Michael Bar-Zohar "Hitlers jüdischer Spion"

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Michael Bar-Zohar

Hitlers J端discher Spion R omanbiogRaphie

Aus dem Englischen von Michael Niemann


Originalausgabe: Hitler’s Jewish Spy: he Most Extraordinary True Spy Story of World War II; Sidgwick & Jackson Ltd (7. November 1985) Bibliograische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograie; detaillierte bibliograische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © 2014 JONAS PLÖTTNER VERLAG UG, LEIPZIG 1. Aulage ISBN 978-3-95537-138-8 Umschlagreihengestaltung: Maike Hohmeier, Hamburg Umschlag: Martin Schotten unter Verwendung eines Fotos von Paul Fackenheim (Privat) Foto des Autors: Gil Bar-Zohar Übersetzung: Aus dem Englischen von Michael Niemann Satz: Jonas Plöttner Gesetzt in der Adobe Garamond Pro Druck: Elbe Druckerei, Wittenberg www.ploettner-verlag.de



ZUM AUTOR: Michael Bar-Zohar wurde 1938 in Bulgarien geboren und immigrierte 1948 nach Israel. Er ist Historiker, Schriftsteller, Journalist, Ăśfentlicher Redner und politischer Berater. Von 1981 bis 1992 war er Mitglied der Knesset (israelisches Parlament). Sein schriftstellerisches Werk wurde bereits mehrfach ausgezeichnet und umfasst zahlreiche SachbĂźcher, unter anderem zum israelischen Geheimdienst, einzelnen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und die Biographien von David Ben-Gurion und Shimon Peres.


ZUM BUCH: Paul Ernst Fackenheim, internierter Jude mit der Nummer 26336 in Dachau, wurde auf Betreiben der »Abwehr« 1941 aus dem Konzentrationslager entlassen und mit einer besonderen Mission beauftragt: Als Spion ausgebildet, sollte er über dem besetzten Palästina per Fallschirm abspringen, um die Briten über ihre Verteidigungsstrategie bezüglich des Suez-Kanals auszuhorchen. Das Vorhaben scheint wahnwitzig und ebenso irrational wie die Kriegswirren selbst. Denn warum einen Juden für diese delikate Aufgabe verwenden, der bereits alles verloren hat ? Die Antwort liegt in der ambivalenten Vorgeschichte Paul Fackenheims begründet, der als Held aus dem Ersten Weltkrieg hervorging und sein Leben als patriotischer Deutscher ausprägte. Erst die Machtergreifung Hitlers und dessen Judenpolitik erschütterten seine Grundeinstellungen und sein Weltbild. Unbemerkt von seinen ehemaligen Kriegskameraden, die ihn als Preis für seine Befreiung für einen neuen Kriegseinsatz instrumentalisieren wollten. Beruhend auf Zeitzeugengesprächen erzählt der Journalist Michael Bar-Zohar die bewegende Geschichte des einzigen Juden, der von den Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges aus einem Konzentrationslager entlassen wurde und in einem nervenaufreibenden Verwirrspiel an den Schauplätzen Brüssel, Berlin, Athen, Palästina und Ägypten mehrfach um Haaresbreite dem Tod entgehen konnte.


»Denn die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir, derselben Gift muss mein Geist trinken, und die Schrecknisse Gottes sind auf mich gerichtet.« (Hiob 6:4)

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Teil 1 H채ftling 26336

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I. Wunder

In

dachau

»Block Vier, stillgestanden ! Mützen … ab!« Als der Befehl über den riesigen Appellplatz hallte, nahmen fünfhundert Männer ihre Mützen ab und erstarrten in Erwartung. Es war ein kalter und feuchter Morgen im April 1941 im Konzentrationslager Dachau. Ein scharfer Wind, der sich von den Ufern der Amper erhob, blies über das düstere Moor. Der Wind heulte in den Fenstern der langen Holzbaracken und peitschte die Häftlinge, die in Reih und Glied auf dem Exerzierplatz standen, gnadenlos aus. Sie hatten dort seit 4 Uhr 30 morgens gestanden. Im Angesicht der Maschinengewehre auf den Wachtürmen zitterten sie in ihren groben, blaugestreiften Uniformen, auf denen gelb-schwarze, rote oder grüne Sterne eingestanzt waren. Die Sterne zeigten an, dass die Männer Insassen des »jüdischen Blocks« von Lager Nummer 3 waren. Einige der Gefangenen, die mit ihrer aschgrauen Haut wie Skelette aussahen, konnten sich kaum noch aufrecht halten. Ihre ausgemergelten Gesichter waren ausdruckslos; sie waren lebende Tote, »Muselmänner«1, deren Lebenserwartung sich noch auf Tage, vielleicht Stunden, belief. Wenn sie nicht den unmenschlichen Strapazen der Zwangsarbeit erlagen, würden ihnen wahrscheinlich ihre Schädel durch eine aus nächster Nähe abgefeu1 von den Nazis verwendete Bezeichnung für Häftlinge in Konzentrationslagern, die sich im letzten Stadium des Hungertodes befanden

