trendletter 02/2018 - Vom Arbeiten, Wohnen und Pendeln

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Prognos trendletter November 2018

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November 2018

VOM ARBEITEN, WOHNEN UND PENDELN


DIGITALISIERUNGSKOMPASS 2018 WIE DIGITAL IST IHRE REGION? Digitalisierung ist einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Standorten. Doch was gehört dazu, um als Wirtschaftsregion digital gut aufgestellt zu sein? Die notwendige Orientierung gibt der Digitalisierungskompass 2018, den die Prognos AG und die index-Gruppe in Kooperation mit dem Handelsblatt erstellt haben.

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Impressum _ Herausgeber: Prognos AG Unternehmenskommunikation St. Alban-Vorstadt 24 4052 Basel | Schweiz Telefon: +41 61 32 73 - 310 Fax: +41 61 32 73 - 300 E-Mail: info@prognos.com www.prognos.com twitter.com/prognos_ag _ Hinweise: Auszug/Nachdruck bei Nennung der Quelle gestattet. www.prognos.com/trendletter

_ Redaktionsleitung: Felizitas Janzen, Julia Thurau _R edaktionsteam: Christian Böllhoff, Dr. Oliver Ehrentraut, Hans-Paul Kienzler, Tobias Koch Kontakt: trendletter@prognos.com _M itarbeit: Sven Altenburg, Dr. Olaf Arndt, Maike Breitzke, Madita Bürkner, Christian Engel, Dr. Claudia Funke, Tilmann Knittel, Alexander Labinsky, Claudia Münch, Marion Neumann, Tina Oßwald, Melanie Reisch, Leander Schulte, Heidrun Weinelt, Antonia Wentrot, Heike Winter-Hamerla _K onzept, Produktion & Illustrationen: STÜRMER & DRÄNGER – Visuelle Kommunikation

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_ Auflage: Print: 8.500 Exemplare, Digital: 9.500 Leser


Editorial

Métro, boulot, dodo …

... mit diesen drei Worten charakterisieren viele Menschen im Großraum Paris ihren täglichen Rhythmus. Gemeint ist damit, dass ihr Leben vorwiegend aus Pendeln (Métro), Arbeiten (Boulot) und Schlafen (Dodo) besteht. Auch wenn es in Deutschland keine Stadt gibt, die eine so zentrale Rolle einnimmt wie Paris für die Franzosen, so erleben auch diesseits des Rheins viele Großstädter ihren Alltag ähnlich. Der Zusammenhang von teuren und weiter steigenden Mieten in Städten wie München, Frankfurt, Köln oder neuerdings auch Berlin und immer längeren Fahrtzeiten zwischen Zuhause und Arbeitsplatz gilt nahezu allerorten. Denn viele Berufstätige können sich die hohen Kosten für das Wohnen in den Innenstädten kaum mehr leisten. So sind sie mehr oder minder gezwungen, an den Stadtrand oder ins Umland zu ziehen, wo sich die Preise folgerichtig auch rasant nach oben bewegen. Insbesondere trifft das Menschen mit einem geringeren bis mittleren Einkommen und damit ausgerechnet auch jene Berufsgruppen, die für das Funktionieren unseres Gemeinwesens von essenzieller Bedeutung sind: Die Krankenpflegerin, der Erzieher, die Verwaltungsmitarbeiterin oder der Polizeibeamte verbringen einen wesentlichen Teil ihres Tages weder bei der Arbeit noch daheim, sondern unterwegs. Die verschiedenen Verkehrsmittel werden so beinahe zur zweiten Heimat oder sprichwörtlich zu einer Verlängerung des Frühstücks- beziehungsweise des Schreibtisches. Dass die Menschen dabei ihr Leben „in vollen Zügen genießen“, klingt zwar ganz amüsant, ist es aber nicht. Und das ist nicht nur ein Privatproblem. Um Land und Wirtschaft zukunftsfähig zu halten, braucht es Menschen, deren Energie nicht auf diese Weise zerrieben wird, sondern sich entfalten kann. Hierzulande unterscheiden sich die Lebenssituationen deutlich, je nachdem, ob man im ländlichen Raum oder in einer Metropolregion zuhause ist. Mal fehlt es eher an attraktiver Arbeit, mal eher am bezahlbaren Wohnraum. Im Ergebnis aber stehen die Menschen zu oft im Stau oder drängen sich auf zu engem Raum zusammen. Verstärkt

