Poet 22 Leseprobe

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IMPRESSUM

Das Literaturmagazin poet erscheint halbjährlich. Alle Rechte liegen bei den Autoren bzw. den Verlagen. Auf postalischem Weg erfolgt keine Annahme unverlangter Manuskripte. Beiträge können als Anhang einer EMail an die Adresse des poetenladens (manuskripte@poetenladen.de) geschickt werden. In der Regel werden Einsendungen nicht kommentiert. Anfragen sind via E-Mail möglich (info@poetenladen.de). Verlag: poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig, Germany Redaktion: Andreas Heidtmann, Fechnerstraße 6, 04155 Leipzig poet im Internet: www.poet-magazin.de poetenladen im Internet: www.poetenladen.de Der Verlag im Internet: www.poetenladen-der-verlag.de Illustration und Umschlaggestaltung: Miriam Zedelius Druck: Pöge Druck, Leipzig Bestellungen des aktuellen Magazins sowie früherer poet-Ausgaben über den Buchhandel, beim poetenladen per E-Mail (info@poetenladen.de) oder per Fax (0341 – 6407314) oder über den Internetshop des poetenladens (www.poetenladen-der-verlag.de/shop) – jeweils portofrei. poet nr. 22 · Literaturmagazin Andreas Heidtmann (Hg.) Leipzig: poetenladen, Frühjahr 2017 ISBN 978-3-940691-83-5 Gefördert durch die Kulturstiung des Freistaates Sachsen · www.kdfs.de Hermann-Hesse-Preis für Literaturzeitschrien


EDITORIAL

Prosa aus der Schweiz eröffnet die 22. poet-Ausgabe und zeigt eine erstaunliche Bandbreite an Erzählweisen. Die Frage nach gemeinsamen Stilmerkmalen würde der Vielfalt gleichwohl nicht gerecht. Äquatorialguinea, eine ehemals spanische Kolonie an der Westküste Afrikas, ist halb so groß wie die Schweiz und Heimat der Autoren Donato NdongoBidyogo und Justo Bolekia Boleká. Bereits 1973 schilderte NdongoBidyogo in der Erzählung Traum, wie junge Afrikaner auf untauglichen Schiffen nach Europa zu gelangen versuchen und dabei ertrinken. Die poet-Gespräche über Literatur und Philosophie geben Einblick in eine durchaus problematische Beziehung, die spätestens mit Platon beginnt. Philosophen und Literaten sprechen über Romantik und Idealismus, über Kleist und Beckett. Ob sich in den Gedichten, die heutzutage in Literaturzeitschrien stehen, zumeist eine Subjektivität aufspreizt, so eine ese, mag der Leser selbst prüfen. Lyrisch reicht das Spektrum von jungen, noch zu entdeckenden Dichtern bis zur Kommentierung von Gegenwartslyrikern wie omas Kling. Andreas Heidtmann


Berge sind hoch und fies. Neue Prosa aus der Schweiz

Seite 8

Im Prosateil stellt der poet AutorInnen aus der Schweiz vor: Christian de Simoni erzählt von der dörflichen Herkun seines Protagonisten, Anaïs Meier berichtet über die Allgegenwart der Berge, Adam Schwarz schreibt über den Schweizer Einsiedler Niklaus von Flüe. In drei anderen Texten geht es weit in die Welt: Mit Regina Dürig reisen wir nach Island, mit Ilma Rakusa nach Minsk und mit Barbara Schibli nach Wales. Und nicht zuletzt lernen wir einen geheimnisvollen Kirschbaum und sogar Gott kennen. Seite 116

Kleine Satelliten

Der Zeichner Warren Craghead hat Lydia Dahers Verse in experimentelle Bleistizeichnungen von eigentümlich schwebender Leichtigkeit verwandelt. Mal rückt die Zeichnung die Buchstaben in den Vordergrund, mal lehnt sie sich an sie an und häufig geht sie ganz eigene Wege. Der Traum. Texte aus Äquatorialguinea

Seite 62

4 | 5 Inhalt

Donato Ndongo-Bidyogo, geboren 1950 in Äquatorialguinea, ist in der noch sehr jungen Literaturgeschichte seines Landes ein Phänomen. Er ist der erste Autor, der seit 1973 regelmäßig veröffentlicht, und er ist auch einer der ersten Schristeller Afrikas, die über die Migration von Afrika nach Europa schreiben. Es ist sogar das ema seiner allerersten veröffentlichten Kurzgeschichte Der Traum.


GESCHICHTEN VORBEMERKUNG: Prosa aus der Schweiz 8 ANAÏS MEIER: Über Berge, Menschen und insbesondere auch die Bergschnecken 10 DANA GRIGORCEA: Marieta 15 ILMA RAKUSA: Minsk. Rote Schuhe 21 ADAM SCHWARZ: Das Fleisch der Welt 24 NOEMI SOMALVICO: So auf Erden 30 REGINA DÜRIG: Hel 40 CHRISTIAN DE SIMONI: Heimatkunde 46 BARBARA SCHIBLI: Sirenen von Swansea 53

VORBEMERKUNG: Zwei Beiträge aus Äquatorialguinea – »Ich wusste nicht, dass ein schwarzer Mann ein Buch schreiben kann!« 62 DONATO NDONGO-BIDYOGO: Der Traum 66 JUSTO BOLEKIA BOLEKÁ: Die verschwiegenen Begierden eines Lebens 72

GEDICHTE RON WINKLER: Pfade 47–49 74 RUTH JOHANNA BENRATH: Fenstertexte 78 ANDREAS ALTMANN: aufwachzeit 86 ALEXANDER KAPPE: Taugenichts 92 TIMO BERGER: Mercado Central. Some Tweets from San José 98 JÖRG SCHIEKE: Einer, von dem man nie wieder etwas gehört hat. 106 LYDIA DAHER & WARREN CRAGHEAD III: Kleine Satelliten 116


Wenn sich die Bühne dreht. Literatur und Philosophie

Seite 160

»Meine ese ist, dass die Literatur immer am besten war in Zeiten, wo ein produktives Verhältnis zur Philosophie da war. Das hat beiden Seiten gut getan. In der deutschen Literatur kann man das Beispiel der Romantik und des deutschen Idealismus nehmen. Das war eine Blütezeit der Philosophie und eine Blütezeit der Literatur.« Rüdiger Safranski

Der Augenaufschlag bei offenen Augen

Seite 200

»Im Laufe meines Schreibens bin ich o mit metaphysischen und ontologischen Fragen befasst gewesen, an die heranzutreten mir weniger eine Sache der richtigen Analyse als der einleuchtenden Bilder, der metaphorischen, poetischen Hinweise zu sein schien.« Peter Strasser

Tessiner beinhaus. wandbild. Gedichtkommentare

Seite 143

6 | 7 Inhalt

Am Lago Maggiore, in Ascona und Umgebung, hat omas Kling als Kind und Jugendlicher in den 60er und 70er Jahren mit seiner Mutter und den Großeltern regelmäßig die Osterferien zugebracht. Dabei könnten die Klings auch auf ein Tessiner Beinhaus mit einem Wandbild aus dem 17. Jahrhundert gestoßen sein, das den Dichter viele Jahre später zu einem seiner »Gemäldegedichte« inspirierte.


