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poet
nr.13
literaturmagazin
Herausgegeben von Andreas Heidtmann Redaktionsleitung Prosa: Katharina Bendixen Gedichtkommentare: Michael Braun und Michael Buselmeier Dossier Brasilien: Timo Berger Illustrationen: Miriam Zedelius
Impressum Das Literaturmagazin poet erscheint halbjährlich. Alle Rechte liegen bei den Autoren bzw. den Verlagen. Auf postalischem Weg erfolgt keine Annahme unverlangter Manuskripte. Beiträge können als Anhang einer E-Mail an die Adresse des poetenladens (manuskripte@poetenladen.de) geschickt werden. In der Regel werden Einsendungen nicht kommentiert. Anfragen sind via EMail möglich (info@poetenladen.de). Verlag: poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig, Germany Redaktion: Andreas Heidtmann, Fechnerstraße 6, 04155 Leipzig poet im Internet: www.poet-magazin.de poetenladen im Internet: www.poetenladen.de Der Verlag im Internet: www.poetenladen-der-verlag.de Bestellungen des aktuellen Magazins sowie früherer poet-Ausgaben über den Buchhandel, beim poetenladen per E-Mail (shop@poetenladen.de) oder per Fax (0341 – 6407314) oder portofrei über den Internetshop des poetenladens (www.poetenladen-der-verlag.de/shop). Illustration und Umschlaggestaltung: Miriam Zedelius Druck: Pöge Druck, Leipzig poet nr. 13 Literaturmagazin Andreas Heidtmann (Hg.) Leipzig: poetenladen, Herbst 2012 ISBN 978-3-940691-42-2
Calwer Hermann-Hesse-Preis für Literaturzeitschrien
Gefördert durch die Kulturstiung des Freistaates Sachsen
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Der Roman gilt gemeinhin als beliebteste und markttauglichste literarische Form. Erzählungen, vor allem aber Lyrik und Prosa-Miniaturen werden – auch bei namhaen Preisen – gern übergangen. Daher liegt es für ein Literaturmagazin nahe, sich der kleinen Prosa anzunehmen. In dieser Ausgabe gibt es neben Erzählungen vier solcher Beispiele, die ein Spektrum dieser kleinen, kunstvollen Form aufzeigen – von der Geschichte en miniature, o mit groteskem oder surrealem Anstrich, dem Spiel mit der Sprache bis hin zum Notat. In der Lyrik präsentiert der poet neue Beiträge zur Dichtung von Michael Braun und Michael Buselmeier, die damit den Prozess einer Kommentierung wichtiger Gegenwartsgedichte fortsetzen. Nachdem der Mexiko-Teil der letzten Ausgabe – auch in der Presse – großen Widerhall fand, darf man diesmal in die aktuelle brasilianische Dichter-Szene eintauchen. Dank an Timo Berger. Viel Freude beim Entdecken im Kleinen wie im Großen! Andreas Heidtmann, Herbst 2012
Politisches Lied
Seite 52
Kaiserpanorma Die junge deutsche Lyrik bietet diesmal viele Entdeckungen, etwa Martin Piekar und Anne Seidel, die zu den jüngsten Autoren des Hees gehören. Als Gegenpart gewissermaßen Jan Kuhlbrodts Kaiserpanorama, eine Art politisches Lied, das im Zusammenspiel mit dem umfänglichen Fußnotenapparat eine gleichermaßen persönlich wie historisch gefärbte Dimension entfaltet.
Dirk Baumeister und Frank Ruf
Seite 28
Vorgestellt von Christian Schloyer »Ich staune, dass noch kein kollektiver Aufschrei durch die Bevölkerung geht: Volkswirtschaen werden zugrunde gerichtet, die Interessen von Arbeitnehmern, Rentnern und Bedürigen verraten, die Zukun unserer Kinder vertan, die europäische Idee (lange Garant für Wohlstand und Frieden) torpediert ...«
Akrobat – Neue Gedichtkommentare
Seite 64
Michael Braun und Michael Buselmeier Nach 100 Kommentaren, die in dem Band Der gelbe Akrobat versammelt sind, folgte bereits in poet nr. 11 eine Fortsetzung mit neuen Beiträgen. In dieser Ausgabe präsentieren die Autoren 14 weitere Gedichtkommentare, die sich der Gegenwartslyrik widmen, nicht ohne gelegentlich der klassischen Moderne Referenz zu erweisen.