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wird diese Entwicklung noch durch den permanenten Zuzug in die städtischen Großräume – ein weltweites Phänomen übrigens. Alles in allem geht es um weit mehr, als nur Lösungen für eine zu knappe und überlastete Infrastruktur zu finden. Denn der Kern des Lebens ist betroffen, wenn wir über das Arbeiten, Wohnen und Pendeln nachdenken. Vom sprichwörtlichen Verkehrsinfarkt ist man schneller bei ganz anderen Rhythmusstörungen – gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen – als uns lieb sein darf. Was können wir tun, um die viel zitierte Balance von Privat- und Arbeitsleben, inklusive der Transaktionszeit dazwischen, wieder ins Lot zu bringen? Dieser Frage ist unser Redaktionsteam in den vergangenen Wochen intensiv nachgegangen. In den vielen Projekten und Initiativen, die uns bei unseren Studien begegnen, stecken viele kreative Ideen und kluge Lösungen. Unsere Experten haben die innovativsten Ansätze für Sie herausgefiltert. Herausgekommen ist eine spannende und ganzheitliche Betrachtung darüber, wie es auch in einer schnellen und komplexen Gesellschaft gelingen kann, das Leben in seiner Essenz zu verbessern. Denn neben Arbeiten und Pendeln muss es doch noch mehr geben als Dodo – ob in Paris oder Bielefeld. Ich wünsche Ihnen jetzt eine spannende Lektüre und freue mich, von Ihnen zu hören.

Herzlich, Ihr

Christian Böllhoff christian.boellhoff@prognos.com


Coworking | Eine gute Idee

Eine gute Idee

Coworking auf dem Land Wann immer über Pendlerströme, Stau zur Rushhour und Feinstaubwerte gesprochen wird, fällt über kurz oder lang auch das Stichwort Homeoffice. Wäre nicht alles so viel einfacher, wenn die Pendler bequem zuhause arbeiten könnten, anstatt auf dem Weg ins Büro gestresst im Stau zu stehen und dabei auch noch Feinstaub und CO2 in die Luft zu blasen? Ein mobiler Arbeitsplatz ist zwar nicht für jede Branche umsetzbar, doch dort, wo es möglich ist, bringt es für Arbeitgeber und Arbeitnehmer viele Vorteile. Aber es macht auch einsam. Der Kontakt zu anderen Menschen beschränkt sich auf E-Mails und Telefongespräche, Teamarbeit wird erschwert. Nicht jeder kommt damit zurecht und viele ziehen am Ende Stau und lange Arbeitswege der Einsamkeit im Homeoffice vor. Abhilfe könnten Coworking-Spaces auf dem Land schaffen. Betrieben von der Gemeinde oder dem örtlichen Gewerbeverband, womöglich in einer sonst leerstehenden Gewerbeimmobilie, stellen solche Coworking-Spaces nicht weit von zuhause entfernt Plätze zum Arbeiten zur Verfügung. Das ermöglicht den Austausch in der Bürogemeinschaft und bringt schnelleres Internet als daheim. Nebenbei freuen sich Geschäfte und Gasthäuser im Ort über neue Kunden, die zu Mittag essen oder noch schnell einkaufen gehen. Somit ist am Ende allen geholfen: gestressten Pendlern, strukturschwachen Dörfern und staugeplagten Städten. _

Alexander Labinsky, Düsseldorf alexander.labinsky@prognos.com Prognos-Berater Alexander Labinsky untersucht, wie sich Mobilität und Verkehr in der Zukunft entwickeln werden. Coworking-Spaces auf dem Land wären für ihn selbst jedoch keine naheliegende Alternative: Der bekennende Stadtmensch wohnt nur 15 Minuten mit Bus und Rad vom Düsseldorfer Büro entfernt.

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Inhalt

INHALT Eine gute Idee: Coworking auf dem Land

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Stadt, Land, Job - ein Spagat mit Folgen Laut einer Umfrage der Online-Jobbörse Stepstone kann sich fast die Hälfte der befragten Beschäftigten vorstellen, für den Beruf den Wohnort zu wechseln. Aber flexible Lebensverhältnisse sind nicht für jedermann möglich. 4 Wohnungsnot ist kein Privatproblem Auf dem deutschen Wohnungsmarkt knirscht und knarzt es gewaltig: Wohnraum ist knapp, Miet- und Kaufpreise klettern in schwindelerregende Höhen. 6 Pendler: moderne Nomaden Immer mehr Menschen pendeln auf immer längeren Wegen.