GEDICHTE, KOMMENTIERT MICHAEL BRAUN, MICHAEL BUSELMEIER: Vorbemerkung 132 HENNING ZIEBRITZKI: Elster 134 ERNST S. STEFFEN: Man sagt 137 RAINER RENÉ MUELLER: Da ist es 140 THOMAS KLING: Tessiner beinhaus. wandbild 143 GEORG LESS: Kondorlied 146 GÜNTER HERBURGER: Großjean, der aus einem Starkstrommast

GESPRÄCHE – Literatur und Philosophie EINFÜHRUNG UND STATEMENTS Kritische Hinterfragung der Sehnsucht. Fünf Gespräche Dichtungsraum als Gegenraum. Statements 154 RÜDIGER SAFRANSKI im Gespräch mit Diana Feuerbach Wenn sich die Bühne dreht PETER NEUMANN im Gespräch mit Mario Osterland Gedichte sind offene Systeme

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HEINZ HELLE im Gespräch mit Kathrin Bach 186 Für mich war Philosophie immer Arbeit an der Sprache SABINE SCHO im Gespräch mit Jan Kuhlbrodt Kleine Erkenntnisspeicher

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PETER STRASSER im Gespräch mit Alexandru Bulucz Der Augenaufschlag bei offenen Augen

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Vorbemerkung


Literatur aus der Schweiz In den Prosateil der 22. poet-Ausgabe haben wir ausschließlich AutorInnen aus der Schweiz eingeladen – ganz nach unserem Geschmack, überhaupt nicht exemplarisch. Eine gewisse Bandbreite der Erzählweisen wird dennoch vorgestellt: Die folgenden Seiten enthalten Miniaturen, Erzählungen, Romanauszüge von AutorInnen der Jahrgänge 1946 bis 1994. Drei Texte sind in der Schweiz verortet: Christian de Simoni erzählt von der dörflichen Herkun seines Protagonisten, Anaïs Meier berichtet über die Allgegenwart der Berge, Adam Schwarz schreibt über den Schweizer Einsiedler Niklaus von Flüe. In drei anderen Texten geht es weit in die Welt: Mit Regina Dürig reisen wir nach Island, mit Ilma Rakusa nach Minsk und mit Barbara Schibli nach Wales. Und nicht zuletzt lernen wir einen geheimnisvollen Kirschbaum (Dana Grigorcea) und sogar Gott (Noemi Somalvico) kennen. Eine gemeinsame emenwahl gibt es also nicht, und einen gemeinsamen Stil herbeizureden, würde den folgenden Texten auch nicht gerecht. Diese Texte haben keinen kleinsten gemeinsamen Nenner. Und es ist sicher auch kein Zufall, dass die AutorInnen aus dem 22. poet zwar sämtlich in der Schweiz leben, drei von ihnen jedoch anderswo geboren wurden. Herkun ist nichts weiter als ein Zufall, Heimat ist im besten Falle eine Entscheidung. Viel Freude beim Lesen!

Katharina Bendixen


Foto: Dimitri Sturdza

Anaïs Meier

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Anaïs Meier

Geboren 1984 in Bern, Schweiz. Studierte Filmwissenschaen, Film und Medien und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel / Bienne. Schreibt allerhand und gründete 2013 zusammen mit dem Künst-

ler Simon Krebs Büro für Problem. U. a. Teilnahme an der Autorenwerkstatt des LCB 2015 , Literaturförderung des Kantons Basel Stadt 2015. Zuletzt: 24h Party People/Mein letzter GV (Fabrikzeitung Nr. 320, Zürich).


Über Berge, Menschen und insbesondere auch die Bergschnecken

Berge sind hoch und fies. Sie sind aus sehr grossem Stein, stehen da und zwingen sich auf. Berge sind ungemein selbstbezogen und dominant. Wenn man einen Berg ärgert, schickt er Lawinen, im Winter aus Schnee und im Sommer aus Schlamm und Geröll. Die kleinen Freunde der Berge sind die Bergbäche. Einzig sie werden vom Berg geduldet. Alle anderen hasst er. Die Bergbäche haben sich über Jahrtausende langsam eine kleine Zuneigung des Berges erschleichen können. Wobei erschleichen nicht ganz korrekt ist. Sie waren einfach da und sind geblieben, ohne auch nur einmal zu widersprechen. So lange spielten sie sein Spiel mit, dass sie eigentliche Lakaien des Berges wurden. Die Bergbäche tun alles, was der Berg ihnen befiehlt. Am Berge merkt man, wer man ist. Manche sagen, am Berg vergisst man sich selbst. Die, die das sagen, haben sich dem Berg ebenfalls unterworfen. Sie akzeptieren, ja, huldigen der Dominanz des Berges. Sie sagen, sie finden das toll, und ziehen ihre Schneeschuhe an. Das tun sie, weil sie Angst haben. Menschliche Liebe zum Berg ist immer ein Sich-vor-ihmverbeugen. Die Menschen ducken sich vor dem Berg, obwohl der Berg viel höher ist als die Menschen. Es wäre an ihm, sich zu ducken. Für die Jugendlichen, die im Schatten von Bergen aufwachsen, ist es ein trauriges Dasein. Deshalb bringen sich manche von ihnen um. Andere, jene, die direkt auf dem Berg ihre Jugend verbringen, schnallen sich Bretter an die Füsse und bauen Schanzen. Mit den Brettern hüpfen sie dann über die Schanzen und hören laut Punkrock und bilden sich dabei ein,


dass sie genauso viel, wenn nicht noch mehr Spass haben als die Jugend an fernen Orten. Eine Jugend, die Berge nicht kennt, nur breite Ebenen und Meere und grosse Städte, wo sie sich ausbreiten und entfalten kann. Dass die Jugendlichen auf dem Berg ihre Jugend mit den Brettern, Schanzen und Punkrock als glücklich empfinden, hat mit dem manipulativen Charakter des Berges zu tun. Er verdünnt die Lu um die Menschen, die auf ihm herumturnen, damit sie debil werden und denken, sie hätten eine gute Zeit.

