Es gibt eine andere Welt Neue Gedichte Eine Anthologie aus Sachsen
Herausgegeben von Andreas Altmann und Axel Helbig Mit einem Nachwort von Peter Geist
poetenladen 3
Erste Auflage 2011 © 2011 poetenladen, Leipzig Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-940691-23-1 Die Rechte an den Gedichten liegen bei den Autoren bzw. den betreffenden Verlagen entsprechend den Nachweisen im Anhang. Illustration und Umschlaggestaltung: Miriam Zedelius Druck: Pöge Druck, Leipzig Printed in Germany Poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig, Germany www.poetenladen-der-verlag.de www.poetenladen.de verlag@poetenladen.de
Gefördert durch die Kulturstiung des Freistaates Sachsen
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INHALT
DAS MEER IN SACHSEN Wolfgang Hilbig: das meer in sachsen 17
GETÄUSCHT SEIN WILL ALLEIN DER MENSCH Reiner Kunze: Naturgedicht 23 Charlotte Grasnick: Die Tanzenden 24 Charlotte Grasnick: Durchleuchtung 26 Christian Lehnert: Die losen Fäden 27 Friedemann Berger: soll doch soll doch nicht 28 Dieter Krause: Genau genommen sind wir Bäume 30 Adel Karasholi: trotz 31 Adel Karasholi: sage nicht 32 Angela Krauß: Die Aufregung 33 omas Rosenlöcher: Das Blütenorakel 34 Durs Grünbein: Astronaut im Oktober 36 Uwe Tellkamp: Argelander, Diplomat am Schloß 37 Uwe Tellkamp: Kardinal Ussher, Domprälat 38 Kerstin Hensel: Erste Hoffnung 40 Joochen Laabs: Nun steh ich starr 41 Ulrich Zieger: Ostersegen. 42 Ulrich Zieger: Im hafen. 43 Gerald Zschorsch: Hunger 44 Jörg Bernig: im lot 46 Peter Gehrisch: Nüsse 47 Matthias Zwarg: Psalm #1 50 Uwe Grüning: Ein Demiurg 51 Gregor Kunz: Herakles: Ich der Jahre 52 Uwe Nösner: Engel, wer bist du 54 Silvio Pfeuffer: zis 55 5
Carl-Christian Elze: ich habe eine kra 56 Carl-Christian Elze: ich hab noch nie in mir geruht 57 Radjo Monk: Stellung Eine Welt 58 Wolfgang Hilbig: Saturnische Ellipsen 60 Siegmar Faust: Verwundet vor einem Wunder 64 Siegmar Faust: Eigentlichkeit 65 Rudolf Scholz: Paradoxien 66 Michael Wüstefeld: Über den Dingen 67 Roland Erb: Der Stein 68 Patrick Beck: Zuerst legte ich die Steine zur Seite 69 Wolfgang E. Herbst: Mein Freund 70 Franziska Beyer-Lallauret: Sonntag 71 Katharina Lu-Kornel: Die Wölfe sind bei mir 72 Richard omas Günther: Marche funèbre I 73 Kerstin Preiwuß: das reden mit sich selbst? 74
FÜR EINEN AUGENBLICK BEGEGNETE ICH DEM KIND Durs Grünbein: Tschaikowski-Allee 77 Kerstin Hensel: Sachsenspiegelungen 78 Andreas Altmann: fabrik gelände 80 Andreas Altmann: das engelhae 81 Jayne-Ann Igel: asche der morgen 82 Jayne-Ann Igel: dri durch den forst 83 Jayne-Ann Igel: im mittelgrund die stäbe 84 Ulrike Almut Sandig: schwere Tiere 85 Ulrike Almut Sandig: russenwald 86 Peter Härtling: Besuch in Hartmannsdorf (Sachsen) nach vierzig Jahren 87 Peter Härtling: Leipzig 88 Peter Härtling: Dresden, Italienisches Dörfchen 89 Heinz Czechowski: Der Tunnel 90 Angela Krauß: Kleine Mädchen 92 Uta Ackermann: Als ich auf der Brücke stand 93 Günter Ullmann: Kindheit I 94 6