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„Die Mehrheit ist für sozialen Wohnungsbau und Mietpreisbremsen“ Prof. Dr. Renate Köcher vom Institut für Demografie Allensbach im Interview 10 Eine gute Idee: Grundstücksvergabe mit Verantwortung 13 Ausgerechnet: Zahlen zum Pendeln und Wohnen in Deutschland

Auf dem Radschnellweg zur Arbeit Mit Radschnellwegen gegen den Berufsverkehr? 21 Unerwarteter Kindersegen – Stadtkinder fordern Planer heraus Deutsche Großstädte erleben einen Boom der Kinder- und Familienzahlen. 22 Eine gute Idee: Grenzgänger im Nahverkehr

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Die Überwindung von Raum und Zeit Ändern autonome Fahrzeuge unser Wohn- und Pendelverhalten? 25 Standpunkt: „Wohnungen werden für Generationen gebaut.“

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Aus den Projekten

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Rückblick in Bildern

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WERKSWOHNUNGEN Wenn der Arbeitgeber der Vermieter ist_ Seite 16

WOHNEN, ARBEITEN, PENDELN

bedingen einander und beeinflussen das Leben der Menschen in der Stadt und auf dem Land_ Seite 4

STADTKINDER

fordern Planer heraus _ Seite 22

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Suche Mitarbeiter – biete 3 Zi-Kü-Bad Um Fachkräfte zu gewinnen, unterstützen Arbeitgeber ihre Mitarbeiter immer öfter bei der Wohnungssuche – und werden oft selbst zum Vermieter. 16 Werkstattbericht: Die Deutschland-Studie: Wie die bisher umfassendste Studie über Deutschlands Regionen entstand.

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Smart: neue Technologien für Stadt und Land Können smarte Technologien Stadt und Land wieder näher zueinander bringen? 18 Nächster Halt: Montabaur Ortschaften zwischen Ballungsräumen rücken durch eine verkehrsgünstige Anbindung näher an Wirtschaftszentren heran.

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SMART CITY 20

Neue Technologien machen das Leben effizienter_ Seite 18

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Wohnen, Arbeiten und Pendeln | Fachbeitrag

Stadt, Land, Job – ein Spagat mit Folgen Wohnen, Arbeiten, Pendeln – diese drei Bereiche bedingen einander und hängen zugleich von den individuellen Lebensentwürfen der Menschen ab. Tatsache aber ist: Fachkräfte und Unternehmen finden immer häufiger nicht zusammen, weil sie in unterschiedlichen Regionen sitzen. Der gut bezahlte Job in der Stadt scheitert am dort fehlenden Wohnraum. Auf dem Land fehlt hingegen die attraktive Infrastruktur, um vor allem junge und gut qualifizierte Menschen zu halten. Ein Dilemma mit erheblichen Folgen. Das Statistische Jahrbuch gibt einen Einblick in den Lebens- und Arbeitsalltag der Deutschen: Im Durchschnitt arbeiten Erwerbstätige – egal ob Fernpendler oder Heimarbeiter – sieben Stunden am Tag und benötigen für ihren Arbeitsweg hin und zurück rund eine Stunde. Jedes Jahr verbringen die Deutschen also umgerechnet einen gesamten Jahresurlaub auf dem Weg zur Arbeit. Pendeln gehört zur Lebenswirklichkeit, weil wir häufig nicht am gleichen Ort wohnen wie wir arbeiten. Warum ist das so? Die Anziehungskraft der Städte ist groß. Vor allem junge Erwachsene schätzen das kulturelle Angebot, die breite Betreuungs- und Bildungslandschaft, vielfältige Freizeitmöglichkeiten, das internationale Flair, die

lukrativen Jobs. In Metropolregionen wie Rhein-Main oder dem Raum Stuttgart bieten innovative Unternehmen und zukunftsorientierte Organisationen beste Berufsperspektiven und ziehen damit qualifizierte und kreative Köpfe an. Die fortschreitende Urbanisierungswelle führt allerdings zu steigenden Wohnkosten und damit zu Verdrängungsprozessen aus den Stadtzentren in Richtung Umland. Die Folge sind immer weitere Wege und ein zunehmendes Verkehrsaufkommen. Doch auch auf dem Land gibt es attraktive Arbeitgeber. Nicht alle sitzen in urbanen Räumen. Das gilt für kleine Handwerksbetriebe, Arztpraxen und Gaststätten ebenso wie für exportstarke Weltmarktführer aus der Industrie. Sie sind ebenso auf qualifizierte Fachkräfte angewiesen wie die Unternehmen in den urbanen Zentren. Auszubildende und spezialisierte Arbeitskräfte sind abseits der Städte jedoch immer schwerer zu finden. Die Statistik zeigt bereits ein deutliches Stadt-Land-Gefälle bei den Bewerberzahlen. Mit anderen Worten: Auf dem Land können Ausbildungsplätze und offene Stellen teilweise nicht besetzt werden, weil es nicht genügend Bewerber in der Region gibt. In der Stadt fehlt es an Platz, um in der Nähe des Jobs zu wohnen.

