegwerfprodukte des Planeten. Denn außer alten oder kranken Menschen ist schließlich jeder in der Lage, einfach ohne Strohhalm aus einem Glas zu trinken. Ich liebe allerdings Kaffee auf Eiswürfeln und der lässt sich nun mal angenehmer mit einem Strohhalm trinken. Daher habe ich mich für die Edelstahlvariante entschieden. Da ich niemals dickflüssige Getränke wie Smoothies oder ähnliches daraus trinke, werden sie in der Spülmaschine auch immer wieder super sauber. Wer auf Nummer sicher gehen möchte, kann im Internet aber auch kleine Putzbürsten für die Strohhalme kaufen. Schwieriger wird es, wenn man unterwegs ist. Viele Getränke, vor allem im Sommer, werden in Restaurants und Bars mit Strohhalm serviert. Ich ärgere mich jedes Mal unfassbar, wenn ich vergessen habe, bei der Bestellung „ohne Strohhalm“ zu sagen, und das Getränk dann mit Strohhalm vor mir steht. Leider passiert das auch sehr oft, obwohl man es ausdrücklich gesagt hat. Ich hoffe aber auf eine Revolution in der Gastronomie. Vielleicht verändert sich ja was, wenn immer mehr Gäste ihre Getränke ohne Strohhalm bestellen. Immerhin gibt es schon ein paar Restaurants, die zumindest Recyclingoder Papp-Strohhalme benutzen.
Müsli, Nüsse – alle Lebensmittel hängen dort in Glasspendern an der Wand. Ich hatte meine eigenen Gefäße mitgebracht und wollte gerade den ersten benutzen, als mich eine Verkäuferin soeben noch rechtzeitig davon abhalten konnte. Ich hatte vergessen, mein Gefäß vorher zu wiegen, und da hier alles nach Gewicht berechnet wird, hätte ich dieses quasi mitbezahlt. Also erst mal wiegen, Gewicht mit abwaschbarem Stift auf der Dose notieren (manche Läden haben auch ein System mit Aufklebern), und dann kann man losshoppen. Praktisch ist, dass man nur genau so viel nimmt, wie man möchte. Wer also nur alle Schaltjahre Reis isst, kann auch nur eine ganz kleine Portion kaufen. Auch das ist umweltfreundlich, da auf diese Weise nichts weggeworfen wird. Nachdem ich die Wochen zuvor auf unfreiwilliger Süßigkeiten-Fastenkur war –es gibt einfach keine unverpackten Gummibärchen und Schokolade zu kaufen –, war ich plötzlich sehr glücklich. Im Unverpackt-Laden gibt es nämlich beides. Leider werde ich kein Fan der Gummibärchen dort, sie schmecken, wie man sich Bio-Gummibärchen vorstellt. Die Schokolade ist aber ein absolutes Highlight, der Unverpackt-Laden bekommt nämlich Bruchschokolade geliefert. Das ist hochwertige Schokolade, die bei der Produktion gebrochen ist und deswegen keine vollständige Tafel mehr ergibt. Da der Laden sie sehr günstig beziehen kann, erhält man hier richtige Luxus-Schokolade zu einem fairen Preis. Und ob die gebrochen ist oder nicht, ist für den Geschmack schließlich vollkommen egal.
Nach zwei Wochen war also ein großer Teil meines Lebens schon einigermaßen plastikfrei organisiert. Aber eben nur ein Teil. Müsli, Nüsse, Waschmittel, Nudeln, Putzmittel, Süßigkeiten – das alles gibt es weder auf dem Wochenmarkt noch im Supermarkt unverpackt zu kaufen. Also musste ich in einen Unverpackt-Laden. Die gibt es mittlerweile in jeder größeren Stadt, auch bei mir in der Nähe. Frische Produkte kann man problemlos auf dem Markt kaufen, und für den Rest lohnt sich der Weg in den Unverpackt-Laden. Bei meinem ersten Einkauf war ich allerdings leicht überfordert. Nudeln, Reis, Couscous,
Was man natürlich auch beim Unverpackt-Laden nicht vergessen darf: Auch er bekommt die Lebensmittel wie ein normaler Supermarkt in Verpackungen geliefert. Vergleicht man allerdings die Menge an Verpackungsmüll, schneidet der Unverpackt-Laden deutlich besser ab. Eine Müslipackung, die man im normalen Supermarkt kauft, produziert schließlich nicht nur eine Plastiktüte und eine Pappverpackung an Müll, sondern wird zusätzlich auch noch mit vielen anderen Müslipackungen in einer großen Plastikhülle angeliefert. Die sieht nur eben niemand außer den Supermarkt-Angestellten.
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Auch Waschmittel kann man selbst herstellen. Man braucht dazu vier Esslöffel Waschsoda (das ist Natriumcarbonat, ein Salz der Kohlensäure), 30 g Kernseife, am besten biologisch hergestellt, ein paar Tropfen ätherisches Öl bzw. Duftöl für den angenehmen Geruch (ich liebe Lemongrass, es gibt aber auch Lavendel, Rose und andere Düfte), zwei Liter Wasser und einen Kanister oder Flaschen für die Aufbewahrung. Und so geht’s: Die Kernseife mit einer Küchenreibe raspeln oder mit einem Messer klein schneiden. Das Wasser in einen Topf geben, Soda und geriebene Kernseife dazugeben, mit dem Schneebesen rühren und kurz aufkochen, bis sich alles aufgelöst hat. Dann solltet ihr das Ganze eine Stunde stehen lassen und dann noch mal unter Rühren aufkochen. Über Nacht stehen lassen. Dabei wird die Masse dicker und, je nachdem was für eine Seife ihr benutzt habt, an der Oberfläche fest. Also alles noch mal umrühren und erhitzen, bis die Mischung wieder flüssig ist. Dann abkühlen lassen und erst danach das ätherische Öl dazugeben. Jetzt ist das Waschmittel fertig, und ihr könnt es in Kanister oder Flaschen füllen.
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Und hier noch zwei Selbstmachtipps für diejenigen unter euch, die wirklich motiviert sind: Ich habe dann doch gleich versucht, Zahnpasta selbst zu machen, und ich finde das Ergebnis gar nicht schlecht. Vor allem nachdem ich gelesen habe, dass viele Schauspieler und Models Mundspülungen mit Kokosöl machen, weil das angeblich gesund hält. Mein Rezept enthält nämlich Kokosöl. Man nimmt dafür vier Esslöffel erwärmtes Kokosöl – erwärmt muss es sein, weil es sich im festen Zustand mit nichts anderem mischen lässt –, dann kommen zwei Esslöffel Natron dazu, das ihr im Unverpackt-Laden kaufen könnt. Natron ist quasi ein natürliches Putzmittel und macht die Zähne weiß. Für die Süße fügt man zwei Teelöffel Stevia hinzu und dann nach Geschmack ein paar Tropfen Pfefferminzöl. Das Ganze füllt man in einen Glastiegel und lässt es fest werden. Und schon habt ihr eure eigene Zahnpasta. An den etwas öligen Geschmack muss man sich erst gewöhnen, dafür ist sie aber garantiert plastik- und mikroplastikfrei.
Leider bekomme ich mit dem selbst gemachten Waschmittel nicht alle Flecken raus, vor allem die Abschminkpads kommen häufig noch mit Schmutzresten aus der Wäsche. Ich benutze das Waschmittel deshalb hauptsächlich bei Wäsche, die einfach nur mal wieder gewaschen werden muss, aber keine starken Flecken hat. Nach vier Wochen Plastikreduktion habe ich festgestellt, dass ich mit all den Einschränkungen leben kann. Nur ein Hindernis gibt es noch – meine Leidenschaft, Essen zu bestellen. Nie mehr Sushi liefern lassen? Nie mehr sonntags Curry beim Thai holen und vor dem Fernseher essen? Mein Leben wäre ohne diese Dinge deutlich weniger lebenswert. Aber bei nichts fällt mehr Verpackungsmüll an als bei einer Essensbestellung. Die erste Möglichkeit, das zu vermeiden, wäre stattdessen Pizza zu bestellen. Pappe ist schließlich viel einfacher wiederzuverwerten als Plastik. Ich habe aber noch etwas anderes ausprobiert: Ich habe bei meiner Sushi-Bestellung am Telefon angekündigt, dass ich mit meinen eigenen Gefäßen kommen werde. Ich war sehr gespannt, ob das klappen würde. Denn ich hatte schon einmal eine lustige Erfahrung beim Bäcker gemacht, als ich die Verkäuferin fragte, ob ich das Brot bitte in einer Papiertüte haben könnte, statt in einer Plastiktüte. Sie bejahte. Bis sie das Brot geschnitten hatte, hatte sie das aber offensichtlich wieder vergessen und steckte es in eine Plastiktüte. Ich rief: „Oh nein!“, und sie meinte, das sei doch kein Problem, warf die Plastiktüte in den Müll und gab mir das Brot in der Papiertüte. Sie hatte gar nicht verstanden, dass es mir um das Einsparen von Plastik ging, sondern dachte, ich würde Brot einfach lieber im Papierbeutel lagern. Beim Sushi-Laden angekommen, konnte ich aber erleichtert aufatmen. Alle Sushis lagen ordentlich auf einem Porzellanteller. Ich füllte sie in meine Boxen und nahm sie mit nach Hause. Beim Thailänder oder beim Italiener ist das etwas schwieriger. Bis man mit seiner Dose da ist, kann das Essen kalt sein. Daher ist es am besten, dort einfach direkt mit den Dosen hinzugehen und vor Ort zu bestellen.
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Das plastikreduzierte Leben ist ein wenig anstrengend. Man muss daran denken, immer alle Boxen, Dosen, 2-Go-Becher und so weiter dabeizuhaben. Das Leben muss also etwas organisierter ablaufen und ist weniger spontan. Außerdem ist es zu Beginn etwas teurer, da man in einige Produkte investieren muss. Grundsätzlich wird der Geldbeutel durch das plastikfreie Leben aber nicht stärker belastet als zuvor. Klar, man kann nicht mehr alles beim Discounter kaufen, aber wer sich auch vorher schon bewusst für Bio-Produkte und Ähnliches entschieden hat, wird kaum einen finanziellen Unterschied merken. Außerdem bin ich der festen Überzeugung, dass nicht jeder alle Änderungen übernehmen muss. Guckt doch mal, was davon sich in euer Leben integrieren lässt.
Besonders in Entwicklungs- und Schwellenländern, in denen es kein funktionierendes Müllverwertungssystem gibt, werfen viele Menschen ihren Müll aus Unwissenheit und wegen fehlender Alternativen einfach auf die Straße oder direkt in Flüsse. Von dort findet er seinen Weg ins Meer. Doch auch hier bei uns in Deutschland landet an Stränden und Flussufern liegen gelassener Müll früher oder später im Meer. Viele Plastikpartikel, die ins Meer gespült werden, stammen aus unseren Waschmaschinen. Fleecepullis und andere Kunstfasertextilien verlieren bei jedem Waschgang etwa 2000 winzige Fasern, die so klein sind, dass sie weder im Sieb der Waschmaschine hängen bleiben, noch in Kläranlagen herausgefiltert werden können. So gelangen sie ungehin-
• Leitungswasser trinken • PET- Einwegflaschen mit 25 Cent PFand meiden • Milch und Joghurt in Glasflaschen kaufen • feste Seife benutzen • Wegwerfartikel wie Strohhalme und 2-Go-Becher vermeiden
tikkügelchen, die den Reinigungseffekt verstärken sollen. Sie sind zum Beispiel in Peelings, Zahnpasta, Gesichts- und Sonnencreme. Über unser Abwasser gelangen die feinen Partikel ungeklärt ins Meer. Immer wieder entsorgen Schiffe ihren Müll im Meer auch in Europa. Dabei ist das weltweit streng verboten. Auch dass Schiffe ihre Ladung verlieren, kommt regelmäßig vor. Bei starkem Seegang können zum Beispiel manchmal ganze Container über Bord gehen.
• Stoffbeutel mit zum Einkaufen nehmen
Auch die Fischwirtschaft ist ein großer Verursacher
• auf dem Wochenmarkt oder im Unverpackt-Laden einkaufen
werden im Meer entsorgt oder gehen verloren. Ein
• Zahnpasta und Waschmittel selbst herstellen
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Viele Kosmetikprodukte enthalten winzig kleine Plas-
• eigene Dosen an der Fleisch- und Käsetheke verwenden
• Essenslieferungen vermeiden oder eigene Boxen mitbringen
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dert ins Abwasser und dadurch ins Meer.
von Müll im Meer: Netze und andere Gerätschaften besonderes Problem sind die sogenannten Geisternetze. Nach Angaben von Greenpeace landen jährlich bis zu 25 000 Fischernetze in europäischen Meeren. Sie treiben umher, sinken auf den Meeresboden und werden dort zu tödlichen Fallen für viele Meeresbewohner.
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Jennifer Sieglar Umweltliebe 256 Seiten Klappenbroschur 15,00 € (D) 15,50 € (A) ISBN 978-3-492-06146-9 Erscheint am 19. März 2019 Bestellen Sie Ihr digitales Leseexemplar zum Erscheinungstermin auf www.piper.de/leseexemplare … oder schreiben Sie eine E-Mail an: sales_reader@piper.de (Buchhändler) press_reader@piper.de (Presse)
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in t er v ie w S T E P H A N I E V O N H AY E K Ü B E R I H R E N D E B Ü R O M A N „ A L S D I E TA G E I H R L I C H T V E R L O R E N “
„Wie ungeordnet das Leben in Deutschland geworden war. Margarete fühlte sich an das Elend des letzten Hungerwinters erinnert. Ihre Mädchen sollten das unbeschwerte Dasein genießen, das sich in den Cafés, Tanzlokalen, Theatern und Kinos fand. Doch Margaretes Angst war groß, wenn die Mädchen nachts unterwegs waren.“ Mein Roman „Als die Tage ihr Licht verloren“ beginnt im Jahr 1932, einem turbulenten und blutigen Jahr, das letzte der Weimarer Republik. Deutschland befand sich in einer schweren Krise. Die Straßen Berlins waren unsicher, geprägt von Kämpfen bewaffneter Verbände. Meist kämpften Kommunisten und Nationalsozialisten gegeneinander. Gleichzeitig amüsierte sich das Bürgertum im Theater und Kino oder in den Revuen. Das Radio und die Schallplatte fanden Verbreitung, ebenso das Telefon. Leuchtreklamen und Plakate prägten das Stadtbild, Kutschen fuhren neben dem Automobil. Junge Frauen strömten in die Angestelltenberufe, waren Verkäuferinnen oder übten Büroberufe wie Sekretärin oder Stenotypistin aus. „Ich hatte immer so viel vor. Nach Amerika wollte ich reisen und die Welt sehen und helfe Nun weiß ich gar nicht mehr, was träumen heißt. Was soll nur aus mir werden? Sekretärin ein liebes langes Leben? Ich bleibe im Dazwischen, immer zwischen zwei, nie zu Hause, nie, nie zu Hause, nie, nie.“ Meine Hauptfiguren Linda und ihre Schwester Brigitte absolvieren auf Drängen ihrer Mutter eine Ausbildung zur Sekretärin. Während Gitte das praktisch angeht und sich sagt, danach studiere ich eben Jura, macht Linda zwar, was ihre Eltern sagen und was zu dieser Zeit auch üblich war. Zugleich aber ringt sie mit der Suche nach ihrer Bestimmung, nach dem, was ihr Leben erfüllen soll. Sie spürt Schaffenskraft in sich, Gefühle, die nach einem Ausdruck suchen, den sie aber erst einmal nicht findet. Bestimmung, Berufung, Begehren … das sind unterschiedliche Worte, die alle mit dem zu tun haben, wie man sein Leben leben will. Wer sagt uns das? Keiner. Aber weil wir umgeben sind von Familie, Erziehern und Einflussgebern und jeder von uns mehr oder weniger beeinflussbar ist von Ruhm, Macht, Geliebtwerden, Ehre etc., kann es schwer sein, seinen Weg zu finden, sehr schwer.
