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Impressum Das Literaturmagazin poet erscheint halbjährlich. Alle Rechte liegen bei den Autoren bzw. den Verlagen. Auf postalischem Weg erfolgt keine Annahme unverlangter Manuskripte. Beiträge können als Anhang einer E-Mail an die Adresse des poetenladens (manuskripte@poetenladen.de) geschickt werden. In der Regel werden Einsendungen nicht kommentiert. Anfragen sind via EMail möglich (info@poetenladen.de). Verlag: poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig, Germany Redaktion: Andreas Heidtmann, Fechnerstraße 6, 04155 Leipzig poet im Internet: www.poet-magazin.de poetenladen im Internet: www.poetenladen.de Der Verlag im Internet: www.poetenladen-der-verlag.de Bestellungen des aktuellen Magazins sowie früherer poet-Ausgaben über den Buchhandel, beim poetenladen per E-Mail (shop@poetenladen.de) oder per Fax (0341 – 6407314) oder portofrei über den Internetshop des poetenladens (www.poetenladen-der-verlag.de/shop). Illustration und Umschlaggestaltung: Miriam Zedelius Druck: Pöge Druck, Leipzig poet nr. 19 Literaturmagazin Andreas Heidtmann (Hg.) Leipzig: poetenladen, Herbst 2015 ISBN 978-3-940691-69-9 Calwer Hermann-Hesse-Preis für Literaturzeitschrien Gefördert durch die Kulturstiung des Freistaates Sachsen www.kdfs.de


poet

nr.19

literaturmagazin

Herausgegeben von Andreas Heidtmann Redaktionsleitung Prosa: Katharina Bendixen Gedichtkomentare: Michael Braun 路 Michael Buselmeier Auswahl Lyrik von Jetzt 3: Max Czollek


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Editorial

EDITORIA

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Beim Gesprächsthema dieser Ausgabe – Literatur und Glaube – ging es nicht in erster Linie darum, Glauben in enger Verbindung mit Religion zu erörtern, sondern den Begriff als Anregung zu verstehen, über das Nichtrationale in der Literatur zu sprechen. Hierher gehören die Inspiration, die Wirkung von Texten, die philosophische Dimension hinter dem Schreiben und selbst die Formfrage, die eine mystische Dimension haben kann. Hilfreich scheint der Blick auf Philosophen wie Adorno und eine hierdurch beeinflusste Literaturkritik, die, vor allem in der Nachkriegszeit, nichtreale Stilformen, etwa spiritualistische und surrealistische Tendenzen, eher vernachlässigt oder abgelehnt hat. Es geht natürlich auch um das Vertrauen in das eigene Schreiben: So lautet die von der poet-Redaktion ausgegebene Frage, woran man als Autor glauben müsse, um einen Text zu schreiben, einen Gedichtband oder einen Roman fertigzustellen. Die sachlichste Variante wäre, sich auf die eigene künstlerische »Sturheit« zu berufen oder auf die konkrete Aufgabe, für eine Idee die geeignete schriliche Form zu finden. Nicht


wenige führen gleichwohl die Notwendigkeit des Glaubens an sich und an den Text ins Feld und bekennen sich zugleich zu den Selbstzweifeln, die keinem Autor fremd sind. Andreas Altmann bescheinigt diesem Glauben etwas Religiöses, auch weil der Text im gelungensten Fall ein Eigenleben führe und über die Intention des Schreibenden hinausgehe. Ulla Lenze spricht von einem utopischen Überschuss, ohne den das Schreiben nicht denkbar wäre. Wenn der innere Zensor schweigt, ist für viele ein wichtiger, vielleicht sogar wunderbarer Moment des Schreibens erreicht Neben der bewährten Prosa-Abteilung, in der diesmal überwiegend neue Stimmen zu Wort kommen, bietet der poet gleich drei Lyrik-Sektionen, darunter einen Einblick in die junge Szene mit Lyrik von Jetzt 3, ausgewählt von Max Czollek. Als Kontrapunkt gewissermaßen erweist sich die Folge der zwölf Gedichte, die Michael Braun und Michael Buselmeier ausgesucht und profund kommentiert haben. Zu den namhaen Gegenwartsdichtern, die sie besprechen, gehört Jan Wagner – 2003 gab er zusammen mit Björn Kuhligk die erste Lyrik von Jetzt-Anthologie heraus. Michael Braun nennt es ein vergietes Lob, das dem preisgekürten Lyriker zuteil wurde: Jan Wagner sei kein braver Traditionalist – und erst recht niemand, der die »Verkitschung der Natur« betreibe –, sondern ein Dichter, der Naturphänomene auf brutale Faktizitäten prallen lasse und die Bewusstseinsreize der Gegenwart auslote. Der Leser wird viele weitere Berührungspunkte finden – durch alle Genres hindurch – und verschiedenste Sichtweisen und Lesarten in dieser Ausgabe entdecken. Andreas Heidtmann, Herbst 2015


»Heute war kein guter Tag, danke der Nachfrage« Neue Prosa

Seite 8

Der poet stellt in dieser Ausgabe Texte junger Autorinnen und Autoren vor – wir lesen von Autobahnfahrten und Krebsen, die Lichtblitze erzeugen (»Komm mir nicht zu nahe, ich bin gefährlich«), vom Eintreffen des Unerwarteten (»Ich stand mit dem Hörer in der Hand in der Mitte des Tages«), von einer jungen Frau, die in gemeinsamen Träumen hängengeblieben ist (»Er hat unser Königreich verlassen«), oder von einem nicht ganz einfachen Besuch bei der Schwester und ihrem Baby Anna-Lea (»Atmet sie, hebt sie den Bauch?«). Lyrik von Jetzt

Seite 90

Max Czollek stellt für diese Ausgabe zehn Autorinnen und Autoren des in diesem Herbst erscheinenden Bandes Lyrik von Jetzt 3. Babelsprech (Wallstein Verlag) vor. Seit dem Oktober 2013 hat das Projekt Babelsprech Lyrikerinnen und Lyriker (ab Jahrgang 1980) aus dem gesamten deutschsprachigen Raum zusammengeführt und mündet in der Herausgabe der Anthologie.

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Inhalt

Helle Verzweifachung Neue Lyrik

Seite 54

Drei Lyrik-Abteilungen zeigen ein Spektrum, das von Autoren der mittleren Generation – darunter Jan Wagner, Sylvia Geist, Henning Ahrens und Andreas Altmann – bis hin zu debütierenden reicht. Nicht ganz zufällig sind auch die drei Preisträger des Leonce-und-Lena-Wettbewerbs vertreten, der im Frühjahr 2015 stattfand. Dazu gehören David Krause (S. 67), Özlem Özgül Dündar (S. 79) und Anja Kampmann (S. 96).


