REIHE NEUE LYRIK Kulturstiî‚?ung des Freistaates Sachsen Herausgegeben von Jayne-Ann Igel, Jan Kuhlbrodt, Ralph Lindner
Kerstin Hensel
Das gefallene Fest Gedichte und Denkzettel
poetenladen
Erste Auflage 2013 © 2013 poetenladen, Leipzig Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-940691-41-5 Reihe Neue Lyrik – Band 4 Herausgegeben von Jayne-Ann Igel, Jan Kuhlbrodt, Ralph Lindner Illustration und Umschlaggestaltung: Miriam Zedelius Druck: Pöge Druck, Leipzig Printed in Germany Poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig, Germany www.poetenladen-der-verlag.de www.poetenladen.de verlag@poetenladen.de
ERSTE HOFFNUNG
Die Hoffnung fährt schwarz In der Stadtbahn im Überlandbus Liegt sie auf der hintersten Bank Hat alles bei sich was zum Leben Sie braucht: ein Büßerhemd einen Stock auch Kreuze aller Couleur Schwarz fährt die Hoffnung und weiß nicht Wo steigt sie aus Im Nachtdepot im Abgebrumm der Motoren Blinzelt sie unkontrolliert und mit störrischen Fingern Zeichnet sie in die Lu Pläne, ermißt ihre Chance zu zahlen Endlich morgen vielleicht
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ES IST IMMER das andere das ich will immer das andere die warme Festeburgwohnung mit allen Schikanen hinwegtr채umen r체ckw채rts in die Wracks heiterer Seligkeit der Ausbr체che damals und heute ironische Draufschau (Iron-Frau) was ich wollte hab ich nicht gesehen heute will ich etwas ganz und gar und es ist immer das andere. Immer.
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DAS GEFALLENE FEST (zu einem Bild von Karlkurt Köhler)
Es ist eine alte Geschichte: der stets wiederkehrende Traum: das Paradies: ein Ort der uns wohlwärmend einnimmt: unterhält mit Comedians: friedliebendes Raubvieh krault uns die Einfaltswolle: du sollst nicht du darfst nicht du wirst doch wohl nicht: die Party stören: den Festtags- einen Satansbraten nennen: immer die alten Geschichten: tritratrallala: feiern bis Tatütata: doch das Fest hängt irgendwo fest: im Affentheater, im Poposaunenchor, in der Takelage ewiger Verkündung: wir sind die Erwählten: Hammer, Nischel & Herdentanz: eine kalte Geschichte: der Fortschritt: plutoniumbetriebene Projectmanager sich verzehrend in selectivem Equipment als Quarkskuchen: Gott sieht alles auch dich: weckt die Gefallenen! Infantillerie an! Treten! Auf zur Apfelernte!
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HELIDO. Ich frage: warum soll einer, der tut, was getan werden muß, ein Held sein? Warum soll einer, der tut, was nicht getan werden muß, ein Held sein? Stahlkocher, die mit ihren Feuerschippen Hochöfen füttern sehe ich ebensowenig als Helden wie Altenpfleger, Bürgerrechtler, Grundstufenlehrer, Torschießer, Schauspieler oder Sandsackschlepper bei Hochwasser. Auch ist in meinen Augen keiner ein Held, der auf der Loreley Handstand macht, aus Löwenarenen Handschuhe holt, sich nackt in ein Hornissennest setzt, mit 200 Stundenkilometern über den Kurfürstendamm röhrt, Katzenkacke verzehrt, die Socken auf Links dreht oder sich freiwillig in irgendeinen Kriegskampf begibt. Ich kenne überhaupt keine Helden.
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ORTSZEIT Anmerkungen zu Kerstin Hensels Gedichten von Jan Kuhlbrodt
Wie ist ein Ort zu finden, ein Platz in den Verwerfungen der Zeit, dem Überblenden der Länder? Denn da ist keine Einheit des Fortschritts, kein Gleichklang des Ablaufs, weder lokal noch temporal. Es gibt da so Globen, bei denen, wenn man das Licht anmacht, die politische Gliederung der Welt verschwindet. Plötzlich ist alles Gebirge, Flachland und Meer in verschiedenen Blautönen, also verschiedenen Tiefen. Ein Knopfdruck genügt, und das vom Menschen Gegliederte, Abgesteckte, Zerteilte, macht der Natur Platz. Aber die Menschen sind in beiden Versionen, ob mit Licht oder ohne, nicht zu sehen. Und das ist kein Verschwinden in der Menge. Es ist kein Auruch ins Nichts. Denn der Mensch ist weder in der Natur noch im Politischen beheimatet. STARGATE. Auf dem deutsch-amerikanischen Volksfest sah ich die Leute eine dreiviertel Stunde kopfüber in einer Gondel festhängen. Ihr Blut floß andersherum. Das war ein Schöckchen, aber es gab keine Toten
Denn der Mensch ist das sprechende Tier, das, wenn es verstummt, auch verschwindet. Und weil Kerstin Hensel das weiß, hat sie ihrer Sprache Form gegeben. Und es scheint fast so, als würde ihr das mühelos gelingen, als wäre der Vers, dieses Künstlichste, das die Sprache kennt, ihr eine natürliche Weise des Artikulierens. Eingeboren.