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„Ihre dritte Begegnung brachte schlussendlich die Zutaten mit, um aus dem von beiden lang ersehnten Kuss alles und mehr zu machen und ihnen ihre gegenseitige Leidenschaft zu Füßen zu legen. Lindas eigenes Wollen war freigelegt, enthemmt und Erich hingegeben. Das Es-will-in-mir war zu einem Ich-will-dich herangewachsen.“ Als der Künstler Erich in Lindas Leben tritt und ihr etwas aus ihrer Vergangenheit zurückgibt – ihre Liebe zum Stoff, ihr Großvater war Tuchhändler und verstarb plötzlich – und sich eine berufliche Zukunft zeigt, ist sie auf ihrem Weg. Sie liebt und arbeitet, ama et labora. In dieser Leidenschaft, etwas erschaffen zu wollen, sich hinzugeben, fühle ich mich meiner Figur Linda sehr nahe, mit ihrer Schwester Gitte verbindet mich deren analytische Art. Alle meine Figuren sind Erfindungen, natürlich aber sind sie inspiriert von eigenen Gefühlen und Details aus meiner Geschichte. Meine Urgroßmutter wohnte zum Beispiel in Charlottenburg in der Goethestraße, bevor sie nach Finnland auswanderte, ihr Vater war Tuchmacher in Leipzig. Da ich Schwestern habe, weiß ich, wie sich Schwesternsein anfühlt. Es gibt Konspiration, Nähe, gemeinsames Erleben, aber auch Eifersucht. „Erich ist nicht mehr da. Er hat mich verlassen. Ich bin verloren. Ich stehe nicht mehr auf. Ich bleibe hier liegen. Das durchzustehen werde ich nicht schaffen. Nicht ohne Erich. Warum habe ich ihn gehen lassen? Warum habe ich das zugelassen? Ich mag nicht mehr.“ Wenn Erichs Feldpostbriefe ausbleiben, nimmt der Roman, der so heiter und lebensbejahend beginnt, eine vollständig andere Note an. Für Linda ist die Situation dramatisch, weil sie mit Erich nicht nur sich entdeckt hat und sich entfalten konnte, sondern ihr eine andere Art der Liebe begegnet ist als ihre bisherigen Liebschaften. Linda und Erich haben eine Beziehung, die auf Respekt, Neugier, Staunen und einer starken sexuellen Anziehung beruht. Als Erichs Briefe ausbleiben, weiß Linda nicht, ob er lebt und vielleicht nicht zu ihr zurückkommt, weil er sie nicht mehr liebt, oder ob er wirklich tot ist. Die Fantasie hat ja unendliche Spielräume. Linda ist in einer Situation der unerträglichen Unsicherheit. Es zerreißt sie. Sie stürzt in eine tiefe Melancholie. „Ja, warum schaffte es einer und der andere nicht? Wie kam es, dass ein Mensch mit köRperlichem Gebrechen seelisch vollkommen gesund sein konnte, während ein gesunder, aber seelisch kranker Mensch mit den Widrigkeiten des Lebens ungleich schwerer zu kämpfen hatte? Das war Ediths, wie sie es nannte, Grundfrage.“ Wichtig ist – und diese Themen bringt die Figur Edith, Lindas und Gittes Tante, in den Roman ein – zu verstehen und zu akzeptieren, wie nah körperliche und seelische Gesundheit beieinanderliegen. Sie bedingen einander. Gesundheit bedeutet auch Lebenskraft, die Entscheidung, auf der Seite des Lebens (und nicht des Todes) stehen zu wollen.
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Wie kommt es, dass einer relativ unbeschadet aus dem Krieg kommt, obgleich er viel Schlimmes erlebt hat, während ein anderer, der Ähnliches oder auch weit weniger Schlimmes erlebt hat, mit einer schweren Neurose, Tics, Lähmungen, Schütteltremor, Taubheit, Stottern, Dämmerzuständen nach Hause kommt? Woher kommt die Widerstandskraft eines Menschen? Woraus speist sie sich? Ist da ein Kern eingepflanzt von Anfang an oder wird er erworben? Diese Fragen stellt sich Edith. Und diese Fragen sind heute noch relevant. „Sind sie bei Dir, meine Augen? Ich hab sie mir aus dem Kopf geweint. Jetzt sind dort zwei dunkle Höhlen. In der einen wohnt die Verzweiflung, in der anderen die Leere.“ Im Roman bringt Lindas Sturz in die Melancholie sie in größte Gefahr. Im Sommer 1939 wurde die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ geplant und mit der Ermächtigung Hitlers am 1.9.1939 in die Wege geleitet. Die Nationalsozialisten bestimmten bürokratische und ökonomische Kriterien, wonach jemand leben darf oder getötet wird. Sie definierten die Norm. Das war pure Macht und Willkür.
Mein erster Anlaufpunkt bei der Recherche für diesen Roman war das Bundesarchiv in Lichterfelde. Dort fand ich einen Brief des Direktors der Landesanstalt Görden in Brandenburg an der Havel Hans Heinze an Viktor Brack, Oberdienstleiter in der Kanzlei des Führers, vom 13. November 1940, in dem es um den Brandenburger Richter Lothar Kreyssig geht. Dieser stellte als einer der Ersten fest, dass seine Mündel verschwanden, und setzte alle Hebel in Bewegung, um dies zu verhindern. Heinze listet alle Beobachtungen Kreyssigs auf und stellt fest, dass es auch einen Unfall gegeben hat, in dem „ein mit zu verlegenden Geisteskranken besetzter Autobus mit einem anderen Kraftwagen zusammengefahren“ sei. Es habe dabei Tote und Schwerverletze gegeben. Was war das für ein Unfall? Wer waren die Insassen? Ich fragte nach und bekam ein Berufungsurteil, in dem es um einen anderen Unfall ging. Eine Witwe hatte geklagt, weil ihr Mann Eduard Schmidt bei einem Unfall mit einem „Sanitätswagen“ ums Leben gekommen war. Zu diesem Unfall, der sich in der Nähe von Pößneck auf der Autobahn zutrug, fand ich weitere Informationen im Pößnecker Stadtarchiv. Im Laufe der Arbeit an meinem Roman musste ich unter anderem auch herausfinden, ob es 1940 möglich war, nach Schweden oder Finnland zu reisen. Im Archiv des Auswärtigen Amts erhielt ich Kisten mit Visaanträgen, Briefen, Zeitungsartikeln. Schließlich interessierte mich noch die Heilanstalt Berlin-Buch.
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Deshalb ging ich in das Berliner Landesarchiv. Außerdem war ich in der Gedenkstätte Brandenburg an der Havel in Sassnitz. All diese Archivbesuche haben mir sehr gefallen. Man fühlt sich wie Miss Marple auf heißer Spur und nah an der Zeit. Aber nachdem über den im Heinze-Brief erwähnten Unfall nichts herauszufinden war, außer dass ein Reichsbus mit einem Kraftwagen zusammengestoßen war und es Tote und Schwerverletzte gegeben hatte, griff ich zur Fiktion. Ich habe erfunden, wie sich der Unfall zugetragen haben könnte und wann. Ich habe Lorentz Hackenholt als Fahrer eingesetzt, eine realhistorische Figur. „Neue Mission. Ihm sollte es recht sein. Lorenz Hackenholt setzte sich. Kurze Begrüßung, meine Herren. Gleich zur Sache. Keine Zeit verlieren. Nie Zeit verlieren. Auftrag erfüllen. Götterdämmerung. Hoch hinaus. Er war dabei. Geheime Sache, große Sache, Führer persönlich.“ Lorenz Hackenholt war ein Massenmörder. Nach dem Krieg gehörte er zu den meistgesuchten Verbrechern, angeklagt wegen Mord in 70 000 Fällen und Beihilfe in 1,5 Millionen. In meinem Roman ist er der Fahrer eines Busses, später bekannt unter „Graue Busse“, der die Patienten in die Vergasungsanstalten bringt, unter ihnen auch Linda. Aus einem Zeugenbericht eines ehemaligen Patienten, der in solch einem Bus saß und dem die Flucht gelungen war, wusste ich, dass die Patienten zum Teil ahnten, was mit ihnen passieren sollte, auch wenn man ihnen sagte: „Wir fahren ins Blaue, machen einen Ausflug.“ Daher kam mir eines Tages die Idee, dass Linda ja gar nicht umzukommen brauchte. Dass der Unfall für sie eine Chance bedeuten könnte. Die psychotische Selma, der Linda im Bus begegnet, schlägt dieser eigentlich die Wahrheit um die Ohren: Du liegst auf dem Bett und heulst, aber was soll das nützen? Ab da richtete sich Lindas Handeln aufs Überleben. Das, was sie lernen muss, und das tut sie, ist, dass sie leben will, auch wenn Erich nicht da ist. Dass sie auch ohne Erich existiert, ein Leben hat. Und sie begreift das, weil sie intuitiv versteht, dass man ihr ihr Leben nehmen will. Der Unfall weckt ihre Lebensgeister. Am Ende ist sie nicht mehr das unbekümmerte, lebensfrohe Mädchen vom Anfang. Einen Teil ihrer Leichtigkeit hat sie eingebüßt. Sie weiß, was Menschen einander antun können, wozu sie fähig sind. „Für einen Augenblick breitete sich Ruhe in Linda aus. Sonne, Wind und Kälte schlugen vom Meer zurück wie ein Ausdruck eines Lebenswillens, wie ein Vorbote Eines Neuanfangs. Sie hatte nichts, nur dieses Leben, das an ihr hing und das sie nicht loswurde. Aber jetzt, jetzt war sie frei.“ der piper reader | interview
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leseprobe Stephanie von Hayek
Als die Tage ihr Licht verloren ROMAN
Müsste sie besser aufpassen auf ihre beiden?, fragte Margarete sich häufig und ermahnte ihre Töchter immer wieder: »Lasst euch ja begleiten!« Die Angst war groß, wenn die Mädchen nachts unterwegs waren. Am meisten fürchtete sie sich vor den gewaltsamen Männergruppen, die sich Gefechte in den Straßen lieferten und bewaff net waren. Wie ungeordnet das Leben in Deutschland geworden war, ein Ausnahmezustand folgte dem anderen. Zu den Verletzten und Kriegsveteranen aus dem letzten Krieg hatten sich auf den Straßen nun all die neuen Armen, wie Margarete sie nannte, gesellt, diese neuen Armen, die alles verloren hatten, als Geld und Arbeit plötzlich wertlos wurden. Es herrschte eine entsetzliche Wohnungsnot. Sie fühlte sich an das Elend des letzten Hungerwinters erinnert. Manchmal fuhr Margarete klopfenden Herzens aus dem Schlaf, die Mädchen, die Mädchen, und lauschte auf Schritte im Treppenhaus oder das Umdrehen des Schlüssels im Schloss und atmete auf, sobald sie das Kichern eines der Mädchen vernahm. Sie sollten ihre Jugend
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und das unbeschwerte Dasein genießen, das sich in den Cafés, Tanzlokalen, Theatern und Kinos fand. Im Licht einer Ahnung wurden diese zu Knotenpunkten von Intensität, Wachheit und Leidenschaft. Dieser Stimmung, die dabei war, zu kippen und die Leichtigkeit zu verlieren, waren Linda und Gitte sich kaum bewusst – wie sollten sie auch? Noch nicht volljährig waren sie und voller Wünsche für die Zukunft – das heißt, Gitte hatte Pläne, Linda Träume. Gitte kam in ihrer ruhigen und verlässlichen Art nach Leonhard, aber Linda? Manchmal war Margarete ihre Tochter fremd, ihre Wirbelei, so ohne Ziel. Unbedingt wollten sie den Film »M« von Fritz Lang sehen. Sie hatte sie gewarnt, sie würden nicht schlafen können. Eine furchtbare Geschichte. Nach der Vorführung im Franziskaner-Kino blieben die Mädchen sitzen. Keines sagte ein Wort. »Wie grässlich«, murmelte Linda schließlich, als die Lichter angingen. »Wir hätten auf Mama hören
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Ob man solch einen Psychopathen, solch einen Kindermörder wirklich nicht erkannte, auch wenn er ganz in der Nähe wohnte, in der Nachbarschaft, bei Muttern mitten unter uns, überlegte Linda. Vermutlich nicht, meinte Gitte.
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sollen.« Eingehakt liefen sie zum Bahnhof. »Lass uns nach Hause gehen, Gitte. Die Lust am Tanzen ist mir gründlich vergangen.« Gerade die Ablenkung bräuchten sie jetzt, meinte Gitte und drückte den zitternden Arm ihrer Schwester. Ein eiskalter Ostwind blies ihnen um die Ohren und durch die Kleider hindurch.
gungen fort. »Serienmörder, der war ein Serienmörder, dieser M. Etwas zwang ihn, zu töten. Er konnte nicht glauben, dass er die kleine Elsie umgebracht hat. Er fühlte sich gar nicht schuldig.« »Als wäre er zwei. Aber wie wird man zwei?« »Im Krieg, im Krieg musst du zwei sein, sonst schaffst du’s nicht. Vielleicht war er vorher im Krieg?«, erwiderte Linda. »Und wenn du zurückkommst, wollen die beiden Teile nichts mehr voneinander wissen.«
»Die Schlimmsten sind wahrscheinlich die mit einem »Im Krieg doch auch nicht«, stellte Linda fest. verzweifelten Gesichtsausdruck und den treuen Augen, Gitte, die, die lieb tun, die haben was zu verber- »In Friedenszeiten noch viel weniger«, entgegnete Gitte, »M sah so normal aus, gar nicht wie man sich gen, vor denen müssen wir uns in Acht nehmen.« einen Verrückten vorstellt.« »Der Schränker ist auch schrecklich. Man konnte froh sein, dass die Polizei zum Schluss auftauchte, »Wie soll denn ein Verrückter auch aussehen, Gitte?« sonst hätte die Meute ihn umgebracht«, sagte Gitte. »Und das Schlimmste war ihre Lust zu töten, die hat- »Eben. Er sah aus wie ein Familienvater. Die meisten werden ja nicht verrückt geboren, die Gesellschaft ten Lust, ihn umzubringen.« oder Erziehung macht sie krank oder der Krieg. Sagt »Weil er doch der ganzen Stadt Angst gemacht hat!«, zumindest Tante Edith.« rief Linda aus. »Die armen Mütter! Du weißt genau, wenn du hinter der Küchentür stehst und mich er- »Ich finde, er sah aus wie ein großes Kind. Wir wisschreckst, ist der Schreck auch lustig. Sie hatten sen es nicht. Vielleicht kann es jeden treffen, der Spaß daran, ihn zu quälen, und haben sich stark einen riesigen Schrecken bekommt. Vielleicht können gefühlt in der Gruppe.« wir alle irre werden. Schau, all die Soldaten aus dem Krieg, die wir manchmal auf der Straße sehen, die »Ja, aber die Spannung löst sich doch schnell auf, rückwärtsgehen und den Kopf ruckartig hin- und während hier die ganze Stadt in Dauerangst ist«, herschleudern, wie der nervenkranke Mann von Frau meinte Gitte. Ostermann, der sich manchmal so schüttelt und zuweilen ins Stottern gerät. Der arme Mann.« »Stell dir vor, es wäre dein Kind.« »Lene sagt, das sei wegen der Rente, die er bekomme, »Diese heimliche Freude, diese Lynchjustiz, sie sind er wolle krank sein, und wäre er in Kriegsgefangengenauso verrückt wie M. Solche Menschen, die das schaft, ganz schnell wäre er gesund geworden, der Recht selbst durchsetzen wollen, für die das Gesetz Herr Ostermann. Und was der schon erlebt hätte im nicht gilt, die müssen einem unheimlich sein.« Gegensatz zu Arnolds Vater. Die Ostermanns sitzen uns doch nur auf der Tasche, sagt sie. Arbeiten gehen Nach einer kurzen Pause fuhr Linda mit ihren Überle- solle er, wie alle anderen auch.«
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»O Gitte, das ist ja hässlich, hat sie das wirklich gesagt? Der läuft doch bestimmt nur weg vor dem, was er im Krieg erlebt hat. So redet der Arnold, und Lene macht sich das zu eigen und plappert es einfach nach. Sie ist einfach hörig geworden.« »Sie redet jetzt ständig davon, wie gesund ihre Kinder sind«, sagte Gitte. »Ich habe gesehen, wie sie sie in die Wange kneift, wenn sie hört, dass Arnold von der Arbeit kommt.«
Kopf in den Nacken und schnappte sich die dunkelhaarige Schönheit mit der schmalen Nase und dem roten Kleid für eine Pause an der Bar. Gitte stieß den Ellbogen in Lindas Rippen. »Sieh, er spielt heute wieder.« Gitte nickte ihrer Schwester zu.