Günter Ullmann: ich sollte hören 95 Günter Ullmann: suggestionen oder wie man im schlaf die zeiten tötet 96 Bernd Jentzsch: Die nicht verstandene Lektion 97 Beatrix Haustein: Heilig Heilig 2 98 Beatrix Haustein: sing 100 Lars Reyer: Mittelwelle 101 ilo Krause: Tapete 102 Volker Sielaff: Nachmittagsmond 103 Róža Domašcyna: So anders 104 Swen Friedel: Auf halbem Weg 106 Jens Rosch: Angeln mit Odysseus 108 Hans Brinkmann: Schöner Fernsehfilm 109 B. K. Tragelehn: Katz und Maus 110 Měrana Cušcyna: Rückblende 111 Dieter Hoffmann: Wichtig mit Nichts 112 Dieter Hoffmann: Ein Holzpferd 113 Dieter Mucke: Die Zaubergeige 114 Dieter Mucke: Eulenspiegel 115 Hans Kromer: Vergessen 116
ES GIBT EINE ANDERE WELT Volker Braun: Das Jahrhundert 119 Volker Braun: Die sächsische Flut 2002 120 Volker Braun: Inferno IV. Limbus 122 B. K. Tragelehn: Horrid Laughter 123 Kurt Drawert: Ich liebe Industriegebiete 124 Ilona Stumpe-Speer: Keiner nennt ihn den Ort der Verbannung 126 Kerstin Hensel: Die Ofensau 127 Gregor Kunz: Nach Arkadia. Zoom 128 Kito Lorenc: Wilderung 130 Jan Kuhlbrodt: Nach den Revolutionen 131 Wulf Kirsten: gespräch zaunüberwärts 132 Christoph Kuhn: Antwort der Behörde 133 7
Manfred Jendryschik: Vom Wasser 134 Tobias Grüterich: Pietätlos 135 Róža Domašcyna: Prolog 136 Róža Domašcyna: Das gelingt doch nie 138 Bernd Jentzsch: Große Danksagung 139 Bernd Jentzsch: Die Trennung 140 Siegfried Heinrichs: Credo 142 omas Rosenlöcher: Der Standort 144 Gerald Zschorsch: Die Grenze 146 Renatus Deckert: Plötzensee 147 Barbara Köhler: Deutsche Einheit, duales System 148 Joochen Laabs: Ungerechtfertigtes Lamento 149 Tom Schulz: nach Diktatur verreist 150 Ralph Grüneberger: Bunte Pleite 151 Reinhard Bernhof: Ich bin so frei 152 omas Kunst: Ich werde müde, weil ich nicht mehr dreizehn bin 154 Bertram Reinecke: Komm in meine politische Wohnung 155 Utz Rachowski: Letzter Brief von Hamlet 156 Volly Tanner: Die Ruhe vor dem Sturm 159 Hans Brinkmann: Das Proletariat 163
PENELOPE WARTET Barbara Köhler: Gewebeprobe : Penelope 167 Barbara Köhler: Doppelhelix : Epilog 169
WAS ER VERMISSTE, WUCHS VON WORT ZU WORT Volker Braun: Meine Furcht 175 Richard Pietraß: Die ferne Flut 176 Durs Grünbein: Vieux Saxe (Eine Phantasmagorie) 178 Heinz Czechowski: Der 13. Februar 2005 179 Tom Schulz: Schneebruch 180 Christian Lehnert: Von Dresden fort 182 8
Hans-Ulrich Treichel: Interregio Berlin-Leipzig 183 André Hille: leipzig 3 184 Ralph Grüneberger: Abend in Kaditzsch 185 Uwe Claus: Kaditzsch, bei wechselhaem Wetter 186 Guntram Vesper: Frohburg, von Manhattan aus 187 Charlotte Grasnick: Burg Stolpen 190 Ulrich Grasnick: Königstein 192 Ulrich Grasnick: Die Sanduhren bei Königstein 194 Utz Rachowski: Mein schwarzer Fluß 195 Erich Sobeslavsky: Tauscha Elegie XXXIV 197
DER STILLE GRUND Wolfgang Hilbig: Die Schwelle 201 omas Rosenlöcher: Der stille Grund 202 Kurt Drawert: Wintergedicht 203 Wulf Kirsten: die rückkehr der wölfe 204 Wulf Kirsten: dunkel 205 Andreas Reimann: Nach jahr und tag 206 Jörg Bernig: pretiosengefunkel 208 Reiner Kunze: Unwirklicher Maitag 209 Andreas Altmann: Ein Fischreiher 210 Richard Pietraß: Beflügelte Nacht 211 Saskia Fischer: Tirili 213 ilo Krause: Feuersalamander 214 Jan Kuhlbrodt: Das Unwirkliche 215 Volker Sielaff: Beschreibung dieser Bäume 216 Udo Grashoff: Monate später erst kommen die Tiere 217 Jörg Seifert: über die schönheit im nebel zu enden 218 Andreas Hegewald: Haarrisse 219 Margot Ehrich: abseits stand mein baum 220 Ulrich Schacht: Orbis Pictus 221 Ulrich Schacht: Unterm Novemberhimmel, Schnee 222 Johanna Schwedes: der Weg wir einen kurzen Blick zurück 223 9