Flexiblere Arbeitsorganisation kann helfen Die regionale Verteilung von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage passt also häufig nicht zusammen. Oder sie wird passend gemacht durch langes Pendeln – wodurch sich bestehende Ungleichgewichte in Bezug auf Wohnungsmarkt, Infrastruktur oder Kaufkraft vielfach verfestigen. Die Wahl des Wohn- und Arbeitsplatzes hat somit erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung in den Regionen. Der Dreiklang aus Wohnen – Pendeln – Arbeiten bedeutet bei wachsenden Distanzen eine erhebliche Mehrbelastung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die Flexibilität, für den Job umzuziehen, sich neue Qualifikationen anzueignen oder an unternehmensspezifische Arbeitsorganisation anzupassen, wird seit langem von Arbeitnehmern in Kauf genommen. Laut einer Umfrage der Online-Jobbörse Stepstone kann sich fast die Hälfte der befragten Beschäftigten vorstellen, für den Beruf den Wohnort zu wechseln. Aber flexible Lebensverhältnisse sind nicht für jeden möglich, zumal auch nicht jeder der Arbeit den gleichen Stellenwert beimisst. Deutlich geringer ist diese Bereitschaft beispielsweise unter Arbeitnehmern, die bereits eine Familie gegründet haben. Hier zeigen die Daten: Wer sich einmal mit Kind und Kegel für einen Wohnort (inkl. Immobilie) entschieden hat, bleibt in der Regel dort, zumindest bis die Kinder aus dem Haus sind. Die Suche nach einer neuen Schule für die Kinder, ein

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paralleler Jobwechsel beider Elternteile und der Umzug selbst sind mit ungleich größeren Schwierigkeiten verbunden als der Wohnortwechsel eines jungen, ungebundenen Erwachsenen. Aber auch Arbeitgeber müssen sich anpassen: Demografischer Wandel, Globalisierung, „Akademisierung“ und weniger karriereorientierte Lebensentwürfe der sogenannten Generationen Y und Z verschärfen den Wettbewerb am Arbeitsmarkt. Ein Stellenangebot allein reicht längst nicht mehr aus. Vielmehr sind attraktive Angebote gefordert, um qualifizierte Fachkräfte auch überregional zu gewinnen und zu binden. Das gilt vor allem für Arbeitgeber abseits der urbanen Räume. Jobtickets, Werkswohnungen, Teilzeit-Modelle oder umfassende Homeoffice-Formate auf Basis von Cloud-Technologien können Lösungsansätze sein.

Infrastruktur auf dem Land hinkt hinterher Gefordert ist auch die Politik. Denn bei aller Flexibilität braucht es eine ambitioniertere Raumentwicklung. Für innovative Arbeitsorganisationen müssen die Rahmenbedingungen stimmen: HomeofficeFormate und Cloud-Technologien benötigen eine leistungsfähige digitale Infrastruktur. Gerade in ländlichen Regionen geht der Breitbandausbau allerdings nur schleppend voran. Darüber hinaus bedarf es eines engmaschigen Verkehrsnetzes, damit Menschen zügig von ihrem Wohnort zum Arbeitsplatz kommen. Auch die Verkehrsinfrastruktur ist in den Metropolregionen deutlich besser aufgestellt als auf dem Land. Eine gute Verkehrsanbindung und smarte Mobilitätskonzepte könnten die täglichen Arbeitswege zwischen und in ländlichere Regionen begünstigen, allein es gibt sie oftmals nicht. Der Abbau des

Stadt-Land-Gefälles ist damit eine ständige gesellschaftspolitische Herausforderung. Denn eine attraktive und umfassende Daseinsversorgung, von der Bildung über Kultur bis hin zur Gesundheit, auch in der Fläche sicherzustellen, dürfte kaum möglich sein.