»Aber sie ist auch da, er hat nur Augen für sie. Komm, wir gehen zu Peter und Suse. Und Max! Dort ist Max.« Linda fiel Max um den Hals. Max war immer da für »Lene hat nie wirklich eine eigene Meinung. Du alle Trost suchenden Frauen. Seine Arme konnten brauchst sie nicht in Schutz zu nehmen, Lindi. Erin- mit Leichtigkeit mindestens zwei Frauen umfassen, nere dich, wenn wir gesagt haben, wir spielen Pferd, mit Max durfte jede schmusen, sein Gesicht lachte hat sie kurz gesagt, sie will nicht, aber letzten Endes freundlich, seine Nase strich über Gittes Wange, und ist sie mit uns gegangen. Hast du gesagt, deine Lieb- sein Mund flüsterte Liebkosungen in ihr linkes Ohr. lingsfarbe ist Blau, war das kurze Zeit später auch Max war ein Frauenversteher, in Amerika geboren, in ihre, obwohl sie vorher immer von Lila gesprochen Berlin aufgewachsen, häufig unglücklich verliebt, ein Löwenzahncharakter, zäh, zart, Geschäftsmann. hat.«
»Sie will keinem wehtun, da duckt sie sich weg«, ent- »Gitte, nix gibt’s, hier wird kein Trübsal geblasen. Glaubst du, das lass ich zu?« Max’ Augen blinzelten gegnete Linda. Gitte durch die schwarze runde Brille an. Er nahm ihr »Nein, das stimmt nicht, sie passt sich an. Sie passt Gesicht in seine Hände und drückte ihr einen Kuss auf sich einfach an. Früher waren wir es, jetzt ist es eben die Stirn. »Du weißt doch, Gittilein, die Welt ist voll Arnold. Tut dir das von vorhin leid, dass du sie so an- von uns, hör auf, dir Sorgen zu machen. Was machen geschrien hast? Jetzt musst du sie nicht verteidigen.« wir mit ihr, Linda?« »Sie hatte immer solche Angst vor ihrer Mutter. Sie hat mir schon oft leidgetan, wenn sie erzählt hat, wie Gertrud sie missachtet und ohrfeigt, als wäre sie schuld daran, dass der Vater sie verlassen hat. Deinetwegen, Lene, deinetwegen issa jejangen. Stell dir mal vor, du hörst das den lieben langen Tag.« Gitte lachte, so wie Linda Lene nachahmte. Sie hatten das »Kakadu« am Ku’damm Ecke Joachimsthaler erreicht und mischten sich unter die Gäste. Ein Foxtrott ertönte, »Im Casino da steht ein Pianino« alles um sie herum wippelte, Rauch, Musik und Tanz. Am Klavier saß ein Rothaariger, seine Finger liefen über die weißen und schwarzen Tasten, und jedes Mal, wenn das Lied zu Ende war, hörte man die Menge rufen: Weiter, weiter, der Rothaarige aber verbeugte sich, warf den
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»Ein Tänzchen hilft bestimmt, Schnupps.« »Die Zeiten werden sich ändern, Lindi. Bei der nächsten Wahl geht es nicht mehr glimpflich aus.« »Max! Jetzt malst du aber den Teufel an die Wand. Hitler ist doch ein Trottel, das sieht ein Blinder mit Krückstock.« Max machte eine Kopfbewegung. »Dahinten in der Ecke, sieh mal, all die Braunhemden, sie werden uns überrollen, mich, dich, alle, wie ihre Aufmärsche. Wenn die gewinnen, pack ich meine Sachen und geh, das schwör ich. Der Hitler hat die komplette obere Etage des Hotels Kaiserhof bezogen, der befiehlt schon von dort. Das ganze Hotel ist inzwischen so braun wie
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ein nicht gesäuberter Kuhstall.« Und Max erzählte, wie die Männer mit Hakenkreuz und Schlagring auf einen Taxifahrer und den jüdischen Boxclub Maccabi an der Ecke Unter den Linden neulich losgegangen waren, wie sie gegrölt und zugeschlagen hatten, sofort. Auch die Schuhverkäufer vom Leiser beschimpften sie regelmäßig und die Verkäufer beim Tietz und Wertheim. »Diese Judenhallen«, hieß es immerzu. Verteidigen tat sie niemand. »Peter glaubt noch, dass der Thälmann bei den Wahlen eine Chance gegen die hat. Aber der Rechtsterror ist überall jetzt.«
Ich sage: Max, Max und noch mal Max. Davon rück ich nicht ab. Und außerdem, Gitte, er hat gesagt, dass du ein Dünungslächeln hast.« Linda strahlte Gitte an und blickte sich suchend um. »Pass auf, ich ruf dir diesen Rothaarigen, du wirst schon sehen, komm, ich hol ihn dir. Ich sag ihm, du möchtest mit ihm reden.« Linda war losgestürmt, schnell lief Gitte diesem Übermut hinterher und hielt Linda am Arm zurück.
»Hör auf, Linda, hör auf! Du bist total überge»Ach, wer sind die schon. Tanz jetzt lieber noch ein- schnappt!« Und wäre in dem Augenblick Max nicht gekommen und hätte diesen Tanz mit Gitte getanzt, mal mit Gitti, los, Max, tütüt«, sagte Linda. hätte Gitte damals Fred kennengelernt. Weit nach Mitternacht spielte das Orchester einen letzten Tanz, der Pianist schob die Dunkelhaarige Max fuhr die Mädchen nach Hause, bis vor die Hausüber das Parkett zu einem Tango, den der Wind er- tür. zählte. Als Linda die Wohnungstür aufsperrte, die Mäd»Sie sind so ein anmutiges Paar, gegen sie habe ich chen müde und beschwingt die Treppe hochliefen, keine Chance«, flüsterte Gitte Linda zu, als sie an der verlangsamte Linda ihre Schritte, fiel hinter ihrer Schwester zurück und konnte sich nicht verkneifen, Bar standen. plötzlich mit Quietsch in der Stimme zu rufen: »Elsie! »Ich finde, du solltest dich mit Max zusammentun. Er El-sie!« ist witzig, er will was, reich wird er mit seinen Filmprojektoren vielleicht auch noch. Du könntest nach »Hör auf, hör sofort auf! Jetzt muss ich wieder daran Amerika! Du hättest alle Freiheit der Welt. Der liebt denken! Du bist gemein, Linda! Jetzt werde ich kein Auge zumachen können. Du blöde Ziege, du blöde.« dich, Gitti, glaub mir, der kann richtig doll lieben.« »Max?«
Linda lachte.
»Ja, Max Schilling. Und er ist der beste Tänzer weit Warte, warte nur ein Weilchen. und breit, da kann dieser rothaarige Lockenkopf, den du so anhimmelst, ohnehin ein Angeber, nicht mithalten. Keiner tanzt wie Max. Max ist nur schüchtern.« »Max doch nicht.«
Dann kam der Frühling mit seinem Licht. Langsam brach er sich durch den Winter, und wie viele griffen »Och, Gitte, du stehst auf die großen Könner, die Zei- auch die Mädchen nach diesem Duft des Anfangs, in ger, die Obenaufseinwoller, immer Glitzerglämmer, dem die Blätter sich noch in braungrünen Kokons verimmer dieses hohe Ross. Aber da drin, die Schüchter- steckt hielten und zögerlich neugierige Spitzen hervorschauen ließen. Häufig sah man Gitte und Linda nen, mit denen hast du Nähe und Zärtlichkeit.
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vor dem Spiegel stehen, ihre Garderobe begutachten. Der Müller’sche Blick für Stoff und Qualität hatte den Geschmack der Schwestern geprägt. Die Müllers, Lindas und Gittes Großeltern, gehörten zu einer Familie wohlhabender Tuchhändler, die ihr Kapital frühzeitig in Immobilien und Kunstgegenständen angelegt hatten. Gitte hatte gehört, dass ein neuer Schuhladen eröffnet hatte, und so ermunterte sie ihre Schwester, sich diesen gemeinsam anzusehen. »Jetzt komm, willst du hier rumsitzen? Guck mal, die Sonne scheint. Die Schuhe dort sollen ganz anders sein, ganz speziell, heißt es.« »Ach, ich weiß nicht, ich weiß gerade gar nicht, was ich will.« Linda saß auf dem grünen Sofa und ließ ihren Blick Richtung Fenster schweifen. »Ich weiß gar nicht, ob mir nach Spazierengehen ist. Geh doch allein. Ich hab was Verknubbeltes heute. Ich hab den Klumpen.«
Die Mädchen banden sich Schals um, noch war es kühl, auch wenn nun Anfang April die Sonne zuweilen ihre Strahlen schickte und die Gesichter ein wenig erwärmte. Großvater, der Freude an den einkaufslustigen Mädchen hatte, wie überhaupt diese beiden sein Herz hüpfen ließen, wohnte einige Häuser weiter die Goethestraße hinunter, nur einige Minuten von den Hoffmanns entfernt. Er stand in der Tür und winkte ihnen zum Abschied. Zuvor hatte er aufmerksam zugehört, an seiner Pfeife gezogen, in seinen Schnauzer geschmunzelt, die Schublade seines Sekretärs herausgezogen und Linda einen Scheck, auf den er zuvor mit seinem silbernen Füllfederhalter schwungvoll und voller Freude seine Unterschrift gesetzt hatte, dahinter als Verstärkung noch einen Punkt, in die Hand gedrückt.