GESCHICHTEN Maria Jansen: Auf der Autobahn 10 Carola Gruber: eorie von der unverdrossenen Leichtigkeit Julian Walther: Wendekreis 21 Julia VeihelMann: Nach Freud 25 Marie GaMillsCheG: Vier oder Wenn wir nach London fahren hannes leusChner: Eine Leiter nach Ägypten 41 Doris Wirth: Die Schwester 48

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GEDICHTE henninG ahrens: Das große Haus 54 sibylla Vričić hausMann: Pas de deux 60 DaViD Krause: erinnerungen an einen fluss 67 anDreas altMann: im halblicht 74 ÖzleM ÖzGül DünDar: zu uns gehören 79 sylVia Geist: Ein paar Anlässe eines ungeschriebenen Gedichts

LYRIK VON JETZT Max CzolleK: Vorbemerkung 90 anna hetzer: sie, schwestern 92 anJa KaMpMann: Minsk 96 siMone lappert: lückenlos 100 oraVin: das auge ist das abziehbild 104 riCK reuther: Gedichte 1–4 108 lara rüter: alpenträume 112 patriCK saVolainen: shirou kamo 116 lea sChneiDer: entschalung, nach und nach esther strauss: Obwohl Herr P. 124 Christoph szalay: was also bleibt 128

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In den Staub geschrieben Gedichtkommentare von Michael Braun und Michael Buselmeier

Seite 132

Die zwölf Gedichte dieser Folge stammen aus den letzten Jahren mit Ausnahme des Gedichtes Der Nebel von Paul Zech (1881–1946). Wenn es bei den Gesprächen um Literatur und Glaube geht, so sei hier auf das Gedicht hl. grab, eingang wahlkapelle von Marcus Roloff verwiesen, das sich auf ein Triptychon, die Grablegung Christi, von Giovanni Manfredini bezieht. Besprochen ist dieses Gedicht von Michael Braun.

Momente der inneren Unruhe

Seite 174

Der poet hat Autorinnen und Autoren befragt, ob eine Kategorie wie Glaube für das Schreiben notwendig sei. Das Vertrauen in die eigene Arbeit – gerade in kritischen Phasen – ist vielen wichtig. An die Stelle der Glaubenskategorie setzen andere die »innere Unruhe«, die sich erst mit Abschluss eines Projektes legt, oder den »dringenden Wunsch«, einer Idee eine textliche Form zu geben.

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Inhalt

Eine Art utopischer Überschuss Literatur und Glaube – sechs Gespräche

Seite 172

In sechs Gesprächen begegnen wir sechs Versuchen, sich dem ema Literatur und Glaube zu nähern und damit auch sechs unterschiedlichen Akzentuierungen. Der Einfluss christlicher Grundwerte beschäigt im Grunde jeden, wobei eine institutionell verflachter Religion genauso als Gefahr empfunden wird wie das »reaktionäre Rollback«, wenn der Glaube in seiner ideologisch verblendeten Variante als Waffe missbraucht wird.


GEDICHTE, KOMMENTIERT MiChael braun, MiChael buselMeier: Vorbemerkung 132 Klaus Merz: Expedition 134 paul zeCh: Der Nebel fällt 137 Martina Weber: jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind CleMens J. setz: Motte 143 MarCus roloff: hl. grab, eingang wahlkapelle 146 anDreas rasp: diese steine hier 149 JuDith zanDer: fürs erste leb im später 152 MirKo bonné: Der Zischelwind 155 silKe sCheuerMann: Uraniafalter 158 susanne stephan: Frontier 161 Jan WaGner: im brunnen 164 sünJe leWeJohann: krähen 168

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GESPRÄCHE – Literatur und Glaube einführunG unD uMfraGe: Eine Art utopischer Überschuss Momente der inneren Unruhe 174 MariCa boDrožić im Gespräch mit Ewart Reder So klein in der Welt und so groß im Geist

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ulla lenze im Gespräch mit Katharina Bendixen 189 Ab einem bestimmten Punkt kann ich das Buch spüren leVin WesterMann im Gespräch mit Martina Weber 197 Sobald man die religiöse Dimension zulässt, ist es mit der Planbarkeit vorbei alexanDer Graeff im Gespräch mit Mario Osterland Die Form zeigt das Verborgene Karla reiMert im Gespräch mit Jan Kuhlbrodt Ein Gottesbild gibt’s an jeder Ecke

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yeVGeniy breyGer im Gespräch mit Sibylla Vričić Hausmann 232 Ich möchte mich ganz stark machen für das Erhöhte beim Gedicht


Foto: Artur Krutsch

aria ansen

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Maria Jansen

Geboren 1988 in Petrosawodsk, Russland. Studium der Germanistik und Philosophie in Düsseldorf und Innsbruck mit Master abgeschlossen. Sti-

pendiatin der Kulturstiung Sachsen 2015. Ihre Prosa erschien zuletzt im STILL-Magazin und in der BELLA triste 2014.


Auf der Autobahn

In einem Jutebeutel im Kofferraum liegt saubere Unterwäsche neben einzelnen Ravioli-Dosen und verstreuten Tampons, ich habe Parfüm und Lippensti im Handschuhfach und Adapter, um Notebook und Telefon an der Buchse des Zigarettenanzünders aufzuladen. Ich fahre zu Yasmin aufs Land. Sie kocht, wir essen und reden. Anschließend gehen wir in den Wald, der Hund führt uns. Aber das alles ändert nichts, also setze ich mich wieder ins Auto und fahre zurück. Das Wetter wechselt alle fünf Minuten, wenn man hundertzwanzig durch den Frühling fährt. Erst setze ich meine Sonnenbrille auf und schwitze, dann Platzregen, das Auto wird von Sturmböen durchgerüttelt, die Wolken schwellen an und lösen sich auf und Sonnenstrahlen spalten den Himmel und ich weiß nicht mehr, was schön und was schrecklich ist. Er sagt, auf die Knie, oder er legt sich auf mich und umschlingt mich. Sein Gewicht erdrückt mich und ich beiße ihm in die Schulter, damit ich atmen kann. Früher war ich gedankenlos beim Sex. Ich habe alles gemacht, was ich wollte, und nie hinterfragt, was ich tue. Neuerdings nehme ich alles wahr. Das Spinngewebe in der Ecke, wie das Licht auf seine Haut fällt, die Geräusche, die ich mache. Höre ich mich anders an? Ich müsste mich anders anhören, weil ich mich anders fühle. Die Wohnung ist zu groß für mich allein. Ich räume auf und denke nach. Die Sanitärtechnik ist verkalkt. Jeden Tag sprühe ich die Wasserhähne und Ventile mit Kalklöser ein. Ich will unser Trinkwasser auereiten, Filter kaufen. Erst wenn die Armaturen glänzen, werde ich mich beruhigen. Aber er lacht mich aus. Er trinkt unser Leitungswasser und sagt, das Calciumcarbonat hat heute eine ganz besondere Würze, um mich zu ärgern.