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erte Kugel weggeblasen werden. Dann würden die SS-Wächter protokollieren: »Auf der Flucht erschossen.« Hermann Göring selbst hatte diese Richtlinie in Kraft gesetzt, als die Nazis 1933 die Macht übernommen hatten. »Schießen Sie zuerst«, hatte er der Gestapo befohlen, »und fragen Sie erst anschließend, und wenn Sie Fehler machen, werde ich meine schützende Hand über Sie halten.« Die SS-Wächter sagten, dass sie ihre Häftlinge nicht gerne erschössen. Eine Kugel koste drei Pfennige, erklärten sie ihren jüdischen Gefangenen, und dies sei zweifellos ein zu hoher Preis für das Leben eines Drecksjuden. Daher ermordeten sie ihre Häftlinge oft mit weniger teuren Methoden, etwa auf die Art und Weise, wie sie sich des armen Herrn Schwartz entledigt hatten, einem Wiener Anwalt, der zu Tode geprügelt worden war, weil er sich geweigert hatte, zu rufen: »Ich bin ein dreckiger jüdischer Anwalt.« Oder den Geschäftsführer der »Bata« Schuhfabrik aus Prag, der von einigen sadistischen »Kapos«2 getötet worden war, die meisten von ihnen ehemalige Kommunisten. Und all die anderen Männer, die erschossen, erschlagen, ertränkt und mit ihren an den Zehen festgeschnallten Identiikationsnummern nackt zum Krematorium geschleift oder schlicht und einfach tot liegengelassen wurden, so dass ihre aufgedunsenen Kadaver entlang der Stacheldrahtzäune, die das Lager umgaben, verwesten.

2 Bezeichnung für einen »Funktionshäftling«, der zu einem Mitarbeiter der Lagerleitung bestimmt wurde und andere Häftlinge beaufsichtigen musste

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Das wird mir nicht passieren, sagte sich ein in der zweiten Reihe stehender Häftling zum wiederholten Male. Ich werde ihnen keinen Vorwand geben. Ich muss überleben. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt, untersetzt und von mittlerer Größe. Er hatte ein ofenes Gesicht, eine klare Stirn, tiefe braune Augen und ein eigenwilliges, störrisches Kinn. Sein Schädel war kahl rasiert, gemäß den in Dachau geltenden Richtlinien, und er klammerte seine Häftlingsmütze fest in seiner rechten Hand. Unter dem in seine Uniform eingestanzten gelb-schwarzen Stern war in braunen Zifern die Nummer 26336 gedruckt. »Block Vier«, bellte der SS-Wächter, »eingetreten mit einer Belegschaft von vierhundertachtzig Häftlingen, acht in der Krankenabteilung, zwölf bei der Arbeit …« Bis jetzt hatte er noch Glück gehabt, dachte 26336, abgesehen von den üblichen brutalen Schlägen in der Nacht seiner Ankunft hatte man ihn nicht belästigt. Er war den berüchtigten Bestrafungsaktionen der SS entgangen, den »drei bösen B’s«. Da gab es zunächst den »Bock«, einen hölzernen gewölbten Tisch, auf den man den Oberkörper eines Häftlings festband und ihn fünfundzwanzig bis dreißig Mal mit einer langen Peitsche schlug, die zuvor mit Wasser getränkt worden war. Er musste die Schläge während des Auspeitschens laut mitzählen, und falls er damit aufhörte oder einen Fehler machte, ging es von vorne los. Das zweite B war der »Baum«, ein acht Fuß hoher, mit Haken besetzter Pfahl, an dem man einen Häftling stundenlang an seinen hinter dem Rücken gefesselten Armen hängen ließ. Wenn man den Stuhl unter ihm wegstieß, iel sein Kör-

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per plötzlich ins Leere und schwang hillos wie ein gigantisches Pendel in der Luft. Auch wenn man ihn nicht auspeitschte, konnte das abrupte Fallen seines Körpers, der plötzlich an den verdrehten Handgelenken hing, seine Muskeln zerreißen oder seine Arme brechen, und dann war er nur noch gut genug für das Krematorium. Und schließlich gab es den »Bunker«, einen insteren Keller, den man zum Zwecke der Einzelhaft einsetzte und wo die Qualen, die man einem Häftling zufügte, so grausam waren, dass man sie sogar vor den regulären SS-Wächtern geheim hielt. Nummer 26336 war all dies bisher erspart geblieben, aber konnte er wissen, ob und wann sein Glück sich vielleicht wenden würde? Jeden Tag erfand die SS neue Spielchen und Regeln, um die Gefangenen zu demütigen, und wenn man mit dem Verhalten eines Häftlings unzufrieden war, setzte man den gesamten Block schrecklichen Bestrafungen aus. In der zurückliegenden Woche hatte man alle Schutzhaft-Juden gezwungen, auf dem Exerzierplatz zu marschieren und SS-Hymnen und antisemitische Lieder zu singen, die aus der Nazi-Zeitung »Der Stürmer« stammten und die Juden als »Schweine« und »Müll« beschrieben. Die Juden hatten den gesamten letzten Sonntag damit verbracht, hohe Stein- und Zementhaufen von einem Teil des Lagers in einen anderen zu bewegen, Löcher auszugraben und sie wieder aufzufüllen. Dann hatten die lachenden SS-Männer ihre Hände hinter ihren Rücken gefesselt und sie gezwungen, auf ihren Bäuchen zu kriechen und ihr Essen aufzulecken, während sie das Grunzen von Schweinen imitieren mussten. Den Insassen des Nachbarblocks war befohlen worden, sich ge-