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Kerstin Hensels Gedichte funktionieren genau, und nicht wie der Globus. Kein Licht, das das Ganze von innen erleuchtet, dem würde sie mißtrauen, glaube ich, sondern ein Schlaglicht fällt auf die Einzelheit, und dabei ist das Martialische das im Wort Schlaglicht mitscheint durchaus ernst zu nehmen. ICH BAUE MEINE URAHNEN zusammen, finde sie in der Fotokiste unter abgestorbenen Feldpostkarten und Komplimentenbriefen mit den Namen Paul Elly Emil Martha Hans Liesbeth Otto Margot Erhard ... herbe Leute aus dem Erzgebirge. Großvater Emil, der mit Tintensti Letztes aus Stalingrad schrieb – ein rheinischer Wandergeselle. Die Gesichter aus der Kiste kennen sich nicht, und doch bilden sie eine Galerie aus schrecklichen Kleidern, Hüten und Helmen.
Vielleicht liegt es an der Nähe von Hensels Herkun zum Erzgebirge, dieser komischen Gegend, in der die Männer unter Tage berserkerten, und an Feiertagen in frisch gewaschener Arbeitskleidung zur Bergparade marschierten. Die Frauen hatten noch die Blusenärmel über die mächtigen Unterarme geschoben und sahen aus den Fenstern zu. So ist es uns jedenfalls überliefert worden. Ganz so aber war es sicher nicht. Nachdem der Silberbergbau im 16. Jahrhundert zum Erliegen gekommen war, suchte man sich eine andere Beschäigung in den Bergen, viele wanderten aus, aber an den Umzügen der Bergleute hielt man fest, auch wenn man lang schon nicht mehr einfuhr. Glück auf! Und als Zentrum galt Chemnitz, die Heimat der deutschen Textilindustrie. Erwachsen aus der von Napoleon 1806 verfügten Kontinentalsperre gegen England. ALTE BAUMWOLLE. Die 200jährige Fabrik an der Zschopau so blau so blau, hübsch gemacht für die Wiedergeburt als Stätte der Begegnung. Es gibt ein Fest für die, die einst an den Maschinen
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gesponnen haben. Jetzt: alle ohne Arbeit, lange schon, so lange wie der Biertrost währt. Eine leere Hüpurg. Eine Zentrifuge, wo’s mich an die Wand drückt bei donnernder Musik.
Eine Gegend, der einige Dichterinnen und Dichter entsprangen. Heiner Müller, Irmtraud Morgner, Carlfriedrich Claus beispielsweise. Und Kerstin Hensel eben auch. Sie haben fast alle die Gegend verlassen, nicht ohne sie auf die eine oder andere Weise mitzuschleppen. Aber sie nehmen sie mit und reichern sie an, daß das Land letztlich auch ohne Ort auskommt.
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INHALT Erste Hoffnung 7 Es ist immer 8 Das gefallene Fest 9 Helido 10 Sandkasten 11 Gelichter 12 Heidefest 13 Stargate 14 Karrieremeldung 15 Die Ofensau 16 Ich träume (1) 17 Ein Student aus Bielefeld 18 Der Text 19 Die Wohnung des Theatermachers 20 Lehrprobe 21 Ich baue meine Urahnen 22 Ich träume (2) 23 Die schönste Bahnstrecke 24 In großen Städten 25 Sendung 26 Ansicht Rheinsberg 27 Mein Sportlehrer 28 Hirnholz 29 Alte Baumwolle 30 Was ich von Millionären weiß 31 Berlin. Hotel de Rome 32 Brüderschaft 34 Gevatter 35
Markus der Rotblonde 36 Sechzigster 37 Taktlos 38 Vielerorts überall 39 Geschöpfe 40 Wahl 41 Drittes Geschlecht 42 Was sein oder wieder 43 Venus von Willendorf 44 Verlustanzeige 45 Glücksfinder 46 Und plötzlich 47 Ich feiere 48 Als Jungfrau 49 Ich gehe 50 Der Traumbohrer ist geschlüpft 51 Unter den Gräbern 52 In Bad Bevensen 53 Siebzig werden 54 Was uns die Jahre sagen 55 Ich träume (3) 56 Das Tacheles 57 Tante Malaise 58 Ich war nicht obenauf 59 Eine Dixieland-Band 60 Nackte Kaiser 61 Wer bist du, Luzie? 62 Eine Folge 63 Miriquidi. Bergan 64 Hundeleben in Conversano 65 Around the World 66
Adrianisch 68 Sonnenuntergang am Comer See Das Ur-Laub 71 Poetessa 72 Blindgänger 73 Vom Kahn 74 Die geplagte Löwin 75 Die arische Ahnentafel 76 Letzte Worte 77 Friedhof Chemnitz 78 Hauptbahnhof Dresden 79 Heilige Familie 80 Der Gast 81 Advent 82 Besonderes Kennzeichen 83 Gottvater 84 Ich stehe 85 Letzte Hoffnung 86 Kurzer Besuch 87
Nachwort: Jan Kuhlbrodt – Ortszeit
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BIOGRAFISCHE NOTIZ
Kerstin Hensel, 1961 in Karl-Marx-Stadt (Chemitz) geboren, studierte nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und ist heute Professorin f체r Deutsche Verssprache und Diktion an der Hochschule f체r Schauspielkunst Ernst Busch Berlin. Sie verfasste mehrere Gedichtb채nde sowie Romane und Erz채hlungen (zuletzt: Federspiel, Luchterhand 2012). Neben dem Leonce- und LenaPreis erhielt sie unter anderem den Gerrit-Engelke-Preis und den IdaDehmel-Literaturpreis.