Maria Jansen

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Ich fahre aufs Land, um zu schreiben, sage ich ihm. Viel Erfolg, wünscht er mir. Wenn ich von der Autobahn komme, umarmt er mich fest und küsst mich hart. Sein Bart kratzt mir die Haut auf. Überschwänglich erzählt er mir von seinem Tag. Ich stelle Fragen. Wenn ich keine Fragen stelle, ist er beleidigt, weil ich mich nicht für seine Arbeit interessiere. Mein Roman verwest auf der Festplatte und ich schreibe täglich Bewerbungen, aber niemand antwortet. Mein Tag war großartig, danke der Nachfrage. Inzwischen muss ich fast jede Woche tanken. Das sind eineinhalb Stunden zu Yasmin und auf dem Rückweg stehe ich noch zwanzig Minuten im Berufsverkehr. Sie sagt, ich habe keine Probleme, ich problematisiere nur alles. Am Wochenende bin ich rastlos, weil ich nicht flüchten kann. Das Wochenende gehört uns. Wir kochen, wir gucken Serien, wir haben Sex, wir gehen was trinken. Ich reiße die Haut um meine Fingernägel auf, um sie zu essen. In der Badewanne erzählt er mir, dass es Krebse gibt, die unter Wasser mit ihren Scheren schlagen und damit Lichtblitze erzeugen. Er wäscht mir den Rücken, die Arme, die Brust. Er will mich rasieren. Er findet das sexy, aber ich habe Angst, er könnte mich schneiden. Warum sie das machen, frage ich ihn. Sie kämpfen, sie schlagen mit den Scheren und warnen ihren Gegner. Komm mir nicht zu nahe, ich bin gefährlich. Das Wetter bestimmt meine Launen. Wenn es kalt und nass ist, werde ich unruhig und weinerlich. Wenn Nebel aufzieht, werde ich lethargisch. Wenn die Sonne scheint, werde ich lustig und unbekümmert. In der Nacht werde ich ängstlich, suche den grauen Mond im Fenster, er soll mir für den Morgen einen klaren Himmel versprechen. Sobald der Frühling vorbei ist, werden sich die Dinge einspielen. Die neue Wohnung, die neue Stadt. Die Stadt ist zu groß für mich. Ich gehe zur Post und verirre mich. Um aus einem Irrgarten herauszukommen, legt man seine rechte Hand an die Wand und hält beim Durchlaufen ständigen Kontakt. Die


Rechte-Hand-Regel funktioniert hier nicht. Ich finde den Kanal, aber unser Haus finde ich nicht. Also sitze ich lange am Wasser und beobachte Zugvögel. Am Ende unserer Straße steht ein Krankenhaus. In der Nacht wecken mich Sirenen. Meine Mutter brachte mir bei, Zeigefinger und Mittelfinger zu kreuzen, sobald ich ein Martinshorn höre. Eine Zauberformel, um Angehörige vor Unglück zu schützen. Ich rufe meine Mutter nicht zurück, weil ich nicht will, dass sie das alles in meiner Stimme hört. Yasmin hat auch eine Zauberformel. Wenn sie glaubt, Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, sagt sie drei Mal: Ich bin unsterblich und die Zukun interessiert mich nicht. Ich bin unsterblich und die Zukun interessiert mich nicht. Ich bin unsterblich und die Zukun interessiert mich nicht. Sie sagt, alles, was du aussprichst, wird wahr. Ich bin glücklich. Wie o muss ich es aussprechen? Yasmin ist genauso alt wie ich, aber sie sieht zehn Jahre älter aus. Wegen den Drogen, sagt sie. Die Drogen haben sie auch frigide gemacht. Das Haus hat sie von ihrer Großmutter geerbt. Ihre Großmutter hat Mode entworfen und sich durch die gesamte östliche eaterszene gevögelt und dann im Urlaub am Rande des Naturparks Westhavelland dieses alte Ziegelsteinhaus gefunden und sich entschieden, nie wieder in die Stadt zurückzukehren. Yasmins Geschichte ist eine Wiederholung davon. Wenn du ein paar Nächte bleibst, sagt sie, spürst du, wie dich die Bäume verändern. Wie verändern? Nachts ist es stockfinster und am Tag fühlst du dich einsam. Jedes Geräusch ist unheimlich. Nadelbäume stehen in Reihen um dich herum. Aber irgendwann siehst du nichts mehr. Deine Ängste und Vorstellungen von einem Leben, wie es sein sollte, verschwinden. Du existierst einfach. Du freust dich, wenn ein Bussard flügge wird oder wenn dich um fünf Uhr morgens das Kratzen der Fledermäuse unterm Dach weckt. Das macht dich sauber, im Inneren.


Foto: Arne Rautenberg

ylvia eist

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Sylvia Geist

Geboren 1963 in Berlin. Studium der Chemie, Germanistik und Kunstgeschichte. Veröffentlichungen von Lyrik, Übersetzungen, Prosa und Kritik in Zeitungen, Zeitschrien und im Internet. Zuletzt erschienen: Letzte Freunde. Erzählungen (Luschacht 2011) und Gordisches Paradies. Gedichte (Hanser Berlin 2014) sowie das

Künstlerbuch sylvia geist – umverkehrte zertrümmerung. 15 merzette | arne rautenberg – eine gute verdauung ist keine zeitverschwendung. 16 collagen (Hg. Carl-Walter Kottnik, Hamburg 2015). Auszeichnungen u.a. Lyrikpreis Meran, Adolf-MejstrikEhrengabe der Schillerstiung, ver.di Literaturpreis Berlin-Brandenburg.


Ein paar Anlässe eines ungeschriebenen Gedichts

Die Schlange vor der Zollstation, wo nichts sich bewegt außer mir oder dem Dachschatten. Die Formalitäten der fliegenden Gesundheitspolizei um einen rotbraunen Rock. Der Gestank an der Tankstelle, wo wir um den Toilettenschlüssel anstehen. Die Passantin, die hineinstürzt, als der Boulevard sich über einer weiteren Etage der Stadt auut. Das Haus, in dem der Gastgeber aufwuchs mit neun Geschwistern und der Mutter, die beim Maischen sang und die Angehörigen unserer Lebensbesichtigungsanstalt höflich übersieht. Der Applaus der Kinder im Daycare, als wir Gaben betrachten, die Gott ihnen geschenkt hat. Der Wunsch, etwas zu kaufen. Der Vorsatz, wenigstens alle Werbeschilder zu lesen, z.B. White powder for whiter results. Der Gestank im Bus, während wir uns schneller verwandeln. Der Moment, als ich sehe, es ergeht mir wie den anderen. Die Erleichterung beim Halt am Fastfood-Lokal. Die Schlange, die in den Armen des Köcherbaums schlä. Der Versuch, wach zu bleiben. Der Sand, der beruhigende Ton des rotbraunen Sandes.


DER GELBE AKROBAT – NEUE FOLGE (5) Vorbemerkung

Nach 100 Gedichten und Kommentaren, die in dem Band Der gelbe Akrobat veröffentlicht sind, ist dies die füne Fortsetzung mit neuen Beiträgen in unserem Magazin poet. Die zwölf Gedichte in dieser Ausgabe stammen überwiegend aus den letzten Jahren mit Ausnahme des Gedichtes Der Nebel von Paul Zech (1881–1946). Wenn es bei den Gesprächen um Literatur und Glaube geht, so sei hier auf das Gedicht hl. grab,

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Michael Braun | Michael Buselmeier

eingang wahlkapelle von Marcus Roloff verwiesen (Kommentar von Michael Braun), das sich auf ein Triptychon, die Grablegung Christi, von Giovanni Manfredini bezieht.

