DAVID MEALING DIE
SEELE DER
WELT LINIEN DER MACHT 1
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Drei werden kämpfen. Drei werden sterben. Drei werden zurückkehren.
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Š Vakker Portraits
DAVID MEALING studierte Philosophie, Politik und Wirtschaft in Oxford, England, und lebt heute mit seiner Frau und drei Kindern in Washington State. Neben dem Schreiben widmet er sich seinem Vorhaben, eines Tages eine Ranch sein Eigen zu nennen.
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Teil 1 Frühling – Die Jahreszeit der Sehenden 1 Sarine Park von Fontcadeu Königlicher Palast, Rasailles
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och ehe der Wald sich so weit lichtete, dass man die Stadt sehen konnte, drangen ihre Geräusche und Gerüche zu ihr. Dass dort überhaupt Wald war, stellte ein kleines Wunder dar. Im Norden und Süden waren die Bäume Grasland gewichen, das von den Handelsstraßen zur Großen Barriere bis zu den Kolonien und der Wildnis jenseits davon reichte. Doch der Duc-Gouverneur hatte befohlen, dass rings um den Palast von Rasailles ein Wald stehen bleiben sollte, und deshalb hatten sich die Äxte anderswo Nahrung gesucht. Der Wald bot Gelegenheit für ruhige Spaziergänge, wenn sie nicht gerade auf Priester und Wachen aufpassen musste, die nach unbefugten Eindringlingen in den Park forschten. Den Großteil des Rückwegs war sie verhältnismäßig sicher gewesen. Zis Gaben waren stark, und den Göttern sei Dank schien man sie im Geflecht der Ley-Linien nicht wahrnehmen zu können. Der Priester hatte die Jagd aufgegeben, sodass sie genug Zeit hatte, über die Spiele am Vormittag nachzudenken: über die Dekadenz, über eine verborgene Welt voller Reichtum und Schönheit, die im krassen Gegensatz zu den stumpfen Blicken
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und den eingefallenen Gesichtern der Städter stand. Ihr Onkel würde sagen, es sei Teil des Plans der Götter, das übliche Dogma des Dreigötterglaubens. Eine Geschichte, die man nur schwer schlucken konnte, wenn man die Adligen essen, lachen und spielen sah, während die Hälfte der Stadtbevölkerung nicht wusste, wo sie eine Mahlzeit für den nächsten Tag auftreiben sollte. Eigentlich sollte dies ein Land voller Versprechen sein, ein Land der Freiheit und der Möglichkeiten – eine … Neue Welt. Wenn sie sich den Überfluss von Rasailles vor Augen hielt, schien sie mehr der alten zu gleichen. Nicht, dass sie jemals jenseits des Ozeans oder in irgendeiner der Kolonien außer in Nouvelle- Sarresant gewesen wäre. Aber trotzdem. Dennoch besaß Rasailles eine gewisse Anziehungskraft. Es zog sie immer wieder dorthin, und es sorgte dafür, dass Kunden ihre Zeichnungen kauften, wann immer sie ihren Stand auf dem Markt aufbaute. Die Mode, der Putz, der Traum von etwas Jenseitigem, das man beinahe berühren konnte. Und Seigneur Revellion. Sie musste zugeben, dass er gut aussah, selbst aus der Ferne. Er wirkte so selbstsicher, so sehr für das Leben gewappnet, das er führte. Was würde er wohl von ihr halten? Immerhin schlich sie sich mithilfe ihrer Gaben in den Park, aber das war ein blasser Schatten gegen eine richtige Einladung. Und an diesem Punkt blieb sie … nun ja: ungenügend. Zwar machten ihre Gaben sie zu etwas Besonderem, doch darunter blieb sie immer noch 4
