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GUTE AUSSICHTEN Der Blick in die Weite als Ressource nutzen

Bettina Eichin, geboren 1942, Sitzende Helvetia, Kunstkredit Basel-Stadt 1980

GUTE AUSSICHTEN!

Es gibt inspirierende Plätze mit Aussicht, mitten im Gewusel der Stadt. In der letzten Nummer, PRESTIGE BUSINESS Ausgabe 01/2022, habe ich den Garten als einen dieser aussichtsreichen Plätze skizziert. Hier sind wir am Kleinbasler Ufer der Mittleren Brücke.

Autor: Werner Aebischer

Gute vierzig Jahre sitzt sie nun da, entspannt, am Kleinbasler Ufer der Mittleren Brücke, sie, die zuvor Hunderte von Jahren für Wachsamkeit, Unerschrockenheit, Freiheits- und Friedensliebe durch die Schweiz unterwegs war. Gedruckt auf Briefmarken und Postkarten, gemalt auf alten, grossen Bildern, mal blond; mal braun gelockt, seltener als rundliche Hausfrau, öfter als schlanke Grazie, aber ohne Gucci-Täschchen, dafür mit Schild und Speer, Fahnen schwingend und – bis heute – eingeprägt, sternenbekränzt, auf den 50-Rappen-, Ein- und Zwei-Franken-Münzen. Nach Hunderten von Jahren Vereinnahmung hatte Helvetia 1980 genug. Im unteren Kleinbasel stieg sie aus. Nun dreht sie uns den Rücken zu. Sie braucht jetzt Zeit für sich.

Sie schaut übers Wasser in die Weite: rheinabwärts, Richtung Meer, dorthin, wo es schon ein bisschen heller wird. Hier sitzt, schaut und denkt eine mutige Frau. Sie nimmt den Leitspruch der Aufklärung (Immanuel Kant, 1784) als Inspiration auf: «Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» Mitten im Geschiebe der Stadt beharrt unsere kämpferische Landesmutter auf eigenem Nachdenken, auf einer eigenen Sicht. Sie sucht nach Selbst-Aufklärung, nach einer neuen Sicht, nach eigenen Ein-Sichten, die sie braucht, um – wer weiss, vielleicht – das schwere Gepäck wieder aufzunehmen, weiterzugehen. Vorher muss sie sich aber orientieren, sich klar werden, wo sie hingekommen ist und wie es weitergehen kann.

Wir sind da, um mit ihr in die Weite zu sehen, eine neue Sicht zu gewinnen. Wie Helvetia wollen wir uns selbst nicht aus den Augen verlieren.

Wir lassen unseren Blick über das glitzerende Wasser schweifen, wie hier am Rhein. Noch besser wäre, mit dem Fluss bis ans Meer zu gehen. Wir haben den Blick über das Meer nötig. Hier empfinden wir Licht, Weite, Grosszügigkeit. Wir leben auf. Der Blick in die Weite wirkt auf uns zurück, er entspannt, wir nehmen schöpferische Lebenskräfte wahr. Gute Aussichten auf

die Gegebenheiten unseres Lebens. Helvetia hat diese grosszügigen Ressourcen schon wahrgenommen. Ihr Gesicht ist vergnügt, sie schmunzelt. In der einen Hand hält sie entspannt ihren Lorbeerkranz, ihr Statussymbol, mit der anderen stützt sie ihren Kopf. Eine Geste heiterer, entspannter Nachdenklichkeit.

HEITERES BILDERDENKEN

Sie regt uns an, mit dem Blick in die Weite auf uns selbst zu sehen. Was zeigt sich, was kann ich sehen?

Üblicherweise sehen und denken wir unser Leben als Weg. In diesem Denkbild sind wir auf unseren Wegen, auf unseren Laufbahnen unterwegs, mit Koffer, Speer und Schild. So wie die «Helvetia auf der Reise». Wir schreiben unsere Lebensläufe, stellen in chronologischen Aufstellungen unserer Phasen, Stationen und Weichenstellungen zusammen. In diesem Denkbild sehen wir das Leben der Menschen als Weg, den sie gehen. Und immer kommt zum Gehen ein Sehen. Ein Anhalten, ein Zwischenhalt, ein Unterbruch, die sitzende Helvetia, eine schöpferische Pause (recreation) wird nötig. Um sich neu zu orientieren. Wie wir jetzt. Mit Helvetia stellen wir unsere Rollkoffer und Werkzeuge hin, fahren unsere Aktivitäten herunter, setzen uns zu ihr, denken nach, orientieren uns, halten Ausschau, suchen nach Überblick und Durchblick. Wir erweitern unsere Sicht und ergänzen das Denkbild «das Leben als Weg» durch «das Leben als werdendes Bild».