Was das langfristig bedeutet Wenn es junge Erwachsene in die Städte zieht, bleiben jene auf dem Land zurück, die weniger mobil sind. Dadurch drohen ländliche Regionen abseits der urbanen Räume langfristig abgehängt zu werden. Der demografische Wandel wird diese Regionen deutlich stärker treffen – was den Fachkräftemangel dort wiederum verstärkt. Bereits heute ist der Anteil der Senioren an der jeweiligen Gesamtbevölkerung auf dem Land höher als in den Großstädten. Im Jahr 2000 war das noch umgekehrt. Und das hat Rückwirkungen auf die finanziellen Handlungsspielräume in den Regionen. Auf der anderen Seite sind viele Städte auf den massiven Zuzug nicht vorbereitet. Die städtische Infrastruktur stößt an Grenzen, Wohnraum wird knapp und ist selbst für gut bezahlte Fachkräfte kaum noch bezahlbar. Langfristige Strategien sind also nötig, damit sowohl urbane als auch ländliche Räume lebenswert bleiben und den Menschen dauerhaft Beschäftigungsmöglichkeiten, bezahlbaren Wohnraum und eine ausreichende Infrastruktur bieten. Geht es schlussendlich doch nicht nur darum, dass Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage sich aufeinander zubewegen – sondern dadurch auch Stadt und Land, Jung und Alt, Arm und Reich. Die individuelle Wahl des Wohn- und Arbeitsortes ist dafür ein wichtiger Schlüssel – denn Pendeln an sich ist kein Selbstzweck. _

Heidrun Weinelt, München heidrun.weinelt@prognos.com Heidrun Weinelt ist Volkswirtin und seit 2015 bei Prognos. Sie arbeitet regelmäßig zu den Themen Handel, Arbeitsmarkt und Digitalisierung. Die Frage nach Arbeits- und Wohnort hat sie sich kürzlich selbst gestellt: Aus privaten Gründen zieht sie von München nach Berlin. Der Artikel entstand in Kooperation mit Prognos-Projektleiterin Dr. Claudia Funke, Fachfrau für Modelle und regionale Verflechtungen.

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Wohnungsmarkt | Fachbeitrag

Wohnungsnot ist kein Privatproblem Auf dem deutschen Wohnungsmarkt knirscht und knarzt es gewaltig: Wohnraum ist in vielen regionalen Wohnungsmärkten zum knappen Gut geworden. Miet- und Kaufpreise klettern in schwindelerregende Höhen. Der Druck auf die regionalen Wohnungsmärkte in Deutschland steigt. Politik und Wohnungsmarktakteure müssen deshalb eng zusammenarbeiten. Die regionalen Wohnungsmärkte sind im Ungleichgewicht: Auf der einen Seite wächst die Nachfrage dynamisch (z. B. in Ballungsräumen durch Zuzug von Fachkräften und Trends zu kleineren Haushalten), auf der anderen Seite entwickelt sich das Angebot nur träge. Bundesweit lässt sich für den Zeitraum 2011 bis 2015 eine Wohnungsbaulücke von 540.000 Wohnungen beziffern. Die anhaltend positive demografische Entwicklung in Deutschland (Wanderungssaldo von rund 900.000 Personen 2016 und 2017) lässt die Schere zwischen Angebot und Nachfrage aktuell weiter aufgehen. Die Lage auf den regionalen Wohnungsmärkten ist gerade auch durch die Binnenwanderung in Deutschland (rund 4,5 Mio. Umzüge 2016) zunehmend angespannt.

Dreiteilung der regionalen Wohnungsmärkte In Deutschland teilen sich die regionalen Wohnungsmärkte auf in (1) angespannte Wohnungsmärkte, (2) ausgeglichene Wohnungsmärkte und (3) schrumpfende Wohnungsmärkte. Angespannte Wohnungsmärkte sind durch eine steigende Wohnraumnachfrage und anhaltend hohen Zuzug geprägt: Sie sind nicht nur ein Phänomen in großen

Städten und Ballungsräumen. Auch in der Fläche Deutschlands gibt es regionale Märkte, die von Engpässen beim Angebot und steigenden Preisen gekennzeichnet sind. Gerade in wirtschaftsstarken ländlichen Räumen mit dynamischen Arbeitsmarktentwicklungen nimmt der Druck der Wohnraumversorgung deutlich zu. In diesen Regionen kommt dem kurzfristigen Wohnungsneubau eine entscheidende Rolle im Hinblick auf eine ausreichende Versorgung mit Wohnraum zu. Ausgeglichene Wohnungsmärkte dagegen weisen in der Regel eine eher stagnierende demografische Entwicklung auf. Die große Herausforderung für diese Regionen ist es, das Angebot an Wohnungen bedarfsgerecht und zugleich strategisch so zu erweitern, dass langfristig der Werterhalt der Immobilien gesichert ist und keine Überkapazitäten aufgebaut werden. Anders sieht es dort aus, wo das wirtschaftliche Wachstum gering ist und immer mehr Menschen und insbesondere junge Erwachsene abwandern. In diesen Regionen schrumpft der Wohnungsmarkt. Die Folge der rückläufigen Nachfrage nach Wohnraum: hohe Leerstände, der Verlust an Attraktivität und die Gefahr, dass Versorgungseinrichtungen und Infrastruktur nicht mehr gewährleistet sind.