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Anaïs Meier

Die Menschen, die älter geworden sind in der Nähe der Berge, also jene, die sich nicht umgebracht haben in dessen immerwährendem Schatten, sind mittlerweile derart verzweifelt, dass sie aus Ton Menschen herstellen, die noch kleiner sind als sie selbst. Diesen kleineren Menschen ziehen sie bunte Kappen an und geben ihnen kleine Garteninstrumente in die Hände. Dann betten sie sie an lauschige Orte in ihren Gärten, was ihnen kurze Momente von Humor beschert. Eigentlich ist ihr Verhalten aber nur ein Ventil für ihre Minderwertigkeitskomplexe, ausgelöst vom Gefühl des Ausgeliefertseins, das man angesichts der Gewalt, die vom Berg ausgeht, verspürt. Das ist kein kurzer Moment von Humor, den die mittelalten mittelländischen Menschen verspüren, wenn sie auf ihre Gartenzwerge schauen. Eigentlich geht es darum, dass sie sich wie ein Berg fühlen wollen. Die Menschen lieben ihre Gartenzwerge nicht, sie verachten sie. So wie der Berg die Menschen verachtet. Es ist aber nicht so, dass der Berg gerne von den Menschen in Ruhe gelassen werden möchte. Im Gegenteil, o putzt er sich heraus und macht auf schön und die Bergbäche und die Wolken, diese mitläuferischen Kreaturen, schminken ihn ansehnlich, dass es die Menschen zu ihm hinzieht. Damit sie zu ihm hingehen und er sich lustig machen kann über sie.


Diejenigen, die oben auf den Bergen ihre Jugend mit den Brettern an den Füssen schanzenbauend verbracht haben, bekommen, wenn sie mittelalt werden, dicke braune Haut. Es ist Leder, das man aber nicht verarbeitet, weil die Menschen lieber den Tieren die Haut abziehen. Dies ebenfalls, um ihren Komplexen gegenüber den Bergen beizukommen. Die mittelalten Menschen in den Bergen ziehen es vor, Skilie zu bauen, anstatt ihre Gesichter und Oberarme zu Handtaschen zu verarbeiten. Der Skili ist eine Erfindung, die es einem erlaubt, aus einer Jugend, die man schanzenbauend mit einem Brett an den Füssen verbracht hat, bestmöglich Geld zu machen. Mit dem Skili, allgemein mit Technologie, versucht der Mensch dem Berg zu imponieren. Dem Berg ist das völlig schnuppe. Manche Menschen, insbesondere jene, die selbst eine fast ebenso machtbezogene Persönlichkeitsstruktur haben wie Berge, treibt die herrische Gleichgültigkeit des Berges in den Wahnsinn. Umso stolzer sind sie auf die Technologie, weil die vom Menschen erfunden wurde und nicht vom Berg. Diese Menschen, häufig aus dem Mittelland und deshalb nicht von der Höhenluft des Berges in die Debilität manipuliert, suchen sich höhere Positionen, von denen herab sie sich etwas grösser fühlen als die anderen Menschen und viel, viel grösser als Gartenzwerge. Das reicht ihnen aber nicht, denn was jene Menschen umtreibt, ist ihr tiefer, alles durchdringender Selbstwertkomplex dem Berg gegenüber. Deshalb bohren sie mit der Technologie grosse Löcher durch den Berg. Sie sagen, das sei wegen dem Import Export, der Import Export verbinde und Tunnels verbänden auch. Der romantische Gedanke hinter dieser Aussage war einmal, dass hinter dem Berg noch mehr Menschen sein könnten, die genauso unter dem Berg leiden und mit denen man dann gemeinsam versuchen könnte, ihn in seiner Eitelkeit zu beleidigen. Aber das einzige, was den Berg in seiner Eitelkeit beleidigen könnte, ist das Meer. Das liegt daran, dass das Meer eine sehr viel höhere sexuelle


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Anaïs Meier | Dana Grigorcea

Anziehungskra hat als der Berg. Am Meer werden Lieder mit beruhigendem Klang geschrieben, dass sich sofort alle Dinge der Welt in den Hüen wiegen. Aber das Meer ist sehr, sehr weit vom Berg und dem in ewigem Schatten liegenden Mittelland entfernt. Hier betrachten die Menschen weiterhin hasserfüllt ihre Gartenzwerge, und in den Höhen betreiben die anderen, debil von der Lu, ihre Skilie, und nie fragt sich jemand, wie es eigentlich den Bergschnecken geht. Niemand weiss wirklich, wie es den Bergschnecken geht.


Foto: Creative Commons

Dana Grigorcea Geboren 1979 in Bukarest, schweizerisch-rumänische Schristellerin und Philologin. U. a. 3sat-Preis und Schweizer Literaturperle. Zuletzt: Das

primäre Gefühl der Schuldlosigkeit (Dörlemann 2015) und Mond aus! (Baeschlin 2016).


