EUROPA BRAUCHT EINEN PLAN!
Bild ©: Christian Gohdes
Was unternommen werden muss, um das Sterben im Mittelmeer zu stoppen!
Europa braucht einen Plan!
STOPPT ENDLICH DAS STERBEN! Herausgeber: Förderverein PRO ASYL e.V. Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge Moselstr. 4 60329 Frankfurt am Main Telefon: 069 / 24 23 14 0 Fax: 069 / 24 23 14 72 Internet: www.proasyl.de E-Mail: proasyl@proasyl.de Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft Köln IBAN DE70 3702 0500 5050 5050 50 BIC BFSWDE33XXX Druck: directpunkt GmbH Ausschläger Allee 178 20539 Hamburg Veröffentlicht im September 2019
»Das Mittelmeer und der Atlantik vor den Kanaren entwickeln sich zu einem Massengrab« – dies ist kein Zitat der aktuellen Nachrichtenlage, so beschrieb PRO ASYL bereits 2008 die humanitäre und menschenrechtliche Katastrophe im Mittelmeer. Damals starteten wir europaweit die Kampagne »Stoppt das Sterben!« Nach all den Tragödien der letzten Jahre, nach den unzähligen Toten, nach den beschwörenden politischen Reden zur Katastrophe von Lampedusa 2013, nach dem beschämenden Ende der EU-Rettungsinitiative Mare Nostrum, nach dem Abschluss des EU-Türkei-Deals und nach der Entscheidung der EU, mit der »libyschen Küstenwache« – einer maßgeblich von Gewalttätern und Warlords durchsetzten Organisation – zusammenzuarbeiten, wird der menschenrechtliche und humanitäre Niedergang der EU deutlicher als je zuvor. Diesen Weg darf die EU nicht weiter gehen – am Ende zerstört sie damit sich selbst. Wir appellieren: Umkehren und Retten! Es muss eine neue europäische Initiative zur Rettung von Flüchtlingen und für einen gefahrlosen Zugang in die EU geben. Dazu ist die Europäische Union den schutzsuchenden Menschen gegenüber verpflichtet – und sie schuldet es auch ihren eigenen grundlegenden Werten.
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Europa braucht einen Plan!
»MENSCHEN AUS SEENOT ZU RETTEN IST KEINE FRAGE FÜR DEBATTEN ODER DIE POLITIK, ES IST EINE VERPFLICHTUNG SEIT MENSCHENGEDENKEN. WIR KÖNNEN DIESE TRAGÖDIE BEENDEN, WENN WIR DEN MUT UND DEN WEITBLICK HABEN, ÜBER DAS NÄCHSTE BOOT HINAUSZUBLICKEN.« (Filippo Grandi, Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen)
Europa braucht einen Plan!
EUROPA: EINE REICHE REGION VERSAGT Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union ist kläglich. Populistische Parolen, Zerstrittenheit und Schuldzuweisungen bis hin zur Tolerierung und Instrumentalisierung rassistischer Einstellungen prägen das Bild. Zahlen können das Leiden der Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer nicht erfassen. Aber sie machen deutlich, dass die EU – eine wirtschaftsstarke Staatengemeinschaft mit über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern – versagt. Im Mittelmeerraum, der aufgrund vorgeblich sehr hoher Flüchtlingszahlen medial und politisch als europäisches Krisengebiet behandelt wird, schafften es bis Mitte Juli 2019 etwas mehr als 31.000 Bootsflüchtlinge über das Meer, auf dem Landweg kamen knapp 9.000 (Quelle: UNHCR). Die brutale Abschottung der Grenzen, das Verängstigen, Abdrängen und Abschrecken, das Isolieren in Elendslagern an den EU-Außengrenzen und in den Foltergefängnissen der libyschen Handlanger wirkt: Die Zahl der Ankommenden sinkt, das Leid gerät aus dem Blick.
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Europa braucht einen Plan!
Wir brauchen einen Plan!
Deutschland
Polen
Österreich
Frankreich
Ungarn Rumänien
Italien
4.393 Griechenland
26.767
Spanien
18.017
Türkei
Malta
Algerien
Tunesien
1.048
Syrien Zypern
Marokko
794
Libyen
WENIGER FLÜCHTLINGE. VIELE TOTE. Gesamtankünfte
Seeweg nach Italien, Griechenland, Spanien, Zypern und Malta
Landweg
Tot oder Vermisst
51.019
40.777
10.242
839
Quelle: UNHCR, August 2019
Vorhergehende Jahre
Ankünfte
Tot/Vermisst
2018 2017 2016 2015 2014
141.472 2.277 185.139 3.139 373.652 5.096 1.032.408 3.771 225.455 3.538
Ankünfte inkl. Seeweg nach Italien, Griechenland, Spanien, Zypern und Malta Quelle: UNHCR, Stand August 2019
Flüchtlingssituation weltweit Ende 2018 zählte UNHCR (Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen) über 70 Millionen Flüchtlinge. Mehr als die Hälfte lebte als Binnenvertriebene im Herkunftsland, annähernd 30 Millionen jenseits der Grenzen. 80 Prozent dieser Menschen fanden Aufnahme in Nachbarländern, viele davon in den ärmsten Regionen der Welt. Reichere Länder haben nach UNHCR-Angaben gerade einmal 16 Prozent Geflüchtete aufgenommen.