Konsequenzen und Herausforderungen Die Ungleichgewichte in den Regionen mit angespanntem Wohnungsmarkt führen zu immer höheren Kauf- und Mietpreisen sowie zu steigenden Preisen für Bauland. Diese Kosten werden schon jetzt häufig nicht mehr durch das Einkommen und die Kaufkraft der Haushalte gedeckt. In derart angespannten Wohnungsmärkten sind die Menschen deshalb überproportional von einer steigenden Belastung durch Wohnkosten betroffen. Insbesondere in Großstädten wie Hamburg, München oder Berlin, in denen der Markt besonders stark angespannt ist (siehe Karte), sind die Wohnungsmärkte kaum noch aufnahmefähig. Die Folge: Ausweichbewegungen ins weniger angespannte Umland. Diese Ausweichbewegungen führen allerdings zu einer Entkoppelung von Wohnen und Arbeiten und letztlich zu einem Anstieg des Pendleraufkommens beziehungsweise größeren Pendlerdistanzen. Gerade Wohnungssuchende von außerhalb, die als neue Nachfrager an regionalen Wohnungsmärkten auftreten, müssen mit einem erhöhten Suchaufwand rechnen. Wohnraum wird damit zu einem entscheidenden Standortfaktor und gewinnt für die Deckung des Fachkräftebedarfs der regionalen Wirtschaft an Bedeutung.

Lesen Sie zum Thema auch die Studie zum Wohnungsbautag 2017 unter: link.prognos.com/wohnungsbautag2017 oder scannen Sie den QR-Code.

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Typisierung der regionalen Wohnungsmärkte in Deutschland Top-7-Städte sehr angespannte Märkte angespannte Märkte ausgeglichene Märkte Märkte mit stagnierender Nachfrage Märkte mit rückläufiger Nachfrage

Quelle: eigene Darstellung Prognos 2018, angelehnt an die Studie zum Wohnungsbautag 2017: Wohnraumbedarf in Deutschland und den regionalen Wohnungsmärkten (im Auftrag des Verbändebündnisses Wohnungsbau)

Die bundesweit bereits heute bestehende Wohnungsbaulücke zeigt, wie dringend das Angebot an Wohnraum erweitert werden muss. Bundes- und Landespolitiker müssen beschlossene Konzepte und Maßnahmen wie steuerliche Anreize oder befristete Sonderabschreibungen zügig umsetzen und mutig erweitern. Dringend nötig ist es auch, in Kooperation mit Bund und Ländern Bauvorschriften zu entrümpeln, an den aktuellen Bedarf anzupassen und zu vereinheitlichen. Wichtige Anreize, neuen Wohnraum durch Neubau zu schaffen, werden auch gegeben, wenn abgestimmte Maßnahmen umgesetzt werden, mit denen die Bau- und Baunebenkosten gesenkt werden können. Dazu gehören zum Beispiel geringere Gebühren und eine zeitgemäße Grundsteuer. Investoren und private Bauherren brauchen langfristige Planungssicherheit. Kurzfristige Maßnahmen und Programme der Bundes- und Landespolitik, die auf wenige Jahre angelegt sind, schaffen das nicht. So ist beispielsweise heute noch offen, wie sozialer Wohnraum nach 2020 gefördert wird. Einer der größten Hebel für den Wohnungsneubau liegt bei den Kommunen. Sie sind für die Ausweisung, Aktivierung und Bereitstellung von Bauland verantwortlich und sie können oftmals schneller aktiv werden als übergeordnete Stellen auf Landes- oder Bundesebene. Auch können Kommunen meist besser auf regionale Bedarfe und Herausforderungen reagieren und diese passgenau abdecken. Um das zu gewährleisten,