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dieselbe. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob das ausreichte. Konnte es das? Reichte es, um am Ende an einem Ort wie Rasailles zu landen mit jemandem wie Seigneur Revellion? Zi setzte sich auf ihre Schulter und pickte ihr in den Nacken, sodass sie zusammenzuckte. Als sie sich davon erholt hatte, lächelte sie und schnalzte seinen Kopf zur Seite. Wir sind gleich da. »Ja. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dich auf den Markt mitnehmen soll, nachdem du mich vorhin schweigen geheißen hast.« Schmoll doch nicht. Das war zu deinem eigenen Schutz. »Ach, natürlich«, sagte sie. »Trotzdem, bestimmt könnte Onkel meine Hilfe in der Kapelle brauchen, und es ist schon fast Mittag …« Zi ruckte mit seinem Kopf hoch, seine Augen blitzten wie zwei glühende Schüreisen, und die Schuppen nahmen dieselbe Farbe an. »Na schön, na schön, dann eben zum Markt.« Zi neigte den Kopf zur Seite, als wolle er sich überzeugen, dass sie es ernst meinte, und gleich darauf rollte er sich zu einem Nickerchen zusammen, während sie weiterging. Sie schritt rasch aus und vermied neugierige Blicke, damit sich niemand wunderte, was ein Mädchen so allein im Wald gemacht haben mochte. Bald drängte sie sich zwischen den Menschen im Stadtteil Südtor und steuerte den Markt im Zentrum an. Zi lief tiefblau an,
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während sie durch die belebten Straßen ging und sich durch die Menge wand. Zurück auf dem Pflaster von Nouvelle-Sarresant, erschienen das üppige Grün und die farbenfrohe Blütenpracht der königlichen Gärten wie eine andere Welt, fremd und sonderbar. Dies hier war ihr Zuhause: das düstere Grau, die verlotterten Häuser aus Holz und Ziegelstein, die gesenkten Blicke der Städter, wenn sie ihrem Tagwerk nachgingen. Hier sorgte eine vergoldete Kutsche für Aufsehen und Getuschel, deren Ursprung zuweilen auch in weniger harmlosen Regungen als purem Neid lag. Sie vermied es tunlichst, bei diesen Leuten Aufsehen zu erregen – bei den Gierigen, die den Adligen hinterherstierten, solange keine Stadtwache hinsah. Ihre Tasche drückte sie fest an sich, als sie sich an zwei zwielichtigen Gesellen vorbeizwängte, die mitten im Gewühl stehen geblieben waren. Beide sahen sie finster an, und Zi richtete sich auf ihrer Schulter auf und fauchte die beiden an. Sie verdrehte die Augen. Zi musste natürlich genauso den starken Macker mimen wie die beiden Kerle. Manchmal war es ganz gut, dass nur sie allein Zi sehen konnte. Als sie sich dem Stadtzentrum näherte, musste sie sich an einer weiteren Traube aus Gaffern vorbeischieben und dann an noch einer. Irgendwann, kurz bevor sie den Hauptplatz erreichte, wurde das Gedränge so dicht, dass sie nicht mehr weiterkam. Ein Flüstern ging vor ihr durch die Menge, und sie wusste gleich, was los war. Eine Hinrichtung. 6
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Interessehalber ging sie ein paar Schritte zurück und lauschte den Gesprächen der Leute. Nicht nur eine Hinrichtung, sondern drei. Deserteure der Armee, Verräter also, denn die Krone hatte den Gandern vor einem halben Jahr den Krieg erklärt. Ein ruhmreiches Unterfangen, mit dem die Ausweitung einer Tyrannei verhindert werden sollte, so stand es zumindest in den Kolonial zeitungen. In ihrem Viertel bedeutete es jedoch lediglich, dass die Wagen mit Nahrungsmitteln nach Süden umgeleitet wurden, wo, bei den Göttern, doch schon genug Mangel herrschte. Sie ließ das Stimmengewirr hinter sich und huschte in eine Seitengasse, nachdem sie sich mit einem raschen Blick vergewissert hatte, dass sie allein war. Zi schwoll an, seine Schuppen pulsierten, und sein Kopf ruckte hin und her mit großen, gierigen Augen. »Was meinst du?«, flüsterte sie ihm zu. »Willst du mal nachsehen?« Ja. Der Gedanke triefte vor Spannung. Nun, dann war das geklärt. Doch diesmal war es ihre eigene Entscheidung, sich die Macht zu geben, und sie würde es tun, ohne dass Zi ihr das Herz bis zum Hals schlagen ließ. Einmal tief Luft holen, dann schloss sie die Augen. In der Dunkelheit hinter ihren Augenlidern dehnten sich Kraftlinien in alle Richtungen aus, ein Gitter aus sich kreuzenden Lichtfäden. Farben und Umrisse umspielten die Linien, die von den Läden, den Häusern, den Bewohnern der Stadt mit Energie gespeist wurden.