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Europa braucht einen Plan!
Europa braucht einen Plan!
MENSCHEN STERBEN. UND DIE EU KOOPERIERT MIT DEN TÄTERN
Bild ©: Reuters/ Ismail Zetouni
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Das Risiko, auf der Flucht über das zentrale Mittelmeer zu ertrinken, wird größer und größer. 2015 bis 2018 starben dort 12.748 Menschen – dies sind nur die offiziell registrierten Todesfälle. Für dieses massenhafte Sterben ist die Europäische Union verantwortlich. EU-Mitgliedsstaaten wie Italien verhindern die zivile Seenotrettung und sperren die Häfen. Schiffe müssen wochenlang ausharren bis es ihnen erlaubt wird, Gerettete an Land zu bringen. Die EU finanziert die »libysche Küstenwache«, rüstet und bildet sie aus. 2017 und 2018 haben diese Warlords und Menschenhändler im Interesse der EU mehr als 30.000 Bootsflüchtlinge auf dem Meer aufgegriffen. Im Rahmen von Patrouillen wird Gewalt gegen Männer, Frauen und Kinder angewendet, Flüchtlinge werden zurück nach Libyen gebracht und dort eingesperrt. Laut UN-Berichten wird in den libyschen Haftlagern erpresst, gefoltert, vergewaltigt und gemordet. Angaben und Schätzungen über die Zahl der inhaftierten Flüchtlinge schwanken stark und sind schwer zu verifizieren – vermutlich sind es Zehntausende. Neben Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Folterverbot) verstößt dies zugleich gegen Artikel 33 Absatz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (Non Refoulement). Durch das Delegieren an die »libysche Küstenwache« versucht die Europäische Union, genau diesen Vorwurf zu umgehen. Diese Vorgehensweise ist inakzeptabel: Auch sogenannte »Pull-Backs« – das Abfangen und gewaltsame Zurückbringen von Flüchtlingsbooten nach Libyen durch die »libysche Küstenwache« – verletzen internationales Recht.
Die von Warlords durchsetzte »libysche Küstenwache« wird von der EU ausgebildet, ausgerüstet und finanziert.
»NIEMAND DARF DER FOLTER ODER UNMENSCHLICHER ODER ERNIEDRIGENDER STRAFE ODER BEHANDLUNG UNTERWORFEN WERDEN.« Europäische Menschenrechtskonvention, Artikel 3
Drohnen über dem Mittelmeer Überwachungsdrohnen der EU-Grenzagentur Frontex fliegen über Gewässern vor Libyen. Frontex steht im Verdacht*, die »libysche Küstenwache« aktiv mit Informationen über die Position von Flüchtlingsbooten zu versorgen, damit sie diese abfangen und nach Libyen zurückbringen können.
* theguardian. com, 04.08.2019
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Bild ©: Guillaume Binet /Myop
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11 Lager in Tripolis/ Libyen im April 2017
»EINE FORM DIESER ÄU SSERST SCHWERWIEGENDEN MENSCHENRE CHTSVERLETZUNGEN IN PRIVATEN UND LIBYS CHEN AUFFANGLAGERN IST DER FAKTISCHE VER KAUF VON FLÜCHTLINGEN AUF LIBYSCHEN SK LAVENMÄRKTEN …«* * Antwort der Bundesregierung »Zur Situation von Flüchtlingen in Libyen«, 09. März 2018, Drucksache 19/1146
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ITALIEN SPIELT LIBYSCHEN WARLORDS UND MENSCHENHÄNDLERN DIREKT IN DIE HÄNDE
EU-MITGLIEDSLÄNDER IM ZENTRUM VERSCHIEBEN GEZIELT DIE VERANTWORTUNG
Mit Unterstützung der Europäischen Union übernimmt Italien unter Führung des Innenministers Matteo Salvini eine besonders unrühmliche Rolle. Italienische Einheiten zur Überwachung des Mittelmeerraums helfen libyschen Patrouilleneinheiten beim Orten von Flüchtlingen – vor allem in der libyschen Search and Rescue (SAR)-Zone. Die Verzweifelten landen oft erneut in den Folterlagern, denen sie kurz zuvor entronnen sind.