aber braucht es mehr Personal in den Bauämtern und beschleunigte Genehmigungsverfahren. Nicht nur in den Städten müssen potenzielle Flächen nachverdichtet werden. Auch in den Außenbereichen müssen zusätzliche Wohnbauflächen ausgewiesen werden, um das Angebot bedarfsorientiert zu erweitern. Dabei kommt es immer stärker auch auf eine interkommunale Zusammenarbeit an. In Verbindung mit der ÖPNV- und Verkehrspolitik sowie Versorgungseinrichtungen sollten günstigste und geeignete Standorte für die Erweiterung von Wohnraum ermittelt werden. Gegenüber einzeln agierenden Kommunen wird eine solche Teamarbeit einer stärkeren Zersiedlung im Außenbereich entgegenwirken. Flächen können so optimal genutzt werden. Neben Politikern, Verwaltungen und Wohnungsbauwirtschaft müssen jedoch auch Bürger sowie Grundstückseigentümer offen sein für Veränderungen. Spürbar entspannt werden können die engen Wohnungsmärkte nur, wenn sich Bauherren und Beteiligte auf den Neubau von Miet- und Geschosswohnungen einigen. Vorbehalte gegen Neubauprojekte und dichtere Bauformen auch vor der eigenen Haustür müssen überwunden werden. Nur so können die Wohnungsmärkte nennenswert entlastet und die Angebote dem Bedarf entsprechend erweitert werden. _

Marion Neumann, Stuttgart marion.neumann@prognos.com Die Analyse von regionalen Wohnungsmärkten ist ein Schwerpunkt der Arbeit von Marion Neumann. Die Prognos-Beraterin untersucht u. a. die regionalen Zusammenhänge von Wohnungsangebot bzw. -nachfrage auf der einen und wirtschaftlichen und demografischen Entwicklungen auf der anderen Seite.

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Pendler | Fachbeitrag

Pendler: moderne Nomaden Rund 20 Millionen Menschen pendeln in Deutschland zur Arbeit. Die moderne Straßen- und Schieneninfrastruktur erlaubt, dass immer mehr Menschen auf immer längeren Wegen unterwegs sind. Das verursacht Kosten für den Pendler, aber auch für die Allgemeinheit.

Gemeindegrenze. Tendenz steigend, wie das Beispiel Stuttgart zeigt. Dort stieg die Zahl der täglichen Ein- und Auspendler zwischen 2013 und 2016 um sieben beziehungsweise 13 Prozent. Bemerkenswert ist, dass die Stuttgarter Ein- und Auspendler sich nicht nur innerhalb Baden-Württembergs bewegen. Rund 14.000 Personen pendeln von Stuttgart in andere Bundesländer und etwa 25.000 Menschen fahren aus anderen Bundesländern zur Arbeit nach Stuttgart. Das entspricht den Einwohnerzahlen ganzer Kleinstädte, die in Bewegung sind.

Montagmorgen 6:00 Uhr. An keinem anderen Tag der Woche stehen um diese Zeit so viele Menschen am Freiburger Hauptbahnhof. Sie warten auf den ICE nach Norden. Man kennt sich vom Sehen, nickt sich zu. Manchmal wechselt man sogar ein paar Worte. Drei, vier Stunden später sitzen die Fernpendler in ihren Büros in Frankfurt, Köln oder Düsseldorf. Viele von ihnen werden erst am Freitag den Zug zurück nach Freiburg nehmen.

Obwohl die Menschen seit Jahrhunderten nicht mehr als 90 Minuten am Tag für den Weg zur Arbeit opfern, pendeln sie dank moderner Technologien über immer größere Distanzen: Wer früher zu Fuß in einem Umkreis von vier bis fünf Kilometern unterwegs war, bewegt sich heute in der gleichen Zeit in einem Radius von 60 bis 80 Kilometern. Verkehrswissenschaftler kennen dieses Phänomen als Marchetti-Konstante. Aber die Pendler bewegen sich nicht nur in gleicher Zeit über immer größere Distanzen, sie tun dies auch sternförmig in scheinbar festgelegten Bahnen rings um die großen Ballungszentren. Im Laufe der Zeit haben sich regelrechte Pendler-Rollbahnen ausgebildet. Zwischen Augsburg und München, zum Beispiel. Die dortigen Pendlerverflechtungen, die von Prognos-Experten ausgewertet wurden, zeigen, dass jeden Tag mehr als 9.000 Menschen allein auf dieser Strecke unterwegs sind – mit dem Pkw oder mit der Bahn. Eine weitere Rollbahn ist die Strecke zwischen Frankfurt und Köln. Durch die Neubaustrecke Köln–Rhein/Main ist die Zugreisezeit von früher zwei Stunden und 20 Minuten auf kaum mehr als eine Stunde zurückgegangen. Heute nutzen täglich mehr als 3.700 Ein- und Auspendler diese Verbindung.