EINE PERLE AUS DEM RäTSEL MEINES FLEISCHES BRACH Kurt Drawert: Koloskopie 227 Reinhard Bernhof: Warm up-Termin, Stadtbad 228 Jörg Schieke: Die Unfallmeldestelle: blaue Augen 229 Dieter Krause: ohne Würdigung 230 Saskia Fischer: Die Bierfalle 231 Tom Pohlmann: Über den Mehrwert der in der Steppe versteckten Skulpturen 232 Tom Pohlmann: Die Aprikosen 233 Andreas Reimann: Das rezept 234 Norbert Weiß: Schuhmuseum: Trenkers Stiefel 235 Uwe Hübner: Das Perlhuhn 236 Silvio Pfeuffer: der wind ist zu warm 238 Kenah Cusanit: es hält sich dieses gerücht 239 Lars-Arvid Brischke: selbstgespräch mit milchmädchen 240 Manuela Kurt: Überfahrt 242 Roman Israel: Morgens 243 Karl Mickel: Reisezehrung 244
AUF DEM WEG IN DIE ENTGEGENGESETZTE RICHTUNG Durs Grünbein: Libellen in Liberia 247 Steffen Popp: Hotelsituation, langes Liegen 248 Steffen Popp: Diese Erinnerung endet am Meer 249 Jörg Schieke: Der tote Matrose 250 Reiner Kunze: Seouler Straßenbild 253 Gregor Kunz: Brief vom Yukon 254 Renatus Deckert: Pompeji 256 Ulrike Almut Sandig: im sommer sitzen die alten 257 Cordula Gast: Alles blau ist erfüllung 258 omas Böhme: La Salle des Pas Perdus 259 omas Böhme: Endstation Brest 260 Volker Ebersbach: Die Unstrut bei Naumburg 261 Richard Pietraß: Hornoer Berg 262 10
Richard Pietraß: Der junge Rhein 264 Viktor Kalinke: Die sarmatischen Jahreszeiten 265 Undine Materni: Orfeusz in Löwenberg 266 Kristian Pech: Bei Gorzów 268 Andreas Reimann: Salò 269 Ulrich Schacht: Frühstückstisch, schwedisch, im Spätsommer 270 Michael Wüstefeld: Morgenappell mit nackter Büglerin 271 Ralph Grüneberger: Lektion, Rotlichtviertel 272 Hadayatullah Hübsch: Berlin-Taxi (yesterday) 273 Bernd Wagner: Schlachtensee I – III 274 Lutz Nitzsche Kornel: Der Omnibus 275 Axel Reitel: Landschaen bei Weimar 276 Olaf Kanter: kleinnaundorfer elegie 277 Manfred Jendryschik: Alles: In Ordnung 278
WER SCHÖNHEIT TRÄGT, VERLIERT DAS HERZ Wolfgang Hilbig: Rosa mystica 281 Beatrix Haustein: sich hingeben 282 Gerald Zschorsch: Spätsommer 283 Heinz Czechowski: Gedenkblatt 284 omas Kunst: Am Samstagabend wollen wir uns zu zweit 286 Andre Rudolph: das frühlicht. die sechste 287 Peter Gosse: Die Kemenate 288 Peter Gosse: Siebthimmel 290 omas Böhme: Restsüße 291 André Schinkel: Unwetterwarnung 292 Roland Erb: Was ist 296 Grit Kalies: Erste Näherung 297 Hans-Ulrich Treichel: Nachdem du gegangen bist 298 Sandra Trojan: Dies ist das letzte Gedicht 299 Kerstin Becker: Aus der Kirche steigen akustische Rauchzeichen 300 omas Kunst: Ich bin zu lange auf dem Meer geblieben 301 Ulf Großmann: sturmreif 302 11
Uta Ackermann: Ein Taxi teilen 303 Katrin Marie Merten: Mir hat es das Eis ins Fell getrieben 304 Udo Grashoff: Gare de la lune (Tango) 305 Salli Sallmann: Keine Zeichen an der Wand 306 Iris Keller: Perspektivwechsel 307 Lothar Koch: herbst 312
NIMM DIESE EINFACHEN WÖRTER ODER GEHEN ZUM GRUNDE Adel Karasholi: sage dem gedicht 315 Günter Ullmann: Paul Celan 317 Friedemann Berger: Satzgitter 318 Heinz Czechowski: Bozener Straße 20 319 Guntram Vesper: Herzberger Landstraße 320 Uwe Nösner: Trotz der Verliese 321 Norbert Weiß: Mühlwerk 322 Hans-Ulrich Treichel: Schreibaufgabe 324 Kito Lorenc: Gedicht mit Datum 325 Kito Lorenc: Burleske 326 Christian Lehnert: Hunger hab ich hier 327 Siegfried Heinrichs: Denn mehr ist nicht mein Handwerk 328 Bertram Kronenberger: Gehen zum Grunde 330 Annerose Kirchner: Fractal zoom 331 Annerose Kirchner: Bilanz 332 Lars Reyer: Knochen 333 Martina Heer: Fig. I 334 Martina Heer: Fig. II 335 Undine Materni: Garten. Weiß. 336 Undine Materni: Regen. Blau. 337 Michael Wüstefeld: Was nicht bleibt 339 Anna Kaleri: Rezept 340 Gabriele Eckart: GN200 342 Olaf Trunschke: Das Haus am Rande der Sprache 343 Karl Mickel: Sie 344 12