Fröhlich spazierten Linda und Gitte die Stufen des Wohnhauses hinab, mit raschen, in Vorfreude vergnügten Schritten gingen sie durch die Straßen, an deren Rändern sich ein grau und braun gewordener »Jetzt lass mal deinen blöden Klumpen, Linda, los, du Schneerest sammelte, vorbei an den Litfaßsäulen wirst sehen, es tut dir gut, das ist doch immer so mit mit Wahlplakaten, die Einer für alle. Alle für einen. Wählt Hindenburg riefen. Oder: Wir nehmen das dir.« Schicksal der Nation in die Hände! Hitler Reichspräsident. Oder: Kämpft gegen Hunger und Krieg! Wählt »Ich habe ein knottriges Gefühl.« Thälmann! Der Schuhladen im Westen der Stadt, in »Rigali«, sagte Gitte und hob beschwörend die Hände der Grolmanstraße, nannte sich Schuh Kupfer. Inhaber war Erich Kupfer, Schuhmachermeister. Seinen vor Lindas Gesicht. »Rigali.« Laden hatte er Anfang des Jahres eröffnet, der Krise zum Trotz oder weil auch er zu den Privilegierten geLinda schaute aus dem Fenster. hörte, die es sich leisten konnten. Allerdings müsste »Rigali, ich habe gehört, der Besitzer sei so unwider- darüber diskutiert werden, was Privilegiertsein in Erichs Fall hieß. Erichs Eltern waren kurz nacheinstehlich wie seine Schuhe.« ander an der Spanischen Grippe gestorben und hatten Linda sprang vom Sofa auf. »Ich bräuchte wirklich ein beträchtliches Vermögen und eine Schuhfabrik neue Schuhe, Stiefel, Gitte. Ich hätte gern Stiefel, hinterlassen. Erich war damals etwas über zwanzig weißt du, die zum Schnüren vorne, die fast bis zum und ziemlich überfordert gewesen, dazu kam, dass er überhaupt wenig Talent für Organisation hatte Knie gehen.« und seine Schwestern, er hatte drei, ihm keine Hilfe waren. Nachdem er mehrere Jahre versucht hatte, »Na, dann los«, bestimmte Gitte. die Fabrik zu führen, entschloss er sich zum Verkauf, Linda schlug vor, vor ihrem Ausflug noch bei Großvater zahlte seine Schwestern aus und eröffnete den Laden vorbeizuschauen, und zwinkerte ihrer Schwester zu. in der Grolmanstraße. Erich fühlte sich dem Hand-
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werk und den Künsten zugeneigt, dem Maßschuh viel mehr als dem Führen einer fast tausendköpfigen Belegschaft. Auf den ersten Blick war Erich nicht unbedingt das, was man einen gut aussehenden Mann nannte, doch sein Gesicht, das immer einen Rest Sommerbräune zu tragen schien, strahlte trotz der Turbulenzen, die ihm sein junges Leben beschert hatte, eine Ruhe oder vielmehr Gelassenheit aus, die sich unmittelbar auf jedes Gegenüber übertrug, was auch an einer Heiterkeit lag, welche sich in den Augenwinkeln zeigte, sowie an einer unersättlichen Neugier für jedes menschliche Wesen und Tun. Trat dieser Fall ein und kannte man Erich, waren es seine Hände, die mit ihm durchgingen und jeden seiner Gedanken nicht energisch, gleichwohl deutlich in wedelnden Bewegungen hervorhoben; manchmal war es auch sein sprechender, leicht insistierender Zeigefinger. In dieser Hinsicht fiel es ihm nicht schwer, Kunden in seinen Laden zu ziehen, und manchmal war nicht zu sehen, ob die Kundinnen wegen Erich oder wegen seiner Schuhe kamen, denn Letztere hatten, wie ihr Schöpfer auch, gewisse Reize aufzuweisen, Schnörkel an unerwarteten Stellen, welche die Mode der Zwanzigerjahre verfeinerten und der leise aufkommenden Mode der Dreißigerjahre in Deutschland trotzen wollten. In Charlottenburg sagte man, Erich Kupfer pflege die Extravaganz, und Gitte, die ihre Ohren überall hatte, erzählte ihrer Schwester auf dem Weg, dass Lene neulich über den Kupfer hergezogen habe. Er nehme sich Dinge heraus und gehe zu weit, dabei sei doch ein Schuh bloß ein Schuh und in allererster Linie eben zum guten und bequemen Laufen da. Nicht mehr. Linda lachte und fragte, ob das nicht wieder Arnolds Meinung sei, die Lene da vortrage. Ihr täte es gut, mit der Mode zu gehen, unter Mode allerdings verstehe sie eben diese schlichten Hausfrauenkleider und den beigen praktischen Wanderschuh. Und das brave Bubikrägelchen mit Tirolerhütchen. Sollte sie doch, beschlossen die Mädchen, sie würden sich nun dem dernier cri aus Italien widmen, und ehe sie sich’s versahen, standen sie vor Erich Kupfers Schaufenster und bestaunten die roten Glattlederschnürschuhe mit Zierstanzerei und halbhohem Absatz, die hellblauen Raulederpumps mit beigen Zierknöpfen,
die Satinabendschuhe mit Silberriemchen und die Damenpumps aus Schlangenleder. »Du, ich glaub, Gitte, ich kauf mir lieber diese Satinabendschuhe.« Linda deutete auf die Schuhe, die im Fenster spielerisch drapiert waren, einer im anderen. »Der Winter ist doch schon vorbei, was will ich jetzt mit Stiefeln? Und dieses Hellblau!« Eine Weile standen sie da und begeisterten sich für jedes Schuhpaar, bis plötzlich der Besitzer selbst die Tür aufh ielt und sie bat einzutreten. Wenn sie von der Auslage begeistert seien, dann hätte er noch einige Überraschungen für sie im Laden. Beschwingt traten die Mädchen ein, und für einen Augenblick kreuzte sich Lindas mit Erichs Blau, und Gitte sah gleich, würde sie nachher behaupten, wie Erich von Lindas heller und schlanker Erscheinung ergriffen gewesen sei. Kein Wunder, Linda sei ja auch ein Blickfang, der fast jedem männlichen Wesen den Kopf verbiege, bis er sich noch die Halswirbelsäule knicke. Doch dass bei Erich etwas Tieferes berührt worden sei, würde Gitte sagen, ein klein wenig neidisch und seltsam insistierend. Linda trank den Nektar schnell, begierig, die nächste Blume lag schon in der Nähe. Diese Welt hatte viel zu bieten, zu erkunden, zu entdecken – sie war unerschöpfl ich. »Meine Damen, mir scheint, Sie sind unterwegs, um dem Zufall auf die Sprünge zu helfen?« Erichs Gesicht war ernst, und seine Augen lächelten. Linda lachte. »O ja, der hat uns gerade zu Ihnen geführt. Stellen Sie sich vor, gar nicht so zufällig ist das geschehen. Nur könnte es sein, dass wir mit Einkäufen zurückkehren, die wir gar nicht wollen!« »Nein, das kann gar nicht sein.« Erichs Hände spielten mit einem Stück braunen Schuhbands. »Schauen Sie sich doch um.« Die Mädchen streiften durch die Schuhlandschaft, links die Damen, rechts die Herren, erklärte Erich und überließ die beiden ihrem Staunen. Bald jedoch
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konnte er nicht mehr an sich halten, er musste erklären, wo dieses oder jenes Material seinen Ursprung hatte, warum es einzigartig und von einer handwerklichen Vollkommenheit war. Erich erzählte von den Italienern und den Engländern und wie er beide Länder bereist habe, um mehr über die Herstellung zu erfahren. Und Paris, natürlich Paris, hier setzten die grands bottiers die Trends. Einen Schuh nach dem anderen stellte er vor sie hin, gerade so, als wären sie seine besten Freunde, bis Linda ihn unterbrach. »Und Sie, Herr Kupfer, Sie fertigen alle Schuhe allein?« Und Gitte: »Ganz allein? Es sind so viele.« Schuhe allein?« Und Gitte: »Ganz allein? Es sind so viele.«
Leisten, Stanzmesser und anderes Gerät, Stapel von Schuhkartons an den Wänden. Über allem thronte ein Kristallleuchter. Nichts wirkte künstlich an dieser Einrichtung. In Lindas Fingern regte sich ein Kribbeln. Sie schlenderte an den Stoffballen entlang. »Ach, das ist ja eine richtige Künstlerstube, Herr Kupfer, die Sie da haben, während unsereins sich mit der Monotonie der Schreibmaschine quält. All diese Stoffe, sie erinnern mich an Großvaters Geschäft. Haben Sie denn nicht mit ihm zu tun? Josef Müller aus der Goethestraße?« »Ich habe von ihm gehört.« Erich schwieg für einen Moment. »Der beste Tuchhändler weit und breit. Er sollte sich niemals zur Ruhe setzen.«
»Kommen Sie hierher, nach hinten, ich zeige Ihnen meine Werkstatt, von dort geht es gleichsam direkt in den Laden zum Verkauf. Wäre das nicht so, wissen Sie, »Großpapa wird sich nie zur Ruhe setzen«, meinte ich würde zu sehr an jedem einzelnen Stück hängen, Linda, »er liebt seine Arbeit zu sehr.« denn man verbringt viel Zeit mit solch einem Schuh. Es ist wie ein Puzzle, das man sich selbst ausdenkt.« »Sind Sie allein in der Fertigung?«, fragte Gitte. Die Mädchen blickten in die Werkstatt des Schuhkünstlers: ein großer Raum mit hohen Decken, der sich nach hinten hin öffnete, durch die großen, weiß gebogenen Fenster mit ihren Kreuzen fiel das Licht hinein. Eine Tür führte auf eine Terrasse mit Garten, in dem die Frühblüher, Krokusse und Schneeglöckchen, das vom Schnee frei werdende Gras betupften. Auf dem Fenstersims stand ein Kerzenleuchter mit halb abgebrannten Kerzen. Ein Geruch von Schuhcreme und Hyazinthen, die in einem Topf ein rundes Tischchen zierten, durchzog den Raum. Neben dem Tischchen befand sich ein bequemer Sessel, dessen gelblicher Samt an den Armlehnen und Sitzpolstern abgewetzt war. Zeichnungen schmückten die Wände, Berliner Künstler, ein Liebermann, Skizzen von Schuhen, Schnittmuster, eine gerahmte Fotografie einer Bahnhofsuhr, die der Fotograf kniend in die Linse geschoben haben musste. Mehrere Tische und Werkbänke waren zu sehen, eine schwere Nähmaschine, noch eine Schaftnähmaschine, eine Kommode mit unzähligen Schubladen, Werkzeug, Stoffballen, bestickter Stoff, einfache Seide, Leder, Metall, Holz, Schnüre,
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»Ach, ein wenig Hilfe habe ich vom Ewald. Er hilft im Verkauf und übernimmt die Reparaturen, ein zuverlässiger Bursche, der käme auch pünktlich, wenn die Eisenbahn streikt. Aber sonst mach ich zu viel allein.« Erich fuhr mit der Hand über seinen Hinterkopf, für eine Weile hielt er nachdenklich inne. »Herr Kupfer«, sagte Linda, »Sie haben wirklich eine Kunstwerkstatt, ein Atelier. Guck, Gitte, ist das nicht fabelhaft, der Schuh hier, nein, alle betonen sie auf eine Weise das Feminine, die Eleganz.« Sie überlegte, dann blickte sie zu ihm hoch: »Sie müssen Füße gut kennen!« Erich schmunzelte. »Ja, das muss man schon.« »Ich meine, damit Sie überhaupt wissen, wie Sie die Schönheit eines Fußes hervorheben. Es gibt doch auch grässlich dicke, plumpe Füße. Was machen Sie denn mit denen?« Gitte hatte sich hingesetzt, um einen braunen Halbschuh zu probieren. Erich sprang hinzu und hielt ihr
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einen rot-weißen Pumps hin. »Wenn ich mir erlauben du aussiehst! Es ist, als hättest du vorher Senf getradarf, Braun und Schwarz, das ist vorbei. Versuchen gen, und nun plötzlich dieser rote … Pfeffer!« Sie es mit dem, der andere ist nicht für ein Mädchen wie Sie. Wissen Sie, den habe ich für die Normalen »Meinst du?« unter uns gemacht. Das ist ein bisschen ein Garnichts, verstehen Sie?« Er lächelte. »Ja, das ist etwas Besonderes, und der Absatz, die Zwischensohle ist weiß! Wer hat denn so was? Nimm die, »Ach, trauen die sich zu Ihnen, die Normalen?«, fragte Gitte. Nimm sie.« Linda fasste ihre Schwester an den Linda. Schultern, drehte sie in die seitliche Perspektive. Gemeinsam schauten sie in den hohen silbrigen Spiegel, »Inzwischen ja, wissen Sie, die wollen alle was vom der neben Erichs Werkstatt lehnte und nun zwei Mäditalienischen Flair, auch wenn politisch die Fahnen chen mit halblangen Röcken und erregten Gesichtern auf Nation stehen. Aber …«, Erich seufzte, »sie sind zurückwarf. Gitte streckte ein Bein nach vorn, wipohne Hoff nung, die Normalen.« pelte von links nach rechts, und so auf ihren hübschen Fuß konzentriert, entging ihr, wie Erich sich in das »Warum sagen Sie das?«, empörte sich Linda. »Die le- Spiegelbild vertiefte oder in ein Detail auf Gesichtshöben doch auch von der Hoff nung. Tun wir das nicht he, Lindas Nacken oder ihr Haar oder ihren Hals, bealle?« vor sein Kopf anerkennend nickte. »Er sitzt, der Schuh, obwohl ich ihn nach dem Pariser Stich angefertigt »Hoff nung schon, aber sie werden sich nicht retten. habe. Manchmal funktioniert das nicht gut, da ist der Verstehen Sie, liebes Fräulein, diese Art Mensch wird linke Fuß größer als der rechte, und dann muss man sich nicht retten. Die wollen das gar nicht. Lieber zie- Maß nehmen wie ein Schneider.« Erich hatte Gitte die hen sie uns alle in den Abgrund. Aber bitte, ich habe Schuhe abgenommen, verschwand in der Werkstatt, schon zu viel gesagt.« er wollte noch den einen Knopf versetzen. »Wie meinen Sie denn das, Herr Kupfer?« Erichs Blick wanderte in die Ferne, dann zurück zu Lindas Augen. »Sie wollen die Narren nicht mehr nähren.« »Und das muss man?« »Natürlich, das ist der Stoff, mit dem wir …« Erich musste überlegen, Linda sprang in die Lücke: »Nähen, uns zueinandernähen.«
»Lene wird sich freuen«, kicherte Linda. »Sie wird sagen, diese Hoff mann-Mädels, und die Nase wird sie rümpfen. Rote Schuhe, so offen noch dazu, und die Augen verdrehen. Bei Mutter wird sie sich beschweren. Margarete, das ist aber nicht comme il faut.« »Linda, wenn du auch noch Schuhe willst, dann reicht Großpapas Scheck nicht.« Kurz, nur kurz war Schweigen.
»Dann nimm du die roten, sie sind fantastisch, du »Ja, das könnte doch immerhin sein, oder? Wie gefal- musst sie einfach nehmen. Nun bezahl sie schon.« len Ihnen diese roten Bodensetzer?« »Wonach stand Ihnen denn der Sinn?«, wandte sich »Sie sind großartig!« Schwungvoll drehte Gitte sich Erich an Linda. Er kam gerade aus der Werkstatt mit einer kleinen Weichblechdose roter Schuhcreme, die vor dem Spiegel. er in den Karton zu den Schuhen legte, und nahm den »Gitte, du musst sie nehmen. Sie stehen dir. Wie schön Scheck aus Lindas Hand entgegen.
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»Ich hatte die hellblauen Abendschuhe im Fenster gesehen, die gefallen mir, sie gleichen dem Himmel der ersten Frühlingstage. Aber das muss bis zum nächsten Mal warten.« Hastig fügte sie hinzu: »Das macht nichts. Ist nicht weiter schlimm. Nächstes Mal.« »Probieren können Sie doch wenigstens. Ich hole sie Ihnen.« »Nächsten Monat komm ich wieder«, murmelte Linda, sie wollte jetzt nicht mehr. »Und dann probiere ich sie.« Wo sie denn mit diesen Schuhen hinwolle, fragte Erich noch, doch Linda war schon an der Tür, hielt sie halb geöff net, Erich mit den Schuhen, die er aus dem Fenster geholt hatte, beeilte sich, die Tür aufzuhalten, griff nach Lindas Handgelenk. »Sie müssen wiederkommen. Es ist dringend, die Schuhe warten auf Sie.« Er stupste die hellblauen Schuhspitzen aneinander: »Meinst du, sie kommt, Rechts? Bestimmt, Links, sie wird kommen, ganz gewiss wird sie das.«
sie, Geborgenheit für das unruhige Herz. Eine Höhle umgab sie. So fest lagen sie ineinander verschränkt. Seine Innigkeit in ihrer. Die Behausung war klein. Reingeschlüpftes Gefühl. Sie küssten sich. Niemals sollte es aufhören. Es war doch wahr. Die Wachheit hatte ihren Körper längst durchdrungen, die Augen wollten die Bilder nicht loslassen. Ich will nicht, ich schlafe noch, flüsterte sie. Mutters und Gittes Stimmen im Bad. Er und ich, Erich. Sie lachte und schlug die Bettdecke zurück. Schnelle, nervöse Schritte ihrer Mutter. Die Stimmen zogen die Treppe hinunter. Allein möcht ich sein mit meinen Gedanken. Ich träume vom Ausbruch. Nur wie?
Auf dem Weg ins Badezimmer versanken ihre nackten Füße im weichen Läufer. Sie öff nete die Tür zum Badezimmer. Ein kühler Windzug um die Nase. Sie wusch sich flüchtig mit einem Waschlappen, ihr fröstelte, sie lief zurück in ihr Zimmer, schlüpfte in ein Paar helle Hosen und knöpfte die Seidenbluse zu, legDie Mädchen lachten, Gitte gelöst. »Auf Wiedersehen, te die Goldkette um den Hals, ein Anhänger mit einer geöff neten Muschel, eine winzige Perle im Schoß halHerr Kupfer.« tend. Ein kleines Versprechen. Sie liebte diese Kette, Als sie auf die Straße traten, war die Sonne hinter ei- ein Geschenk ihrer Großeltern zur Konfirmation. ner Wolke verloren gegangen. Es sah nach Regen aus. Unten im Esszimmer wartete man bestimmt mit dem Frühstück auf sie. Gitte redete unablässig in Lindas Schweigen. »Ich werde sie gleich Großvater zeigen. Er gibt uns be- Die Normalen sind ohne Hoff nung. Was meinte Erich stimmt noch ein wenig Geld, dann holen wir die hellblau- damit? Gehörte die Welt den Verzweifelten? Was war en. Und wir könnten uns abwechseln mit den Schuhen.« ein normales Leben? Wer waren die Normalen? Sie wollten die Narren nicht mehr nähren. Edith kümLinda sagte nichts. Rot war nicht ihre Farbe, gedan- merte sich um diejenigen, die anders waren. Sie hatte Linda von ihnen erzählt. Besonders plagten sich die kenverloren nickte sie. »Ja, vielleicht.« Frauen, sagte sie, ihre Wünsche hätten keinen Platz, ja nicht einmal passende Worte pendelten zwischen eigener Welt und derjenigen, die sie vorfanden. Es war ein Sonntag Ende April, und Edith hatte ihren Besuch angekündigt. Lindas Nasenspitze drückte Lass mich ungetröstet, mich hingeben meinem Gesich in das Kissen. Schon war das Bild verflogen, fest fühl. Ist es meine Laune, mein Temperament? Oder kniff sie die Augen zusammen. Sie wollte das Bild hal- ist es die Seele, die ruft? Nur wie kann ich ihr folgen? ten. Neben ihr ein Mann, der sie fest an sich drückte. Sie spürte seine Wärme, seine Arme umschlangen In den ersten Kinderjahren, Gitte war etwas mehr als
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ein Jahr nach Linda auf die Welt gekommen und hatte als Zweitgeborene die natürliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen, die jedem Baby geschenkt wird, hatte Linda die Entbehrung mütterlicher Zuneigung vor sich hin gemurmelt. Ihr einziger, sehr heftiger Wutausbruch, als sie verstand, dass dieses Baby nunmehr für immer im selben Haushalt mit denselben Eltern leben würde, war durch die Mutter aufs Heftigste bestraft worden, als unerlaubt, verboten verurteilt. Nicht recht war es, so zu fühlen. Lieben und gern haben müsse man sich, gerade als Geschwister, dies sei wie die Familie besonders wichtig, ließ ihre Mutter häufig vernehmen. Linda hatte ihre Eifersucht vergessen. Doch in ihren Träumen verfolgten sie Wände, die, gerade noch Stein, in Sand zerrieselten und verschwanden wie sie selbst und sie des Nachts in eine Angst führten, die sie erstarren ließ. Morgens wachte sie auf mit der Erinnerung an den Albtraum, der Angst vor dem nächsten und den Fragen, wo sie gewesen war und wie etwas, was vorher da war, verschwinden konnte.