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Überwältigend waren die grünen Schoten von Leben, die überall dort überreichlich waren, wo Menschen lebten und arbeiteten. Doch in den Augenwinkeln sah sie die roten Staubflecken von Leib, die Rückstände einer Kneipenschlägerei oder dergleichen. Und in der Mitte des Platzes eine flache Lache Glaube. Nichts brachte den Glauben und die Hoffnung auf die Götter und das Unbekannte in den Menschen leichter hervor als eine Hinrichtung. Sie öffnete sich den Ley-Linien und knüpfte Licht fäden zwischen ihrem Körper und den Energiequellen, die sie benötigte. Als Leib-Energie durch sie strömte, riss sie die Augen auf. Ihre Muskeln reagierten schneller, und ihre Tasche war plötzlich federleicht. Gleichzeitig wand sie eine Glaube-Schlinge um sich herum und wurde unsichtbar. Reflexartig prüfte sie ihre Vorräte. Ganz viel Glaube. Nicht sehr viel Leib. Eile war geboten. Sie machte einen Schritt zurück, bevor sie nach vorn schnellte und gegen die Hauswand sprang. Mit einer Drehung stieß sie sich von der Wand ab und schraubte sich zum hervorkragenden Dach hinauf. Dort hielt sie sich an der Dachkante fest und schwang sich mit einer fließenden Bewegung auf das Dach der Schenke hinauf. Sehr gut, kam Zis Gedanke. Etwas gekünstelt neigte sie den Kopf, ohne auf seinen Sarkasmus einzugehen. Können wir jetzt gehen? Dringlichkeit flutete ihren Geist. Es war besser, Zi nicht warten zu lassen, wenn er in dieser Verfassung 8
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war. Sie löste die Leib-Schlinge, hielt aber ihren Glaube-Schleier aufrecht, während sie auf dem Dach der Schenke entlangging. Als sie die andere Kante erreichte, ließ sie sich auf einen Fenstergiebel hinab, auf dem sie sitzen konnte. Von hier überblickte sie den Platz. Mit etwas Glück entging sie der Aufmerksamkeit weiterer Priester oder irgendwelcher Knüpfer, die in der Gegend sein mochten, und gleichzeitig hatte sie den besten Platz für dieses grausige Spektakel. Sie stellte die Tasche neben sich ab und holte ihr Zeichenzeug heraus. Warum sollte sie die Zeit nicht nutzen, um ein bisschen Silber zu verdienen?
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2 Erris Vierzehnte leichte Kavallerie Auf Gandischem Territorium
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ort drüben, seht Ihr?«, flüsterte einer ihrer Obergefreiten. »Dort, vor den Bäumen.« Ein Soldat neben ihm zeigte in die Richtung. Es folgte noch mehr aufgeregtes Flüstern. Erris riss die Faust hoch, um für Ruhe in den Reihen zu sorgen. Sie sah es ja selbst auch. Am Fuß des bewaldeten Hügels, an den sie sich während der Nacht mit ihren Männern herangepirscht hatte: ein schwacher Schimmer in der Luft, der von ihren Soldaten wegdeutete, dorthin, wo sie letzte Nacht gelagert hatten. Der Feind verfügte demnach über einen Knüpfer, der so versiert in Zuflucht war, dass er einen Schild gegen ihren Angriff weben konnte. Und demnach war der gegnerische Kommandant ein Narr. Ihr Manöver, um dem Feind in die Flanke zu fallen, war bei Weitem nicht ihre beste Leistung. Viel zu simpel. Ein Kind hätte es bemerken müssen. Wut stieg in ihr auf bei dem Gedanken an die armen Soldaten am Fuß des Hügels, die unter dem Kommando eines Idioten zu leiden hatten. Nun, sie würden nicht mehr lange zu leiden haben. »Zieht die Säbel«, flüsterte sie. »Eine Salve Pistolenfeuer, dann lasst ihr sie den Stahl spüren. Leise bleiben. Den Befehl weitergeben.«