Literatur aus Äquatorialguinea

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Äquatorialguinea

»Ich wusste nicht, dass ein schwarzer Mann ein Buch schreiben kann!«

Der Satz, der im Titel zitiert wird, stammt von Donato Ndongo-Bidyogo. Er wurde 1950 in Äquatorialguinea geboren und erzählt in einem Interview, dass ihm dieser Gedanke kam, als er den Roman ings Fall Apart (1958) von Chinua Achebe in spanischer Übersetzung gelesen hatte. Er war damals Schüler in Spanien und hatte von »schwarzen« Autoren noch nie etwas gehört. Ndongo-Bidyogo fügt noch hinzu, dass dies wohl seiner Erziehung zu verdanken sei. Von den Missionaren wurde er ständig über die »Unterentwicklung der schwarzen Bevölkerung Afrikas ›aufgeklärt‹«. Ndongo-Bidyogo kommt aus einer ehemaligen spanischen Kolonie an der Westküste Afrikas, mit Spanisch als Nationalsprache. Das Land hat eine besondere Geographie. Es besteht aus einem Festlandteil, Río Muni, dessen Grenzen zu den Nachbarländern Gabun und Kamerun wie mit einem Lineal gezogen scheinen, und einer Inselwelt in den Atlantischen Ozean: Bioko (früher Fernando Poo) mit der Hauptstadt Malabo, Corisco und Annabon. Äquatorialguinea wurde 1968 unabhängig, und in den letzten Jahren sind auch Französisch und Portugiesisch als offizielle Landessprachen dazu gekommen. Ndongo-Bidyogo ist in der noch sehr jungen Literaturgeschichte seines Landes ein Phänomen. Er ist der erste Autor, der seit 1973 regelmäßig veröffentlicht; er war der erste Leiter des Spanischen Kulturzentrums in Malabo, der im Land selbst geboren war; er ist der Herausgeber der ersten Anthologie der Literatur Äquatorialguineas; und dann ist er auch noch einer der ersten Schristeller Afrikas, die über die Migration von Afrika nach Europa schreiben. Es ist sogar das ema seiner allerersten veröffentlichten Kurzgeschichte Der Traum. In ihr schildert er,


Donato Ndongo-Bidyogo

wie junge Afrikaner auf untauglichen Schiffen illegal nach Europa zu gelangen versuchen und dabei o ertrinken. Das ema Migration, heute in den Schlagzeilen aller internationalen Zeitungen und Weblogs, war 1973, als Der Traum veröffentlicht wurde, noch marginal. Noch immer beschäigt Ndongo-Bidyogo sich mit den damit verbundenen Schicksalen, wie etwa in seinem 2007 publizierten Roman El metro. Hier geht es um einen Migranten aus Kamerun, der über Senegal und Mauretanien nach einer langen und gefährlichen Reise in Spanien ankommt. Nie verliert er jedoch den Kontakt zu seinen Freunden und Verwandten zu Hause, und als er endlich, nach vielen Abenteuern und Erlebnissen, seinen Status in Spanien legalisieren möchte, wird er von Skinheads in der Metro von Madrid angegriffen und ermordet.


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Äquatorialguinea

Obwohl Ndongo-Bidyogo im deutschen Sprachraum nahezu unbekannt ist, sieht das international ganz anders aus. Er ist zudem Historiker und Journalist, war Gastprofessor an verschiedenen Universitäten in Amerika, wie in Columbia, Missouri, und hat sich auch politisch als scharfer Kritiker der undemokratischen Verhältnisse in seinem Geburtsland artikuliert. Vor allem hat er sich jedoch mit seinen Romanen einen Namen gemacht, mit seiner – wie ich sie nenne – Trilogie. Im ersten Teil beschreibt er die Probleme eines jungen Afrikaners, in dessen Dorf katholische Missionare eingezogen sind; der Unterschied zwischen Schwarz und Weiß wird in seinem Leben zu einem Problem. Im zweiten Buch geht es um einen Juristen, der in Spanien gerade sein Studium abgeschlossen hat. Er möchte sich am Auau seines afrikanischen Landes beteiligen und wird dort mit einer repressiven und grausamen Wirklichkeit konfrontiert. Und im Mittelpunkt des dritten Romans steht der oben erwähnte Migrant. Es handelt sich hier um ein wahrliches Bildungsopus, das klassische emen der afrikanischen Literatur verarbeitet. Außer an der Universität Wien, an der jährlich eine Woche der Literatur Äquatorialguineas organisiert wird, ist an deutschsprachigen Universitäten noch kaum über die Literatur dieses Landes geforscht und unterrichtet worden. Deshalb war es ein Glücksfall, dass dank der Initiative von Anne Begenat-Neuschäfer am Institut der Romanischen Philologie der RWTH Aachen in Juni 2016 ein Seminar dazu angeboten werden konnte. Spontan kam die Idee auf, einiges ins Deutsche zu übersetzen, als Anreiz gewissermaßen, sich der Literatur dieses Landes anzunehmen. Resultat sind die Übersetzungen in dieser Nummer des poet. Im gleichen Seminar wurden auch Gedichte von Justo Bolekia Boleká (geb. 1954) gelesen. Er ist Linguist, unterrichtet Französische Literatur und schreibt Poesie. Ihm geht es um eine fast verlorene Sprache und Kultur, die der Bubi-Bevölkerung, der ursprünglichen Bevölkerung auf der Insel Bioko. Bolekia Boleká kennt diese Kultur aus eigener Erfahrung durch seine Mutter und Familienmitglieder und Freunde, die heute alle in Spanien wohnen. Er hat eine Grammatik der Bubi-Sprache veröffent-


Justo Bolekia Boleká

licht und Wörterbücher sowie eine Anleitung zum Erlernen dieser Sprache verfasst. In seinen Gedichten, wie in Die verschwiegenen Begierden eines Lebens, versucht Bolekia Boleká der Erinnerung an eine vergangene Bubi-Welt als ein sich ihm immer wieder aufdrängendes Moment Gestalt zu geben. Übersetzungen ins Deutsche von den vielen Autoren und Autorinnen aus Äquatorialguinea gibt es leider kaum. Zum Weiterlesen ist jedoch der gut dokumentierte Überblick von Mischa G. Hendel zu empfehlen: Schreiben um gelesen zu werden – Perspektiven aus Äquatorialguinea zwischen Exil und Heimat (Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2016).