GEDICHTE SYLVIA GEIST: Lupost 9 HARTWIG MAURITZ: echo 14 TOBIAS ROTH: Repoussoir 17 DOMINIK DOMBROWSKI: Pathétique 20 JOACHIM ZÜNDER: Schnee 24 DIRK BAUMEISTER, FRANK RUF – Einführung von CHRISTIAN SCHLOYER CAROLIN CALLIES: fleischgeworden 36 CHRISTOPHE FRICKER: Gedichte aus North Carolina 40 MARTIN PIEKAR: Hauptbahnhof Wiesbaden 44 ANNE SEIDEL: russlandgedichte 48 JAN KUHLBRODT: Kaiserpanorama oder Die Rettung des politischen Liedes
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GEDICHTE, KOMMENTIERT MICHAEL BRAUN, MICHAEL BUSELMEIER: Einführung 64 NORBERT HUMMELT: dunst – Überlebte Dinge 66 BRIGITTE STRUZYK: Rundgang – Im Weinberg 69 ULRICH ZIEGER: an den vater von sem – Das große Verschwinden 72 MICHAEL DONHAUSER: Lass rauschen Lied ... – Rauschen und Lauschen 75 KATHARINA SCHULTENS: die möglichkeit einer verwechslung ... – Denken in Matrixstrukturen 78 WOLFGANG HILBIG: Pro domo et mundo – Nachtgesang 81 GERHARD FALKNER: die roten schuhe – Wehmut und Ironie 84 RAINER MALKOWSKI: Bist du das noch? – Letzte Verse 87 MARION POSCHMANN: latenter Ort – Bestickt mit Bäumen 90 KATHRIN SCHMIDT: waage, vorm wasser verchromt ... – Feuchtgebiet 93 JOACHIM ZÜNDER: Die Finnische Bibliothek – Aus der Winterzone 96 WILHELM LEHMANN: Auf sommerlichem Friedhof – Grab eines Dichters 100 KONSTANTIN AMES: dreißig lenze – Vershohnepipelung 103 JÖRG BURKHARD: in gauguins alten basketballschuhen – Auf nach Marseille! 106
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Neue brasilianische Dichtung
Seite 110
Das Spielerische und das Prekäre Nach dem viel beachteten Mexiko-Teil bietet der neue poet Beispiele brasilianischer Dichtung, vorgestellt von Timo Berger. »Das Land ist längst ein Global Player der Weltwirtscha. Auch seine Dichtung schöp mit vollem Recht aus allen Quellen, ohne sich rechtfertigen zu müssen, weil sie nicht die ›Indianer‹ im Amazonas thematisiert ...«
Ein bißchen wie Gott
Seite 201
Prosa von Michael G. Fritz Vor ein paar Tagen wurde ich auf einen anderen Platz gesetzt, ich musste für eine Kollegin einspringen, die hochschwanger fürs erste pausierte. Der Wechsel war mir nicht unangenehm; wenn man längere Zeit die Aufzüge verfolgt, engt das den Blick ein, es ist, als würde man in den Kabinen mitfahren: rund um die Uhr immer nur hoch und wieder runter, nichts Horizontales, und kein Sehen nach draußen.
Gespräche – Literatur und Alltag
Seite 240
Ohne Handwerk ist alles nichts Nicht immer gelingt es, Realität und Fiktion auseinanderzuhalten. Der Autor lebt gleichsam in zwei Sphären, der mehr oder weniger unaufgeregten Alltagswelt und der produzierten Fiktion. Wie vielfältig beide verknüp sind, ist Gegenstand unserer Gespräche. Da geht es um die kleinen Rituale, die den Schreiballtag begleiten – Zigarette anzünden, zum Brieasten gehen – bis hin zu existenziellen Lebenserfahrungen ... 8
GEDICHTE AUS BRASILIEN TIMO BERGER: Das Spielerische und das Prekäre 110 ANGÉLICA FREITAS: ach du kennst amerika noch nicht 117 FABRÍCIO CORSALETTI: Heute war meine letzte Sitzung 130 NICOLAS BEHR: Die Brasiliade 146 CARLITO AZEVEDO: Mädchen mit Xylophon und Blumen 166 LAURA ERBER: Das Ende des Imperiums 182
GESCHICHTEN MICHAEL G. FRITZ: Ein bißchen wie Gott 201 MARIE T. MARTIN: Setz auf das weiße Pferd 210 HANS THILL: Textikel 214 THOMAS BÖHME: Kalendergeschichten 216 ULRIKE ANNA BLEIER: Andy Warhols Schuhe 220 SOPHIE REYER: Mutterherz 226 REGINA DÜRIG: Notizen zum Gestein 234
GESPRÄCHE Einführung: Literatur und Alltag
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SABINE PETERS im Gespräch mit Carola Gruber Warum schreiben Sie überhaupt, Frau Peters?
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CHRISTOPH NUSSBAUMEDER im Gespräch mit Jörg Schieke Alles kann klappen, alles kann schief gehen LIANE DIRKS im Gespräch mit Marie T. Martin Schreiben ist immer ein Amalgam JAYNE-ANN IGEL im Gespräch mit Jan Kuhlbrodt Das Leben schreibend verbringen
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CLEMENS MEYER im Gespräch mit Mario Osterland 282 Ich habe kein Interesse daran, mich irgendwelchen Aufregungen hinzugeben
AUTOREN 292
SYLVIA GEIST
Lupost
Ich gebe die Tauben auf, schreibst du, frankiert mit meiner Anhänglichkeit an eine Briefmarke. Grammatik üben heißt sicher sein in einem Fall Schirm aus dem, was du dir leichthin aus der Stirn pusten kannst, Auskünen glauben, bevor du weißt, was du fragst. Manche sind schnell wie zwei Igel, ein Mangel an Kenntnis. Andere wie dein Arm, als er auswuchs zur klügsten Branche deines Hirns. Nichts ist wiedergegeben, nur zurück gefaltet in ihren Universalkarton, frei gemacht mit deiner Albinomauritius, Massenware. Wo die Ruinenmacher nicken: Wir sind der Beweis und du, Möglichkeits Posten vorm Haus, kehrst und kehrst die Blätter, unzählige verbesserte Generationen.