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Von Soldat zu Soldat wurde ihr Befehl weitergegeben, gefolgt vom gedämpften Klirren gezogener Kavalleriesäbel. Den Pferdefeldwebeln gab sie ein Zeichen, damit sie mit den Tieren im Hintergrund blieben. Das steile, dicht bewachsene Gelände erlaubte keinen berittenen Angriff. Verhielt sich der gegnerische Kommandant deshalb so blödsinnig? Gehörte er zu denen, die glaubten, Kavalleristen dürften nicht von ihren Pferden absteigen und dass seine Soldaten gegen einen Angriff gefeit wären, wenn sie mit dem Rücken zu einem für Pferde undurchdringlichen Gelände lagerten? Sie spie aus. Ein erhobener Säbel stellte den Befehl dar, und sie schwenkte ihn als Zeichen zum Angriff nach vorn. Wie auf ein Kommando stürmten ihre Männer über die Felsbrocken und Büsche, hinter denen sie sich versteckt hatten. Während der Schlachtenlärm durch den Wald hallte, kam ein leichter Regen auf und mischte sich mit dem Blut und dem Geschützfeuer. »Haltet still, verdammt«, fluchte einer ihrer Feldwebel. »Die Brigade-Obristin kommt gleich.« »Sie ist schon da, Feldwebel«, gab Erris zurück und ging auf ein Knie. Der Soldat, der von seinem Truppenkommandanten niedergehalten wurde, sah stöhnend durch sie hindurch. Jung. Ein frisches Gesicht, sauber rasiert und mit Augen wie Untertassen, von schreck licher Furcht erfüllt, da er sich zum ersten Mal dem Tod gegenübersah.
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Der Feldwebel rückte ein Stück vor, um ihr Platz neben dem Jungen zu machen. Dabei ließ er einen Arm des Jungen los, und Erris musste nach hinten ausweichen, damit sie keine Ohrfeige bekam, als der Verwundete um sich schlug. »Ganz ruhig, Söhnchen«, sagte sie und stellte sich so hin, dass sie ihm die Hand auf die Brust legen konnte. Als sie die Handschuhe auszog, kamen die Knüpfermale auf ihren Handrücken zum Vorschein. »Ich habe heute Morgen schon schlimmere Fälle als Euch gesehen.« Wahrlich, das hatte sie. Die Verletzung des Jungen gehörte zu den harmlosesten unter denen, die ihrer Aufmerksamkeit überhaupt wert waren. Eine Musketenkugel, die, dem bisschen Blut nach zu urteilen, die Schlagader verfehlt hatte. Mit ausreichend Zeit würde er womöglich auch ohne ihre Hilfe genesen, doch sie wollte von den Göttern verflucht sein, wenn sie ihre Männer dem Zufall überließ und den Heilprozess nicht unterstützte. Anscheinend hörte der Junge sie nicht. Sein hektischer Atem wurde von Keuchen und unverständlichem Gebrabbel unterbrochen. Sie holte tief Luft und schloss die Augen. Die grünen Schoten der Leben-Energie fanden sich in der Wildnis in Hülle und Fülle, sie bildeten Wolken zu Füßen der Ulmen und Eichen, wo Laub und abgebrochenes Unterholz den wilden Tieren Schutz boten, die vor dem Schlachtenlärm geflohen waren. Sie knüpfte eine Schlinge zwischen dem Jungen und der nächsten Ley-Linie. Das war nicht halb so wirkungsvoll, wie 12