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genseitig ihre Gesichter mit Fäkalien zu beschmieren und sich dann zu bespucken, zu schlagen und abzulecken. Für katholische Priester, Zeugen Jehovas und politische Häftlinge wurden täglich neue Foltermethoden erfunden, während man Polen oftmals standrechtlich erschoss. Fünfundfünfzig Intellektuelle aus einem Waggon, der vor kurzem aus Warschau angekommen war, hatte man direkt zum Schießplatz geführt und liquidiert. Aus seinem Augenwinkel erblickte Nummer 26336 den Oberscharführer Beck, der sich den Reihen der Häftlinge langsam näherte. Er versteifte und betete still, dass Beck nicht hinter ihm vorbeigehen würde. Einige Tage zuvor hatte sich ein großes, eitriges Geschwür an seinem Hinterhals gebildet. Die Wunde, die so groß war wie die Fläche seiner Hand, hatte sich krebsartig über seine Schulter ausgebreitet und schied Blut und Eiter aus. Er hatte sie mit dicken, dreckigen Papierstreifen bedeckt. Er wusste, dass er dies natürlich dem Lazarett melden musste, aber dort würde man vielleicht entscheiden, dass die Wunde eine zu große Behinderung sei, und ihn dann wie einen räudigen Hund erschießen. Menschen waren in Dachau schon aus viel nichtigeren Gründen getötet worden, so wie dieser Junge aus München, der zufällig Läuse in seinen Haaren hatte. Der SS-Wachmann hatte auf ein Plakat gezeigt, das an der Mauer hing, mit der Aufschrift: »Eine Laus – dein Tod!«. Dann hatte er den benommenen Jungen aus der Baracke gezerrt, und man hatte ihn nie wieder gesehen. Ähnliche Schicksale erwarteten Leute mit Phlegmonen an ihren Füßen, mit Diphtherie, Tuberkulose, Lungenentzündung, Ruhr, Typhusieber und anderen Krankheiten, die durch Kälte und schrecklichen Hunger ver-

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ursacht wurden. Ein Freund von 26336, der in der Verwaltung des Lagers angestellt war, hatte ihm gesagt, dass in den letzten drei Monaten etwa 1.200 Männer in Dachau gestorben waren. 26336 hatte in den letzten beiden Wochen einigermaßen Glück gehabt. Man hatte ihn zur Arbeit in die Zwinger geschickt, und da hatte er einige rohe Fleischbissen verschlungen, die er gewissermaßen den Rachen der Hunde entrissen hatte. »Der Hund« – das war auch der makabre Spitzname, den die Häftlinge dem Oberscharführer Beck gegeben hatten, der nun vor ihnen entlang schritt und die Anzahl der Blockinsassen begutachtete. Er war 25 Jahre alt, tadellos gekleidet, trug glänzende Stiefel und eine Peitsche in seiner linken Achselhöhle. Er war groß, blond und gut aussehend – und ein sadistischer Mörder, der in seiner Bestialität nur von Egon Zill, dem Lagerkommandanten, übertrofen wurde. Allerdings schien Beck an diesem Morgen ziemlich gut gelaunt zu sein. Er blickte 26336 nicht an und hielt nur kurz am Ende der Reihe an, um die Identität von vier Leichen, die im Schlamm lagen, zu überprüfen. Sie waren während der Nacht gestorben und mussten gemäß den Richtlinien zum Morgenappell nach draußen gebracht, gezählt, verzeichnet und ordnungsgemäß aus den Listen gestrichen werden. Alles musste in Dachau in perfekter Ordnung sein, und jeder Block musste nachweisen, dass morgens dieselbe »Stückzahl« in den Büchern eingetragen war wie am Abend zuvor. Auf Becks Befehl hin mischten sich die Wächter und Kapos unter die Häftlinge, fuchtelten mit ihren Listen herum, begannen damit, die Arbeitstruppen zu formieren, und riefen dabei: »Tempo! Tempo! Los ! Los!« Die größte Gruppe wurde