Sylvia Geist
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DER GELBE AKROBAT – NEUE FOLGE (2) Vorbemerkung
Nach 100 Gedichten und Kommentaren, die in dem Band Der gelbe Akrobat versammelt sind, folgte bereits in poet nr. 11 eine Fortsetzung mit neuen Beiträgen. An dieser Stelle präsentieren wir 14 weitere Gedichtkommentare, die sich der Gegenwartslyrik widmen, nicht ohne gelegentlich der klassischen Moderne Referenz zu erweisen. Darin sind zwei Beiträge aus früheren Jahren eingeschlossen (Norbert Hummelt und Brigitte Struzyk). Dem monatlichen Erscheinen im poetenladen online folgt die jährliche Zusammenstellung im Magazin poet. Zugleich wächst so der Fundus, der die Grundlage für einen zukünigen, zweiten Band bildet. Zur Erläuterung seien an dieser Stelle noch einmal die beiden Autoren mit ihrer editorischen Notiz zur neuen Folge (1) zitiert:
Lyrikanthologien sind sehr vergängliche Gebilde. Mit dem ehrgeizigen Ziel, einen »ewigen Vorrat« von »hinterlassungsfähigen« (Gottfried Benn) Poemen anzulegen, sind die Herausgeber solcher Anthologien in schöner Regelmäßigkeit gescheitert. Was als Gedichtsammlung mit nahezu unbegrenzter Haltbarkeitsdauer geplant ist, entpuppt sich in der Regel als sehr zeitabhängige, von intellektuellen Moden beeinflusste Bestandsaufnahme, ebenso kurzlebig wie die lyrische Saisonware. Unser gemeinsames Unternehmen Der gelbe Akrobat, das wir 2009 als Summe einer jahrzehntelangen Beschäigung mit zeitgenössischen Gedichten vorlegten, ist indes kein klassisches Anthologie-Projekt, sondern ein work in progress, das sich einem publizistischen Glücksfall verdankt. Zwanzig Jahre lang ermöglichte uns die Wochenzeitung Freitag, in unregelmäßiger Folge Kolumnen zu deutschsprachigen Gedichten der Gegenwart zu schreiben. In stetem Wechsel verfertigten wir ab 1991 unsere Kommentare zu den Gedichten, biografische und sym-
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Braun | Buselmeier
pathetische Annäherungen an die Texte, die im Idealfall aufeinander antworteten und sich zu einem großen Gespräch über Poesie ausweiteten. Die erste umfassende Zwischenbilanz dieser Arbeit mit 100 Gedichten und ebenso vielen Kommentaren haben wir 2009 im Verlag des Poetenladens vorlegen können, ein Kompendium, das mittlerweile in der dritten Auflage erscheint. Unser Gespräch mit der zeitgenössischen Poesie haben wir nach dem Ende der Freitag-Kolumne fortgesetzt: Die Neue Folge des gelben Akrobaten wird seit Januar 2011 monatlich auf der Internet-Seite des Poetenladens präsentiert. Das dialogische Prinzip der Herausgeber ist erhalten geblieben. Der poet dokumentiert nun die ersten sechs Folgen dieser Reihe, ergänzt um die Gedichte und Kommentare, die in die Buchausgabe des gelben Akrobaten nicht mehr aufgenommen werden konnten. Michael Braun und Michael Buselmeier
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NORBERT HUMMELT
dunst
du suchst die nähe überlebter dinge warum auch nicht? es schaut ja keiner zu wie du die klinke drückst der aus der thermoskanne grüne bohnen ißt, nimmt selber kaum notiz du hast ein dünnes he aus dem regal gezogen: die lettern haen noch die widmung ausradiert, der sprache fruchtfleisch riecht so süß verdorben dein sakko durchgescheuert an den ellenbogen u. der ihn vor dir trug ist noch nicht lang verstorben, ist auch egal, zuzeiten flüchtest du obschon noch jung, ins stammlokal mit den getönten scheiben, ganz ohne aussicht auf die dämmerung verrauchte lu, in fremder rede dunst gehüllter mund, du bist nicht mitgemeint, ist das jahrhundert denn noch nicht zu ende? du sitzt bei gulasch u. liest gottfried benn aus einem jener alten limesbände.
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Norbert Hummelt
Michael Braun Überlebte Dinge »Wer ist noch nicht von Gottfried Benn verarztet?«, hat schon in den 1970er Jahren – ausgerechnet – der Männlichkeitshymniker Wolf Wondratschek gefragt. Das war eine sehr kokette Frage, denn Wondratschek steuerte damals mit seinen demonstrativen Schnoddrigkeiten und seinem chauvinistischen Geknurre direkt auf den Ausverkauf jeglichen Form- und Traditionsbewusstseins zu. Aber Wondratschek mag als ldentifikationsfigur den Kneipenbesucher Benn vor Augen gehabt haben, der in seinen letzten Lebensjahren im Dunstkreis der eke seine Einfälle produzierte und speziell die »Bierkneipe« zu seinem Laboratorium für Poesie erklärte. »Ich habe abends meinen Durst u. meine Unruhe u. gehe in eine Kneipe«, vertraute der alte Benn im November 1950 seinem Lieblings-Briefpartner, dem Bremer Kaufmann Oelze, an, »da distanziert sich das Leben von mir u. wir sich als Figuren an die Wände.« – »Vergessen Sie nicht«, so hält er dem erstaunten Oelze vor, »die edle einfältige Lyrik fasst das Heute in keiner Weise ... Wir sind böse u. zerrissen u. das muss zur Sprache kommen.« In seinen letzten drei Gedichtsammlungen, den im Limes Verlag erschienenen Bänden Fragmente (1951), Destillationen (1953) und Apreslude (1955), hat Benn seinen »Zerrissenheiten« eine ganz andere poetische Gestalt gegeben als in den berühmten Statischen Gedichten und deren feierlicher Klassizität. In seinem Alterswerk propagiert er die »Phase ... des expressionistischen Stils«, die sich in betont »unlyrischen Sachen«, in ironischer »Kaltschnäuzigkeit« und alltagsrealistischer »Montagekunst«·realisierte. Der mal melancholische, mal ironisch-leichte Sirenengesang des späten Benn weht nun auch durch die Verse des Lyrikers Norbert Hummelt, der im Gedicht dunst die schwermütige Mimesis an den berühmten Kneipen-Dichter erprobt. Tristesse heißt ein spätes Benn-Gedicht, und aus der in ihm evozierten Atmosphäre zwischen Trauer und Spätzeit-