DONATO NDONGO-BIDYOGO

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Der Traum

Ich bin jung. Sind es schon fünfundzwanzig Jahre seit der Beschneidung? Wenn ich mich fragen würde, was ich hier mache, das Wasser bis zum Halse stehend, würde ich mich zum dümmsten Mann der Welt erklären. Mein Großvater, der alte Diallo, hat immer Recht: »Viel zu jung, um so viel zu wissen.« War es vor fünfundzwanzig Jahren, dass ich in einem bedeutungslosen Kaff an den Ufern des Casamance beschnitten wurde? In diesem Fluss floss mein Blut, in diesem Fluss lernte ich schwimmen. Warme Gewässer, andere Gewässer, Gewässer wie Spiegel, die deutlich die straffen Brüste der jungen Mädchen des Ortes reflektierten. Ich kenne nicht genau den Grund, nicht einmal an den Zeitraum erinnere ich mich noch: sicher ist, dass ich aus meinem Kaff herausgerissen wurde, um die Schule in Bignona zu besuchen. Dort verbrachte ich vier Jahre, vier Jahre eines ganz normalen Lebens. Als ich die Mücken und den Hunger ohne zu sehr zu jammern ertragen konnte, als ich für einen guten Schwarzen – also für arbeitsfähig – gehalten wurde, wurde ich einem weißen Plantagenbesitzer übertragen. Wir bauten Reis für den weißen Herrn an. Wir bauten Reis an, den wir niemals gekostet haben. Und wieder vergingen die Jahre – Jahre, in denen in meinem Inneren der Wunsch zu fliehen, aus dem Elend zu entkommen, größer wurde. Ich wollte die schwarze Traoré, schöner als die dunkelste Nacht, heiraten, jedoch hatte ich die zwölf Rinder, die ich als Mitgi entrichten sollte, nicht. Zwölf Rinder. Zwölf Rinder, die mein Verhängnis waren. Ich besaß schon vier Rinder. Ich wollte, dass sie mir vertraute, dass sie sah, dass ich arbeitete, dass ich zu allem imstande war, egal welches Opfer für sie darzubringen. Mein Cousin Tello war nach Gambia gegangen, um ein Vermögen zu machen und kehrte mit zwanzig Kühen und zwei Ochsen heim. Der andere Cousin, Lamine, war ins Land der Man-


dinga1 gegangen, dort nach Norden, den Senegalfluss überquerend und kam mit einem Ding zurück, das er Fahrrad nannte und sagte, dass es mehr als alle Rinder der Welt wert wäre. Ich wollte ihm das nie glauben. Was kann in diesem Leben mehr wert sein als ein Rind? Sie wanderten aus und sie verloren den Glauben an unser Dorf. Und das Dorf hörte auf, auf sie zu zählen. Großvater Diallo, der sich noch daran erinnerte, das Schiff, aufgelaufen am Sandstrand von Joal – im Land der Mandinga – segeln gesehen zu haben, hatte ihnen gesagt, dass keine Frau unseres Dorfes jene heiraten würde, weil sie sich von ihnen lossagten und sie entehrten, indem sie die weißen Frauen mit ihren Blicken verfolgt hatten. Ich hatte die Entscheidung von Großvater Diallo in meinem Inneren gutgeheißen. Wie kann man schon ein Fahrrad mit einem Rind vergleichen? Die Rinder zu erstehen ist schwieriger. Allmählich dauerte es schon viel zu lange sie zusammenzubekommen und die sehr schwarze Traoré drohte mir, nicht mehr auf mich zu warten und mit einem Eifrigeren wegzugehen. Ich bin sehr arm, was soll ich tun, und am gleichen Tag, an dem ich ihr das füne Rind aushändigte, gab sie mir die anderen vier zurück. Und ich musste ihr sogar noch das Gras bezahlen, das die vier Rinder gefressen hatten! Damals wanderte ich aus. Ich begann die Vorteile des Fahrrads zu erkennen. Wenigstens frisst es kein Gras. Und ich kaue eins. Ich arbeitete auf einigen Erdnussplantagen im Mandinga-Land. Der Besitzer war schwarz, so schwarz wie das Licht des Tages. Ich bevorzugte den weißen Herrn der Reisfelder. Aber der Schwarze bezahlte besser und in der großen Stadt wollten die Mädchen schon keine Rinder mehr, sondern Fahrräder und manchmal auch gar nichts. Als meine Mutter starb, sah ich die Ufer des Casamance erneut. Und ich sah noch einmal jenes Kind, dem ich vor drei Jahren nicht einmal hinterher geschaut hätte. Es ist das Gesetz des Lebens. Ich hätte es bevor1 Mandinga, madinka, malinké, mande: eine Bevölkerungsgruppe in Gambia, Guinea, Senegal und Mali mit eigener Sprache und Gewohnheiten


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zugt, zu heiraten, wie mein Vater es gemacht hatte, nicht mit Fahrrädern noch mit irgendetwas. Welchen Respekt wird dir eine Frau entgegenbringen, für die du keine Mitgi entrichtet hast? Und einmal mehr, sah ich mich verwickelt im Durcheinander um die Rinder. Und ich zog noch viel weiter weg. Ich kam bis Dakar, die größte Stadt, die ich je gesehen hatte. Als ich Dikate schrieb, sagte ich ihr, dass wir immer dort wohnen würden, in einer dieser Wohnungen, die Bienenstöcken ähneln, in denen die Menschen Bienen sind, aber in denen sich alles als sehr viel bequemer herausstellt. Es ist klar, dass Dikate noch viele Dinge lernen musste! Sie konnte nicht einmal Fahrrad fahren. In Dakar konnte man gut verdienen, aber nicht zügig genug. Ich wollte nicht, dass Dikate mich verließ, wie es die sehr schwarze Traoré getan hatte. Ich musste sehr schnell die zwölf Rinder bekommen. Wenn ich dieses Mal scheiterte, würden alle, dort an den Ufern des Casamance, denken, dass ich nicht Manns genug sei zu heiraten. Und was ist dieses Leben wert, wenn ein Mann kein Mann ist? Oh, diese schlechten Gefährten! Großvater Diallo hatte mich immer vor ihnen gewarnt. Als ich nach Dakar zog, was war wie in Richtung Himmel oder Hölle zu gehen, eben sehr weit weg und für immer, hatte Großvater Diallo mir gesagt, dass jene Orte wie eine Mischung aus Himmel und Hölle seien. Wie Recht der Großvater hatte! Er kannte die Menschen sehr gut. Er hatte alle Männer meines Stammes auf die Welt kommen sehen, er hatte die Ankun der weißen Männer an Bord jenes im Sandstrand von Joal aufgelaufenen Schiffes beobachtet. Jeden Tag bedrängte mich die schwarze Dikate mehr. Und ich musste es machen. Ein schlechter Gefährte sprach mit mir am Hafen von Las Palmas, wo man innerhalb eines Jahres den Gegenwert von sieben Rindern verdienen konnte. Ich dachte nicht lange nach, das ist die Wahrheit. Und so wie es Großvater Diallo sagte, wenn man einmal nicht nachdenkt, dann auch kein zweites Mal. Und so war ich zwei Jahre in Las Palmas und arbeitete in dem größten Hafen, den ich bis dahin gesehen hatte. Sehr viel größer als der von St. Louis, sehr viel größer als der von Dakar. Aber meine Taschen füllten sich nicht.