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zu den Werkstätten abkommandiert, ein zweites Kommando ging zur Plantage, und wieder andere wurden in den Sumpf, ins Schlachthaus oder in den berüchtigten Steinbruch geschickt. Eine Woche im Steinbruch war gleichbedeutend mit einem Todesurteil. 26336 konnte es nicht unterdrücken, eine gewisse Erleichterung zu zeigen, nachdem die letzte Nummer für den »Steinbruchtrupp« aufgerufen worden war und die Häftlinge bedrückt ihren Weg entlang stapften, eskortiert von vier bewafneten SS-Männern. Der Schweinestall war ein weiterer Todesort. Viele Häftlinge wurden von der SS vorsätzlich in den stinkenden Pfützen inmitten der schmutzigen, grunzenden Schweine ertränkt. Was für eine Art zu sterben. 26336 erstarrte, als er den Kapo die Nummern für den »Schweinestalltrupp« ausrufen hörte. Auch zu diesem Kommando gehörte er nicht. Er fasste wieder Mut. Er würde einen weiteren Tag lang davonkommen – vielleicht würde man ihn wieder zu den Zwingern schicken. Auch die SS-Wohnquartiere galten als »unerwartete Glückstrefer«. Man hatte eine gute Chance, in den Mülltonnen Essensreste zu inden, manchmal sogar eine große, mit Butter bestrichene Brotscheibe, die eine barmherzige SS-Frau dort hineingelegt hatte. Oder vielleicht würde man ihn ins »Museum« schicken ? Die besessenen Kommandeure in Dachau brüsteten sich mit einer bizarren Ausstellung, die sie das »Lagermuseum« nannten. Alle »Häftlingstypen« wurden in Form von Fotos, Wachs- oder Gipsiguren dargestellt, um SS-Würdenträgern Abwechslung zu bieten. Besucher konnten »Abbilder« von politischen Regimegegnern betrachten, vernarbte und tätowierte Kriminelle und verkommene Juden, die ehrliche Deutsche aus-

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raubten. Das einzige, was das Museum nicht ausstellte, dachte 26336 verbittert, waren die Methoden, mit denen sich das Reich der Häftlinge entledigte. Aber ein Arbeitstag dort war ein Ausruhtag, und das gehörte noch zum Besten, wovon ein »Untermensch« in Dachau träumen konnte. Der Appellplatz war jetzt fast leer, und Arbeitskommandos eilten in alle Richtungen davon. 26336 wurde sich mit einem Mal bewusst, dass er etwas abseits von den Leichen zu seiner Linken stehend nun der einzige Häftling war, der noch nicht aufgerufen und einer Tagesarbeit zugewiesen worden war. Er stand aufrecht, ganz allein, mitten auf dem großem Appellplatz, und fühlte sich völlig schutzlos in seiner gestreiften Uniform und seinen schweren Holzschlappen. Was ging hier vor? Eine Welle der Angst erhob sich in seiner Brust. Warum hatte man seine Nummer nicht aufgerufen? Warum hatte man ihn nicht zur Arbeit geschickt? Konnte man ihn tatsächlich vergessen haben? Nein, unmöglich. Die deutsche Maschinerie war zu perfekt für einen solchen Irrtum. Einen »Drecksjuden« in Dachau würde man nicht vergessen. Mit wachsender Anspannung blickte er um sich. Der scharfe Wind ließ einige Plakate aulattern, die schlecht an den Außenwänden der Baracken befestigt waren. »Arbeit macht frei« stand in großen gotischen Druckbuchstaben auf einem von ihnen, und »Alles für den Endsieg« auf einem anderen. Von dort, wo 26336 stand, konnte er den großen Wahlspruch auf dem geneigten Dach des Wirtschaftsgebäudes sehen: »Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterland.« All dies hatte er doch erfüllt, sagte er sich.

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Er war seinem geliebten Vaterland gehorsam und ergeben gewesen und hatte sogar sein Blut für Deutschland gegeben. Und dieses Vaterland hatte ihn durch das Tor zur Hölle gestoßen. »Nummer Zwei Sechs Drei Drei Sechs!« brüllte eine eindringliche Stimme in die Lautsprecher. »Nummer Zwei Sechs Drei Drei Sechs zum Krankenhaus! Schnell!« Das Krankenhaus. Er zögerte eine Sekunde und trabte dann unbeholfen über den menschenleeren Appellplatz, gehetzt von der kalten Stimme, die seine Nummer über ganz Dachau hinweg donnerte. Warum das Krankenhaus? Das konnte eigentlich nichts mit dem Geschwür an seinem Hals zu tun haben. Einer der SS-Männer mochte es bemerkt und gemeldet haben, aber für eine Wunde wie diese wurde man doch nicht in das Krankenhaus von Dachau gerufen. Man hatte andere Methoden, damit umzugehen. Wenn eine Wunde oder Krankheit als unheilbar eingeschätzt wurde, wurde man einfach aus dem Lager an einen unbekannten Bestimmungsort gebracht und kam nie mehr zurück. Und die SS-Beamten trugen neben dem Namen ins Protokollbuch ein: »Dienstunfähig, weggeschickt zur Exterminierung.« Außer Atem stoppte er vor dem Eingang des Krankenhauses und zog richtliniengemäß seine Schlappen aus. Ein SS-Wachmann, der ein großes rotes Band an seinem linken Arm trug, wies ihn in das kleine Büro. Darin saß ein weiterer SS-Mann hinter einem aufgeräumten Schreibtisch und blätterte durch die Seiten einer dicken braunen Akte. 26336, der noch immer schwer atmete, nahm seine Mütze ab und stand