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wenn er die Verknüpfung selbst hätte aufrechterhalten können, und nur eine Ahnung dessen, was eine Vollknüpferin wie Erris vermochte. Doch es würde reichen. »Na bitte«, sagte sie. »Ganz ruhig.« Der Junge schnappte nach Luft, als Energie ihn durchströmte und seinem Körper Kraft spendete, um mit den Schmerzen fertigzuwerden. Zum ersten Mal seit ihrem Eintreffen hatte er einen wachen Blick. Er gehörte zu den neuen Rekruten, die von den südlichen Kolonien angeworben worden waren, kurz bevor sie die Grenze zu Gand überschritten hatten. Höchstens siebzehn Jahre mochte er alt sein, verführt vom Ruhm, an einer ehrenhaften Schlacht gegen einen Feind der Krone teilzunehmen. Vor sechs Monaten hatte er vielleicht eine dreimonatige Grundausbildung absolviert, wurde unter den wachsamen Augen eines unflätigen Ausbilders gedrillt, bevor sie ihn in den Sattel gesetzt hatten. Doch sie befanden sich im Krieg, und die Armee nahm, was sie kriegen konnte. »Danke«, flüsterte der Junge heiser. »Ihr werdet schon wieder, Söhnchen.« Im Aufstehen tätschelte sie seine Schulter. »Hört auf Euren Truppenkommandanten, und in ein, zwei Tagen werdet Ihr wieder auf dem Pferd sitzen.« Er hustete abgehackt und nickte. Dann machte er die Augen zu. Der Feldwebel legte den Jungen auf den Boden und erhob sich zu einem hastigen Gruß, indem er die Faust auf die Brust legte. »Danke, Frau Oberst«, sagte er. »Ich bebe beim Gedanken daran, was wir ohne Euch tun würden.«
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»Die Würmer ernähren, nehme ich an, Feldwebel«, sagte sie mit einem Lächeln und erntete dafür ein nervöses Lachen von ihrem Feldwebel. Eine Vollknüpferin mit Erris’ Fähigkeiten war selten. Freilich gaben die Feldschere mit dem, was die Armee ihnen zur Verfügung stellte, ihr Bestes, doch Erris’ Gaben hatten dafür gesorgt, dass die Vierzehnte leichte Kavallerie während des gesamten Feldzugs auf ihren Pferden geblieben war, und das wussten ihre Männer genauso gut wie sie. Sie erwiderte den Gruß des Feldwebels und überließ ihn seinen Pflichten bei seiner Truppe. Man gewöhnte sich nie an den Geruch von so viel Blut, an die Laute der Sterbenden. Reihen von Gefangenen marschierten neben ihr, man trieb sie mit Säbeln und Karabinern zu dem Feld, wo sich ihre Männer allmählich sammelten, etwas abseits der blutigen Schlacht. Des Scharmützels vielmehr. Zwei Brigaden, die abseits der Handelsrouten aufeinanderstießen. Mit wenig Aussichten auf Ruhm oder darauf, dass die Schlacht in den Schriften der Kolonien erwähnt werden würde. Dies war das Los der Kavallerie. Männer mit Titeln und dicken Geldbörsen erklärten Kriege zum Ruhme von König und Vaterland, und ihre Männer übernahmen den Großteil des Sterbens, in weiter Ferne von den Medaillen, in abgelegenen Wäldern und Landschaften, die in besseren Zeiten unberührt blieben. Sechs Monate waren nun schon vergangen, seit die Krone Gand den Krieg erklärt und von seinen überseeischen Kolonien erwartet hatte, ihn auszufechten. Eine 14
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Maßnahme, um der Ausweitung des Feindes Einhalt zu gebieten, wie es in den Pamphleten hieß, in denen die Invasion gerechtfertigt wurde. Allerdings war Gand nicht allein in seinem imperialen Streben. Eroberungen und Kolonien brachten den Großmächten Gold und Handelswaren und wichtiger noch: die Entdeckung neuer Ley-Kräfte. Die Scholaren behaupteten, dass größere Gebietsansprüche zu einem stärkeren Gitter aus Ley- Linien führten, mit dem man ein breiteres Spektrum an Energien sichern und die Gaben derjenigen, die sie zu verknüpfen wussten, kräftigen konnte. Das hatte sich als