Für den Herbst des Jahres 2015 ist ein zweiter Akrobat-Band geplant, der dann jene 50 Gedichte und Gedichtkommentare versammelt, die bislang online erschienen und gruppenweise im poet-Magazin gedruckt wurden. Zur Entstehungsgeschichte der Anthologie seien an dieser Stelle noch einmal die Herausgeber zitiert: »Unser gemeinsames Unternehmen Der gelbe Akrobat, das wir 2009 als Summe einer jahrzehntelangen Beschäigung mit zeitgenössischen Gedichten vorlegten, ist indes kein klassisches Anthologie-Projekt, sondern ein work in progress, das sich einem publizistischen Glücksfall verdankt. Zwanzig Jahre lang ermöglichte uns die Wochenzeitung Freitag, in unregelmäßiger Folge Kolumnen zu deutschsprachigen Gedichten der Gegenwart zu schreiben. In stetem Wechsel verfertigten wir ab 1991 unsere Kommentare zu den Gedichten, biografische und sympathetische Annäherungen an die Texte, die im Idealfall aufeinander antworteten und sich zu einem großen Gespräch über Poesie ausweiteten. Die erste umfassende Zwischenbilanz dieser Arbeit mit 100 Gedichten und ebenso vielen Kommentaren haben wir 2009 im Verlag des Poetenladens vorlegen können, ein Kompendium, das mittlerweile in der dritten Auflage erscheint.«


Giovanni Manfredini Triptychon: Grablegung Christi (Ausschnitt) »dass dies gestorbensein so / aus dem schatten springt // aus dieser röntgenmaske / dem dreifaltigen flipchart« Aus Marcus Roloffs Gedicht »hl. grab, eingang wahlkapelle«, kommentiert von Michael Braun


LITERATUR UND GLAUBE

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Literatur und Glaube

Eine Art utopischer Überschuss. Sechs Gespräche

In sechs Gesprächen begegnen wir sechs Versuchen, sich dem ema Literatur und Glaube zu nähern und damit auch sechs unterschiedlichen Akzentuierungen. Für Marica Bodrožić sind die Herkun aus Dalmatien und die Geschichte der Jugoslawienkriege prägend, wobei sie sich gegen Heldentum und falsch verstandene Opferbereitscha wendet. Im Sinne Hannah Arendts könne man nie ein Volk oder eine Gemeinscha lieben, sondern nur Individuen. Als geistige und sprachliche Fundgrube nennt sie Mechthild von Magdeburg sowie Teresa von Ávila, die das authentischste Glaubenscredo aller Zeiten geschaffen habe. Ganz entschieden gelte es, sich gegen die Leere einer institutionell verflachten Religion zu stellen. Ulla Lenzes Protagonisten werden o von einer Idee beherrscht wie schon in ihrem ersten Roman, wo ein junger Mann sich von der indischen Spiritualität Rettung erho. Als Schreibende kennt sie den Moment, wo sich das Gefühl einstellt: Das wird ein Buch. Unverzichtbar ist für sie das Vertrauen darauf, dass der Text sich an die Freiheit im Leser richtet. Ohne diesen Glauben – eine Art utopischer Überschuss – wäre das Beginnen und Beenden eines Romans für sie nicht möglich. Es ist eher selten, dass in Gegenwartsgedichten das Wort Gott auftaucht. In Levin Westermanns Lyrikdebüt findet es sich. Auch biographisch zeigt sich bei ihm die Beschäigung mit Fragen des Glaubens, etwa im Studium der Religionsphilosophie oder in der Lektüre des Äthiopischen Henochbuchs. In der englischsprachigen Lyrik, die er besonders schätzt, findet man häufiger als im Deutschen religiöse Motive, denen man dort, so Levin Westermann, weniger kritisch gegenübersteht. Alexander Graeff hat sich intensiv mit dem Werk Wassily Kandinskys und dem Geistigen in der Kunst beschäigt – bis hin zum Okkulten. Er


ahnt eine Renaissance solcher Phänomene; lange seien sie vernachlässigt worden infolge einer Nachkriegsphilosophie, die sich gegen spiritualistische und surrealistische Tendenzen gerichtete habe. Zu nennen wären hier die Philosophen James Webb und die kritischen esen Adornos zum Okkultismus. Für Karla Reimert stehen Dichtung und Religion in enger Beziehung, wobei der Beginn ihres Schreibens in der frühen Jugend mit dem ihres Wissens um den Glauben zusammenfiel. Wichtig ist ihr die Vielfalt der Religionen, so begeisterte sie sich in den 1980er Jahren für die BahaiReligion. Mit Celan und Wittgenstein lernte sie wiederum das jüdische Gottesbild näher kennen#. Schwierig sei es, Religiöses einzubinden, weil hinter jedem relevanten Begriff zahllose Kämpfe um Deutungshoheit ständen. Man kann zwar über Gott schreiben, so zitiert sie ihre Verlegerin Daniela Seel, aber am besten sei es, wenn man ihn am Ende wieder rausstreicht und die Probleme im Gedicht irdisch löst. Yevgeniy Breyger glaubt an die Wirkungskra des speziellen Gedichttextes und sieht im Schreiben einen spirituellen Akt, einen erhöhten Augenblick im Vergleich zum normalen Alltag. Dabei bedauert er, dass an sich neutrale Begriffe wie Inspiration und Pathos negativ konnotiert seien. Religiöse Motive ziehen ihn an und tauchen häufiger in seinen Texten auf, auch wenn er selbst sich als Atheist betrachtet. Ein Berührungspunkt zum Gespräch mit Marica Bodrožić ergibt sich durch die christliche Mystikerin Mechthild von Magdeburg, die auch zu Yevgeniy Breygers Lektüren zählt. Lyrik sollte seiner Ansicht nach etwas Verstörendes haben, wobei jeder Autor ein hohes Wagnis eingeht, das nicht ohne starkes Vertrauen in sein Schreiben – manche mögen es auch Dickköpfigkeit nennen – möglich ist.


Momente der inneren Unruhe

Auch Autorinnen und Autoren, die mit Lyrik oder Prosa im Magazin vertreten sind, stellte der »poet« zwei Fragen zum ema Lesen.

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Literatur und Glaube

1. poet: Autorinnen und Autoren sind regelmäßig der Kritik anderer, aber auch der Selbstkritik ausgesetzt. Woran muss man glauben, um einen Text zu schreiben, um einen Gedichtband oder einen Roman zu beenden? Carola Gruber: Ich weiß nicht, ob es so viel mit »Glauben« zu tun hat – vielleicht eher mit dem dringenden Wunsch, für eine Idee, einen Impuls, eine Beobachtung ... eine schriliche Form zu finden. Doris Wirth: Ich glaube, man muss daran glauben, dass man etwas zu erzählen hat, dass man erzählen will und wird. Man muss dem Eigenen trauen, muss wagen, sich ernst zu nehmen und zuzuhören. Der innere Zensor soll schweigen – ob das jemals jemand lesen oder drucken wird, ist einerlei. Denn der Moment des Schreibens gehört allein der Autorin, dem Autor. Er ist, um zur nächsten Frage überzuleiten, gewissermaßen heilig. (Und immer wieder schwer auszuhalten und voller Selbstzweifel und wunderschön.) sylvia Geist: Glauben – an die Kunst, mich oder womöglich eine Sendung – war nie eine Kategorie, die mir im Zusammenhang mit meiner Arbeit plausibel oder notwendig erschienen wäre. Ich fürchte, ich schreibe vor allem deshalb, weil es die interessanteste Beschäigung ist, die ich finden konnte. Natürlich gibt es immer wieder verteufelt schwierige Phasen, und das muss auch so sein. Was mich »dranbleiben« lässt, ist im Zweifelsfall aber vielleicht einfach mein Dickschädel. Oder eine innere Unruhe, die sich erst legt, wenn ein Projekt abgeschlossen ist. Marie GaMillsCheG: Wenn man sagt, man muss an sich selbst glauben, dann klingt das ganz schnell furchtbar banal – aber ein bisschen stimmt das schon so. Man sitzt die ganze Zeit allein an seinem Schreibtisch, hat