Der starke Druck, den die zentral gelegenen EU-Länder durch das systematische Ab- und Zurückschieben von Flüchtlingen an die Außengrenzen der EU ausüben, verschärft die Situation unter anderem im Mittelmeerraum. Humanitäre »Gnadenakte« wie die Aufnahme von Bootsflüchtlingen aus einzelnen Rettungsaktionen täuschen über die systematische Verletzung von Menschen- und Flüchtlingsrechten durch die EU hinweg.
Abfahrten von Libyen nach Italien absolute Zahlen 57.175
55.890
n in Europa angekommen n zurück nach Libyen gebracht n tot oder vermisst
47.009 44.528
August 2017: Verstärkte Kooperation der EU mit der libyschen Küstenwache, Ausweitung der SAR-Zone. Juli 2018: Letzte Rettungsaktion durch EU-Kriegsschiffe im Rahmen der »Mission Sophia«. Salvini wird Innenminister.
23.616
18.061
17.993
9.625 6.337 2.802 334 2016/Q1
1.252 2016/Q2
2.132 560 2016/Q3
3.061 1.318 2016/Q4
Quelle: Istituto per gli studi politica internazionale, Milano
3.387 742 2017/Q1
4.778 1.429 2017/Q2
4.207 313 2017/Q3
2.986 369 2017/Q4
4.684 3.794 358 2018/Q1
7.746 6.672 3.688 1.597 482 2018/Q2
1.315 1.382 410 16
2018/Q3
2018/Q4
382
1.285 197
2019/Q1
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RETTUNGSPLAN FÜR BOOTSFLÜCHTLINGE: WAS SOFORT UNTERNOMMEN WERDEN MUSS, UM DAS STERBEN IM MITTELMEER ZU STOPPEN
Die Europäische Union kann und darf sich ihrer menschen- und völkerrechtlichen Verpflichtung nicht entziehen. Sie baut darauf auf, dass sich Bürgerinnen und Bürger ebenso wie geflüchtete Menschen auf unveräußerliche Rechte berufen können. Dazu zählt das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit ebenso wie das Folter- und das Refoulement-Verbot. Dazu zählt die Pflicht zur Seenotrettung und zur Ausschiffung geretteter Menschen in sichere Häfen. Schutzsuchenden muss in den aufnehmenden Ländern der EU ein ungehinderter Zugang zu einem fairen Asylverfahren inklusive aller Rechtsmittel ermöglicht werden. Um diese Verpflichtungen umzusetzen, muss sich eine Koalition aufnahmebereiter EU-Staaten zusammenfinden, die den Notfallplan für die Aufnahme von Bootsflüchtlingen untereinander organisiert. Die einzelnen ineinander greifenden Schritte des Plans:
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4. Es dürfen keine Abkommen mit Staaten außerhalb der EU geschlossen werden, um Flüchtlinge dort festzusetzen oder von der EU aus zurückzuschieben. Ausschiffungen in nordafri kanische Häfen darf es nicht geben. 5. Es müssen sichere und legale Fluchtwege nach Europa geschaffen werden (humanitäre Visa, Resettlementprogram me, Familienzusammenführung etc.) – dies gilt auch für die Familienangehörigen von Kriegsflüchtlingen. 6. Bootsflüchtlingen ist nach der Anlandung in einem sicheren europäischen Hafen eine menschenwürdige Aufnahme und der Zugang zu einem fairen Asylverfahren in einem EU-Mit gliedsstaat zu gewähren. Dies gilt für auch für alle Schutz suchenden, die auf anderen Wegen Zugang zur Europäischen Union finden. 7. Hotspots und Transitzentren an den Außengrenzen der EU sind Orte der Inhumanität und Rechtlosigkeit, sie müssen geschlossen werden. Die Inhaftierung schutzsuchender Menschen ist sofort zu beenden.
2. Die Blockade und Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung muss ein Ende haben.
8. Die Verteilung angekommener Flüchtlinge in den kooperie renden EU-Staaten muss einem festgelegten Solidarmechanis mus folgen und darf nicht nicht mehr von Fall zu Fall ausge handelt werden. Schutzsuchenden mit familiären Bindungen wird die Weiterreise zu ihren Angehörigen ermöglicht.
3. Die Zusammenarbeit mit der »libyschen Küstenwache« und der damit verbundene fortlaufende Völkerrechtsbruch im Mittelmeer muss sofort gestoppt werden. In Libyen fest sitzende Flüchtlinge müssen umgehend evakuiert und in der EU in Sicherheit gebracht werden.
9. Zahlreiche Städte, Regionen und Gemeinden in Deutschland und Europa haben bereits ihre Aufnahmebereitschaft signa lisiert. Für sie muss die Möglichkeit geschaffen werden, Boots flüchtlinge im Rahmen eines Relocation-Programms aufzu nehmen.
1. Die Europäische Union muss unverzüglich einen eigenen flächendeckenden Seenotrettungsdienst aufbauen.
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