Großvaters Augen hatten gelacht. Mit ihrer Kinderhand hatte Linda über Großvaters schütteres Haar gestrichen und ihn wissen lassen, wie weich es war, so weich und sanft wie Großvater selbst und seine weiche Erzählstimme, und Großvater hatte in seinen Schnauzer gelacht. Großvaters Stimme. Meine Kindheit ist zu Ende, sie wusste nicht, warum sie das dachte. Seid ihr nicht allein? Seid ihr gar nicht allein?, rief es in ihrem Kopf. Wollen und es doch nicht schaffen. Das Wollen war zu klein, keiner da, der es wollte, keiner, der es fühlte. Das Läuten der Schelle holte sie ins Hier zurück. Edith! Die letzten Stufen nahm sie in einem Sprung. »Tante Edith, Tante Edith!«
Mit Hut und Reisekoffer stand Tante Edith im Entree des Hoff mann’schen Hauses, lachte und schloss ihre Nichten in die Arme. Kurze Zeit später standen Ihre Fantasie wuchs zu einem eigentümlichen Ge- auch Ediths Eltern, Elisabeth und Josef, vor der Tür. flecht, in dessen Mitte sie diesen Klumpen, diesen Die Familie setzte sich zum Frühstück an den ovalen Knoten vermutete. Holztisch, um den hellbraune Biedermeierstühle mit gelbem Bezug standen. In einer Ecke tickte die WandAuf der Mitte der Treppe blieb Linda stehen. Durch uhr mit römischem Zifferblatt und goldenen Pendeln. das runde Treppenfenster fiel ein Sonnenstreifen auf die Holztreppe. Staubkörnchen tanzten vor dem Erst jammerte Tante Edith ein wenig über den dunkFenster. Draußen hingen die Morgenwinde in den len finnischen Winter, der nur mit all den Kerzen zu Zweigen der beiden Birken, die auf dem Hof standen Weihnachten überhaupt überstanden werden konnund noch keine Schatten warfen. Früher hatte sie te. Im Sommer schrieb sie, weil es immerzu hell war, sich vorgestellt, hinter dem Fenster liege das Meer, all die Aufsätze und Artikel, die ihr am Herzen lagen. und sich mitten in die wogende See gesetzt, gespielt, Etwas unwirsch fuhr Großmutter dazwischen, Edith sie sei auf einer Schiffsreise, auf dem Weg in unbe- solle sie mit dem Traumgerede als Kern des wahren kannte Welten. Großvater hatte ihr sein Fernrohr Ichs bloß verschonen. Doch auch wenn Großmutter geliehen. Ein verwunschenes, unbewohntes Haus seufzte, schon bald hatte Tante Edith durch ihre elekhatte am Ende eines Pfades gestanden, umgeben von trisierende Art des Sprechens ihre Zuhörerschaft in wilden Sträuchern, die im Sommer Beeren trugen, den Bann gezogen, besonders die beiden Mädchen. Sie Station, vielleicht Ankunft einer Reise. Manchmal brachte so viel Neues in die Familie. Tante Edith, Linwar aus dem Forscher ein Detektiv mit Renommee da fühlte ihre Seele springen, war solch eine Kämpfegeworden, weil er die kniffl igsten Fälle lösen konnte. rin für die Wahrheit. Heureka!, hatte Großvater gerufen, wenn Linda auf seinem Schoß saß und ihm erzählte, wie der weltbe- »Die Weichen sind gestellt«, berichtete Leonhard. rühmte Detektiv den Dieb zur Strecke gebracht hatte. »Hitler hat sich im Februar zum deutschen Staats-
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bürger küren lassen. Letzten Sonntag haben wir Glück gehabt. Da können die Sozialisten noch so sehr jubeln und glauben, dass die NSDAP gestoppt sei. 53 Prozent für Hindenburg, 36,7 für Hitler, das sind die Wahlergebnisse.«
sich seine Pfeife angezündet. »Der Brüning redet immer nur von Inflation, Inflation und lässt seine Mitarbeiter im Wirtschaftsund Finanzministerium ihre Vorschläge nicht verwirklichen. Die Menschen fühlen sich gelähmt, mich wundert das, ehrlich gesagt, nicht.« Das Schlimmste war zu befürchten.
Tante Edith schlug die Hände vor den Mund. »Von wem wollen die Menschen sich regieren lassen?«
»Ach, ist die Stimmung wirklich so miserabel?«
»Vor den Reichstagswahlen im Juli können wir nur zittern«, ergänzte Großvater.
Großvater sagte: »Du machst dir keine Vorstellung. Es ist noch viel schlimmer, als du denkst.«
»Aber Papa«, wandte Tante Edith nun ein, »du wirst doch nicht im Ernst behaupten, dass Hitler eine Chance hat. Was für eine Dummheit!«
Tante Edith erhob sich und schüttelte den Kopf.
»Ich habe Angst, wenn die Mädchen nachts unterwegs sind.« Linda und Gitte, die bisher schweigend Leicht irritiert hob Großvater seinen Blick. In den der Konversation gelauscht hatten, riefen beide: »Ach, Sitzungen seiner Tochter mochten ihre Zweifel und Mama! Du machst dir immer so viel Sorgen. Max und ihr Infragestellen ihre Berechtigung haben, bei Tat- Peter sind doch immer bei uns.« sachen aber, wie sie sich nun offenbarten, gab es einfach nichts zu hinterfragen. Dass Schleicher sich mit »Du wirst es wie Dag machen müssen.« Großvater legte seiner Tochter die Hand auf den Arm. »In ZuHitler zusammengetan hatte, war bekannt. kunft ist Finnland vielleicht der sicherere Ort.« Großvater schenkte sich eine Tasse Earl Grey nach. Ein Duft nach Bergamotte verbreitete sich im Raum. Einst war Dag Sundström als Handelsvertreter einer Im letzten Jahr hatte die damalige Regierung Brüning finnlandschwedischen Papierfabrik nach Deutschland die Arbeitslosenhilfe gekürzt, ein weiteres Mal, in geschickt worden. Tante Edith hatte er bei einem Empder Meinung, durch Preis- und Lohnsenkungen das fang der russischen Botschaft kennengelernt, und in Wachstum ankurbeln und Deutschlands Exporten eine Ehe mit ihm hatte sie eingewilligt, nicht nur weil zu mehr Nachfrage verhelfen zu können. Eine Bes- er ihr die Unabhängigkeit bot, die sie brauchte, sondern serung der Lage war nicht in Sicht. Jeder Zehnte war weil er ein zärtlicher Kamerad war, der sie für das achteohne Arbeit. Im Land herrschten Verunsicherung te, was sie war. Die verheerende deutsche Wirtschaftsund Verzweiflung. Nichts war mit dieser Schuster- politik führte jedoch dazu, dass Dag die Vertretung politik planbar, die so gar nicht im demokratischen schloss. Die Wahrheit aber war, dass er als überzeugter Geist angekommen war, sondern am liebsten die Liberaler mit dem Hierarchiedenken der Deutschen Rückkehr zur Krone durchgesetzt hätte, was an nicht zurechtkam. Und obwohl er über ein großes Maß den zahlreichen Notverordnungen erkennbar war. an diplomatischer Klugheit verfügte, hatte er gespürt, Die Politik des Kabinetts Brüning war eine einzige wie er mit seinen Anschauungen zunehmend auf WiKastration, nichts Lebendiges, Zugkräftiges, Initiie- derstand stieß und auf ein Besserwissertum, das ihm rendes ging vom staatlichen Handeln aus, so sah es zutiefst zuwider war. Die Septemberwahlen schließlich Großvater, und der war Unternehmer. hatten Dag verdeutlicht, dass in Deutschland keiner die Republik wirklich wollte. Ausländische Investoren zo»Der Brüning tut so, als wäre John Maynard Keynes gen ihr Kapital zurück, Dag hatte seinen Wohnsitz nach hier nie auf Vortragsreise gewesen.« Großvater hatte Helsingfors verlegt, Edith war ihm gefolgt.
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»Edith, hast du jemals nachgegeben?«, fragte Großvater, und alle lachten. »Eines will ich einräumen, es stammt nicht von mir: Die Menschenbestie braucht vor allem Bändigung.« »Deutschland unter Hitler wird nicht zu bändigen sein«, murmelte Großvater, sodass nur Edith es hörte. Und plötzlich sah Großvater alt und erschöpft aus.
Als es Mai wurde, griff das Leben nach Linda. Aus dem Fenster der Grubers wehte die Hakenkreuzfahne. Das Haus war bereits beflaggt, auch wenn erst übermorgen das Fest der Arbeit war und nicht mehr so hieß. Über den Asphalt klirrten Eisenschläge im Rhythmus des Gleichschritts. Der 1. Mai war ein nationaler Feiertag des deutschen Volkes geworden. Der Propagandaminister ließ am Lustgarten aufmarschieren wie die Jahre zuvor, als die Gewerkschaften gleichgeschaltet worden waren, zusammengeschlagen von der SA, wie am Schnürchen war es damals gelaufen, notierte Joseph Goebbels. Hitler beschwor die Volksgemeinschaft. Spätabends explodierte das riesige Feuerwerk in einem Deutschland, das den Lebenskreislauf, den Frühling bejahte. Gigantisch. Zahlen und Maschinen waren neben dem Sport, der deutschen Frau, dem deutschen Mann die großen Ideale, mit Ehrgeiz konnte jeder etwas werden. Ja, auch Arnold war aufgestiegen, war endlich in seinem Element. Er wusste, wo’s langging, und hatte viel zu tun. Am Revers steckten Parteiabzeichen, die Schuhe waren gewichst. Neuerdings arbeitete er in der Abteilung Personal. Nichts schien ihn mehr zu begeistern als seine Kinder, die etwas dicklich und plump wirkten, vom Vater daher zum Fußball und Turnen angehalten wurden und von der Mutter zum Liedersingen. Hier wie dort schallte das Horst-Wessel-Lied, und es gab keine Stimme, die entgegenhielt, keine, die sich mehr traute.
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Edith meinte zu verstehen, doch sie wollte eben nicht an den Sieg der Unvernunft glauben.
Wäre Großvater hier, hätte Linda sich neue Schuhe kaufen können, zum Tanzen. Aber sie musste nun wieder die alten tragen, und Gitte hatte natürlich die schönen roten von vor zwei Jahren. Letztes Jahr hatte sie schon die abgewetzten schwarzen Schuhe getragen, die vorne ganz grau aussahen. Gitte könnte ihr ja ihre leihen, aber ihre Füße waren größer. Es war ein Witz gewesen, als sie sagte, sie könne sie leihen; sie hatte es gesagt, weil sie wusste, dass sie ihr nicht passten. Es war leicht gewesen, das zu sagen. Selbst wenn sie die schwarzen Schuhe in Tinte tauchte, sähen sie schäbig aus, und sie würde sich unwohl fühlen und dann linkisch sein, und kein Mann würde sie auffordern, und sie müsste mit ansehen, wie Gitte sich mit jedem Horst drehte. Linda biss die Zähne zusammen, die Backenknochen wurden sichtbar. Ich schaffe das. Allein. Und sie sollte nicht missgünstig sein, sei mutig stattdessen, sagte sie zu sich und schlich aus dem Haus, weil sie mutig sein wollte. Energisch marschierte sie die Grolmanstraße hinunter. Von Weitem sah sie einen Mann vor dem Schaufenster in der Nachmittagssonne stehen, und plötzlich tat ihr Herz einen Sprung. Sie blieb stehen. Die Ärmel seines Hemdes waren hochgekrempelt, er war in die Auslage seines Ladens vertieft. Linda blieb stehen, sie könnte umkehren, dann setzten sich ihre Füße langsam in Bewegung, und mit einem Mal stand sie neben Erich. »Na, so was!«, rief Erich, und schwups war Linda in seinen Armen, so schnell ging es, dass weder Linda noch Erich es richtig begriffen. Begehren lässt sich nicht beherrschen. »Haben Sie Angst?« »Ja, diese Unruhe in einem. Diese schreckliche Unsicherheit. Ja, natürlich habe ich Angst. Riesengroße Angst sogar. « »Ich dachte, Sie kämen gar nicht mehr, um mich mit Ihrem Lächeln zu trösten. Verwirrt ließ Erich Linda los, trat zurück und betrachtete sie. »Sind die blauen Schuhe noch da?«, fragte Linda, blies
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eine Strähne aus der Stirn und dachte sich ihre roten Wangen weg. »Und ob! Nur auf Sie gewartet haben sie.« Erich lächelte Linda an, die auf einmal da war.
jenigen, die sich nicht entscheiden können, die nehmen auch den nicht. Die sind meist einfach zu geizig, überhaupt Geld für schöne Sachen auszugeben. Die gehen unverrichteter Dinge wieder. Daran erkennt man ihre Lebensführung. Ewige Haderer. Anstatt auf den Tisch zu hauen. So, den nehme ich jetzt, und basta.«
»Wirklich? So lange?« »Sind denn alle eitel, die zu Ihnen kommen?« »Ich habe es Ihnen doch versprochen.« Linda staunte über diese Verlässlichkeit, über diese unbekannte, ihr geltende Treue. Ein Stück ihrer alten Fröhlichkeit breitete sich aus, mischte sich mit einer Regung, die hoch hinauswollte.