nur sich und den Text, mit dem man sich mal mehr, mal weniger versteht, da fragt man sich bald: Was mache ich hier? Warum mache ich das? Warum macht der Protagonist das? Helfen kann da wirklich nur ein blindes »An sich glauben« – manchmal auch ein Wort von außen. henninG ahrens: Man muss, trotz aller Zweifel und Anfechtungen, an den Text und sich selbst glauben. Max Czollek: Frage – Gegenfrage: Wen möchte ich warum mit einer Veröffentlichung meiner Texte beeindrucken (ich könnte jetzt auch schreiben: erreichen)? Wenn ich diese Frage beantworten kann, dann habe ich auch einen Grund, ein Buch zu schreiben. Mehr Glauben braucht es nicht. Bei dem einzelnen Gedicht ist das schon darum anders, weil es nicht notwendig eine Öffentlichkeit erreicht. Wahrscheinlich entsteht das Gedicht aber in einem Moment, wenn die Selbstkritik sich gerade mit etwas Anderem befasst. hannes leusChner: Woran muss man glauben, um eine Lasagne zu bereiten? An die italienische Küche? Was den Text betri, nehme ich an, man muss zumindest in gewissem Maße an irgendein Spiel glauben, in dem der Text eine Rolle spielt oder an den Text selbst als Spiel, um den Text zu schreiben; und zwar bestenfalls zumindest so lange, bis er eine verhandelbare Form gefunden hat. Was nicht bedeuten muss, dass man den Text oder das Spiel gutheißt oder richtig findet. Ich war jung und brauchte das Geld. anDreas altMann: Ich kenne keinen Menschen, der gern kritisiert wird. Im Grunde tun wir die Dinge im Glauben, sie richtig zu tun. Was wir am ehesten annehmen, ist Selbstkritik, wobei sich die Frage stellt, wie es zu dieser kommt. Dabei spielt der Wechsel des Blickwinkels eine wichtige Rolle. Ich kenne Autoren, die keine Kritiken ihrer Arbeiten lesen. Andere hegen Mordgedanken oder spielen Aggressions- und Rachepläne durch. Manche verstummen oder werden depressiv, wieder andere lachen darüber und verschlucken sich. Manche lässt Kritik völlig kalt und sie bekommen Fieber. Andere folgen ihr bis zur nächsten Kreuzung und biegen dann ab. Wieder andere verteidigen sich oder gehen ihrer Wege. Manche sind manisch. Sicherlich bin ich einer von allen.


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Literatur und Glaube

Dichter geben alles von sich preis, egal, ob es in sprachreflexiven Texten geschieht, in Gedichten, die unabdingbar mit der Biografie und ihren Möglichkeiten verbunden sind, ob sie sich auf Geschichts- oder Wissenschasfeldern tummeln, ob sie sich Mythologien verschrieben haben usw. Der Dichter entblößt sich in einem Gedicht. Oder er versteckt sich darin. Er legt sein Leben hinein und seine Eitelkeit. Das macht ihn verletzlich. Was mich in Bewegung hält, ist Selbstreflexion, nicht nur in meinen Gedichten. In Abständen zweifele ich heig an dem, was ich schreibe. Aber auch in diesen Phasen schreibe ich. Der Zweifel ist dann eine Art Selbstreinigung. Vieles für mein Leben Überflüssige und Unwesentliche fällt dann ab, zumindest in Gedanken. Und vielleicht auch im Gedicht. Der Blick klärt sich auf und wechselt die Seite. In diesen Phasen lektoriere ich die Texte selbst. Es klingt mir sehr pathetisch, wenn ich sage, ich glaube an einen Text oder an das Buch, aber man sollte schon eine gewisse Sturheit, auch sich selbst gegenüber, mitbringen. An einen Text zu glauben, darin liegt in meinen Augen etwas Religiöses, auch weil er ein Eigenleben führt, das durch jeden Leser auf seine Art materialisiert wird und gerade im Gedicht, in dem im besten Fall das Unsagbare zur Sprache kommt. Als Dichter ist man immer auf sich allein gestellt, beim Schreiben, beim Lesen und bei aller Kritik Religiöse Gedanken spielen in jedem Leben eine Rolle, auch wenn sie bei mir eher ungläubige Charakterzüge tragen. In den letzten Jahren habe ich zu o an Gräbern gestanden und hätte gern den »lieben Gott« angerufen. Dabei blieb ich schweigsam. Und letztendlich untröstlich.


2.

Spielt für Sie als Autorin bzw. Autor Religion eine Rolle – in positiver wie auch kritischer Sicht? sylvia Geist: Religion ist natürlich ein ema, auch für mich als Agnostikerin, denn sie gewinnt ja immer mehr an politischer und gesellschalicher Bedeutung. Übrigens nicht nur im Hinblick auf das Christentum, den Islam oder andere religiöse Bekenntnisse, oder in Teilen der Welt, in denen die Bedeutung der Religion ein mörderisches Ausmaß angenommen hat. Bei uns gibt es quasi-religiöse Gefühle zum Beispiel in Fragen des Lebensstils. Rauchen, Fleischgenuss, vorehelicher Sex u.a. steht für eine moralische Avantgarde – oder für eine neue Brahmanenkaste aus Asketen – sozusagen nicht mehr zur Debatte. Rebirthing-Rituale ersetzen die Psychoanalyse, schamanische Reisen werden von Studienräten gebucht, mittelständische Exportweltmeister verordnen ihren Angestellten Meditations- und Fastenwochenenden. Dass Börsenmakler abergläubisch sind bzw. so reagieren, als wären sie es, ist seit längerem bekannt. Ob man das alles nun bedenklich, ärgerlich oder komisch findet, der Rationalismus scheint jedenfalls zusehends abzuwirtschaen. Parallel dazu gibt es eine Sehnsucht nach Sinn, die von den Priestern der diversen säkularen Konfessionen – des Hedonismus, der Marktwirtscha, der Selbstverwirklichung – nicht mehr befriedigt zu werden scheint. Was keine schlechte Nachricht ist. Carola Gruber: In meinen Texten spielte Religion bisher selten eine Rolle. An sich gefällt mir die Idee, dass meine Texte unabhängig von religiösen Anschauungen ihr Publikum finden, auch wenn das vielleicht eine Illusion ist. henninG ahrens: Christliche Grundwerte haben durchaus eine Bedeutung für mich. Aber in einer Zeit des reaktionären Rollbacks, in der der Glaube in seiner ideologisch verblendeten Variante wieder als Waffe missbraucht wird, wahre ich einen sehr skeptischen Abstand zu jeder Form von Religiosität. poet:


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Literatur und Glaube

hannes leusChner: Schreiben an sich als Bewusstseinstechnik findet ja

leicht schon auf einer Art »religiöser«Ebene statt, sei sie dem Wanderschamanismus, der Vision, der Besessenheit ähnlich. Was ist Religion? Relegere hat zu tun mit Achtgeben im weiten Sinne, in einem engeren Sinne dann auch mit Achtgeben auf Regeln, Vorschrien: Die gibt es auch in Sprachen, teils befolgt man sie, teils bricht man sie. Religion im Sinne der als solche kanonisierten »Weltreligionen« (wie den mosaischen Religionen oder dem Buddhismus) finde ich persönlich als Sujet interessant, insbesondere, was den Katholizismus betri – ich interessiere mich aber auch für Pferderennen und Rotlichtmilieus und Verschwörungstheorien und so weiter. Die Wahl eines Sujets hat natürlich auch mit Zugängen zu tun, und vermutlich habe ich selbst mehr Zugang zu Religionen als zu Pferderennen – wobei ich gern auch mehr Zugang zu Pferderennen hätte. Marie GaMillsCheG: Als Autorin interessiere ich mich für Machtverhältnisse, für Vertrauen, für Misstrauen, für Glauben – in dem Sinne ist Religion ein spannendes ema. Doris Wirth: Natürlich spielt Religion für mich eine Rolle, insofern als es mein Aufwachsen, mein Umfeld, und – o unbemerkt – auch mein Denken geprägt hat und prägt. Meine Wertvorstellungen sind dem Christentum entlang gewachsen, meine Arbeitsmoral ist zutiefst zwinglianisch. Manchmal ist Religion auch für meine Figuren wichtig. Ich träume davon, eine Geschichtensammlung zu schreiben, die so wild und wuchernd ist wie die Textcollagen in den Büchern der Bibel. Max Czollek: Die Reihe Religion – Glaube – Utopie übersetzt sich für mich als Hoffnung, die eigene Arbeit hätte einen therapeutischen Effekt auf mich, auf meine Umwelt, auf die Sprache. In meinen Texten spielt diese Hoffnung nur eine strategische Rolle. Das bedeutet nicht, dass ich Glauben nicht für absolut notwendig halten könnte, um zu schreiben. Aber beim Schreiben interessiert mich Sprache als Symptom, also jene Wahrnehmung, die man vor der erapie hat. Paranoia ist auch eine poetische Haltung.



Foto: Peter von Felbert

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Marica Bodrožić | Gespräch

arica odrožić im espräch Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über und lebt heute als Schristellerin in Berlin. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays. Ausgezeichnet wurde sie u.a. mit dem Förderpreis für Literatur der Akademie der Künste Berlin, dem Kultur-

preis Deutsche Sprache, dem Preis der LiteraTour Nord, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Literaturpreis der Europäischen Union. Zuletzt erhielt sie für den Band Mein weißer Frieden (Luchterhand 2014) den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiung.


So klein in der Welt und so groß im Geist

eWart reDer: Ihr Buch Mein weißer Frieden, das vom Trauma des Jugoslawienkriegs handelt, spricht eindringlich von den Sternen, von Flüssen, vom Meer. Lebenskonstanten verbinden Menschen, die sich in ihren Köpfen für Todfeinde halten. Um die Verbundenheit zu erfahren, muss ein Mensch sich dem eigenen Inneren stellen. Die Reise nach innen ist die Reise zum anderen. Erzählen Sie bitte – wie sind Sie darauf gekommen, solche verborgenen Zusammenhänge anzunehmen? MariCa boDrožić: Für mich sind diese Zusammenhänge in einem erzählerischen Raum verortet, ich kann und will sie auch nicht künstlich trennen – denn nur Menschen, die sich von ihrem Lebenszusammenhang abkapseln (& die Sterne, das Meer, die Flüsse sind ja auch Zuarbeiter unseres Daseins, Feuer und Anker unserer Imagination), können auch ihr Gegenüber vergessen, es mental auslöschen und es letzten Endes auch physisch eliminieren, es ohne Rückgriff auf irgendeine Ethik töten. Romain Gary schreibt einmal, er glaube nicht, dass es eine des Menschen würdige Ethik gibt, die etwas anderes als eine Ästhetik des Lebens ist. Davon bin ich auch überzeugt. e. reDer: Ethische Fragen sind soziale Fragen. Entsprechend geht es in Ihrem Buch außer um Individuen um Staaten, darunter den Staat ihrer Kindheit, das sozialistische Jugoslawien. Obwohl dessen multinationaler Ansatz und auch das gemeinschaliche Ideal einige warme Worte von Ihnen bekommen, ziehen Sie eine klare Grenzlinie für das, was Sie Staaten und allgemein Kollektiven an ethischer Werterhaltung oder gar -schöpfung zutrauen. »Die einzige Religion, die ich habe, ist mein Herz«, heißt es in einem Ihrer Gedichte (über dem erzählerischen und essayistischen Werk gern übersehen – sehr zu Unrecht!). Das Individuum ist der einzige Ort im Universum, an dem das Universum sich interpretiert.


Marica Bodrožić | Gespräch

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An diesen Ort müssen die Ideen, die Götter reisen, als an die kosmische Wasserstelle, die ihr Leben erhält. Ansonsten droht ihnen ein Dasein, wie es Flaubert im Heiligen Antonius beschreibt: als Gespensterzug jener Millionen toter Götter, die die Kulturgeschichte so hilflos zurückgelassen hat wie das Geröll ihrer unerklärten Relikte. Da ist also eine fundamentale Grenze: zwischen dem Einzelnen und seinem Verband. M. boDrožić: Die Traumata erzählen auch von einer im Inneren der Leute eingepferchten Freiheit, einer Art gefangengenommenen Liebe, die sich in Hass und Aggression verkehrt und immer gegen einen Anderen wendet. Nur wer im eigenen Inneren zum Forscher wird, wird sich einigermaßen von den Verstrickungen im Außen befreien können. Es gibt kein Kollektiv, das die menschliche Freiheit stützt, auch das der Demokratie nicht (denken wir nur an die Kontrollwut und die Überwachung durch die NSA); am Ende ist jedes Kollektiv an seinem eigenen Erhalt interessiert, es will System sein und Macht ausüben, und es verlangt immer nach Gehorsam, der Einzelne soll sich unterordnen. Die Jugoslawienkriege sind darüberhinaus aber auch einem patriarchalen Muster des Sich-Fügens und Rechthabens geschuldet. Junge Männer wurden schon immer und werden immer noch überall geopfert, in der Regel, ohne es selbst überhaupt zu merken. Das ist übrigens möglich, weil Mütter Helden in ihnen sehen und keine autonomen Wesen mit Bedürfnissen, Helden haben de facto kein eigenes Leben, sie sollen ja auch nur eine Funktion im leeren Leben der Mütter erfüllen, die sich selbst aufgeben und u.a. dadurch patriarchale Strukturen stützen. Das ist mir in acht Jahren Recherche immer deutlicher geworden und ist für jeden, der sich etwas genauer damit beschäigt, offen einsehbar. Es zu benennen, hat mich dennoch viel Mut gekostet und am Ende auch den sozialen Rauswurf beispielsweise aus meinem Dorf gebracht: Die Menschen dort empfinden meine Fragen nach Verantwortung und Aufarbeitung der Vergangenheit als Anmaßung; »Scham« und »Schande« sind Worte, die sie dabei ins Spiel bringen. Bezeichnenderweise auch: Vaterlandsverrat. e. reDer: Was Sie bewiesen haben, nennt sich Glaubensmut. Im Ernst, das ist es. Damit es Ihnen nicht so peinlich ist, bekenne ich mich dazu,