Es stimmt, dass ich viel mehr als im Mandinga-Land verdiente, aber hier – nun, ich weiß nicht – glitt mir das Geld aus den Fingern. Die eigentlich erste Schuld trug jener dreckige weiße Schlepper, der mich zwang, ihm die Häle meines Lohnes zu geben. Es ist wahr, dass er mir geholfen hatte, nachts das Meer in seinem verrotteten Kutter zu überqueren; es kann sein, dass ich ohne ihn niemals bis hierhergekommen wäre. Aber ich sah, dass der Preis, den ich für seine Dienste bezahlte, übertrieben war. Die zweite Schuld lag in jener unwiderstehlichen Versuchung und Sucht, es mit den weißen Frauen des Hafens zu treiben. Dabei brachte ich ein Vermögen durch, aber ich konnte es nicht lassen. Es ging über meinen Willen hinaus. Da lernte ich diesen sauberen und parfümierten Mandinga kennen, der uns vorschlug, richtig viel Geld verdienen zu können, wenn wir nach Frankreich gingen. Wir waren von der Idee begeistert. Und es gibt wirklich nichts Schlimmeres als unwissend zu sein. Warum war es uns eigentlich nicht selbst eingefallen? Wenn Dikate wüsste, dass ich über die Straßen von Paris spazieren würde, dass ich mit meinen schwarzen Augen den Eiffelturm sähe und dass ich den Präsidenten des Landes besuchen würde und dass ich mit Napoleon spräche … Das war wertvoller als alle Rinder der Welt! Ich bezahlte den Mandinga mit allem, was ich bis dahin gespart hatte. Ich versprach ihm sogar die fünf Rinder, die ich an den Ufern des Casamance besaß. Zum Glück aß er kein Rindfleisch. Er brachte uns mit dem Schiff bis Algeciras und im Zug bis Barcelona. Ich kann Dir, schwarze Dikate, nicht erklären, wie diese weißen Länder sind. Wenn ich in Paris bin, wenn ich mit meinen Augen die Seine sehe, die größer als der Casamance sein muss, werde ich versuchen, Dir zu erklären, wie es ist. Okay? Niemals wirst Du Dir eine Vorstellung davon machen können, so sehr Du es auch willst, wie groß, wie leuchtend, wie … was weiß ich … Barcelona ist. Zwei Tage nach unserer Ankun ließen sie uns an einer großen Schnellstraße arbeiten, weit weg von der Stadt. In den Pausen konnten wir nicht alle zusammen herumlaufen. Sie wollten, dass wir zu zweit oder zu dritt losgingen. Wie uns der saubere und parfümierte Mandinga


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sagte, wäre das zu unserem Wohle. Was den Tageslohn betri, gaben sie es dem Mandinga. Er verwaltete alles und gab uns einen mickrigen Anteil für unsere Ausgaben. Mehr möchte ich Dir nicht erzählen. Immer wenn ich an die Attraktionen von Paris denke, gelingt es mir die Rinder zu vergessen. Was ist unser Dorf verglichen mit der ganzen Welt? Was sind zwölf Rinder, wenn sich schließlich sonst nichts mehr lohnt? Was bist Du, wenn nicht mein Verderben? Werde ich Dich überhaupt nochmals wiedersehen? Sechs Monate waren wir in Barcelona. Wir schliefen zu dritt in einer engen, stinkenden Hängematte, die an den nackten Schultern kratzte. Wir waren nicht einmal in der Stadt. Mit keiner Frau aus dem Hafen konnte ich es treiben. So gut wie gar nichts konnten wir so machen, wie wir es wollten. Sie brachten uns mit dem Zug zur Grenze. Dort sagte uns der Mandinga, dass sich jemand um uns kümmern würde und dass er uns erst verließe, wenn wir französische Erde betreten würden. Mein Herz hüpe vor Freude. Unsere Misere würde einige Stunden später zu Ende sein. Vielleicht – wenn ich Arbeit fände, dann könnte ich dich, deine Eltern und deine Geschwister nachholen. Der Mann ist diese Nacht gekommen. Du kannst dir die Kälte, unter der wir litten, nicht vorstellen. Ich weiß nicht, ob du dir die geringste Vorstellung davon machen kannst, was Winter hier bedeutet. Wir kauerten uns im Bahnhof hin, der Treffpunkt war, und versuchten uns etwas über eine nicht vorhandene Wärme zu erzählen. Schließlich, als der Mann erschien, konnten wir etwas mehr essen als die Brühe, die es in der Bahnhofskantine gab. Bevor wir den Marsch begannen, nahm der Mann unter dem Vorwand, dass wir es nicht bräuchten, unser ganzes spanisches Geld. Auf halbem Weg, in einem dichten Wald – es war stockfinster, wir tappten im Dunkeln – nahm er uns auch die Pässe weg. »Ich gebe sie euch in Frankreich wieder«, hat er gesagt. Und wir sind am Flussufer angekommen. Ich weiß nicht, wie der Fluss heißt, noch wo


ich bin. Ich stelle mir vor, dass es sich um die französisch-spanische Grenze handelt. Es wurde Tag. Ich war müde. Wir mussten noch fast zwei Stunden warten. Schließlich sahen wir ein paar kleine Lichter. Das ist das Zeichen. Das kleine Schiffchen näherte sich. Mit ängstlichem Herzen und ganz im Bewusstsein darüber, dass wir Illegale waren, ruderten wir voran. Man hörte einen Ruf: »Stopp!« Fast zur gleichen Zeit einen Knall. Das Schiff kippte um. Mein Schatz, das Wasser war eisig. Ich friere sehr. Ich weiß, dass ich kein einziges der Ufer mehr erreichen werde. Ich merke, dass dieses hier zu Ende geht. Keine Rinder mehr. Unsere zerbrochenen Illusionen sind meine letzte Erinnerung. Ich weiß nicht, ob du dort, am anderen Fluss, den Schrei meines Todes hören wirst. Ich glaube nicht sehr an unsere Heiligen, aber ich werde Großvater Diallo für dich anrufen. Ich … Plötzlich wachte ich auf. Sie schlief neben mir. Auf ihrem Antlitz lag ein Lächeln. Ihre Träume waren nicht vergleichbar mit meinen. Träume von einer Weißen ... Ich fühlte die Kälte in meinen Knochen. Ich spürte ein Völlegefühl in meiner Kehle. Ich fühlte, dass ich sterben würde. Langsam und san weckte ich sie auf. Ich musste sicher sein, dass ich nicht gestorben war, dass alles ein Traum war. Sie schaute mich erstaunt an. »Und jetzt?«, fragte sie mich. Es war wichtig, dass es damals war und ausschließlich damals. Ich kehrte ins Leben zurück.