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gefühl formen sich auch die lyrischen Ingredienzien von dunst. Der poetische Nachgeborene, wie sein großer Vorfahr ein völlig vereinzeltes Subjekt, betritt voller Erwartung einen auratischen Raum, vermutlich eine Bibliothek, in der er sich den begehrten »dünnen Heen« wie sakralen Objekten nähert. Feierlichkeit stellt sich jedoch zunächst nicht ein, schleust Hummelt doch als konterkarierendes Element eine Person in sein Gedicht, die kurioserweise »aus der thermoskanne grüne bohnen isst« (der Bibliotheksverwalter?). Zuvor schon wird fast entschuldigend vermerkt, dass die Suche des lyrischen Subjekts »überlebten dingen« gilt, dass also die kleine private Exkursion geradewegs in den Anachronismus führt. Es gibt also genug Markierungen von Distanz, mit denen der Dichter seine imaginäre Reise zum späten Benn flankiert hat – vom Hinweis auf die »überlebten dinge« bis hin zum Urteil über den Verfallsprozess der vorgefundenen Poesie: »der sprache fruchtfleisch riecht so süß verdorben«. All diese Ambivalenzen, dieses Changieren zwischen Emphase und Distanz gegenüber dem »Überlebten«, machen den Reiz dieses um 1995/96 entstandenen Gedichts aus. Das Gedicht dunst ist auch das Ergebnis einer poetischen Selbstkorrektur. Anfang der 1990er Jahre war der Dichter Norbert Hummelt vorwiegend am coolen Montieren und Mixen von »knackigen Codes« interessiert, am Sammeln von »Pick-Ups« aus Sprachfetzen des Kommunikations-Alltags. Benn-Verse waren damals nur Gegenstand von Parodie oder ironischer Kontrafaktur. Seit dem Band singtrieb (1997) wird Hummelt von den vermeintlich »überlebten dingen« eingeholt. In seinem Gedicht dunst, in das er wie nebenbei auch die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen eingezeichnet hat, dominiert am Ende der Sehnsuchts-Ton der Reminiszenz, der subtil weiterentwickelte BennSound mit vielen schönen Binnenreimen.
Norbert Hummelt, geboren I962 in Neuss, lebt in Berlin. Das Gedicht dunst ist dem Band singtrieb entnommen (Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein 1997). Zuletzt erschien der Band Pans Stunde (Luchhterhand 2011).
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G EDichtE
Aus
B RAsiLiEN
NEUE BRASILIANISCHE DICHTUNG Zusammengestellt von Timo Berger
Das spielerische und das Prekäre
»an der grenze fühl ich mich immer kriminell« lautet ein Vers von Angélica Freitas, der diese Sammlung aktueller brasilianischer Dichtung eröffnet. Noch vor Kurzem sprach man von Grenzen nur mehr in der Negation: Kulturelle Schranken fielen, Sprachen bastardisierten, Genres und Stile aus verschiedenen Epochen und Nationalliteraturen wurden frech remixt. Dessen ungeachtet nehmen die wiedererstarkenden Sicherheitsregime auch eine Dichterin aus der Stadt Pelotas im äußersten Süden Brasiliens nicht aus. So ist es nur konsequent, dass Freitas’ Klage über die drohende Leibesvisitation an einem Flughafen in ihrem Gedicht »ach du kennst amerika noch nicht« zur Poetik gerät: Wer an Grenzen kriminell sich fühlt, ist zugleich einer, der darüber nachdenkt, wie man diese »illegal kreuzen kann«, einer, der Markierungen und Zäune, in denen eingehegt Unverdächtiges und Systemkonformes prosperieren kann, seit jeher misstrauisch beäugt hat. Angélica Freitas gilt seit ihrem Debütband rilke shake (2007) als eine der »jungen Wilden« der aktuellen brasilianischen Dichtung. Ihre Poetik der unlauteren Mischungen von Hoch- und Alltagskultur, die sie schon im Titel ihres ersten Gedichtbands paradigmatisch vorführt, bedient sich nonchalant des Bestands der zeitgenössischen Dichtung angelsächsischer, französischer und deutschsprachiger Provenienz, grei aber genauso augenzwinkernd auch auf einheimische Mythen der Kulturproduktion in einem Land zurück, das vor wenigen Jahren noch an der Peripherie angesiedelt wurde: Osvald de Andrade rief 1928 in seinem »Anthropophagischen Manifest« dazu auf, sich das »Fremde« anzueignen, es im wörtlichen Sinne zu fressen. Dieser kannibalische Akt
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Timo Berger
Angélica Freitas ach du kennst amerika noch nicht
stand im Zeichen der selbstbewussten Aufwertung des Eigenen: Der brasilianische Modernist schrieb an gegen »die objektivierten Ideen«, gegen »die Wahrheit der missionarischen Völker« und schlug als Gegenmodell zu den europäischen Werten die »Anthrophagie« vor: »Mich interessiert nur, was mir nicht gehört.«1 Angélica Freitas wiederum persifliert den bildstürmerischen Antrophagismus in einem ihrer Gedichte, in dem sie über ein »makelloses Gebiss« räsoniert: »ja, stimmt, shakespeare ist auch nicht schlecht / aber was ist mit roter rübe, chicoree und kresse? / … aber iss nur, iss alles was dir zwischen die zähne kommt«.2 Freitas ist ein Beispiel, wie sich in der zeitgenössischen Dichtung Brasiliens ein herzlich entspanntes Verhältnis zur eigenen Tradition, aber auch der der europäischen Avantgarden entwickelt hat: Interdisziplinarität und -textualität, Cross-Media, Zitate aus Popular- und Hochkultur können, müssen aber nicht sein. Ob im Hintergrund nun ein Video läu oder eine bestimmte Partie des Gedichts bei der Lesung vor Publikum zu einer Performance gerät, ist sekundär, wichtig allein, dass die Lyrik nach Jahren der neobarrocken und postkonkretistischen Stagnation wieder mit einer starken, verführerischen Stimme zurückgekehrt ist, den Kontakt mit dem Publikum suchend und die Lust am Text und die Lust am Vortrag feiernd. Die brasilianische Gegenwartsdichtung ist unterhaltsam und sie spricht alle Sinne an.