MEIN LEBEN ALS WERDENDES BILD

In dieser Sichtweise wird mein Leben wie ein Bild gestaltet, nach und nach, Schicht für Schicht. Meine verschiedenen Lebenszeiten, Wege, Stationen, Begegnungen, Beziehungen, Themen und Situationen fliessen zusammen, wie der Rhein vor Augen. Was neu dazu kommt, verändert das, was schon auf der Leinwand ist. Und was schon da ist, wirkt auf das, was neu dazu kommt. Ein Strich, ein Detail kann das ganze Bild verändern. Als Gestalter meines eigenen Lebens achte ich auf das, was sich zeigt und was vielleicht dazu passen könnte. Nebensächliches und Gewichtiges lassen sich nicht einfach so trennen. Bisher Überflüssiges kann sich unversehens als bedeutend entpuppen.

Ab und zu zeigen sich Zusammenhänge zwischen scheinbar unverbundenen Einzelheiten. Zufällige Zusammentreffen mit Menschen an zufälligen Orten und Zeiten können im Nachhinein als entscheidende Farb- und Formgebung meines Bildes sichtbar werden. Wer pinselt mein Leben zusammen? Könnte mein Leben auch anders aussehen? Ich lasse diese anregenden Fragen offen und wundere mich gerne über gestalterische Vorgänge in meinem

Leben. Einige glaube ich zu sehen, andere entgehen mir. Einiges gestalte ich bewusst, vieles aber, die wesentlichen Impulse und Fügungen meines Lebens, stammen aus mir unbekannten Quellen. Ich muss in dieser Weite des Blicks nichts verteufeln und nichts beschönigen. Ich kann alles stehen lassen.

DIE ZEITEN KOMMEN ZUSAMMEN

Ein Mensch vieler Jahre erinnert sich an seine Erfahrungen, die er als Kind gemacht hat. In den vielen Jahren dazwischen schienen die Erfahrungen des Kindes vergessen. Eines schönen Tages tauchen sie auf. Ihre Zeit ist gekommen. Der Mensch vieler Jahre hat seinen Zeiten Zeit gegeben. Das Kind musste viele Jahre weitere Erfahrungen machen, damit es den Reichtum oder den Schmerz seiner Kindererfahrungen besser sehen kann.

Die Vergangenheit wirkt nicht nur in meine Gegenwart hinein, sondern auch umgekehrt. Die Gegenwart wirkt auch auf meine Vergangenheit. Die Einschätzungen vergangener Erfahrungen können sich ändern. Scheinbare Details, einzelne Wörter, Situationen erweisen sich nach Jahren oft als wichtiger als viele wilde Geschichten. Die Vergangenheit bleibt beweglich. Nichts geht verloren.

Manchmal sind Erinnerungen längst vergangener Erlebnisse vitaler, näher und bedeutsamer als Ereignisse, die noch gar nicht so lange her sind. Erinnerungen scheinen sich nicht an den Kalender zu halten. Es gibt seltsame Zeitverschiebungen.

Wir sind Gewordene und Werdende. Die Verbindungen zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem spannen einen grösseren Zeitraum auf und ermöglichen einen Überblick.

ZWISCHEN EINZELHEITEN UND GANZEM BILD

Ich sehe mein Leben wie ein Bild entstehen. Diese Vorstellung hilft mir, meine eigene Lebenspraxis wahrzunehmen und darüber nachzudenken. Wie ein Künstler stehe ich nahe vor der Staffelei, arbeite an Einzelheiten, um bald danach einige Schritte zurückzutreten, das ganze Bild in Augenschein zu nehmen und dann wieder auf die Staffelei zuzugehen. Ich bewege mich vor meinem Bild fliessend hin und her. In diesem Wechselspiel aus Nähe und Distanz entsteht mein Bild. Schöpferisches Arbeiten geschieht in unterschiedlichen Distanzen. Aus jeder gibt es etwas Besonderes zu sehen, das nur aus einer bestimmten Distanz heraus gesehen werden kann. Manchmal fällt der Blick auf eine Einzelheit, dann wiederum auf das Zusammenspiel einiger Einzelheiten und schliesslich auf das ganze Bild. In diesem Hin und Her kommen die verschiedenen distanztypischen Beobachtungen zusammen und werden füreinander fruchtbar. Manchmal werde ich unbeweglich, verfalle einer Einzelheit und meine, sie sei das ganze Bild, meine ganze Welt.

Mein Lebensbild ist keine Collage meiner Lieblingsbilder. Alles gehört dazu, wirkt am Gesamtausdruck mit, auch alles, was ich lieber nicht auf meinem Bild sehen möchte. Einige Farben und Formen sind deutlich sichtbar, andere mehr oder weniger übermalt im Untergrund, einige durchschimmernd, von einigen guckt bloss noch ein kleiner Zipfel hervor. Die Stoffe meines Lebens kommen zusammen, wirken aufeinander. Ich sehe Wechselwirkungen, Veränderungen, Überraschungen, Kontraste, Spannungen, jede Menge Leerstellen, vieles ist unfertig, bleibt offen wie der weite Himmel. Mein Lebensbild ist Arte povera, Skizze, Entwurf, Spuren, ein künstlerisches Vorhaben, Work in Progress.

BUCHTIPP

Georg Kreis, Helvetia – im Wandel der Zeiten: Die Geschichte einer nationalen Repräsentationsfigur.

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