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still. Der SS-Mann schaute ihn mit bewölkten, gleichgültigen Augen an. »Ja?« Der Häftling sagte auf: »Schutzhaft-Jude Nummer Zwei Sechs Drei Drei Sechs meldet sich wie befohlen, Herr Blockführer.« Der Nazi blickte ihn aufmerksam an. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte 26336 einen Anlug von Sympathie in dessen Augen zu erkennen. »Sind Sie in einem guten Zustand?« »Ja, Herr Blockführer.« »Drehen Sie sich um! Ja, so. Was haben Sie denn da an Ihrem Hals?« Er versuchte, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ein Geschwür, Herr Blockführer.« Jetzt wussten sie es also. »Warten Sie hier!« Der SS-Mann erhob sich, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. 26336 wurde allein in dem Büro zurückgelassen. Wilde und verzweifelte Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Würden sie medizinische Experimente mit ihm anstellen ? Eigentlich sollte es geheim gehalten werden, aber unter den Häftlingen verbreiteten sich immer unheimlichere Gerüchte, denen zufolge in einigen der Baracken grauenhafte Versuche an lebenden Menschen durchgeführt wurden. So experimentierte angeblich ein gewisser Dr. Blaha in Block 5 mit Tuberkulose-Kranken. Fünfhundert Häftlinge waren in dem Block isoliert und mit der Krankheit iniziert worden. Gerüchteweise plante man, sie alle umzubringen, sobald das Experiment beendet sein würde. Fast noch schlimmer waren die Aktivitäten von Professor Schilling, dem »Malaria-Experten«. 26336 hatte

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ihn einmal gesehen, als er aus einem Auto ausgestiegen war: ein spärlicher, schmalbrüstiger alter Mann mit schütterem, blondweißem Haar, schmalem Mund, einem Spitzbart und kleinen Vogelaugen hinter einer randlosen Brille. Einer der Häftlinge, der im Krankenhaus als Sanitätsarbeiter angestellt war, war in Schillings Labor gewesen, wo er Käige voller Moskitos gesehen hatte. Deren Aufschriften besagten, dass sie aus den Pontinischen Sümpfen in Italien und von der Krim eingeführt worden waren. Angeblich versetzte Professor Schilling gesunde Häftlinge mit Moskitostichen, inizierte sie dadurch mit dem Malaria-Virus und beobachtete dann den Fortgang der Krankheit, bis seine Patienten starben. Meistens benutzte er Juden und polnische Priester. Und schließlich gab es noch Dr. Rascher, einen fanatischen Nazi, der Berichten zufolge Experimente in Verbindung mit Blutkristallisierung durchführte. Man sagte ihm nach, dass er Häftlinge ohne zu zögern mit einem Messer oder einer Gewehrkugel verwundete und anschließend beobachtete, wie das Blut langsam aus ihren Körpern loss. Angeblich experimentierte er mit einer neuen Droge, die das Blut gerinnen ließ, und führte dann akribische Zeitmessungen bis zum Eintritt des Todes durch. Die Tür öfnete sich. Der Nazi kam zurück, gefolgt von einem SS-Arzt, der das Rangabzeichen eines Sturmführers trug. Der Mediziner ging auf 26336 zu und schaute sich seine Wunde an. »Donnerwetter!«, stieß er hervor, mit einem Ausdruck äußersten Ekels in seinem Gesicht. »Was für eine Sauerei!« Er wandte sich seinem Kollegen zu. »Bringen Sie ihn sofort ins Lazarett und tragen Sie den Schwestern auf, diesen Dreck mit Alkohol

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auszuwaschen! Mit viel Alkohol. Sorgen Sie dafür, dass es wirklich gründlich gesäubert wird! Ich werde dann auch sofort da sein.« Im Lazarett wurde 26336 gebeten, auf einem lederbezogenen Sitz Platz zu nehmen. Er hatte ein seltsames Gefühl, ihm war, als träume er. Drei männliche Pleger kümmerten sich um ihn, ihre Hände voller mit Alkohol getränkter Wattebäusche. Sie wuschen das Geschwür ihres jüdischen Patienten gründlich aus. Der stechende Schmerz war unerträglich und trieb ihm Tränen in seine Augen, aber er gab nicht einen Laut von sich. In der Ecke stand ein SS-Wächter und betrachtete sie. Ab und zu brüllte er: »Viel Alkohol! Gründlich reinigen!« Er müsste doch eigentlich genauso sprachlos sein wie ich, dachte 26336. Alkohol ist heutzutage in Deutschland sehr teuer. Und solche Mengen an einen jüdischen Häftling zu verschwenden, dessen Tage gezählt sind …Warum tun sie das ? »Achtung !« Nüchternes Hackenschlagen kündigte die Ankunft des Doktors an, der zielgerichtet eintrat, sich über 26336 beugte und das Geschwür untersuchte. »Pinzette !« befahl er mit ausgestreckter Hand. »Wattebäusche! Binden!« Sorgfältig verband er die Wunde des Häftlings, ging dann um ihn herum und blickte ihn an. Er hatte ein schmales, sauber rasiertes Gesicht und einen markanten Adamsapfel. »Sie bleiben hier, im Krankenhaus!«, sagte er. »Verstanden?« »Jawohl, Herr Doktor.« »Ab jetzt stehen Sie unter meiner persönlichen Verantwortung. Sie werden Ihre Mahlzeiten hier einnehmen. Und Sie werden nicht zur Arbeit gehen. Verstanden ?«