SO VIEL DER GUTEN HAB ICH ÜBERLEBT – ERBARMEN! Peter Gosse: Todin 347 Reiner Kunze: Tapferer Vorsatz 348 Friedemann Berger: im sorot frieder 349 Uwe Grüning: Lebensschatten 350 Uwe Grüning: Alterndes Jahr 351 Wulf Kirsten: nachruf 352 Andre Rudolph: frühe bildstrecken zeigen ihn 353 Wolfgang Hilbig: Der Zufall. Gedicht zu meinem 60. Geburtstag 354 omas Kunst: Gedicht für Wolfgang Hilbig 355 Jörg Seifert: hilbig 356 Jürgen Israel: Aschekreuz 357 B. K. Tragelehn: Der letzte Versuch 358 Walther Petri: Zu Besuch 359 André Schinkel: An Hüges Grab 360 André Schinkel: Wielands Grab 362 Gundula Sell: Was ich von ihm gelernt habe 363 Benedikt Dyrlich: Ćišinski, der Stille 364 Guntram Vesper: Rückblick als Ausblick 366 Helmut Richter: Leicht fertiges Selbstporträt 368 Walther Petri: Wolken über der Schulter 369 Karl Mickel: Epitaph. Altenglisch 370
NACHWORT Peter Geist: In Sachsen lohnt es sich, noch länger wach zu bleiben 373 Nach-Denken über eine Anthologie
ANHANG Autoren und Nachweise 384 Editorische Notiz und Dank 400
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WOLFGANG HILBIG das meer in sachsen
1 braunkohle mit mehr als fünfzig prozent wassergehalt wird in sachsen gegraben furchtbare unglücke katastrophen im tertiär preßten das meer in die kohle in sachsen wüst und gottgewollt trat erde über die ufer zerdrückte das meer und seine lagunen mit mammutbäumen das meer kocht und damp in der kohle in sachsen die menschen in sachsen mit fellen behängt sammeln sich an den küsten der unterirdischen energie schütteln drohende fäuste gegen das meer gegen die neuaufschlüsse des meers (gelbes gras wuchert von den wellenkämmen des abraums hinab zu den straßen gedeiht im sperrfeuer vorüberflammender frontscheiben (es ist ruhe doch sachsen sinnt gottes sonntag zu ändern 2 sachsen ist ein land scheußlichsten wetters tagelang strahlt nacktes sonnenlicht gegen die erde dann wieder wochenlang eisiger regen fressende kälte 17
N ACHWORT
UND
A UTOREN
PETER GEIST
In Sachsen lohnt es sich, noch länger wach zu bleiben Nach-Denken über eine Anthologie
I „Es gibt eine andere Welt“ – der Titel dieser Anthologie neuester Lyrik aus Sachsen klingt hochgemut, ist entnommen dem Gedicht „Die sächsische Flut 2002“ von Volker Braun und doch auch programmatisch geborgt von jenem „attac“-Slogan, der den Mächtigen dieser Welt zuerst in Genua 2001 zu ihrem „G8“-Gipfel entgegenscholl. Zivile Courage, zivilisierter demokratischer Protest, zivilisatorische Verantwortlichkeit gegenüber dem Weltzustand – sind in diesen globalen sozialen Bewegungen womöglich Schnittmengen zuhanden, die mit einer historisch gewachsenen Eigenart sächsischer Kultur, Lebensart und Mentalität zu tun haben? Um dieser Vermutung nachzugehen, erscheint es unabdingbar, an einige kultur- und literaturhistorische Zusammenhänge zu erinnern. Wiewohl die Texte dieser Anthologie