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Fabrício corsaletti Heute war meine letzte Sitzung
Ähnlich wie Freitas ist der jüngere Paulista Fabrício Corsaletti von einem urbanen Kontext geprägt, in dem er seine Gedichte verortet. Es sind die poetischen Notizen eines ausgewiesenen Großstädters: Man spekuliert über die schöne Nachbarin, beschäigt sich mit sich selbst und seinen verwachsenen Ohren oder träumt davon, seine mediokre Existenz in geklonter Anonymarchitektur mit ein wenig Hollywoodglam aufzupeppen: Zum Beispiel durch ein Techtelmechtel mit der Schauspielerin Eva Green. Das Gedicht Plan ist dann auch folgerichtig eine lange Liste der Dinge, die Corsalettis lyrisches Ich sich vornimmt, mit der Actrice zu unternehmen – auch hier fehlt der selbstironische Blick nicht (ganz zu schweigen von der schönen Homonymie zu Evergreen): »Eva Green zu einer Feijoada einladen / mit Eva Green Bier und Cachaça trinken / Eva Green das Sambatanzen beibringen / am Abend mit Eva Green den Sonnenuntergang auf dem Sonnenuntergangsplatz sehen / falls Eva Green ki, ist es besser ein Tütchen in der Tasche zu haben / mit Eva Green über Rimbaud sprechen / Eva Green sieht allerdings aus, als bevorzugt sie Baudelaire«. Traumwandlerisch beherrscht der aus Rio de Janeiro stammende Carlito Azevedo die Kunst des lyrischen Unterstatement: Seine Gedichte sind unaufdringlich immer viel mehr als das, was sie auf den ersten Blick scheinen. Und es fällt schwer sich ihn, den Gentleman-Dichter, nicht in
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carlito Azevedo Mädchen mit Xylophon und Blumen auf der Telegraph Av.
den Sepiafarben einer Postkarte von der Copacabana aus den Fünfziger Jahren vorzustellen. Und wenn man zufällig in Rio de Janeiro ist und sich mit Azevedo vor einer der Buchhandlungen verabredet, die nur wegen des angeschlossenen Kaffeebetriebs überleben können, dann taucht er jäh aus dem Schatten des Hochhausriegels, der die Sicht zum Strand versperrt, auf und hinter seinen Brillengläsern liegen freundliche Augen, und eine sane Stimme zählt die Bücher auf, die er zuletzt beim Stöbern bei Berinjela oder anderswo gefunden hat. Doch wenn er liest, dann verfällt er auf der Bühne in einen tieferen Ton, interpretiert seine Gedichte professionell wie ein Musiker. Seine Texte sind in ihrer Montagehaigkeit bisweilen Hymne an die Technik allerdings unter schrägem Vorzeichen. Was wäre, wenn wir Menschen wie Filme nur eine Wiederholung von Bilder wären, spekuliert er in dem Gedicht Verwandlung. Unter unserer Wahrnehmungsschwelle von 24 Bildern pro Sekunde wucherten dann vielleicht alternative Leben, andere Varianten der Ereignisse – Metamorphosen der menschlichen Protagonisten zu Ochsen, Tapiren oder schwarze Hirschen. Eine schöne Spekulation, die ein zweites Merkmal der brasilianischen Dichtung vorführt: Das Spielerische, der an Dada geschulte Ausbruch aus der Rationalität und sei er dosiert und auf »eine Billionstel Sekunden« beschränkt.