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»Jawohl, Herr Doktor.« Als der Mediziner den Raum verließ, konnte 26336 nicht umhin, seine Hand auf seinen Oberschenkel gleiten zu lassen und sich zu kneifen. War sein Glück echt ? Es folgte eine Woche wunderbaren Müßiggangs, mit Ruhe, guter Plege und üppigen Mahlzeiten. 26336 fühlte sich, als sei er in eine andere, entfernte Welt eingetreten. Durch sein Fenster konnte er ein Stück Himmel sehen, unversehrt vom grauenvollen schwarzen Rauch der Schornsteine der Krematorien. Und dennoch – einige hundert Schritte entfernt, in den Baracken, auf dem Bock, in den Folterkammern und draußen im Feld starben Menschen. Von Zeit zu Zeit brach ein kurzer Pistolenschuss in die Stille des Krankenhauses ein und erinnerte 26336 daran, dass zwischen ihm und der lebendigen Hölle dieses insteren Nazi-Lagers nur ein paar Backsteinmauern standen. Aber in seinem Krankenzimmer herrschte Ruhe. Die Krankenpleger und Schwestern fütterten und verwöhnten 26336 mit äußerster Aufmerksamkeit und Hingabe. Und dennoch drängte sich ihm eine Frage immer wieder auf, quälte ihn, erschütterte seine Hofnungen, füllte seinen Schlaf mit Albträumen. Warum ? Warum behandelten sie ihn so ? Jetzt, da er wusste, dass man ihn nicht töten oder zu einem menschlichen Versuchskaninchen machen würde, kam ein neuer Verdacht in ihm auf und wurde schnell zu einer quälenden Obsession. Gleiwitz, lüsterte eine Stimme in ihm immer wieder, erinnerst du dich daran, was man über Gleiwitz erzählt hat? Über die Häftlinge? Weißt du, was mit ihnen passiert ist?

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Die entsetzliche Geschichte über Gleiwitz war ihm von einem Kapo seines Blocks erzählt worden, einem früheren SA-Soldaten, der über exzellente Verbindungen verfügte. Im August 1939, als Hitler entschieden hatte, Krieg zu führen, hatte er seinen Helfern befohlen, einen Vorwand für den Angrif auf Polen zu inden. Die Spießgesellen des Führers, Himmler und Heydrich, erdachten eilig eine ideale Provokation. In polnische Uniformen gekleidet gaben sich zwei Abteilungen von SS-Spezialtruppen als Polen aus und inszenierten einen Angrif auf deutsche Einheiten an den polnisch-deutschen Grenzposten Pitschen und Hochlinden. Eine dritte Abteilung übernahm die Gleiwitzer Radiostation, die sich nahe der polnischen Grenze befand. Man übertrug eine kurze Ansprache, deren Sprecher Hitler und das Reich beleidigte und behauptete, dass Breslau und Danzig polnisch seien. Dann zog die Abteilung sich zurück. Um die simulierten Angrife glaubwürdiger zu machen, entschieden die SS-Bosse, etwa fünfzehn in deutsche und polnische Uniformen gekleidete Leichen zurückzulassen. Die Fotografen und Journalisten, die zur Radiostation und zu den Grenzposten gedrängt wurden, fanden somit Beweise, dass die Polen tatsächlich während der Nacht die deutsche Grenze überquert und die deutschen Truppen feige überfallen hatten. Die SS benötigte also frisch getötete Körper, um Deutschlands anschließende Vergeltung und den vollständigen Angrif auf Polen zu rechtfertigen. Gerüchteweise war es der gefürchtete Gestapo-Chef General Heinrich Müller persönlich, der die Leichen geliefert hatte: fünfzehn Insassen von Konzentrationslagern. Sie waren für zwei Wochen irgendwohin gebracht worden, man hatte ihnen reichlich Nahrung gegeben und die

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sofortige Freilassung versprochen, wenn sie einwilligen würden, in der Nacht zum 31. August an einer harmlosen Maskerade teilzunehmen. Als die Nacht hereinbrach, zogen die Häftlinge die deutschen und polnischen Uniformen an, die vom Geheimdienst geliefert worden waren; und einige Minuten später krümmten sie sich im Todeskampf, vergiftet durch tödliche Injektionen. Dann durchlöcherte man sie mit Kugeln, transportierte ihre blutigen Leichen in nicht gekennzeichneten Autos und verstreute sie an den Orten der drei Grenzzwischenfälle. Das Ereignis, über das man am nächsten Morgen in den deutschen Zeitungen am ausführlichsten berichtete, war die polnische Attacke auf den Gleiwitzer Radiosender. Der Körper eines toten »Polen«, eines großen, blonden, ungefähr dreißigjährigen Mannes, lag neben dem Eingang der Station. Am folgenden Tag, dem 1. September 1939, entfachte Hitler den Krieg gegen Polen. Erinnerst du dich daran, was man dir über Gleiwitz erzählt hat? wiederholte die innere Stimme. Erinnerst du dich daran, was man dir über diese Leichen erzählt hat? Sie waren auch Häftlinge, wie du. Sie waren auch Juden und politische Dissidenten. Sie sind auch von den anderen getrennt worden und haben Extrarationen und gute Plege erhalten, und man hat ihnen erlaubt, zu schlafen. Und nun sind sie tot, schweigende Mitwisser des von Hitler ausgeheckten hinterhältigen Betruges. »Jemand ist sehr an Ihnen interessiert«, sagte der Oberpleger. »Wenn Sie nicht jüdisch wären, würde ich sagen, dass man sich darauf vorbereitet, Sie freizulassen. Aber ein Jude …«