wahr erwiesen, allein schon zu ihren Lebzeiten. Der Thellanische Krieg vor fünf Jahren hatte dazu geführt, dass ein paar wenige Knüpfer in Sarresant Zugang zu Entropie erlangt hatten. Es war nicht abzusehen, welche Ausbeute ein erfolgreicher Feldzug gegen Gand ergeben mochte. Und es lag nicht an ihr, darüber zu spekulieren. Den Männern, die zweihundert Meilen weiter nördlich in den Palästen und Villen von Nouvelle-Sarresant, Rasailles und Villecours lebten oder zweitausend Meilen überm Meer – ihnen kam es zu, sich Gründe für einen Krieg auszumalen. Ihr musste es reichen, dass die Soldaten in den roten Mänteln ihre Männer umbringen wollten und dass man sie töten musste, wollte sie die eigenen retten. Ihr Adjutant stand ein paar Schritte weiter hangaufwärts und wartete darauf, dass sie mit der Versorgung der Verwundeten fertig war. Sadrelle war ein guter Mann, ein Veteran der Herbstkampagne, der sich als
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Kundschafter verdient gemacht hatte. Kürzlich war er zu ihrem Leutnant ernannt worden, aber so geschah es häufig im Krieg. Ihr letzter Adjutant war einem Scharfschützen aus Gand über den Weg gelaufen, deshalb hatte sie nun Sadrelle. Er grüßte, während er sich zu ihr gesellte. »Frau Oberst, Stabshauptmann d’Guile hat den Gefangenen, nach dem Ihr gefragt habt. Und die Feldschere haben den Bericht gesandt.« »Wie schlimm ist es?« »Vierzehn Gefallene. Sechs weitere, denen Ihr nicht helfen könnt, in kritischem Zustand. Sechsunddreißig Verwundete und Geheilte.« Sie stieß einen unterdrückten Fluch aus. Kein schwerer Verlust, wenn man berücksichtigte, dass die Gegner sich zahlenmäßig ebenbürtig gewesen waren. Doch selbst leichte Verluste wogen schwer auf ihren Schultern. Die Soldaten vertrauten ihr ihr Leben an. Jeder Fehler wurde mit Blut bezahlt. Zwanzig Tote, so viele würden es jedenfalls bald sein. »Danke, Adjutant-Leutnant. Sorgt dafür, dass die Versorgungswagen ihr Tempo verdoppeln. In einer halben Stunde müssen unsere Verwundeten reisefertig sein.« »Ich habe bereits Anweisungen gegeben, Frau Oberst.« »Gut.« Schweigend gingen sie weiter auf den improvisierten Befehlsstand zu, auf dem die Offiziere ihre Fahne aufgepflanzt hatten. Die Männer sollten sie sehen mit ihrer 16
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Haltung und ihrer äußeren Zuversicht, das Urbild einer Brigadeobristin in der Stunde ihres Sieges. Doch dabei war ihr übel. Fünfhundertundsiebzehn Seelen umfasste die Vierzehnte nun. Der Namenlose sollte den Schlachter und seine Rechnungen holen. Am Fuß des Hügels trabte eine Zweierreihe Pferde mit leeren Sätteln ins Blickfeld. Der Pferdefeldwebel musste sie hinter der Frontlinie herumgeführt haben, sobald sie das Zeichen zum Angriff gegeben hatte. Ein Schachzug, der von großer Zuversicht zeugte, fast schon von Überheblichkeit. Was, wenn es eine Falle gewesen wäre? Sie nahm sich vor, dem Pferdebetreuer am Abend eine Rüge zu erteilen. Ganz gleich, was ihre Männer auch glaubten, sie war nicht unfehlbar als Befehlshaberin. Die Männer rings um den Befehlsstand salutierten bei ihrer Ankunft, alle bis auf eine zusammengesackte Gestalt in der Mitte. »Was haben wir hier, Herr Stabshauptmann?«, fragte sie. Stabshauptmann d’Guile hatte den Befehl über eine ihrer vier Kompanien, fünfhundert Reiter in voller Stärke, wenngleich die Vierzehnte schon lange nicht mehr auch nur annähernd in voller Stärke geritten war. »Ein Leutnant, Frau Oberst. Zweiter Befehlshaber einer Infanteriekompanie. Er sagt, sie gehörten zur Zweiten Armee unter Herzog Dunweir.« Sie hob eine Augenbraue. Ein Leutnant, der höchstrangige Offizier unter denen, die im Kampf nicht geflohen waren oder getötet wurden. Und von der Zweiten Armee. Das war verdammt seltsam. Der Gefangene