»Alle ausnahmslos, jeder auf seine Art. Der eine weiß es nur besser zu verbergen als der andere, und die Männer sind sehr von sich eingenommen, mehr noch als die Damen.«
»Nicht jeder weiß immer, was er will. Sie wissen es, »Wollen Sie noch einmal reinschlüpfen?« Erich hat- nicht wahr?« te die Schuhe aus einem Schrank geholt und hielt sie, klipp, klapp, vor Linda hin. Linda blieb vor dem langen Spiegel stehen. Aus der Werkstatt ertönte Klaviermusik. Sie klang wie sich »O ja, sehr gern. Sie sind immer noch genauso schön, nähernde Schritte. Herr Kupfer.« »Versuchen, versuchen muss man, herauszufinden, »Sie sind für Sie gemacht, schauen Sie, wie Wellen um was man in diesem Leben sein kann. Kommen Sie, ich den Schiffsbug schmiegen sie sich an Ihren Fuß. So zeige Ihnen meine Stoffe. Riechen Sie an ihnen.« muss es sein. Sie stehen im Wasser der Südsee.« Erich zog Linda in sein Reich hinter der Ladentheke: »Mit den Füßen auf dem Sandboden, das spüre ich, italienisches und spanisches Leder, vom Pferd und hier ist es ganz weich. Wie bin ich nur in diese Gefilde vom Schwein und Chevreauleder für die Oberseite, gekommen?« Boxcalf Leder für die feinen Herrenschuhe, glattes und raues Leder, französische und indische Seide und »Das liegt am Leben, manchmal öff net es Fenster für Zwirn, überall Rollen von Zwirn in allen Farben. Erich uns.« hielt Linda einen dunkelroten Seidenstoff unter die Nase. Die Klaviermusik kam von einer Schallplatte, die auf einem Tischchen unter dem Fenster kratzte. »Gucklöcher in die Welt, ja?« Sie näherte sich, wollte ganz nah sein, dann zogen Linda streunte durch den Laden, begutachtete jeden sich die Töne wieder zurück, wurden wieder leise. Schuh. Erich erkundigte sich nach Gitte. »Den muss man mit feinen Geräten bearbeiten, der ist »Der hier ist lustig.« Linda hob einen bunten Schuh sehr empfindlich. Er reißt leicht und muss von Wasser ferngehalten werden.« mit hohem Absatz vom Regal. Gitte. »Das ist der Confetti-Schuh, der ist für Persönlich- Linda grub ihre Nase in die Seide. Ein bekannter Gekeiten, die sich nicht entscheiden können. Wobei die- ruch. Sie schloss ihre Augen, atmete tief in das zarte
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Tuch, und auf einmal war sie wieder da, im Haus der Kindheit. Stimmengewirr drang an ihre Ohren, das Geräusch der Schere auf dem Tisch, wenn der Stoff zerschnitten wurde, knack, knack, grüne, gelbe, rote, gemusterte Stoff fetzen und Fäden segelten hinunter, fl atterten unter den großen Holztisch, willkommene Gäste für Linda. Sie saß unter dem Tisch und sammelte Stoff fetzen, Fäden, Knöpfe auf, sortierte sie, ordnete sie zu neuen Mustern an, legte sie hier- und dorthin, sammelte gelbe und weiße Fäden in ihrer Hand. Da ratterte die Nähmaschine, und Großvaters leise, ruhige Stimme erzählte von der Besonderheit und der Beschaffenheit jedes einzelnen Stoffs. Keiner ist gleich, nie, Linda. Großvaters Lupe schwebte über der Textur, Kinderfinger wanderten über das Gewebe und fühlten, was Großvater vielleicht fühlte, was Linda fühlen mochte, weil Großvater glücklich und ergriffen aussah, während er erzählte, mit seiner übergroßen Freundlichkeit und Ruhe. Großvater.
»Vielen Dank, Herr Kupfer, das war nett. Ich muss jetzt gehen, ich habe völlig die Zeit vergessen. Man wartet mit dem Abendessen auf mich.« Linda lachte, schob eine Haarsträhne hinter das Ohr, ihre Hand langte zum Türgriff. »Linda?« »Sie wissen ja noch meinen Namen!« Linda drehte sich zu Erich, der in ein verstörtes Gesicht blickte. Er war ebenfalls zur Tür gegangen.
»Ich lasse Sie nicht mehr gehen. Schließlich habe ich noch keinen Namen für diese Augen und auch für dieses Haar nicht, das sich offenbar für keine Richtung entscheiden will. Was halten Sie davon, morgen ist Tanz in den Mai in Mitte? Gehen Sie mit mir dorthin, ich möchte Sie tanzen sehen. Wer weiß, wie lange wir das noch können«, fügte Erich leise hinzu, als ob er Linda nahm die Nase aus dem Stoff, den Erich ihr hin- sagen wollte, sag nicht Nein. Seine Hand, die in Lingehalten hatte. Sie holte tief Luft. Und Erich, der Lin- das Haar wollte, streifte ihren Ellenbogen. da beobachtet hatte, wie sie der Musik zuhörte oder mit ihren Gedanken an einem Ort war, wo er nicht war, sagte: »Das ist Schubert. Seine kleinen Stücke, sie rieseln auf einen nieder, hören Sie.« Am nächsten Abend waren Linda und Erich am Blumenladen an der Ecke verabredet. Während des TaRuckartig legte Linda den Stoff auf den Schneidetisch. ges hatte eine frische Brise geweht, der blaue Himmel hatte sich mit Wolken abgewechselt wie an einem »Ich mag diese Schuhe, aber ich nehme sie nicht. Jetzt Tag am Meer. Frisch war es, doch der Sommer stand nicht und vielleicht nie.« schon in Sandalen. Vogelgezwitscher und Blütenstaub erfüllten die Luft. Die Menschen auf den StraEin kaum merklicher Zorn hatte sich in Lindas Stim- ßen und in den Geschäften waren in freudiger Stimme geschlichen, der Erich überrascht aufblicken mung wegen des bevorstehenden freien Tages, an ließ. Energisch setzte sie sich auf einen der Schemel, dem sie dem Alltag entfl iehen konnten und für den ein letzter Blick auf die Füße, sie beugte sich her- sie Verabredungen für Ausflüge, Picknicks, Spazierunter und öff nete die Silberschnallen, stand auf und gänge und andere Bummeleien getroffen hatten. Für streckte Erich die Schuhe entgegen, drehte sich um. die Nazipropaganda war dieser Tag Anlass, die DeutDas hat keinen Sinn, bilde dir nichts ein. Erich nahm schen und ihre harte Arbeit zu loben, Menschen zum die Schuhe entgegen, verwundert über Lindas abrup- Festzug zu verpfl ichten. Am morgigen Tag, diesem ten Sinneswandel, ging zur Ladentheke, verstaute die 1. Mai, könnten sie, sollten sie stolz sein. Die anderen – Schuhe im Karton, legte den Deckel darüber und ließ sie gingen. Jeden Tag packte ein anderer seine Sadie Schuhe unter der Theke verschwinden. chen. Sie gingen nach Amerika oder Palästina, nach
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Frankreich oder in die Schweiz, entflohen dem Ge- ten. »Herr Kupfer, mir geht es nicht so gut heute, wisflüster, der Angst oder verschwanden einfach, wohin, sen Sie, mir geht es schlecht.« Bei ihnen half zuweilen eine Ablenkung, eine interessante Beobachtung, die wusste man manchmal nicht. ihm einfiel, manch einer verließ in anderer LauErich hatte einen Strauß Maiglöckchen besorgt. Er ne seinen Laden, und das freute Erich. So wusste er, steckte seine Nase in die Schattengewächse mit dass er nicht nur Schuhe verkauft, sondern etwas von ihren schwingenden Perlen, die diesen unerhörten Wert mitgegeben hatte, für eine Erinnerung, einen Duft verbreiteten. Auf seinem Gesicht breitete sich Halt im schweren Gedankenstrom dieser Menschen. ein Lächeln aus. Der Strauß senkte sich und drehte sich linksherum und rechtsherum. Als Schuhhänd- Schließlich waren da die Überheblichen, die einen ler, auf seinen Reisen und während seiner Arbeit in laut, die anderen leise, verbunden durch ein Wisder elterlichen Fabrik hatte Erich die Menschen stu- sen zu wissen und ein Bedürfnis zu missionieren, diert und beobachtet, all die Menschen, die in seinem ihre einzige und allein selig machende Botschaft in Laden ein und aus gingen. Sofort wusste er, wen er die Welt tragend. Sie stellten sich über alle anderen vor sich hatte: die fordernd Strengen, sehr Genauen, und taten doch so, als ob sie es nicht täten. Sie spraunter ihnen manch ein Netter, den ein Scherz zum chen von der gemeinsamen Sache, waren dabei den Lachen bringen konnte, ein anderer war durch den Strengen nicht unähnlich, von Deutschland redeeigenen Anspruch und Selbstentzug verbiestert, da ten sie wie von einem Heiligtum, welches unter der half kein freundliches Wort. Die Redseligen in allen Mitwirkung und dem aktiven Einsatz aller über alle Varianten, solche, die redeten, weil sie einsam waren, Standesgegensätze hinweg gezimmert werden müsse. sie neigten dazu, sich zu wiederholen: »Herr Kupfer, »Herr Kupfer, verstehen Sie? Gezimmert!« Nebeneiich habe meine Pflicht getan.« Ja, sie trugen ihr Päck- nander sollten sie marschieren, der höhere Beamte chen, dehnten ihren Besuch aus, mochten sich nicht neben dem Angestellten, dem Willen des Führers und trennen vom lebensfrohen Erich, und solche, die mit Deutschland dienend, so musste es sein, so würde es ihrem Lachen und Sprechen etwas verbergen und sein, und mit einem »Heil Hitler« verließen sie den gleichzeitig offenbaren wollten und hofften, in Erich Laden. Natürlich registrierten sie, dass Erich diesen einen Verbündeten zu finden, damit es in ihrem In- Gruß nicht erwiderte, sondern er freundlich nickend neren ein wenig wohlig würde. Die unbeschwert Plau- an seiner Ladentheke stehen blieb und keiner seiner dernden und die hoffnungsvoll Neugierigen stimm- Füße ihn dazu bewegte, zur Tür zu springen. »Der ten Erich munter, sie waren ihm die liebsten Kunden. Kupfer, er wird sich noch umschauen, lang geht das Ihre Stimmung trug er am längsten in seinem Vor- nicht mehr gut. Haben Sie gehört, er hat nicht geratsschrank, und es konnte passieren, dass er abends grüßt. Auf den ist kein Verlass.« im Bett ins Schmunzeln geriet, weil ein Witz oder etwas Gelungenes sich wieder zeigte, das die Zwang- Bald eine Stunde stand Erich nun schon am Blumenladen mit viel Zeit, sich über die Frauen zu wundern, losigkeit dieser Menschen mit sich brachte. die er nie verstehen würde, sich zu ärgern und zu Jede Menge mürrischer Gesellen gab es natürlich, die bekümmern und enttäuscht zu sein. Wie ein unzusich durch die Routine und Mühsal des Lebens hatten verlässiges Mädchen wirkte sie nicht. In der Hand die unterkriegen lassen und sich durch überhaupt gar hellblauen Satinschuhe, in der anderen den Strauß, in nichts aufmuntern ließen. Diesen reichte Erich meist seinem Kopf eine Unzahl Gedanken. Wüsste er nur, einfach nur die Schuhe und sagte »Auf Wiedersehen«, wo sie wohnte, er würde klingeln. Ach, abholen hätobgleich er sich gar nicht sicher war, ob er das wollte, te er sie sollen, wie es sich gehörte! Sie waren doch sie wiedersehen. Ferner waren da die traurigen Ge- hier verabredet? Gab es denn einen weiteren Blumenstalten, deren Gedanken ihr ganzes Sein beschwer- laden? Die Uhrzeit? Hatte er sich die falsch gemerkt,
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Dort stand sie, blickte sich suchend um und war sichtbar außer Puste. »Fräulein Hoffmann!«, rief er und winkte wie wild, und er meinte, sie sah ihn, sie zog sich in einen Hauseingang zurück. Versteckte sie sich? Erich war schnell und hatte sie an ihrem Arm erwischt – wo sie denn nur geblieben sei? Ein Blick in ihre Augen ließ ihn die Antwort nicht abwarten, was spielte es für eine Rolle? Jetzt war sie hier, und er reichte ihr erst den Strauß mit einer leichten Verbeugung und dann die Schuhe. »Kommen Sie, die Musik erwartet uns. Ich bin der Erich.«
men, denn Kopfschmerzen plagten sie und Übelkeit, und die Mandeln hinten in der Kehle fühlten sich schwer und dick an. »Ich fühle mich wie ein Klumpen«, begann Linda das Gespräch, stockte und schwieg. Als Dr. Ruben fragte, woraus so ein Klumpen bestehe, liefen Tränen über Lindas Gesicht. Sie erzählte von Erich, von ihrem schönen Abend, dem Tanz und den Abendschuhen, die er ihr geschenkt hatte, einfach so, ihr, und wie glücklich sie sich fühle, wie nie. »Dr. Ruben, ich wusste nicht, dass das möglich ist. Ich hab es nicht gewusst.« Linda weinte und weinte und schüttelte den Kopf. »Och, Kindchen, Sie sind doch noch so jung.« Seit Linda denken konnte, war Dr. Ruben ihr Hausarzt gewesen. Er hatte sie und Gitte besucht, wenn sie mit Fieber und Windpocken im Bett lagen, und sie durch seine Anwesenheit gesund gemacht. Und dort saß er nun, Dr. Elias Ruben, und betrachtete Linda, den Kopf leicht zur Brust geneigt.
Linda verbrachte eine Nacht, wie sie sie noch nicht erlebt hatte. Sie flog, flog endlich wieder, die Füße im hellblauen Wasser und ihre Augen in Erichs. Auf der Welle nächtlicher, verschwenderischer Maitöne jazzte und swingte und lachte es, wirbelte und drehte es sich – letzte heimliche Stunden ungehemmten, unbeschwerten, ausgelassenen Daseins. Mit Überschwang und Übermut tanzten Linda und Erich in ihren 1. Mai, mit Eleganz und Lässigkeit, sich ihrer Freiheit sicher.
»Ach ja.«
Jetzt bin ich zu Hause, flüsterte die Stimme.
»Warum sagt er denn nichts?« In Rubens Gesicht spiegelte sich das Wissen über das Leiden in der Liebe.
Und dann kam alles anders.
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vor lauter Aufregung, vor lauter Freude? Lange hatten sie sich nicht gesehen, sie war ihm geblieben wie ein Seelenrausch. Ihren Gesichtsausdruck hatte er nicht vergessen können, dieses kindliche Erschrockensein genauso wenig wie ihre ansteckende Fröhlichkeit. Allmählich senkten die Maiglöckchen ihre Köpfe, Erich hatte sie mit einem alten nassen Stück Zeitung umwickelt. Schon hatte er einen Fuß in der Bahn, vielleicht hatten sie sich missverstanden, und sie erwartete ihn beim Tanz, da kehrte er, einer Intuition folgend, noch einmal um, bog in hastigen Schritten in die Straße zum Schuhladen.
»Was passierte denn nach Ihrem Tanz?« Linda schluckte und putzte sich die Nase. »Er hat sich nicht bei mir gemeldet, stellen Sie sich das einmal vor. Seit drei Wochen nicht!« Dr. Ruben schaute sie an, schwieg.
»Das Schweigen ist der Liebe keusche Blüte.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Mein liebes Kind, Sie sind verliebt.« Sein Kopf nickte.