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Nicolas Behr Die Brasiliade
Auch bei Nicolas Behr fällt sofort ein lockerer, von Sprachspielen geprägter Umgang mit der Gattung Lyrik auf. Er ist ein Vertreter der sogenannten Poesia Marginal, die Ende der Siebziger für einen Poesieauruch stand – mit einer Hinwendung zu Alltagssprache, Kino und populärer Kultur, weg von dem erstarrten Formalismus des späten Concretismo, aber auch frech an der Zensur vorbei in einer Zeit, in der nicht nur in Brasilien die Militärs regierten – und das mit damals modernen Medien – dem Mimeographen, einem Siebdruckverfahren, das vor der Erfindung der Fotokopie auch Dichterinnen und Dichtern, die keinen Zugang zu den großen Verlagen hatten, die Vervielfältigung ihrer Werke in Doityourself-Manier ermöglichte. Nicolas Behrs Dichtung konzentriert sich auf eine Stadt, die sich bis heute mit einer utopische Aura schmückt: Brasilia, errichtet von Visionären im Cerrado, der Savanne Zentralbrasiliens – was als großer Entwurf und Wurf in die bis dato unbeschriebene Landscha gedacht war, wird von Behr als wahrlichem »Stadtschreiber« en detail besungen: »SQS415F303 / SQN303F414 / NQS403F315 / QQQ313F405 / SSS305F413 // war das / ein Gedicht / über Brasilia?« Das Gedicht zitiert Adressen, die dem Eingeweihten einen genauen Ort verraten und die in den Ohren der anderen einen technokratischen Klang haben. Brasilia ist eine Reißbrettstadt, die mit einem ungetrübtem Fortschrittsglaube und
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Timo Berger
Laura Erber Das Ende des Imperiums
einem rationalistischen Grundriss geplant wurde und dann bald unkontrolliert ausfranste, weil die Wanderarbeiter, die man zur Errichtung der monumentalen Bauten und Regierungsgebäude angeworben hatte, statt wieder in ihre Heimat zurückzukehren, in ihren provisorisch errichtete Hüttensiedlungen blieben. Vielleicht ist das – nach der Auseinandersetzung mit Grenzen und der Lust am Spiel – ein drittes Merkmal der brasilianischen Gegenwartsdichtung: das Prekäre, das Improvisierte. Wie im Bossa Nova, diesem Zusammentreffen von Jazz und Samba – von freiem Spiel und repetitivem Rhythmus – und das Ganze wie in Zeitlupe, stoßen wir in den Gedichten von Laura Erber auf eine ähnlich wattierte Dynamik. Ihre präzisen lyrischen Einkreisungen sind fast film stills, und man merkt, dass die Dichterin ein zweites Standbein hat, die bildenden Kunst. Und dass sie vielleicht von allen hier versammelten Dichterinnen und Dichtern die Meistgereiste ist. Und wo immer sie sich flüchtig auält oder temporär niederlässt, mit demselben seziererischen Blick auf das Set und das Setting schaut. Im Kopenhagener Stadtteil Vesterbro bestellt jemand zu später Stunde noch Sushi. Doch die neue Angestellte, »Miss ai ai«, widerspricht ihrem Chef: Es sei zu spät für Lieferungen in die Stampesgade. Das Rohe und das Gekochte hieß ein Essay von 1964 des französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss, der sich aufschwang anhand
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der Mythen der brasilianischen Urvölker eine ganze Kulturtheorie zu entwickeln. Wenn nun in Laura Erbers Gedicht die Lieferung von Sushi eingestellt wird, dann ist das ein gutes Zeichen. Brasilien braucht keine weiteren Deutungen von außen. Das Land ist längst ein wichtiger Global Player der Weltwirtscha. Auch seine Dichtung schöp mit vollem Recht aus allen Quellen, ohne sich rechtfertigen zu müssen, weil sie nicht die »Indianer« im Amazonas thematisiert, die Abholzung des Urwalds oder die sich in den Favelas manifestierenden sozialen Widersprüche. Nein, die brasilianischen Dichterinnen und Dichter haben die Chuzpe selbst zu bestimmen, worüber sie schreiben und mit was sie arbeiten wollen – und ich wünschte der aktuellen Dichtung des anderen Landes, in dem ich zufällig geboren wurde, ein wenig dieser erfrischenden Freiheit. Timo Berger
1 Aus: Lettre Nr. 11, 1990. Übersetzung von Maralde Meyer-Minnemann. Mitarbeit: Bertold Zilly. S. 40-41. Original erschienen in: Revista de Antropofagia, Nr. 1, São Paulo, Mai 1928. 2 »Dentadura Perfeita / Makelloses Gebiss« in: rilke-shake. Von Angélica Freitas. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Odile Kennel (luxbooks, Wiesbaden 2011).
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ANGÉLICA FREITAS Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Odile Kennel
ngélica Freitas, geboren 1973 in Pelotas. 2007 erschien ihr erster Gedichtband Rilke Shake, der von Odile Kennel ins Deutsche übertragen wurde (Wiesbaden, luxbooks, 2011). Angélica Freitas ist Mitherausgeberin der brasilianischen Literaturzeitschri Modo de Usar & Co und betreibt das Blog Tome uma xícara de chá: http://loop.blogspot.com
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ach du kennst amerika noch nicht
an der grenze fühl ich mich immer kriminell ich verreise gern aber bleib auch gern zuhause ich hab ja eins an der passkontrolle fühl ich mich immer als weltweit gesuchte gansterbraut dabei hab ich nichts falsches getan hab keine falschen papiere führe keine drogen mit doch schon seh ich vor mir hunde handschellen knast seh das flugzeug umkehrn die frage die ich am meisten hasse ist wie lange haben sie vor zu bleiben? gestellt von einem ganz gewöhnlichen bürger in zolluniform einer ganz gewöhnlichen bürgerin im touristendress und ich will nur noch abhaun ich verreise gern aber solang ich zuhause bin bleib ich lieber zuhause wenn ich eine grenze seh denk ich darüber nach wie ich sie illegal kreuzen kann es gibt keinen grund stolz zu sein auf meinen stempel im pass warum haben sie mich reingelassen? weil ich ausseh wie eine die nicht vor hat zu bleiben? die geld ausgibt und dann wieder geht? an grenzen hab ich immer lust zu lügen und zuzugeben was ich nicht verbrochen hab
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então você ainda não conhece a américa
toda fronteira me faz sentir uma criminosa eu gosto de viajar mas também gosto de ficar em casa eu tenho uma casa toda passagem por imigrações me faz sentir uma bandida internacional embora não tenha feito nada de errado meu passaporte não é falso não estou levando drogas mas já vejo cachorros algemas cadeia o avião de volta a pergunta que mais odeio é quanto tempo pretende ficar no país? um cidadão comum vestido de funcionário de alfândega perguntando a uma cidadã comum em roupas de turista me dá vontade de fugir gosto de viajar mas até sair de casa prefiro ficar em casa quando vejo uma fronteira penso em maneiras de cruzá-la clandestinamente e não vejo por que me orgulhar dos carimbos no meu passaporte porque me deixaram entrar? porque tenho cara de quem não vai ficar no país? de quem vai gastar dinheiro e ir embora? toda fronteira me dá vontade de mentir de assumir um crime que não cometi
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will ausspucken eine waffe ziehen und sagen wenn niemand reinkommt kommt auch niemand raus und sie da herr vorgesetzter der passkontrolle erklärn sie mir mal bitte was die ganze grausamkeit soll haben sie an der hochschule für passkontrolle und sadismus studiert? peng! peng! und am ende werd ich verhaet ich hätte es wissen müssen im grunde bin ich eine schwerverbrecherin aber um auf deine frage zurückzukommen ich war noch nie in amerika weil ich grenzen nicht ausstehen kann
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de cuspir de sacar uma arma e dizer se ninguém entra então ninguém sai e o senhor aí chefe da imigração me explique por favor pra que toda essa truculência o senhor estudou na escola de imigração e sadismo? bang! bang! e finalmente eu vou presa porque já deveria saber no fundo eu sou uma grande criminosa mas respondendo à sua pergunta ainda não fui à américa porque não gosto de fronteiras
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setz auf das weiße Pferd
B EGEGNUNG Neulich ist ein Mann mit einem Fallschirm in meinem Garten gelandet. Nachdem der Schirm sich zusammengefaltet hatte, erhob sich der Mann, betrachtete seine Umgebung und rieb sich über die Stirn. Seine Haut war ganz hell, als wäre er frisch geschlüp. Als ich ihn ansprach, lächelte er kaum merklich, aber meine Sprache schien er nicht zu verstehen.