Übersetzung: alia Krapohl, Tabea Göbbels, Katrin Hedwig, Sonja Heinrich


JUSTO BOLEKIA BOLEKÁ Die verschwiegenen Begierden eines Lebens

Wellen im Dunst 1. Jeder Wellenschlag ein Erschrecken, Denn er erinnert an einen Ruf, Oder an ein Unglück, das plötzliche Gewalt verkündet, Mit Tränen, die erlerntes Schweigen brechen. 2. Jeder Regenschlag ein Spalt, der größer wird, Doch mit dem Dampf, den mein Körper verströmt, geschlossen, Oder er bleibt, wenn mein Freiheitsdrang sich meldet, Jener, in einer vergessenen Erzählung gefangen.

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Justo Bolekia Boleká

3. Jedes Andenken eine Erinnerung, die abschließt, Eine Frische, verzaubert durch ein neugeborenes Wort, Oder ein Verlangen, in eine auslaufende Welle gehüllt: Jenes, das ich höre und beschütze in meinem schon eingeprägten Traum, Während ich die Türen eines Schicksals zumache. 4. Jeder Moment enthüllt Augenblicke, eingestreut zwischen den Splittern meines Lebens, Oder auch Druck, eingefädelt in waghalsigen Nachmittagen: Jede Erinnerung beflügelt einen Moment, Oder ein Leben, Von den Hütern meines Waldes geraubt, Tempel der Götter, die ich nicht kannte, Und Mysterium vielleicht, von meinen fernen Vorfahren erfunden. 5. Jede Flutwelle ein Erschrecken, das sich legt, Jeder Moment eine Erinnerung, die nicht wiederkommt,


Oder eine Freude zwischen Resten von Jubel: Heute gehe ich durch die zerbrochenen Skizzen eines bewölkten Weges, gehe durch die Gewässer, die den letzten Initiierten begleiten, Diskrete Meister eines erlauschten Moments: »¡ e wattò bópa bó bëëla i e wattò bópá bó bëëlo i lá nkató ló bëëlo!« Schiff, das durch die Gewässer pflügt Schiff, das durch die Gewässer pflügt Zwischen Rudern und Stimmen. Jeder Wellenschlag eine Verwirrung, Jede vergessene Romanze ein verscharrter Moment: Und wenn aus meiner Kehle zerfledderte Geräusche strömen, Erinnert sich nur mein Fragen an die Szenen dieses Moments: »¡ e wattò bópa bó bëëla i e wattò bópá bó bëëlo i lá nkató ló bëëlo!« i ná lö të eló wattò wá iopënnó? Schiff, das durch die Gewässer pflügt Schiff, das durch die Gewässer pflügt Zwischen Rudern und Stimmen Habt ihr das Schiff meines Onkels gesehen? Jede Erinnerung ein Gedenken, das sich wehrt, Eine Geschichte, die es zu erzählen gibt. Die Bestatteten, einfach so: Vergessen im Dunst der Erinnerung.

Übersetzung: Ineke Phaf-Rheinberger


Foto: Schall & Schnabel

Ron Winkler

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Ron Winkler

Geboren 1973 in Jena, lebt mit seiner Familie in Berlin. Schristeller und Übersetzer. 2017 erscheint sein fünfter Gedichtband Karten aus Gebieten. Als Herausgeber publizierte er zuletzt zusammen mit Tom Schulz Der venezianische Traum, eine Sammlung

deutschsprachiger Venediglyrik, und gemeinsam mit Nancy Hünger üringen im Licht. Für seine Texte erhielt er den Leonce-und-Lena-Preis, den Mondseer Lyrikpreis, den Lyrikpreis München und den Basler Lyrikpreis.


Pfad 47

Ich habe einen Flüchtling zu den Fakten. Das hält mich auf dem Leuchtenden, wo immer es geschieht, das Gefühl fürs Innerste ans Äußerste gelangt. Du kannst mich sehen mit dem Gerät, das es erlaubt, die Nacht zu fassen, die stetig dröhnt, durch meine Haut. Das Unterwasserige auch, das nie so ist, wie ich es brauche. Ich hebe mich ab damit von meinen Feinden, die man nicht aus sich schütten kann. Die Betriebskostenabrechnung als chemische Symbole ins Kondolenzbuch übertragen. Du wirst erkennen mit deinen eigenen fremden Augen: Ich würde gern den Schwärmern, die vergeblich Pollen suchen, vom Unentzifferbaren geben, um ihr Argwohl zu erregen. Fick mich bloß nicht auf den Mund. Super Sonnenuntergang.


Foto: Udoweier CC

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Rüdiger Safranski | Gespräch

Rüdiger Safranski im Gespräch Rüdiger Safranski, geboren 1945, ist Philosoph und vielfach preisgekrönter, in 30 Sprachen übersetzter Autor u. a. von großen Biographien über Goethe, E.T.A. Hoffmann, Heidegger, Nietzsche, Schiller, von Büchern über die menschlichen Grundfragen, u. a.

über das Böse und die Wahrheit, über die Romantik (2007), über die Freundscha von Goethe und Schiller (2009) sowie über die Zeit (2015). 2014 wurde Rüdiger Safranski u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet.


»Wenn sich die Bühne dreht«

DIANA FEUERBACH: Herr Safranski, wie war das Verhältnis von Literatur

und Philosophie in der Antike? RÜDIGER SAFRANSKI: Problematisch. Platon zum Beispiel, der wichtigste Säulenheilige der abendländischen Philosophie, wollte, als er den idealen Staat entworfen hat, dass die Kunst, die Literatur besonders, weil sie den Geist verweichlicht, keinen Platz haben soll. Er hat sein berühmtes Höhlengleichnis entworfen, und daraus geht es schon hervor: Die normalen Menschen sitzen vor dem Schattenspiel, gewissermaßen im Kino, und halten das für die Wirklichkeit. Wer aber die Wahrheit erkennt, der erkennt, dass dahinter Figuren vorbeigetragen werden und die werfen nur den Schatten. Wer vor dem Schattenspiel sitzt, im antiken Kino sozusagen, hat das mindere Verhältnis zur Wirklichkeit. Das war zu bestimmten Phasen Platons die Beurteilung: Die Literatur hat es nur mit der Illusion zu tun und die Philosophie mit der Wahrheit. Dabei – und das ist eben das höchst Paradoxe – hat Platon selbst Kunstwerke geschrieben mit seinen Dialogen. Das sind veritable sprachliche Kunstwerke, die auch eine raffinierte Dramaturgie haben. Das könnte man sogar auf die Bühne bringen. Da arbeitet also ein Philosoph mit ästhetisch-künstlerischen Mitteln und will dann die Kunst verbannen aus dem Reich der Wahrheit und sogar aus dem idealen Staat. Das nur als Beispiel, dass das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur immer ziemlich kompliziert war. Ein zweites Beispiel, wie unglaublich wichtig Philosophie für die Literatur gewesen ist, ist Dante. Philosophie in Dantes Zeit war in der Hauptsache eologie. Die Göttliche Komödie, ein Urtext der abendländischen Literaturkunst, ist ohne theologischen Hintergrund gar nicht zu denken. Aus diesen beiden Bei-