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Er hat recht, sagte die innere Stimme. Kein Jude hat Dachau jemals lebend verlassen. Nicht ein einziger. So lag 26336 wach in seinem Krankenbett, und Unsicherheit und dunkle Vorahnungen nagten an ihm, als er den siebten Tag, den 16. April 1941, anbrechen sah. »Nummer Zwei Sechs Drei Drei Sechs«, hallten die Lautsprecher. »Nummer Zwei Sechs Drei Drei Sechs zur politischen Abteilung. Schnell!« Er trabte auf das niedrige, längliche Gebäude zu, in dem sich die »Politische Abteilung« befand – besser bekannt unter einem anderen Namen: Gestapo. Der Raum war spartanisch eingerichtet. Zwei Schreibtische. Ein alter Sessel. Ein großes Foto des Führers in Militäruniform hing an der Wand. Zwei Männer in Zivilkleidung saßen hinter den Schreibtischen. Einer von ihnen trug eine dicke, runde Brille. Er wirkte grimmig, hatte fahle Haut und schütteres, hellblondes Haar. Sein konservativer schwarzer Anzug hing lose über seinem mageren Körper. Er war etwa fünfzig Jahre alt. Seine Nase war spitz, seine Lippen dünn und blutleer, gekrümmt zu einem permanenten, anzüglichen Grinsen. Seine wässrigen Augen, die hinter der mächtigen Brille außergewöhnlich groß wirkten, ixierten 26336 mit einem kalten, ungerührten Blick. Der andere Mann war groß, gut gebaut und in den frühen Vierzigern, hatte gewelltes, braunes Haar und ein ofenes Gesicht. Er trug einen blauen Zweireiher. Sein Hemd und seine Krawatte waren von feiner Qualität, und seine auf dem Schreibtisch ruhenden Hände waren frisch manikürt.

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Aber der Mann war keineswegs ein Dandy. Sein dunkler Teint und seine aufrechte Haltung ließen auf einen leitenden Beamten schließen. 26336 machte an der Tür Halt und kniete sich schnell hin, um seine Schlappen auszuziehen. Die Richtlinien in Dachau waren sehr strikt: Ein »Untermensch« musste in Gegenwart eines Herren immer barfuß stehen. »Ziehen Sie Ihre Schuhe nicht aus!« Der Beamte hatte gesprochen. Seine Stimme war sanft, aber fest. Der Häftling schritt unbeholfen voran, unter dem beharrlichen Starren der beiden Männer. Er schlug seine Füße zusammen, presste seine Fäuste in seine Hüften und sagte: »Schutzhaftjude, Nummer Zwei Sechs Drei …« Der Beamte erhob seine Hand. »Bitte!« Dann wies er lächelnd auf den Sessel. »Würden Sie bitte Platz nehmen, Herr Fackenheim?« Entgeistert setzte dieser sich in den gepolsterten Sessel. Er konnte sich weder daran erinnern, wann er das letzte Mal in einem Sessel gesessen hatte, noch wann ihn jemand zuletzt mit seinem Namen oder mit »Herr« angesprochen hatte. Eine plötzliche Wutanwallung überkam ihn. Diese Leute konnten unmöglich ernsthaft sein. Niemand würde einen Juden in Dachau mit »Herr« anreden. Was sollte das hier sein, eine Farce? Wollten sie versuchen, ihn auf den Arm zu nehmen? Um eine neue rainierte Methode mentaler Folter zu testen? »Herr Fackenheim.« Wieder sprach der Beamte. »Mein Kollege und ich sind hierhergekommen, um Ihnen eine Frage zu stellen. Würden Sie gerne hier herauskommen? Ich meine, würde es Ihnen gefallen, freigelassen zu werden?«