Linda klingelte an dem silbernen Messingschild unweit ihres Wohnhauses, auf dem »Praxis Dr. Ruben« »Verliebt? Nein, auf keinen Fall, ich bin nur … verwirrt. zu lesen stand. Den Vormittag hatte sie freigenom- Ja, das ist alles.«
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»Beruht es denn, meinen Sie, auf Gegenseitigkeit?«
»Wie geht es denn Ihren Verehrern?«
»Wie bitte?«
Linda wandte den Kopf ab. »Ich kann nicht sprechen. Nichts Kluges. Es kommt nichts raus.«
»Dieser Zustand, den Sie Verwirrung nennen, beruht er auf Gegenseitigkeit?« »Ich weiß nicht, ich glaube schon, ach, ich weiß es nicht, vielleicht auch nicht.« »Ist es ausgesprochen?«
»Aber muss es denn immer klug sein?« »Aber doch auch nichts Dummes!« »Und was wäre in diesem Fall dumm?«, fragte Dr. Ruben interessiert und beugte sich über den Schreibtisch.
Linda schüttelte vehement den Kopf. »Nein. Niemals. Die Frauen, sie stehen Schlange bei ihm!« »Ach so?«
»Ich, ich weiß nicht. Mir fällt nichts ein. Mein Kopf ist leer. Und wenn ich abends im Bett liege, ist alles voll von Wörtern und Sätzen, die ich ihm sagen möchte. Dann bin ich wach, so wach, dass ich nicht schlafen kann, und morgens bin ich todmüde.«
»Er kann sie sich aussuchen.« »Und das haben Sie ge- »Schlechter als jetzt kann es Ihnen nicht gehen. Wolsehen?« len Sie denn nicht einmal in seinem Laden vorbeischauen, es kann sich ja gerade ergeben, wenn Sie »Das sehe ich hier.« Linda tippte sich an die Schläfe dort zu tun haben?« und richtete ihren Blick auf Dr. Rubens warme Augen, die ein dichtes Buschwerk säumte. Entgeistert schaute Linda ihn an, nein, nein, das kommt nicht infrage. »Die Einzige, die über Herrn Kupfer schlecht redet, ist Lene Gruber. Sonst schwärmen sie alle für ihn. Alle. »Und wenn Herr Kupfer sich ebenfalls nicht traut? Aber natürlich kauft Lene trotzdem ihre Schuhe bei Was dann, Linda?« ihm, weil sie ihn im Grunde doch auch toll findet und bewundert.« »Aber er ist doch sicherlich so …« »Und Sie, wenn ich Sie richtig verstehe, wollen nicht zu diesen Schwärmerinnen gehören.«
»So was …?« »Erfahren in solchen Dingen?«
Linda schüttelte energisch den Kopf. »Warum nicht?«
»Da kann ich Sie schwer beruhigen, in solchen Dingen, wie Sie es nennen, bleibt man immer und stets ein Anfänger.«
»Ich kann nicht, und ich will auch nicht.«
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»Sie wollen nicht?«
Dr. Ruben zupfte an einem Barthaar und lehnte sich wieder in seinen Ledersessel.
»Nein!«
Linda überlegte.
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»Nur wie, nur wie?« Dr. Ruben schwieg. Alles, was er vorschlagen würde, würde sie erschrecken, aber dann, er war ein Mann voller Leben und Tatendrang, platzte es aus ihm hervor: »Sie werfen sich ins Blaue und treffen ins Schwarze. So machen Sie’s.« Und haute mit der flachen Hand auf den Tisch.
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»Es gibt doch nur zwei Möglichkeiten: hinnehmen und weiter warten«, Elias Ruben machte eine Pause, »und dann bliebe die Möglichkeit, etwas zu tun, sich hineinzuwerfen ins Blaue.«
Dr. Ruben stand auf und verschwand in einem Nebenzimmer. Ein leises Klappern von Glas war zu hören, Lindas Bauch grummelte. Sollte sie? Was sollte sie? Wie sollte sie? Letztes Mal, genau, da war sie in seinen Laden gekommen. Dr. Ruben stand wieder in der Tür, mitten in Lindas Gedankenkarussell, reichte ihr ein braunes Fläschchen und ließ sich mit einem kaum hörbaren Seufzer in seinen Sessel fallen. »Drei Tropfen ins Wasser und ordentlich umrühren. Sie nehmen drei Schluck, den Rest schütten Sie weg. Das Glas gut mit Seife ausspülen. Am nächsten Tag noch einmal. Wenn es besser wird, hören Sie auf. Alles Gute.«
»Mit Ihnen kann man ja Pferde stehlen gehen, Dr. Ruben.« Auf dem Weg nach Hause, vorbei an dem betörenden Duft der Junilindenblüten entlang der Promenade, »Vielleicht wartet er auf Sie. Vielleicht hat er auch spürte Linda, wie sich in ihr, mitten im Zentrum ihrer schon längst gefunden, was er begehrt.« Weiblichkeit, ein Punkt sammelte, Licht sich konzentrierte und sich die Traurigkeit langsam wegwusch. »Ich würde alles geben, Dr. Ruben, verstehen Sie? Mein ganzes Herz. Mein ganzes Sein. Alles.« Tags darauf schob sich ein Brief unter der Ladentür des Schuhladens Kupfer hindurch. Der Tag hatte kaum zu dämmern begonnen, am Horizont zogen »Und das wäre verkehrt?« rosafarbene und gelbe Streifen, die Amseln, Stare »Ja! Ich wäre weg, verschwunden, disparue dans la und Singdrosseln hielten ihre Morgenandacht, und nuit.« Linda sog den Duft des Tages in sich hinein. Erleichterung und auch ein wenig Stolz spürte sie jetzt, auf»Etwas von seinem kindlichen Stolz und dieser geregt eilte sie zum Bahnhof Charlottenburg, ergatÄngstlichkeit aufzugeben, seine Person in die Waag- terte einen Sitzplatz in der Bahn und betrachtete schale zu werfen kann nie verkehrt sein. Soll ich Ih- die Welt aus dem Fenster. Als sie eine halbe Stunde nen was sagen?« später am Bahnhof Alexanderplatz ausstieg, fiel ihre Stimmung hinab in einen Graben, in ihr brach ein Linda schaute Dr. Ruben zweifelnd an. Gefühl der Panik aus. Was hatte sie getan? Was hatte sie nur getan? Sie schimpfte sich nacheinander eine »Sie schämen sich. Scham, man nennt es Scham, Idiotin, eine Wahnsinnige, eine Närrin. Was für eine Peinlichkeit. In der Tat ein unangenehmes Gefühl, dumme Dummheit. Als Frau einem Mann einen Brief aber es geht vorüber, einmal überwunden, werden Sie zu geben, was würde Erich von ihr denken? Was würgnädiger sich selbst gegenüber sein. Das sagt Ihnen de ihre Mutter sagen? Peinlich, es ist Ihnen peinlich, ein alter Mann. Und er sagt Ihnen noch etwas, aus würde Dr. Ruben sagen. Als Linda an ihrer Schreibseiner langjährigen Erfahrung. Es gibt nicht viele maschine Platz genommen hatte, verschwammen Menschen, die sich schutzlos ausliefern und danach die Buchstaben vor ihren Augen. Mehrmals erhob wieder aufstehen können. In Ihnen aber wohnt diese sie sich und verschwand Richtung Bad. Reiß dich Kraft. Nun gebe ich Ihnen etwas mit.« zusammen, fuhr sie ihr Spiegelbild an, kämmte ihr
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Haar zurück, warf sich einen wütenden Blick zu, trat Warum fragte Erich sie nicht, ob sie wieder einmal aus der Tür und schritt entschlossen zu ihrem Ar- tanzen gingen? Sollte sie ihn fragen? Sollte sie, sollte sie nicht? Er musste sie doch fragen, nun hatte sie beitsplatz zurück. ihm doch schon geschrieben, als Erste. Er musste es »Alles in Ordnung, Fräulein Hoffmann?«, fragte Frau tun, sie fragen. Segewiß. Ach, so ist das! Ich habe gemacht, wie Du es gesagt Linda nickte. Wie gern hätte sie ihr von ihren Gefüh- hast, und sie angezogen. Nun sind sie still und ganz len erzählt, dieser dicklichen Mama, aber Frau Sege- zufrieden. Und Du? L. wiß war so ungefähr die Letzte, mit der Linda sprechen mochte, denn wusste es Frau Segewiß, wusste es Ich arbeite so vor mich hin und schlage mich mit Kunden herum, die manchmal nett, oft aber auch doof gleich das ganze Büro. sind. Du weißt, wie wichtig sich manche Menschen Deshalb klagte sie nur über heftiges Kopfweh. Und nehmen. Mümmel findet das nicht lustig. E. Frau Segewiß, die gern lang und ausgiebig klagen konnte, fiel ein ins Lamento, beugte sich tuschelnd Wer ist Mümmel?, fragt Linda. vor: »Fräulein Hoffmann, ich sag’s Ihnen, das ist das Wetter. Bei mir drückt’s auch. Hier, hier an den Schlä- Mein Kundenbeobachter neben der Kasse. E. fen. Und da, da drückt’s och«, und Frau Segewiß hielt Stellst Du ihn mir einmal vor? L. sich ihr Herz und nickte. Erichs Antwort kam am nächsten Tag. Ein weißer Brief mit schwarzer Schrift lag an ihrem Platz auf dem Esstisch. Kein dicker Brief. Aber ihr Name stand darauf, und den schaute sie an, gründlich, bevor sie den Umschlag aufriss und in ihr Zimmer stürmte und Erichs ersten Brief an sie las. Liebe Linda, na, so was, da habe ich mich aber gefreut, als ich heute Morgen über Deinen Brief stolperte. Danke – ein jeder Morgen könnte mit Deinen Worten beginnen, das wäre nach meinem Geschmack. Erich Die Abendschuhe in Himmelblau hängen an einem Haken in meinem Zimmer und lächeln mich an, wenn ich aus der Tür hinausgehe. Am Abend sind sie manchmal verärgert, sie meinen, ich hätte zu wenig mit ihnen geredet und wäre nur aufmerksam für die Amsel, die mich täglich besucht. Ich weiß nicht, warum sie sich beschweren. Weißt Du’s? Linda Liebe Linda, natürlich, das ist doch sonnenklar, sie wollen getragen, nicht angestarrt werden, sie lächeln und hoffen Dich an. Erich
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Natürlich, er wartet hier auf dich, um Dir Guten Tag zu sagen. Erich. Es redet so viel in mich hinein, schrieb Linda eines Tages. Dann gibt es nur eine Möglichkeit für Dich, schrieb Erich zurück. Und die wäre, Herr Klug? Du musst aus diesem inneren Reden etwas machen, es muss sich im Außen ausdrücken. Vielleicht malen. Vielleicht schreiben. Vielleicht unterrichten oder helfen, Abstand gewinnen. Erich. Erichs Antworten erwarteten Linda fortan fast täglich, kurze Sätze, die in Linda widerhallten und sie zurückschreiben ließen. Bildreich kultivierten Linda und Erich eine flirrende Telegrammsprache, die zuweilen auch direkt fordernd den Zwischenraum füllen wollte, jeder mit einem »Zeig dich« gewappnet. Mit Lust an Provokation und Spiel erfanden sie ihre Sprache und ihren Rhythmus.
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Reichsinnenministerium. Zu seinen Aufgaben gehörten: Bevölkerungspolitik, Kriminalbiologie, Erb- und Rassenpflege, Irrenwesen. Nachdenklich blickte Linden auf die hohe Stirn seines Kollegen und setzte ein Ja, das ist schrecklich, schrecklicher als schreck- Lächeln auf, bevor er erklärte, leise, fast beruhigend, lich. Du Armes. Ich brauche hier jemanden, der mir dass seine Perspektive, die Perspektive der Hygiene, im Laden hilft, ein bisschen mit mir plant. Jemand, eben das Ziel erreiche, das der Herr Oberdienstleiter der flink rechnen kann, der auch ein wenig Englisch anstrebe. Sparpläne gebe es bereits seit Längerem bei und Französisch spricht und überhaupt die Herzen den Hoffnungslosen, den chronisch Kranken. Das sei nichts unbedingt Neues, fügte er erklärend hinzu. gewinnen kann. Kannst Du Dir das vorstellen? E.
Erich, Lieber, ich möchte nicht mehr Sekretärin sein. Ich habe das nie gewollt. Es ödet mich an. Kannst Du das verstehen? Linda
Brack seufzte, nahm die Brille ab, rieb sich die graugrünlichen Augen, bevor er die Brille wieder aufsetzte und noch einmal sein Sparprogramm erläuterte, »Mit Verlaub, Herr Dr. Linden, ich bin Ökonom.« Vik- das im Zentrum des nationalsozialistischen Wohltor Brack fuhr sich mit einer Hand durch das hell- fahrtsstaates stand. blonde Haar, machte eine Pause, bewusst, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, um sich zu ver- »Die Anstalten müssen noch mehr zusammengelegt gewissern, dass sein Gegenüber die Bedeutung des werden und insgesamt mehr Kranke aufnehmen. Alle Gesagten verstanden hatte, ganz und gar. Beiläufig müssen den Gürtel enger schnallen. Die in den Anließ er einfließen, dass auch er aus einer Ärztefamilie stalten eben etwas mehr. Ich setze da auf Sie, Herr stammte, beide, Vater wie Großvater, hätten sich für Dr. Linden.« diesen Beruf entschieden. Vertraut sei ihm daher das Metier, ganz und gar. Er lehnte sich in seinem Stuhl Brack könne ganz unbesorgt sein, denn seit Jahren zurück, nicht überheblich, eher überlegt, stellte einen schon gehe es Linden um die Hygiene: SterilisationsStift kopfüber und fuhr fort zu erklären, wie gleich- gesetz, Nürnberger Gesetze, Reichsausschuss zum gültig ihm das Gewese um Erbkrankheiten eigentlich Schutz des deutschen Blutes und, und, und – wo hatte sei. Ja, dass es ihn überhaupt nicht interessiere, denn er nicht mitgewirkt. Alles im Grunde auch Sparmaßwas ihn interessiere, seien Einsparungen: Nahrungs- nahmen, volkswirtschaftliche, wenn Brack so wolle. mittel, Betten, Ärzte und anderes Pflegepersonal, welches das Reich woanders brauche, dringend. Als Nur, Linden hob den Zeigefinger, womöglich sei sein Ziel ein höheres als das seines Kollegen. Er versuchVolkswirt dachte er an das große Ganze. te seinen Gedanken noch einmal in Worte zu fassen: »Entlastung des Staatshaushalts in Kriegszeiten, Herr »Ich will das richtig Neue, den Neubeginn, das GroDr. Linden.« Er lehnte sich wieder nach vorne über ße. Wir haben eine Chance. Dafür müssen wir einen seinen Schreibtisch, der in einem hellen großen Raum unangenehmen Weg gehen. Nicht jeder wird das in in der Kanzlei des Führers stand, Zweig des Staatsap- Zukunft verstehen, das erwarte ich gar nicht.« Unmerklich fast schüttelte er den Kopf, als ob er den Wiparats, der Hitlers Privatangelegenheiten regelte. derstand gegenüber ihrer Mission vor sich sehe. »Wir brauchen die Häuser für Lazarette, für unsere Soldaten. Für die setze ich mich ein. Die zählen für mich.« »Herr Kollege Linden, wir sind nicht weit voneinander entfernt, es geht nun um das Wie. Darum kümmern Dr. Herbert Linden war heute in die Kanzlei des Füh- wir uns hier. Wir rekrutieren Fahrer, Büroleiter, Ärzte, rers einbestellt worden. Er leitete das Referat IV3a im Krankenschwestern, Pfleger, Psychiater, Sekretärin-
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nen, Schreibkräfte, Handwerker, Buchhalter, Registratoren, Fotokopisten, Hausmeister, Leichenbrenner, Kuriere und Köche. Außerdem einen Leiter fürs Personal und einen Geschäftsführer. Wir bauen ein kleines Unternehmen auf.«
rung zur Verfügung, was die Desinfektion betrifft. Herr Oberdienstleiter, Sie sind ein Organisationstalent! Und immer optimistisch, was?« Linden, der es gewohnt war, übersehen zu werden, liebte das leise Rauschen der Bürokratieräder, das perfekte Schnurren der Maschine, dessen Teil er war
Er machte eine Pause und fuhr fort: »Ich bin froh, mit Ihnen den richtigen Mann im Innenministerium sitzen zu haben. Der Rest des Ministeriums wird von der »Sind denn ein paar Tage Wandern für Sie drin?«, ganzen Sache ohnehin nichts erfahren. Heute geht es fragte Linden, und sie plauderten über die bevorstehenden Feiertage. mir jedoch noch um eine andere Sache.« Brack stellte den Stift auf den Kopf und klopfte zwei- »Wandern nicht, aber ich habe mich für einige Radturniere angemeldet.« mal auf den Tisch. »Vertrauen, Dr. Linden, die richtigen Leute an der richtigen Stelle.« Bracks Bleistift bewegte sich in die Vertikale, mit beiden Zeigefingern umfasste er den Stift und hielt ihn Linden wie einen Zollstock hin, als hätte er etwas auszumessen. »Wenn Sie sich nicht sicher sind mit dieser Person, lassen Sie sie doch erst mal Papiere befördern, kleinere Aufgaben erledigen, verstehen Sie, austesten, überwachen. Eine gute Tarnung ist für unsere Sache unerlässlich.« Auf Lindens Stirn zeigte sich ein leichtes Runzeln, und er sinnierte weiter: »Ja, es kann durchaus sein, dass die jüngere Generation nicht versteht, was uns antreibt, aber später, später werden sie unsere Leistung anerkennen. Es ist wie alles eine Frage der Zeit.«
»Ach, richtig, bei Ihnen ist es ja der Radsport. Wie ich sehe, haben Sie Ihr Ehrenzeichen wiedergefunden.« »Nein, ganz und gar nicht. Ich habe ein neues beantragen müssen. Ich hatte den Verlust gemeldet, aber der Verlust tauchte nicht auf. Hat sich wohl jemand unter den Nagel gerissen und läuft jetzt mit meiner Gravur herum.« Linden bemühte sich um Freundlichkeit, er räusperte sich, lenkte das Gespräch auf die Zweifel, die er vorhin aus Bracks Mund vernommen hatte.