Rüdiger Safranski | Gespräch

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spielen, Platon und Dante, lassen sich zwei Gesichtspunkte herausstellen: Erstens gibt es eine Feindseligkeit und Konkurrenz zwischen Philosophie und Kunst bzw. Literatur. Zweitens gibt es ein Verhältnis zwischen den beiden, wo gewissermaßen eine Philosophie-eologie die Mutter der Kunst ist. D. FEUERBACH: Wie hat sich das Verhältnis weiterentwickelt? R. SAFRANSKI: Meine ese ist, dass die Literatur immer am besten war in Zeiten, wo ein produktives Verhältnis zur Philosophie da war. Das hat beiden Seiten gut getan. In der deutschen Literatur kann man das Beispiel der Romantik und des deutschen Idealismus nehmen. Das war eine Blütezeit der Philosophie und eine Blütezeit der Literatur. Das hat sich wechselseitig befruchtet. Offenbar gibt es Zeiten, wo die Philosophie mit ihren Mitteln zu Einsichten kommt, die befeuernd und entfesselnd auf die Kunst wirken. Das ist im Grunde auch die Erklärung, warum es so große Literatur um 1800 gab und zugleich große Philosophie. In der Philosophie hat man damals zum ersten Mal gesagt: Hoppla! Vielleicht ist es doch so, dass das wichtigste und produktivste Vermögen in uns nicht die Vernun ist, sondern – das war damals der Ausdruck – die Einbildungskra. Wir würden heute sagen, die Fantasie. Und dann kommt zum Beispiel der Kant, von dem man manchmal sagt, er sei ein trockener Rationalist. Das stimmt so gar nicht! Der sagt, die Einbildungskra, das Vorstellungsvermögen, die Fantasie ist der Motor, der treibt. Das ist das Elementare in uns. Auch wenn wir erkennen, bauen wir ein Bild der Wirklichkeit. Wir sind nie bei der Wirklichkeit selbst, sondern wir bauen unablässig Bilder der Wirklichkeit. Und das nennen wir dann Erkenntnis. Was ist der Treibsatz für dieses Sich-Bilder-Machen in der Form der Erkenntnis? Das ist die Einbildungskra. Und die arbeitet einerseits in den Wissenschaen, auf eine streng reglementierte Weise, und sie arbeitet in der Kunst, auf eine freiere Weise. Damit hatte die Kunst den allerhöchsten Segen bekommen. In den Kreisen, die überhaupt Literatur und Kunst wahrnehmen konnten, weil sie lesen konnten, hatte plötzlich alles, was mit Kunst zusammenhing, einen ganz hohen Stellenwert.


D. FEUERBACH: Wie genau ist diese Beeinflussung durch die Philosophie

vor sich gegangen? R. SAFRANSKI: Das muss man sich nicht so vorstellen, dass die Künstler um 1800 nun alle anfingen, Philosophiesysteme zu studieren. Es reichte zum Beispiel die Einsicht, wonach das Fundamentale die Einbildungskra ist. Das reichte aus, um gegenüber allen bisherigen Traditionen die Bühne umzudrehen und ein neues Spiel zu beginnen. Es müssen also

»Kleist hatte nicht sonderlich gründlich Kant studiert.« nicht ganze Systeme studiert werden, sondern es müssen Einsichten zünden. So war das zum Beispiel bei Kleist. Man redet gerne von Kleists sogenannter Kant-Krise. Kleist hatte nicht sonderlich gründlich Kant studiert, es reichte ein Gedanke von Kant, den er aufgeschnappt hat und wichtig nahm. Der Gedanke, dass wir ja nie die Wirklichkeit selbst erkennen können, sondern immer durch die Perspektive unserer Wahrnehmung. So wie mit Gläsern, ja? Durch ein blaues Glas ist die ganze Wirklichkeit blau. Und für Kleist ist diese Einsicht des großen Kant so angekommen: Ja das ist ja wahnsinnig! Ich weiß ja wirklich nicht, wie die Wirklichkeit ist! Ich lebe ja gewissermaßen in einem Wahrnehmungsgefängnis! Ich berühre nie die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist! Das hat ihn zunächst in eine Verzweiflung gestürzt. Und das hat ihn tief geprägt, in den emen seiner Literatur und seiner Stücke. Da geht es sehr häufig um Missverständnisse, darum, dass da jemand etwas ist und etwas sagt und jemand anders misstraut ihm und nimmt ihn anders wahr, als der sich selbst wahrnehmen will. Und daraus entstehen ganze Dramen. Dass die Menschen aneinander vorbeileben, dass sie einander nicht verstehen, sondern sich nur Bilder voneinander machen und sich überstülpen. Ein solches Misstrauen könnte man allerdings auch ohne Philosophie entwickeln.


Foto: Dirk Skiba

Róža Domašcyna Die dörfer unter wasser sind in deinem kopf beredt Reihe Neue Lyrik – Band 12 Kulturstiung d. Freistaates Sachsen 128 S., 18,80 €, poetenladen Verlag

»Es sind immer wieder vokabuläre Reize, fremde Laute, bizarre Wörter-Funde, an denen sich die poetische Phantasie der Dichterin entzündet und ihr Nomadisieren zwischen den Sprachwelten in Gang setzt.« Michael Braun


poet nr. 22 poetenladen, Leipzig Frühjahr 2017 216 Seiten, 9.80 Euro ISBN 978-3-940691-83-5 Gespraächsthema: Literatur & Philosophie http://www.poet-magazin.de/



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