zu meiner Variante. Was Leuten an mir auffällt, ist nicht der christliche Glaube, den ich habe (und an sich auch bezeugen sollte). Sie merken aber, dass ich mich Sachen traue, dass mich Konsequenzen nicht abschrecken. Wer nachdenkt oder nachfragt, stellt fest: Den Unterschied macht der Glaube, oder der Zusammenhang. Schrecknisse sind kleiner, wenn sie in einer geräumigen Welt des Friedens drohen – eines machtvollen, weil jederzeit möglichen Friedens. An der Schwelle zu dieser Friedenswelt steht jeder Mensch, denke ich. Nach ihr zu »suchen«, wie Walker Percy es in Der Kinogeher ausdrückt, ist die Entscheidung eines mutigen Augenblicks: »Die Suche ist etwas, das jeder unternähme, wäre er nicht in die Alltäglichkeit seines Daseins versunken.« M. boDrožić: Mut hat mir gemacht, was Karl Jaspers über die »maßgebenden Menschen« Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus sagt, die er als »Urbilder« bezeichnet – sie alle verbindet, dass sie Böses nicht mit Bösem vergelten wollten, denn das, so Sokrates, ist Unrecht. Was tun, wenn einem also Böses begegnet? Mich hat es interessiert zu sehen, wie dieses Unrecht im Moment des Zurückschlagens genau entsteht, was mit den Menschen passiert, die das durch Vergeltung entstehende Unrecht als ihr naturgegebenes Recht deuten und die sich gewaltvoll zur Wehr setzen, aber dies nicht als einen Akt der Rache sehen, sondern als eine ihnen zustehende Haltung, die das Opfersein ihnen ihrer inneren Gleichung gemäß »erlaubt«. Das ist eigentlich das Zentrum meiner Umkreisungen, die ich immer wieder in meinem Buch vornehme – mit vielen Fragen, ohne die Sicherheit endgültiger Antworten. e. reDer: Mein weißer Frieden enthält, neben vielem anderen, ein herausforderndes Ethos des Leben Lernens: »Wenn wir dem berechnend Zwiespältigen in unserem Alltag zum Opfer fallen und uns nicht durch die Freundscha und in der Selbstschau zu reiferen Menschen erziehen lassen, dann werden wir immer Kompromisse schließen, die uns von der Vitalität und damit auch vom Wandel abhalten.« Kann man tatsächlich lernen, die Welt so zu sehen, wie sie in Ihrem Buch erscheint? M. boDrožić: Jeder Mensch weiß im Grunde immer, warum er lügt oder sich selbst auf irgendeine Weise hintergeht. Manchmal ist das Zwie-


Marica Bodrožić | Gespräch

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spältige so präsent, dass die meisten von uns es nicht einmal schaffen, sich über innere Ambivalenzen Rechenscha abzulegen. Ich denke, dass es wichtig ist, zur Selbstschau vorzudringen, wenn man beispielsweise aus der Opferhaltung heraustreten und die Zusammenhänge in einem größeren Bild verorten möchte. Und je größer das Leiden eines Menschen ist, desto dringlicher ru uns die Seele dazu auf. Den Zugang zum größeren Bild erlangt man aber nur, wenn man weiß, wo der eigene Platz ist und wie er sozusagen bestellt ist, dann erst kann man auch den Blick erweitern und mittels Empathie den anderen sehen, begreifen, dass der andere ja auch lebt, seine Rätsel und Wunden mit sich trägt, seine Angst, Not und Schönheit ihm Grenzen setzt, Räume öffnet usw. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Freundscha, wie sie auch Hannah Arendt für sich beschreibt, uns wirklich zu einer anderen Dimension des Daseins führt – sie sagt einmal, sie habe nie in ihrem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt, sie liebe »nur« ihre Freunde, und die einzige Liebe, die sie kenne und an die sie glaube, sei die Liebe zu Personen. Für mich gibt es keine schönere Weise, das eigene Ethos zu beschreiben. Und wenn dem so ist, wenn wir also die Liebe zu Personen – zu jenen, die genauso atmen und lieben und leiden wie wir selbst – in den Vordergrund unseres Nachdenkens über Liebe stellen: Was könnte naheliegender sein als das, was wir lieben, erforschen bzw. kennen zu wollen? e. reDer: Ein Bild dafür enthält das Titel gebende Gedicht Ihres Bands Lichtorgeln. Da trägt das Ich plötzlich das Gesicht der Naturforscherin Maria Sibylla Merian. Und was tut es? Es tritt an den Spiegel und erforscht sich selbst. Was würden wir überhaupt erkunden wollen, das nicht zugleich ein Teil von uns selbst würde? Und umgekehrt, was könnte in einer Verbindung mit uns verbleiben, ohne dass wir es gleichzeitig immer gründlicher kennen lernen, uns immer vertrauter machen wollten? Solche Beziehungen prägen auch Ihre Erzählungen in Der Windsammler. Für mich sind es Märchen insofern, als magische und symbolische Beziehungen die Dinge und Personen zu einer Welt verknüpfen. Die Patina des Zauberkästchens in der gleichnamigen Erzählung ist das, was den fremden Mann und das kleine Mädchen verbindet,


solange das Kästchen für das Kind verschlossen bleibt. Am Ende ist die Verbindung aber das Wesentliche, und die miteinander verbrachte Zeit des Lernens, für die wiederum die Patina steht.

»Man kann ein Gedicht nicht ermorden.« M. boDrožić: Lernende Menschen sind nicht so stark wie andere gefähr-

det (viele Menschen glauben zum Beispiel, schon alles über ihr Leben zu wissen, über die Welt und die Zeit, in der sie leben – doch, was sehen sie dann im Gegenüber, im anderen Menschen?), politischen Ideologien und Forderungen von Diktaturen Folge zu leisten. Lernende Menschen stellen Fragen, sie denken sich anders, wer fragt, will niemals zuschlagen (Fragen ist schon Denken!), der Lernende will wissen, er will verstehen, er will auch in die Antworten hineinleben. Ich liebe lernende Menschen. Sie zeigen mir, dass es wirklich Hoffnung gibt, dass es in diesem Sinne berechtigt ist, an die Menschheit zu glauben – auch wenn das noch so absurd ist. Darin ist allem zum Trotz so viel Zartheit, Sanheit und Freundlichkeit enthalten. Ich glaube auch, dass wir dieses andere Muster in der Welt brauchen, dass es auf lange Sicht (wenn wir uns im Verbund mit anderen Menschen, Zeiten und Generationen, also mit dem Ganzen denken) stärker ist als alle Waffen und Absicherungen. Denn man kann Menschen töten, die anders sind als man selbst. Aber man kann dieses andere Muster nicht aus der Lu schaffen, man kann es nicht auslöschen. Das ist die gleiche Kra, aus der heraus Gedichte wirksam sind. Man kann ein Gedicht nicht ermorden. Es lebt in einer anderen Sphäre. Es ist so klein in der Welt und so groß im Geist. Es hat eine andere, überpersonale Zukun. Sie wird uns alle überleben und einmal, vielleicht, wenn es darauf ankommt, dem Kommenden zur Verfügung stehen. e. reDer: In Mein weißer Frieden beschreiben Sie eine Naturgläubigkeit, die Sie als Kind hatten. Für die erwachsene Frau scheint dieser Glaube