»Herr Oberdienstleiter, es handelt sich um einen Vertretungsposten. Vorübergehend, maximal drei Monate und erst im nächsten Jahr. Da bleiben uns noch »Die Männer sind zuverlässig, da hab ich mich ver- fast fünf Monate bis dahin. Im März, spätestens April sichert. Die kommen aus Oranienburg, die haben habe ich meine alte Schreibkraft wieder. Der Gruber wir abkommandiert. Heute erhalten sie hier weitere aus dem Personal hat mir die Hoffmann empfohlen. Instruktionen. Ab Dezember, spätestens im Frühjahr Die versteht was von ihrer Sache. Die wird mal was, nächsten Jahres beziehen wir eine Etage im Colum- ist talentiert. Ich habe selbst mit ihr gesprochen. Solbushaus. Da bin ich in Verhandlungen. Heute wird che Leute braucht das Reich. Ich werde sie einbinden, den Männern erst mal was gezeigt, erst mal einnor- nach und nach. Der Gruber hat sich als verlässlich in den. Mit den Sekretärinnen können wir das so nicht der Auswahl erwiesen, wirklich verlässlich.« machen, verstehen Sie? Da müssen wir anders für Verschwiegenheit sorgen.« Zur Bekräftigung klopfte Linden auf Bracks Schreibtisch, erhob sich und verließ voller Tatkraft die Kanz»Ich kümmere mich um den reibungslosen Ablauf lei, um sich zielstrebig, wie es seine Natur war, an die aufseiten des Ministeriums und stelle meine Erfah- Arbeit zu machen. Und es gab viel zu tun.
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Die kleine Kiste hatte Gitte abgeliefert. Weil sie es eilig hatte, sah sie die Riege Männer nicht, die das Gebäude gerade betrat und auf sie zukam. Gitte hatte sich einen Blick angewöhnt, der das Ringsherum nur vage wahrnahm. Nicht auffallen, nicht anhalten und zügig weiter, so ging Gitte durch die Straßen, das war ihr Schutz. »Na, wohin so eilig?« Gitte murmelte eine Entschuldigung.
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Als Gitte die Kanzlei des Führers wieder verließ, wurde es Abend. Linden hatte ihr folgenden Auftrag mitgegeben: »Fräulein Hoff mann, bitte, Sie wollen sich doch auch nützlich machen für das Reich, ja? So schätze ich Sie ein. Das muss heute noch in die Kanzlei des Führers. Nur überbringen, ja?« Kleiner Auftrag, damit anfangen.
»Pst. Die machen wir, wenn ich wieder da bin. Kupferlinge, eine kleine Kupfer-Bande.« Erich legte seinen Finger auf Lindas Lippen und ließ ihn leicht darüberschweben Schweigend liebten sie sich, die Augen in den Augen des anderen. »Du lebst in mir«, flüsterte Linda und drückte ihre Nase in Erichs Hals, den sie umklammert hielt. »Du lebst in mir, mit deinem Geschmack, deinem Handwerk, deiner Kunst, deiner Art, das Leben zu leben. Das lebt in mir für immer. Dein leises Lachen. Geh nicht fort.« Kurz nach Sonnenaufgang brachen Linda und Erich Richtung Bahnhof auf. Wie sie dort standen mit all den anderen Soldaten, packte Erich Linda fest an den Oberarmen und schaute sie ebenso fest an.
»He, Hacko, weiter geht’s, ja, jetzt wird nicht geschäkert.«
»Du denkst immer noch, dass du dich anpassen musst, Linda, an irgendetwas, das du für die Wirklichkeit Zehn andere Männer mussten weiter. hältst. Dabei ist es umgekehrt. Du musst die Wirklichkeit gestalten, du musst deine Hände darin haben. Versprich mir das! Sie muss sich dir unter deinen Händen anpassen. Es gibt immer eine Tür, vergiss das nie, nie, meine Linda«, sagte Erich, strich Linda übers Haar, zog sie fest zu sich heran, hielt sie lange und Während diese Sache geplant wurde, in einem heißen stieg in den Zug Richtung Süden. Ein Pfiff war zu höSommer, wurde Erich zu einer Wehrübung eingezogen, ren. Erich streckte seinen Kopf aus dem Fenster. da half auch der Verweis auf die eigene Unternehmerschaft nichts – Schuhe für das Volk. Da Linda im Laden Linda fühlte noch Erichs Wärme, in ihren Augen arbeitete, hieß es, sie könne ihn führen. Irgendjemand stand die Angst. »Wann kommst du wieder? Aber hatte das klargestellt. Irgendwo da oben. Linda war wann kommst du wieder?«, schrie sie hinterher. verzweifelt. Bald wird angegriffen, hieß es auch. Erichs Hand war das Letzte, was sie sah. War es sein Zeigefinger? Linda starrte dem Zug hinterher, sah »Wird es Krieg geben, Erich? Krieg, richtig Krieg?« ihn in den Horizont eintauchen. Vor ihr lagen die leeren Gleise. Benommen trat sie den Rückweg an. »Die schweren Zeiten brechen wieder an. Der Hitler Rechts neben ihr war es leer, sie hob den Kopf, öff nete hat die Zeichen auf Angriff gesetzt. Wir haben uns den Mund, wollte etwas an Erich richten, eine Überzu lange von Hoff nung ernährt, Linda.« Erich legte legung, eine Idee seine Stirn an ihre. »Und von Liebe. Die Nacht hatte sie wach gelegen und geweint. Am »Wie Kinder, meinst du?« nächsten Morgen setzte sie sich hin und schrieb Erich
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einen Brief, der ihn im Ausbildungslager in Lenggries bei München erreichte. Sind sie bei Dir, meine Augen? Ich hab sie mir aus dem Kopf geweint. Jetzt sind dort zwei dunkle Höhlen. In der einen wohnt die Verzweiflung, in der anderen die Leere. Linda. Und Erich? Seine Freunde wussten, er liebte das Leben wie verrückt, oft fragten sie sich, woher nur dieses Feuer in ihm kam. Nach dem frühen Tod seiner Eltern hätte es ihm auch völlig anders gehen können. Vielleicht, und das war ein bisschen auch seine Erklärung, war es ebendiese frühe Konfrontation mit Leid und Not und Tod, die ihn nötigte, für sich und sein Begehren einzustehen und flattriges Beiwerk möglichst zu lassen. »Dazu ist das Leben zu kurz. Nur im Notfall Kompromisse. Im äußersten Notfall. Seid ehrlich zu euch selbst.« Er war so ernst, wenn er das sagte, dass seine Freunde ihn ebenso ernst und ehrfürchtig ansahen. Doch mitten in dieser Andacht löste Erich die Hand, löste die Lippen zu einem breiten Lächeln, schlug mit beiden Händen auf den Küchentisch und teilte allen mit, sie sollten ihn nicht derartig traurig ansehen, schließlich sei das Leben zu kurz, um traurig zu sein. Dieser bevorstehende Krieg, man murmelte Polen, war indes ein Umweg, eine oktroyierte Borniertheit, wie Erich den Befehl hinter vorgehaltener Hand nannte. Das Gefasel vom Gruber und vom Ganzer, vom Lebensraum im Osten, jetzt musste es wirklich werden, was? Je mehr sich der Zug mit seinem schneller werdenden Rattern, seinem Pfeifen vom Bahnhof entfernte, desto tiefer wurde Erichs Ohnmachtsgefühl. Seine Talente sollten mit einer fremden Erde vermengt, mit dem Blut der Toten zermanscht und begraben werden, dachte er voller Ingrimm. Ein junger Soldat mit rosafarbenem Gesicht, der wie Erich aus dem Fenster blickte, sagte: »Vielleicht kommt es nicht zum Krieg, und wenn, dann ist er bald vorbei. Dann ist er bestimmt bald vorbei, und wir sind zurück.«
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Stephanie von Hayek
Als die Tage ihr Licht verloren ROMAN
Stephanie von Hayek Als die Tage ihr Licht verloren Roman PENDO 304 Seiten Hardcover mit Schutzumschlag 20,00 € (D) 20,60 € (A) ISBN 978-3-86612-466-0 Erscheint am 1. März 2019 Bestellen Sie Ihr digitales Leseexemplar zum Erscheinungstermin auf www.piper.de/leseexemplare … oder schreiben Sie eine E-Mail an: sales_reader@piper.de (Buchhändler) press_reader@piper.de (Presse)
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VORFREUDE Urlaub mit dem Wohnmobil – das bedeutet für mich Freiheit. Der Wind, die Wolken, die Sonne, der Regen – alles trifft mich unmittelbar, genau wie die Menschen, die mir begegnen. Ich lasse mich darauf ein, immer wieder aufs Neue, das tut mir gut.
Federica Zevi wusste, dass sie mit ihren neunundvierzig Jahren für Witwer, Geschiedene oder eingefleischte Singles eine passable Alternative zu den begehrten und immer weniger verfügbaren Dreißigjährigen darstellte.
(Bettina Tietjen, Tietjen auf Tour, Piper Verlag, ET: April 2019)
(Alessandro Piperno, Wo die Geschichte endet, Piper Verlag, ET: April 2019)
Angenommen, eine Horde Affen säße vor einem Haufen Schreibmaschinen.
Der Tag, an dem Hattie Brown durch den Kühlschrank gezogen wurde, war der gleiche Tag an dem alles im Haus zu verschwinden begann.
(Mayte Uceda, Alicia und die Unwahrscheinlichkeit der Liebe, Piper Verlag; ET: März 2019)
(Claire Harcup, Hattie Brown und die Wolkendiebe, ivi, ET: März 2019)
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Seit einigen Jahren probiert Naïma eine neue Form der Verzweiflung aus: die Form, die sich konsequent mit einem Kater einstellt.“
Sie ritt tief über die Mähne gebeugt, Wange an Wange mit dem Pferd, das Tier triefte vor Schweiß, sein mahagonifarbenes Fell voller dunkler Placken.
(Alice Zeniter, Die Kunst zu verlieren, Berlin Verlag, ET: Februar 2019)
(Elisabeth Plessen, Die Unerwünschte, Berlin Verlag, ET: März 2019)
Nur wer vertraut ist mit der Gegend der Hamptons im Staat New York, dürfte mitbekommen haben, was am 30. Juli 1994 in Orphea geschehen ist, einem kleinen, piekfeinen Badeort am Atlantik.
In jeder Lage und zu jeder Tageszeit die perfekte Schrittlänge und -geschwindigkeit zu finden, war eine Kunst, die Zacharias seit vielen Jahren beherrschte.
(Joël Dicker, Das Verschwinden der Stephanie Mailer, Piper Verlag, ET: April 2019)
(Nicole Gozdek, Prophezeiungen für Jedermann, Piper Verlag, ET: Juni 2019)
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Donald J. Trumps Präsidentschaft begann mit dem Streit um eine Zahl: die der Menschen, die an seiner Amtseinführung teilgenommen hatten. (William Davies, Nervöse Zeiten, Piper Verlag, ET: Februar 2019)
Es war 1970, das Jahr, in dem der Rüsselsheimer Automobilhersteller Opel für sein neues, familientaugliches Mittelklassemodell den beinahe magischen Namen »Ascona« wählte, diese Suggestion einer kontrollierten Exotik, als ich mit meinen Eltern den ersten Urlaub meines noch jungen Lebens im Tessin verbrachte. (Thomas Blubacher, Gebrauchsanweisung für das Tessin, Piper Verlag, ET: März 2019)
Su redet ernst, schnell und ohne Atempause, als wäre jede Zehntelsekunde Stille Zeitverschwendung.
Ich musste in der Hölle sein. (Anna Rosina Fischer, Songbird, ivi, ET: März 2019)
(Stephan Orth, Couchsurfing in China, Malik; ET: März 2019)
Es ist jetzt 4 Uhr nachmittags, und mir bleibt vielleicht noch eine halbe Stunde als Weltmeister.
Niemand fällt einfach so ins Hafenbecken und ertrinkt. (Ariane Grundies, Tod im Hafenbecken, Piper Verlag; ET: April 2019)
(Peter Sagan, Meine Welt, Malik; ET: November 2018)
Mein Sohn heißt August. Dieses Buch handelt von ihm und von einer Wanderung, die wir in jenem Sommer unternommen haben, als er sieben wurde: Wir nannten sie Expedition.
An einem der bereits legendären Sonntagabende im Salon der Reitlingers, bei Kachelofengeknister und Flackerschatten, kam es zur Debatte darüber, wer die schönste Frau gewesen sei, die je auf Erden gelebt habe.
(Torbjørn Ekelund, Mein Sohn und der Berg, Malik, ET: März 2019)
(Helmut Krausser, Trennungen, Verbrennungen, Berlin Verlag, ET: April 2019)
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