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Architektur Radar

Steinerne Umarmung

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Hinter ehrwürdiger Fassade entstand in Portos Innenstadt eine einzigartige Begegnung von Vergangenheit und Gegenwart: die São Bento Residences, großzügige Wohnungen in einem Bau von Pedra Líquida, die den halb verfallenen Vorgänger meisterhaft in Szene setzten und zugleich mit einem nicht minder selbstbewussten Hinterbau in Granit, Stein und Beton kombinierten (o.). pedraliquida.com

Schutz im Fünfeck

Snøhetta kommt aus den Bergen, jedenfalls dem Namen nach – jetzt sind die Norweger spektakulär dorthin zurückgekehrt: mit den Tungestølen Cabins o. snohetta.com

Ein- und Durchblicke

Z33 heißt ein Geheimtipp für zeitgenössische Kunst im belgischen Hasselt. Noch mehr Platz und Charakter gewann das Haus durch die italienische Architektin Francesca Torzo: Die Genuesin erweiterte das progressive Museum um den gut 4500 Quadratmeter großen Anbau ganz unten, dessen Fassade sie aus handgefertigten violetten Ziegeln (unten) modellierte. francescatorzo.it, z33.be

Lillebø M. Jan Rozenfelds; Gatis Thallaug; Erik (2); Albertini von Gion Morgado; João Fotos:

Norwegisches Medien-Haus

Direkt neben dem berühmten Opernhaus erhebt sich sechs Etagen hoch Oslos neue Stadtbibliothek Deichman Bjørvika (links), mit der die Architekten von Atelier Oslo und Lundhagem eindrucksvoll zeigen, wie ein Haus der Bücher heute wirkt: als lichter, inspirierender Tempel des Wissens (u.). atelieroslo.no, lundhagem.no

Duschrinnen von Dallmer überzeugen durch prämiertes Design und hohe Reinigungsfreundlichkeit

Panorama Kunst

„Ich bin ein Recycler“, sagt Betye Saar bescheiden über ihren Arbeitsprozess, während ihre Werke gerade groß gefeiert werden. Zuletzt in New York (im MoMA) und in ihrer Heimatstadt Los Angeles (im LACMA). Im Herbst wird ihr in Köln der WolfgangHahnPreis der Gesellschaft für Moderne Kunst des Museum Ludwig verliehen. Oft ist ihre Kunst sehr persönlich wie die Assemblage „Record for Hattie“ (re. S., 1975), eine Hommage an ihre Großtante.

Mit den Waffen der Kunst

Be e Saar ist quirlige 94 Jahre alt und die Künstlerin der Stunde. Mit ihren Assemblagen aus Alltagsdingen schafft sie auratische Werke voll von Mut und Mystik, Politik und sehr Persönlichem.

Text: Barbara Gärtner

Die Schrotflinte sieht man erst auf den zweiten Blick. Denn die Augen haben schwer zu blinzeln bei all der Primärfarbenheiterkeit: Blümchenschürze, Halstuch, Haarschleife – alles in quietschendem Gelb-Rot-Blau. Die Dame hält einen Besen. Aber sie ist nicht gekommen, um zu putzen. Sondern zum Kämpfen. „The Liberation of Aunt Jemima“ hat Betye Saar ihre Assemblage genannt, sie schuf sie 1972, noch immer wütend über den Mord an Martin Luther King, der vier Jahre zuvor erschossen wurde. Mit der kleinen Plastik (sie ist gerade mal DIN A4 groß) wurde aus Betye Saar eine politische Aktivistin und ihr Werk zum Manifest – das heute so sehr 2020 ist wie wohl kaum eine Arbeit, die gerade irgendwo aus dem Atelier geschoben wird.

Denn gute Kunst ist immer auch eine Prophezeiung. Eine Aussage darüber, wer wir sind, wie die Welt sein könnte – im Guten wie im Schlechten. Meist braucht es allerdings Jahrzehnte, bis die Menschheit so weit ist, wie ein Künstler sie dargestellt hat. Vor einem halben Jahrhundert also rief ein Community Center in Berkeley schwarze Künstler und Künstlerinnen dazu auf, Werke zum Thema „Schwarze Helden“ einzureichen. Und Betye Saar, geboren 1926 in Los Angeles, die sich in ihrem Studium mit Design und Druckgrafik beschäftigte (weil man Frauen nicht zur Kunst ermunterte, und schwarze Frauen schon gar nicht), Kinder bekam und dann über eine Ausstellung von Joseph Cornell zum Medium der Assemblagen fand, nahm eine plumpe Werbefigur und machte sie zur Kriegerin: Aunt Jemima, das ewig patent grinsende Bild