sich zu bestätigen, fast auszuzahlen in Form von Selbst-Vertrautheit, einer unbeirrten Friedensfähigkeit. Dann treten in dem Buch, neben anderen, die frühen Christen auf und bezeugen etliche Ihrer Bemerkungen – Bogumilen ebenso wie römische Märtyrer. Welche Bedeutung hat für Sie der christliche Glaube? M. boDrožić: Ich bin vor langer Zeit aus der Katholischen Kirche ausgetreten, religiöse Gemeinschaen interessieren mich sehr, aber ich selbst möchte nirgendwo Mitglied sein. So habe ich die Freiheit, mich auf meine eigene Weise mit allen Religionen zu beschäigen, meiner Natur kommt ohnehin das Synkretistische entgegen. Das Heilige hat mich aber schon als Kind fasziniert, das Heilige an sich und im Alltagsleben. Die Natur spricht mit einem Kind direkt oder besser gesagt, das Kind findet sich zurecht in dieser wortlosen Sprache. Das war eigentlich in dem Sinne nie eine Gläubigkeit, eher ein Empfindungsraum, die sehr konkrete Erfahrung, dass man selbst ein Teil der Natur ist, und das war manchmal genauso ergreifend wie etwa die Geschichte von Jesu Kreuzigung in der Kirche zu hören. Darin liegt aber auch viel Unermessliches, auch Unheimliches für ein Kind, dem nie jemand etwas erklärt. Da ich ohne Eltern aufgewachsen bin, habe ich sozusagen zu mir selbst gesprochen. Wenn man nicht als Kind gebrochen, gekrümmt wird, erlangt man gleichsam automatisch Einsicht in das Ganze.

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Marica Bodrožić | Gespräch

»Glaube aber ist für mich schon als Wort untragbar« e. reDer: Davon erzählen meine Lieblingspassagen in Mein weißer Frie-

den. Trotzdem sind für mich die Vor-Glaubenden wichtig, paradoxer Weise ihre Erfahrungen mit dem, was man von Menschen nicht lernt. Eine Teresa von Ávila zum Beispiel, die ihren Hohelied-Kommentar mit einem fünfseitigen Lobpreis auf Bibelverse einleitet, die sie nicht versteht – eine eopoetik des modernen Gedichts im Grunde. Oder ein Rabelais, der mir in der Interpretation des großen Literaturverstehers


Michail Bachtin immer wichtiger wird: Nur eine »angstlose Welt« darf sich christlich nennen. Die Riesen und Großmäuler, die Feierbiester und Phantasieschleudern des »Gargantua« sind Menschen mit behobenem Seelenschaden. M. boDrožić: Beginen wie Mechthild von Magdeburg sind eine Art geistige und sprachliche Fundgrube für mich, sie war eine außergewöhnliche Frau. Auch Teresa von Ávila begleitet mich seit über zwei Jahrzehnten. Über die gelebte Nächstenliebe sagt Ávila in der für sie typischen Verschmitztheit, die für mich das authentischste Glaubenscredo aller Zeiten ist: »Ob wir Gott lieben, kann man nie wissen; die Liebe zum Nächsten erkennt man aber sehr wohl.« Glaube aber ist für mich schon als Wort untragbar, es ist so o gebraucht und missbraucht worden, dass ich nichts damit anfangen kann. Es hat keinen Kern mehr, ist leer, die Kirchen haben alles getan, um ihn zu zerstören. Teresa hingegen hatte den frischen hellsichtigen Geist einer denkenden Frau, sie hat alle ausgetrickst, auch die Inquisition, und hat am Ende geschrieben, was sie schreiben wollte. Außerdem hatte sie eine Schwäche für Ritterromane und hat sich deshalb schwere Vorwürfe gemacht. Das Unverhältnismäßige daran ist sehr liebenswert, das Revolutionäre ihrer Arbeit ohne Beispiel und ihre Sprache ist voller Klarheit und seelischer Radikalität, das übt eine starke Anziehungskra auf mich aus. e. reDer: Nach Freud entstand die Zivilisation aus einer religiösen Verarbeitung des Vatermords. Julia Kristeva hat daraus die Frage abgeleitet: Ist zivilisatorischer Fortschritt und insbesondere die dazu nötige Rebellion noch möglich – ohne Religion? Was antworten Sie ihr? M. boDrožić: Ich glaube ganz sicher, dass der zivilisatorische Fortschritt noch möglich ist und ganz bestimmt ohne eine Religion, die zur Institution verkommen ist, sich also auf eine ideologisch konzentrierte Wahrheit, die Bürokratie, reduziert hat. Wenn die Religion in diesem Sinne beschränkend ist, verhindert sie die Öffnung zum Größeren. Eine Entwicklung aber ohne den Rückbezug auf das Heilige, in dem das Heile, also das Ganze aufgehoben ist, kann ich mir nicht vorstellen. Das Leben muss kostbar bleiben, muss sich ohne Beschränkung entwickeln können. Das gilt ja auch für die mitfühlende Vorstellungskra, von der J. M.


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Marica Bodrožić | Ulla Lenze

Coetzee einmal in seinem Text über Das Leben der Tiere sagt, für sie gebe es keine Beschränkung. Wenn etwas zu Ende geformt ist, gilt es unter uns Menschen in der Regel als erstrebenswert, es genau dabei zu belassen. Aber das Innere als Ort funktioniert ganz anders. Eine Zivilisation, die sich gegen den Einfall des Numinosen wehrt, ist nicht nur unpoetisch, sie ist auch vollkommen hilflos, es fehlen ihr die entscheidenden Koordinaten, denn poetische Zündungen bringen nicht nur Gedichte hervor, sondern auch anders denkende, anders atmende Menschen. Hugo von Hofmannsthal spricht von den »Landschaen der Seele«. Der Verstand kann ja immer helfen, aber die wesentlichen Veränderungen geschehen dennoch in unerklärlichen Momenten, aus dem Unerklärbaren kommt auch alle Poesie. Wir brauchen eine Poesie des Lebens, eine Poesie des Lichts, die uns Forscher unseres Selbst werden lassen, ganz in dem Sinne, in dem Seamus Heaney einmal sagt, damit sich die Menschen die bestmöglichen Lebensbedingungen schaffen können, sei es unerlässlich, die Vision der Wirklichkeit, die die Poesie vermittelt, transformativ werden zu lassen, sie solle mehr sein als nur ein Ausdruck der realen Gegebenheiten ihres historischen und geographischen Ortes. Vielleicht sind wir erst dann wirklich zivilisiert, wenn uns das gelingt. Jetzt aber üben wir noch, zivilisiert sind wir wohl noch nicht. e. reDer: Frau Bodrožić, vielen Dank für Ihre Literatur und für das Gespräch.




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