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hatte Ränder unter den Augen, Staub klebte ihm in dicken, schwarzen Striemen auf der Haut – einzig ein Eilmarsch brachte das fertig. Er war vielleicht eine Woche lang oder länger stramm gehetzt worden, von Morgengrauen bis Sonnenuntergang marschiert ohne Pferd oder einen Knüpfer, der die Müdigkeit wegzauberte. Was hatte die Zweite Armee von Gand so weit im Norden zu suchen? »Wir wollen sehen, was er uns zu sagen hat.« Sie nickte Sadrelle zu, der neben seinen anderen Talenten nahezu perfekt Gandisch sprach. Zwar waren ihre Kenntnisse in dieser Sprache auch nicht schlecht, aber es konnte nicht angehen, dass eine Kommandantin aus Sarresant bei einer einfachen Frage stotterte, wenn sie einen Gefangenen verhörte. »Bittet ihn, mir zuliebe seinen Rang und seine Einheit zu wiederholen.« Sadrelle übersetzte die Frage in die raue, abgehackte Sprache der Gander, worauf der Gefangene den Kopf hob und ihr bei seiner Antwort in die Augen sah. Sie verlieh dem Leutnant Bestnoten in Tapferkeit. Er mochte ein Feind sein, doch war er gewiss kein Feigling. »Leutnant Alistair Radford«, sagte der Gefangene auf Gandisch mit vor Stolz, Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit angestrengter Stimme. »Major Stuart direkt unterstellt, dritte Kompanie von Oberst Hansus Regiment, Zweite Armee unter Seiner Exzellenz, dem Herzog von Dunweir.« »Und wie lauteten Ihre Befehle auf diesem Marsch, Leutnant? Weshalb wurde Ihr Regiment von dem 18
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Hauptheer der Zweiten Armee getrennt?«, übersetzte Sadrelle wieder. Der Gefangene starrte sie an. Sie hielt seinem Blick stand und bewahrte die Ruhe. »Sagt dem Leutnant, dass seine Kooperation darüber entscheidet, ob er in zwei Wochen mit Oberst Hansu speisen wird oder ob ich ihn und seine Soldaten hinrichten lasse. Er weiß, eine Kavallerieeinheit kann nicht zulassen, dass Gefangene hinter dem Versorgungstross herlaufen.« Es herrschte drückendes Schweigen, nachdem Sadrelle übersetzt hatte. Schließlich sprach der Gefangene: »Oberst Hansu ist tot«, sagte er voller Bitterkeit. »Ich stand neben ihm, als er fiel.« Sie ging auf ein Knie und antwortete nun selbst auf Gandisch: »Dann wisst Ihr, was zu tun ist. Eure Männer brauchen Euch. Lasst sie nicht im Stich.« Ein paar Augenblicke lang setzte der Gefangene sein Schweigen fort, ehe er den Kopf neigte und zu sprechen begann. Eine halbe Stunde später saß sie auf Jiri und gab die letzten Befehle, ehe sie aufbrachen. Und ein weiteres Mal erbat sie den Segen der Götter für ihr Pferd. Jiri wieherte und wackelte mit dem Kopf auf und ab. Beruhigend tätschelte sie der weißen Stute den Hals. Wie Erris sich um ihre Soldaten sorgte, so sorgte sich Jiri um sie. Sie waren ein Paar, das Ergebnis der Dressur als Knüpferross. Doch nicht wenige der Gefangenen betrachteten die Figur, die sie auf Jiri abgab, mit Skepsis.