Panorama Kunst

„Frauen wurden damals nicht ermuntert, Kunst zu machen. Erst recht nicht schwarze Frauen.“ Betye Saar

einer schwarzen Frau, ein Stereotyp mit Sklavenvergangenheit, mit dem die Firma Quaker Oats (heute Teil des Pepsi-Konzerns) seit 130 Jahren Frühstücksflocken, Pancake- Pulver und Billig-Sirup verkauft. Und nun, erst diesen Juni, nach dem Mord an George Floyd, nach Massenprotesten, Unruhen, „I can't breathe“-Demonstrationen und weltweiten Diskussionen über strukturellen Rassismus, gab die Firma bekannt, Aunt Jemima in Rente schicken zu wollen. Betye Saar postet noch am selben Tag auf Instagram ihr 48 Jahre altes Kunstwerk und jubiliert: „Sie ist befreit! Endlich. Es wurde auch Zeit.“

Es wurde Zeit – das lässt sich auch über die Künstlerin Betye Saar sagen. Quirlige 94 Jahre ist sie alt und wirkt wahnsinnig bescheiden, wenn sie in Interviews über ihre mehr als ein halbes Jahrhundert währende Karriere ausgefragt wird. Sie arbeitet an neuen Projekten (zuletzt hat sie ausgreifende Rauminstallationen für sich entdeckt), und gegen Ende des Jahres plant sie eine Reise nach Köln, wo ihr der WolfgangHahn-Preis der Gesellschaft für Moderne Kunst des Museum Ludwig verliehen werden soll. Auch dieser Termin wurde von Corona durcheinandergewirbelt.

Sie hatte in all den Jahren immer Ausstellungen, kleine und mittelgroße, aber nun bekommt sie die ganze Bühne. Als das New Yorker MoMA, sonst Hort weißer Moderne-Männer, im vergangenen Jahr nach der Renovierung wieder eröffnete und mit großer Geste zeigen wollte, dass es die globalen Debatten um #MeToo und die mangelnde Repräsentation von Frauen und People of Color in der Kunstwelt durchaus vernommen hat, da richtete es Betye Saar

Das große Ganze im Blick: Betye Saar interessiert sich für Kosmologie und Religionen genauso wie für afrikanische Rituale. Links: „Mystic Window for the Universe“ (1972), re. Seite „Spirit Catcher“ von 1977.

die fulminante Ausstellung „The Legends of Black Girl’s Window“ aus. Es wurde ja wirklich auch Zeit. „Meine Waffe war die Kunst“, sagte sie einmal. Die Unruhen in den Sechzigern haben Saar politisiert. Sie war beim männerdominierten Black Panther Movement und engagierte sich in der (damals sehr weißen) Frauenbewegung, heute stehen in den Bibliotheken genauso viele Bücher über Betye Saar, die Aktivistin, wie über Betye Saar, die Künstlerin.

In den Sechzigern begann sie auch zu sammeln. Darstellungen von schwarzen Menschen, die mit dem kühlen TagesschauTerminus „herabwürdigend“ eher allzu dis-

„Sie ist befreit“, jubilierte Betye Saar kürzlich. 1972 stärkte sie die stereotype „Mammy“-Figur re. mit Gewehr und Granate und schuf mit „The Liberation of Aunt Jemima“ ihr bekanntestes Werk. Sie wird vertreten von Roberts Projects. robertsprojectsla.com

tanziert beschrieben werden, weil sie schlicht rassistisch sind. Parodien, KarikaturenoderDarstellungenvonsogenannten „Mammies“, wie Sklavinnen im 18.Jahrhundertgenanntwurden,diesichumHaushalt undKinderkümmerten.AuntJemima.Saar gab ihr ein Gewehr und eine Granate. Nun konnte sie sich wehren.

Mit ihren Assemblagen lädt Betye Saar das Gewöhnliche auratisch auf. Sie kombiniert Schachteln und Fensterrahmen mit Kinderfotos, Federn, einzelnen Handschuhen, Haarbüscheln, angelaufenem Silberbesteck, Bügelbrettern, Waschbrettern, Perlenkettchen, getrockneten Pflanzen und ergänzt ihre eigenen Zeichnungen und Gemälde. „Wenn ich spazieren gehe, dann schaue ich immer auf den Boden“, sagte sie neulich in einem Dokumentarfilm. „Man kann so wunderbare Sachen entdecken. Hauptsächlich nehme ich den Müll von anderenundmachedarausmeineigenesDing, meinen eigenen Müll. Ich bin ein Recycler.“ Oft beziehen sich ihre Arbeiten auf ihre eigene Geschichte wie bei „Record for Hattie“ (1975), für das sie Fotos und Gegenstände ihrer geliebten Großtante wie in einem Schmuckkästchen arrangierte; das Andenken lebt eben in den Dingen weiter – Saar interessiert sich sehr für Spiritualität, wendet sich in ihrer Kunst auch dem ganz großen Ganzen zu: Mystik, Kosmologie, Religion, Rituale. Noch gut erinnert sie sich heute an einen Besuch 1970 im Chicagoer Field Museum of Natural History. Ganz unten, versteckt im Keller, sah sie zum ersten Mal Kunst aus Afrika und Ozeanien. Betye Saar hat auch sie ins Licht geholt. ‹

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