R AD Als ich kürzlich mit meinem Cousin auf einer Bank saß, bemerkte ich eine seltsame Erscheinung. Eine Frau drehte auf einem Fahrrad ihre Runden um den Park, eine nach der anderen, Stunde um Stunde, bis es Abend wurde. Sie schien uns nicht zu bemerken. Auf einmal versperrte ihr ein Hund den Weg und sie musste absteigen. Da erstarrten alle Leute ringsum ebenfalls in ihren Bewegungen. Der Satz, den ich gerade sagte, brach mittendrin ab. Alles war sekundenlang eingefroren, bis die Frau ihren Weg wieder fortsetzte.
B LICK Eine Zeit lang kam abends ein weißes Reh in meinen Garten. Ich beobachtete, wie es an der Gartenbank stehen blieb, durchs Fenster sah und an meinen Gartenkräutern roch. Wenn es den Kopf hob, blickten wir uns durch die Scheibe an, und ich erinnerte mich an etwas, was ich lange vergessen hatte.
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P LAN Seit Jahren will ich endlich mit meinem Hausboot davonfahren. Es hat eine kleine Küche mit zwei Herdplatten, eine schmale Liege zum Schlafen und sieben Haken für meine Kleider. Noch steht es aufgebockt im Schuppen, aber ich habe mir den Tag im Kalender markiert, an dem ich es zum Meer bringen möchte.
D ER M ANTEL Was ich einwebe in deinen Mantel, ist teilweise noch nicht klassifiziert. Außerdem besteht er aus Spinnennetzen, die Licht eingefangen haben, Schafgarbe für Wunden aller Art, roter Erde aus dem Süden, schwarzer aus dem Norden, Blütenstaub, Mondknöpfen und einem Kragen aus Schnee.
D IE F AHRT Ein Mann stieg einmal in einen Zug und wollte nach Hause fahren. Während der Zug fuhr, veränderte sich die Landscha, und er erkannte nichts davon wieder. Er bekam es mit der Angst zu tun und packte seine Sachen zusammen, um am nächsten Bahnhof auszusteigen. Der Name auf dem Schild sagte ihm nichts. Am Gleis stand eine Frau, die offensichtlich auf ihn gewartet hatte. Da bist du endlich, sagte sie. Sie gingen zum Auto, hinten saß ein kleiner Junge, der dem Mann überhaupt nicht ähnlich sah, aber Papa zu ihm sagte. Sie fuhren nach Hause und aßen Schinkenbrote mit Gurken, und als die Frau fragte, wie sein Tag gewesen war, sagte der Mann: Anstrengend. Die Frau nickte und brachte den Jungen ins Bett. Am Sonntag fuhren sie in den Park, der Mann ließ einen Drachen steigen und die Frau aß Blaubeeren aus einer Schüssel. Als sie ihn mit blau verschmiertem Mund ansah, dachte der Mann, ich habe Angst, am Montag wieder in den Zug zu steigen. Wo das wohl hinführt.
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G EsPR채chE
LITERATUR UND ALLTAG Fünf Gespräche
Biographie null
Nicht immer gelingt es, Realität und Fiktion auseinanderzuhalten. Der Autor lebt gleichsam in zwei Sphären, der mehr oder weniger unaufgeregten Alltagswelt und der produzierten Fiktion. Wie vielfältig beide verknüp sind, ist Gegenstand unserer Gespräche. Da geht es um die kleinen Rituale, die den Schreiballtag begleiten – Zigarette anzünden, zum Brieasten gehen – bis hin zu existenziellen Lebenserfahrungen, die bewusst oder intuitiv und modifiziert Eingang in den Text finden. Gerade beim Romanautor, der größere Textmengen zu bewältigen hat, geht es auch um die Regelmäßigkeit – oder sagen wir: den alltäglichen Fortschritt – des Schreibens. Walter Benjamin spielte darauf an: »Nulla dies sine linea – wohl aber Wochen.« Es ist üblich, dass Figuren andere Namen tragen als ihre Autoren oder jene Personen, die sie möglicherweise zum Vorbild habe. Liane Dirks verzichtet in ihrem Roman Vier Arten meinen Vater zu beerdigen darauf, die Hauptfigur, ihren Vater, mit einem erfundenen Namen zu maskieren. Dabei beru sie sich auf Michel Houellebecq, der immer wieder Personen der Medienwelt unter Realnamen in seinen Romanen auftreten lässt. Natürlich kann es auch umgekehrt geschehen, dass die Autorin eine Figur frei erfindet, in der eine existierende Person sich dann gespiegelt sieht. Für Christoph Nußbaumeder ist Alltag zunächst nur das, was täglich passiert. Er sucht hier nicht wissend nach verwertbaren Eindrücken oder menschlichen Originalen, die seine Stücke bereichern. Doch Erlebnisse in der Kneipe oder im Taxi können anregen. Wesentlich dabei ist letztlich die Zuspitzung, die sprachliche Formung, die ein ema zu Literatur werden lässt.