fast ausschließlich im 21. Jahrhundert entstanden, sind sie doch eingewoben in eine große und reichhaltige Tradition. Sachsen war seit der frühen Neuzeit eine Kernprovinz deutschsprachiger Poesie. Dass das Wirken Martin Luthers und das Aulühen von Universität und Verlagslandscha insbesondere in Leipzig korrelierten, düre gemeinhin bekannt sein. Schon weniger, dass die Lebensreise eines der großen deutschen Barockdichter, Paul Fleming, aus dem erzgebirgischen Hartenstein über Mittweida und Leipzig nach Tallinn, Moskau bis an das Kaspische Meer führte. Als 2009 ein Fleming-Lesebuch mit Texten von und über Fleming veröffentlicht wurde, war die Liste der in Sachsen wurzelnden Beiträger, u.a. Volker Braun, Roža Domasčyna, Peter Gosse, Kerstin Hensel, Kito Lorenc, Richard Pietraß, omas Rosenlöcher, nicht nur lang, erstaunlich war auch die Intensität, mit der sie sich mit dem lyrischen Werk Flemings ins Vernehmen setzten. Dies nun ist keineswegs einer
verlegerischen Laune geschuldet: Flemings melancholiedurchwirkte Vanitas-Dichtung, die sich durch ihre kräige Subjektivität von den Modeprodukten vieler Zeitgenossen abhob, in Verbindung mit sachter Sprach-Spiel-Lust, Weltneugier und erotischen Meriten, hat die Jahrhunderte überleuchten können. Gerade auch der Sachsen Auszug in die Welt sollte ein Paradigma stien. In Gedichten etwa von Peter Gosse, omas Rosenlöcher oder Richard Pietraß ist im Changieren zwischen Bodenhaung, Sprachmäandern und mondialem Begehr fast immer auch ein kräiger Schuss barocker Ingredienzien à la Fleming schmeckbar. Dieses Zusammensehen ist mit großer Wahrscheinlichkeit verantwortbar für das Phänomen, dass die Wellen rein sprachbezogener Textverfertigung, die seit der Mitte des 20 Jahrhunderts vorzugsweise aus Österreich die deutsche Lyrik überschwemmten, allenfalls Poetiken berühren, nicht aber die Konturen einer Literaturlandscha bestimmen konnten. Selbst noch die Sprachblätter eines Carlfriedrich Claus durchweht mehr der Geist der Blochschen Utopie als der Wittgensteins. Als sich im 18. Jahrhundert in den sächsischen Landen Zentren der Aufklärung wie auch des Pietismus herausbildeten, hatte dies weitreichende Folgen: Klangvolle Namen wie Lessing, Gellert, Goethe, Schiller waren von nun an mit der sächsischen Literaturlandscha verbunden. Die diesen Dichtern eigene Symbiose von Weltläufigkeit, kritischer Reflexion und dem Pochen auf höchste ästhetische Standards sollte über die Jahrhunderte hinweg maßstabsetzend sein, bis hin zur „Sächsischen Dichterschule“ im 20. Jahrhundert und der aktuellen Lyrik. Hinzu kommt, dass sich Leipzig, Dresden und Zwickau seit dem 17. Jahrhundert auch zu Zentren europäischer Kunst- und Musikkultur entwickelten, mit weitreichenden Synergieeffekten im Austausch der Maler, Musiker, Literaten untereinander, aber auch mit tiefergehenden Wirkungen auf die sächsische kulturelle Identität. Von einer „Weichheit des kulturellen Verlangens, eine(r) Anschmiegsamkeit an große europäische Weltkultur“ spricht treffend Durs Grünbein. Und noch ein Moment kann nicht außer Acht gelassen werden: Im Siebenjährigen Krieg 1756 bis 1763, 1813 aufgrund verspäteten Seitenwechsels gegen Napoleon und 1867 in der österreichisch-preußischen Auseinandersetzung um die Vorherrscha im sich abzeichnenden Deutschen Reich stan-