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Unbeweglich starrte er die beiden Männer vor ihm an. Einen Moment lang rührte er sich nicht und war unfähig, die Worte des Beamten zu verarbeiten. Dieser schien auf eine solche Reaktion vorbereitet zu sein. Als Fackenheim ihn sprachlos anblickte, fuhr er mit ruhiger, tiefer Stimme fort. »Wir können veranlassen, dass Sie heute freigelassen werden, und wir können Sie mit uns nehmen. Wissen Sie, Sie sind kein Unbekannter für uns, Herr Fackenheim. Wir wissen einige Dinge über Sie. Während des Ersten Weltkrieges haben Sie sich im Kampf ausgezeichnet. Sie haben tapfer für Ihr Land gekämpft. Ihnen wurde das Eiserne Kreuz 1. Klasse verliehen. Sie waren Ihr Leben lang ein loyaler Deutscher. Sie verfügen über Talente und Qualiikationen, die nützlich für uns sein können. Und übrigens auch nützlich für Sie. Sie haben seit Ihrer Inhaftierung bei vielen Gelegenheiten wiederholt betont, dass Sie ein Deutscher bleiben, trotz allem, was Ihnen passiert ist. Das ist gut. Wir können Ihnen nun die Gelegenheit geben, das, was Sie sagen, auch in die Tat umzusetzen. Wenn Sie sich also tatsächlich als Deutscher fühlen, wären Sie bereit, etwas für Ihr Land zu tun? Und frei zu sein?« Fackenheim starrte weiterhin betrofen, unfähig, dieses ihm im Dachauer Gestapo-Hauptquartier so beiläuig gemachte Angebot zu verdauen. Ein Angebot, das ein Dachauer »Untermensch« sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Sofortige Freiheit. Als ob Dachau nie existiert hätte. Er holte tief Atem. Seine Hände, die sich an den Armlehnen festklammerten, zitterten. Tun Sie etwas für Ihr Land, hatte der Mann gesagt, und Sie werden frei sein. Tun Sie etwas für Deutschland. Aber warum ich?

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Warum hat man von allen Dachauer Häftlingen ausgerechnet mich gewählt? Vielleicht hat Hauptmann Metger, mein vorgesetzter Oizier während des Ersten Weltkrieges, in meiner Angelegenheit interveniert. Wir standen uns sehr nahe, bis ich verhaftet wurde. »Was meinen Sie damit, wenn Sie mich darum bitten, etwas für mein Land zu tun?« Sie ignorierten die Frage. »Was sagen Sie, Herr Fackenheim?«, fragte der Beamte schließlich. »Würden Sie gerne hier herauskommen?« »Ja, natürlich würde ich gerne hier herauskommen. Haben Sie jemals einen gesehen, der gerne in der Hölle schmort?« Zum ersten Mal sprach der andere Mann. »Sehr gut.« Er hatte eine kalte, hohe Stimme. »Dann ist das also abgemacht.« »Warten Sie!«, rief 26336, als er sich halb aus seinem Stuhl erhob. Die beiden Männer schauten ihn neugierig an. »Ich habe eine alte Mutter. Sie lebt in Frankfurt. Sie ist krank. Sie ist Witwe, und ich bin ihr einziger Sohn. Sie hat sonst niemanden auf der Welt.« Er hielt inne. »Und ich auch nicht.« Der Beamte nickte. »Das wissen wir«, sagte er nüchtern. »Diese Frau lebt in Angst und Armut«, fuhr 26336 fort. »Ich … ich muss Ihr Wort haben, dass sie in keiner Weise belästigt wird und dass man sich um sie kümmern wird.« Die beiden Männer tauschten teilnahmslose Blicke aus. »Ich denke, dass wir das garantieren können«, sagte der Beamte. Der ältere Mann neben ihm nickte abwesend. »Dann ist das also abgemacht«, wiederholte er. Seine Hand glitt unter den Schreibtisch und grif nach einem verborgenen Knopf. Die Tür zu seiner Rechten öfnete

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sich, und der Dachauer Gestapo-Chef trat ein. Er blickte 26336 noch nicht einmal an. Er schlug die Absätze zusammen und verbeugte sich respektvoll vor dem dünnen blonden Mann. »Jawohl, Herr Regierungsrat !« Regierungsrat. Ein weiterer Mosaikstein. Der zweite Unbekannte war also ein hochrangiger Beamter der Regierung. Er stand nun aufrecht. Seine scharfe Stimme klang autoritär und schien daran gewöhnt zu sein, Befehle zu erteilen. »Dieser Herr wird freigelassen. Veranlassen Sie alle notwendigen Schritte, damit er seine Kleider und persönlichen Dinge zurückerhält!« Das Gesicht des Gestapo-Chefs zeigte keine Regung. »Jawohl, Herr Regierungsrat !« Dann wandte er sich an Fackenheim und sagte mit hölicher Stimme: »Gehen Sie bitte hier entlang !« Sie gingen aus dem Büro heraus und ließen die beiden Unbekannten zurück. Ab diesem Moment vollzog sich alles wie in einem Traum. Der Gang zur Efektenkammer, in der das Eigentum der Häftlinge aufbewahrt wurde, durch eine Menge von hastig zurückweichenden Häftlingen, die verblüft über den Anblick waren, dass einer der ihrigen neben dem gefürchteten Gestapo-Chef herlief. Die Rückgabe seiner Kleider – Mantel, Anzug, Hemd, Krawatte, Unterwäsche, Socken und Schuhe. Das Taschentuch, die Schlüssel, die Uhr, die Geldbörse und das lose Wechselgeld, das sich noch in seinen Taschen befunden hatte, alles gründlich verzeichnet. Sogar eine halb aufgebrauchte Zigarettenpackung war noch vorhanden. Der kleine Kofer mit einigen Kleidern und Toilettenartikeln. Die Medaille, das Eiserne

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