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Erris war weder hochgewachsen noch besonders kräftig gebaut. Die blaue Kavallerieuniform musste speziell auf ihre Figur zugeschnitten werden; selbst der lange Stahlsäbel an ihrem Gürtel war eine Spezialanfertigung. Jiri dagegen würde man nie für etwas anderes halten als das, was sie war. Trotz ihrer schlanken Größe muskulös, überragte sie alle anderen Pferde der Vierzehnten. Da sie zum Knüpferross abgerichtet war – die offizielle Bezeichnung für Reittiere, die an die Knüpferei ihrer Reiter gewöhnt waren –, besaß sie mehr Kraft und Eleganz, und noch vor ein paar Jahrhunderten hätte sie ein gepanzertes Schlachtross abgegeben. Erris hielt eine einfache Verknüpfung mit Leben-Energie aufrecht, um ihre Sinne zu schärfen. Ihre Männer waren schnell mit den Vorbereitungen für den heutigen Ritt fertig gewesen, und wenn das Wetter mitspielte, würden sie vor Sonnenuntergang dreißig Meilen zurücklegen können. Ein harter Ritt, härter noch dadurch, dass sie den Tag mit Blutvergießen begonnen hatten, und morgen wären es sogar fünfzig Meilen, wenn die Götter und das Wetter gnädig waren. Damit würden sie die Hauptarmee der Sarresantischen Streitkräfte erreichen, wo sie die Gefangenen noch so rechtzeitig abliefern konnten, dass Zeit zum Handeln blieb, sofern die elenden Narren vom Oberkommando die Umstände richtig interpretierten. Der gefangene Unterbefehlshaber der Infanteriekompanie konnte unmöglich wissen, wie schwerwiegend seine Enthüllungen waren. Doch wenn Herzog Dunweir 20
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es darauf anlegte, seine Zweite Armee in Sarresantische Kolonien zu führen, konnte das nur heißen, dass die Ganden in einem verzweifelten Vabanquespiel ihre zahlenmäßige Überlegenheit einsetzten, um einen Vorstoß gegen Nouvelle-Sarresant selbst auszuführen. Ein Zug, der unbemerkt geblieben wäre, hätte Oberst Hansus Regiment nicht vor zwei Tagen eine falsche Abzweigung genommen und dadurch den Weg einer ihrer Patrouillen gekreuzt. Pures Glück. Oder eine Falle. Beim Militär musste man mit beidem rechnen. Lustig, wie fein die Grenze zwischen Genie und Idiotie sein konnte. Sie trieb Jiri durch einen Rippenstoß mit den Knien an und ritt an die Spitze der Kolonne. »Seid Ihr sicher, dass wir Euch das nicht ausreden können, Frau Oberst?«, fragte d’Guile mit einem schiefen Lächeln im Gesicht. Sie ließ Jiri auf die Hinterbeine gehen, um neben ihm abzubremsen. »Nein, Hauptmann. Der Befehl steht. Ihr reitet eiligst zum Hauptheer. Teilt dem Oberkommando alles mit, was wir in Erfahrung gebracht haben. In ein paar Tagen stoße ich zu Euch mit einem Bericht aus erster Hand.« Stabshauptmann Pourrain neben ihr ließ ein höfliches Hüsteln hören. »Frau Oberst, bei aller Hochachtung, aber hat Vicomte-General Carailles Euch nicht schwer gerügt, als Ihr das letzte Mal einen Erkundungstrupp angeführt habt?« Pourrain war ihr Kommandant mit den meisten Dienstjahren, ehemals angeworbener Sol-
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dat, der, obwohl er nie die Akademie besucht hatte, zum Hauptmann befördert worden war. Er verzog zwar nicht das Gesicht, doch sie kannte ihn gut genug, um den trockenen Humor in seinen Worten herauszuhören. Vicomte-General Carailles sollte sich das Langschwert des Exarchen reinstecken, wenn es nach ihr ging. Was kümmerte sie seine Meinung über ihr Kommando oder über die Risiken, die sie einging? Die vier Stabshauptmänner kicherten. »Passt auf Euch auf, Frau Oberst«, sagte Stabshauptmann d’Guile. »Und passt Ihr auf die Männer auf«, sagte sie. »D’Guile, Ihr habt das Kommando über die Vierzehnte, bis ich zurück bin.« Er salutierte, und die anderen drei taten es ihm gleich. Sie erwiderte den Gruß und entließ sie. Die Vierzehnte leichte Kavallerie teilte sich in zwei Kolonnen. Eine lange, gewundene Reihe aus Pferden und Wagen folgte d’Guiles Banner und wandte sich nach Norden, zurück zur Grenze von Sarresant. Die andere, ein Trupp aus sechs Reitern, von der Brigadekommandantin angeführt, machte sich Richtung Osten auf den Weg zur letzten bekannten Position des feindlichen Heeres.
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Das Zeitalter der Revolution ist angebrochen. Im Reich Sarresant schwelt die Unzufriedenheit gegen die Regierung. In der Wildnis bedroht eine neue Magie das Gleichgewicht der Stämme. Und auf den Schlachtfeldern verzweifeln selbst die fähigsten Befehlshaber an den Auswirkungen eines gewaltigen Krieges. Drei Helden müssen sich verbünden, um sich dem drohenden Untergang entgegenzustellen – doch was sie entdecken, ist weit größer und gefährlicher als sie ahnen konnten ...
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