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Warum schreiben Sie überhaupt, Frau Peters? sabine Peters »Was die kleinen Pausen anlangt – zum Brieasten gehen, Tee aurühen – die sind sehr befördernd.« S. 244
Schreiben ist immer ein Amalgam Liane Dirks »Ich glaube immer noch, dass man für gewisse emen erst wachsen muss.« S. 264
Alles kann klappen, alles kann schief gehen christoph Nußbaumeder »Dinge, die ich mit meiner Tochter erlebe, fließen in Texte mit ein.« S. 258
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Alltag ist auch Alltag jenseits des Schreibens oder vor dem Schreiben, Kindheit und Jugend beispielsweise. Jayne-Ann Igel schildert ihre Leseerlebnisse in der DDR, wo es ihr als Mitarbeiterin der Deutschen Bücherei möglich war, Neuerscheinungen aus Ost und West zu lesen. Prägend war für sie über das Literarische hinaus die landschaliche und industrielle Topographie, der Rauch über den Tagebaulandschaen. Das Schreiben braucht Erfahrungswerte und muss sich für Jayne-Ann Igel mit Sinnlichem verknüpfen, so dass sie nur über Dinge schreiben kann, die sie auch wahrgenommen hat. Dass man sich mit einem Autor auf einer Pferderennbahn zum Interview tri, darf als Zeichen für gewisse – alltägliche? – Leidenschaen gedeutet werden. Oder sind Pferderennen wichtig fürs Schreiben? Literatur ist Stil und Fiktion, Struktur und Plot. So Clemens Meyer. Und Biographie null. Es ist verständlich, dass ein Autor, dem man sich gern biographisch nähert und der stets mit dem Leipziger Osten in Verbindung gebracht wird, darauf hinweist, dass alles Biographische fürs Schreiben nichtig ist, wenn man nicht das Handwerkliche beherrscht. Sehr wahr. Eine Einschätzung, der sich sicher kaum ein Autor verweigern kann.
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Literatur und Alltag
Das Leben schreibend verbringen Jayne-Ann igel »Mein Schreiben braucht Erfahrungswerte, muss sich mit Sinnlichem verknüpfen.« S. 274
Kein Interesse, mich Aufregungen hinzugeben clemens Meyer »Wenn man das Handwerkliche nicht kann, bringt einem das Biographische überhaupt nichts.« S. 282
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C
lemens Meyer wurde 1977 in Halle (Saale) geboren und wuchs in Leipzig auf, wo er auch heute lebt. Von 1998 bis 2003 absolvierte er ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sein erster literarischer Erfolg war der Gewinn des MDR-Literaturpreises. 2006 erschien sein Deb체t, der Roman Als wir tr채umten (S. Fischer). Es folgten die B체cher Die Nacht, die Lichter. Stories (S. Fischer 2008) sowie Gewalten. Ein Tagebuch (S. Fischer 2010). Unter anderem wurde Clemens Meyer mit dem Clemens-Brentano-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.
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Clemens Meyer
CLEMENS MEYER IM GESPRÄCH
Ich habe kein Interesse daran, mich irgendwelchen Aufregungen hinzugeben
MARIO OSTERLAND: Lieber Clemens Meyer, wie sieht dein Alltag aus? CLEMENS MEYER: Ich hab überhaupt keinen Alltag. Heute habe ich bis
Mittag geschlafen, weil ich erst um sechs im Bett war. Davor hab ich gearbeitet, geschrieben, Musik gehört. Ich war einkaufen. (kurze Pause) Ich habe wirklich keinen Alltag. Ich lese viel, gammle rum, mache Lesungen. Dann kommen wiederum die Phasen, in denen ich viel schreiben will und muss. Bevor ich das aber kann, muss ich mich viel ausruhen. Ich bin schon ein ziemlich fauler Mensch M. OSTERLAND: Fühlst du dich mit diesem »Nicht-Alltag« wohl? C. MEYER: Ja. Wunderbar. Ich möchte es nicht anders haben. M. OSTERLAND: Wie sehr hat sich dein Leben seit der Veröffentlichung deines ersten Buches, also seit 2006, geändert? C. MEYER: Natürlich sehr. Ich hatte davor ja studiert, dann kurz von Hartz IV gelebt und ständig am Roman gearbeitet. Außerdem lebte mein Hund noch, um den hab ich mich gekümmert. Gereist bin ich fast nie. Seit 2006 reise ich rum, habe Öffentlichkeitskram zu tun. Ich wohne aber nach wie vor alleine und fühle mich damit sehr wohl. Meine Wohnung ist und bleibt mein Domizil zum Arbeiten. Hier habe ich meine Ruhe und das ist unbezahlbar. M. OSTERLAND: Was geht dir durch den Kopf, wenn du eine Interviewanfrage zum ema »Literatur und Alltag« bzw. »Literatur und Autobiographie« bekommst?
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