Montagmorgen 8:00 Uhr. Die Straßen in den Städten und Ballungsgebieten füllen sich. Es ist Rushhour. Die Pkw – meist mit nur einer Person besetzt – stehen im Stau vor den Ampeln und fahren im zähfließenden Strom der Tagespendler durch die Innenstädte. Am Abend wiederholt sich das Bild. Pendeln, ob mit dem Auto oder dem öffentlichen Fernund Nahverkehr, gehört längst zum Alltag vieler Menschen. Die Wege, die zurückzulegen sind, werden dabei immer länger. Mehr Pendler, längere Strecken, gleiches Zeitbudget. 2017 pendelten in Deutschland fast 20 Millionen Menschen zwischen Wohn- und Arbeitsort hin und her und überschritten dabei mindestens eine

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Die genannten Zahlen haben Konsequenzen – individuell und strukturell: Unzuverlässige, überfüllte Bahnverbindungen und staugefährdete Straßen verursachen Stress und lassen für den einzelnen Pendler den Traum vom eigenen Haus im Grünen rasch verblassen – und den Wunsch aufkommen, doch wieder näher an den Arbeitsplatz zu ziehen. Doch in den Großstädten herrscht Wohnraummangel; Mieten und Immobilien sind teuer. Dennoch kann sich der Umzug für den Einzelnen lohnen. Denn den höheren Wohnkosten steht in den Städten meist ein attraktiver und relativ günstiger öffentlicher Personennahverkehr gegenüber. Im Idealfall kann man sogar auf das eigene Auto verzichten und für die wenigen längeren Reisen im Jahr Carsharingoder Mietwagen-Angebote nutzen. In jedem Fall ist ein Zweitwagen nicht mehr nötig, für den man in der Stadt sowieso keinen Parkplatz findet. Außerdem locken das Freizeitangebot und die guten Einkaufsmöglichkeiten. Stadt oder Land? Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Für die Gesellschaft hat die Trennung von Arbeit und Wohnen allerdings eine Reihe von Nachteilen im Hinblick auf beispielsweise die

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Umwelt und die Siedlungsstruktur. Fahrten mit dem Pkw verursachen zum Beispiel einen hohen CO2-Ausstoß und andere umweltschädigende Abgas-Emissionen. Laut Statistiken beträgt die durchschnittliche einfache Entfernung aller Pendelwege von und zur Arbeit ungefähr 17 Kilometer, das entspricht bei ca. 220 Arbeitstagen im Jahr mehr als 7.000 Kilometern und damit pro Fahrzeug einem Ausstoß von fast einer Tonne CO2 jährlich. Derartige Probleme werden vor allem durch den Individualverkehr verursacht. Daher ist die Bereitstellung eines attraktiven ÖPNV auf dem Land zu fördern, damit zumindest eine Alternative zum Pendeln mit dem Pkw besteht. Dasselbe gilt für einen attraktiven Bahnverkehr zwischen den Metropolen, vor allem mit hoher Kapazität zu solchen Zeiten, in denen die Pendler unterwegs sind. Attraktivität heißt auch: günstige und einfache Tarife. Es ist nur schwer einzusehen, warum eine Jahreskarte der DB beispielsweise zwischen Freiburg und Basel (70 km) 2.800 Euro kostet, eine Bahncard 100 für das gesamte Netz in Deutschland aber knapp 4.300 Euro. Trotz dieses auf den ersten Blick hohen Preises, wäre in den allermeisten Fällen die Bahncard 100 sogar günstiger als der eigene Pkw – zumindest dann, wenn bei der Rechnung die echten Kosten eines Pkw berücksichtigt werden würden.

Durch die Pendlerbewegungen leidet aber auch die Siedlungsstruktur: Städte dehnen sich wegen der Nachfrage nach Wohnraum in das Umland aus, was wiederum Bedarfe an neuen und besseren Verkehrswegen generiert. Um manche Städte haben sich reine „Schlafstädte“ entwickelt, die häufig keinerlei Infrastruktur für den täglichen Einkauf bieten, da der Einkauf nach der Arbeit in der Stadt erledigt wird. Es bedarf neuer Konzepte, um Schlafstädte zu attraktiven Wohn- und Lebensorten zu machen. Die Förderung von kleineren Gewerbebetrieben könnten so manch einem Pendler vielleicht sogar die Chance geben, wieder dort zu arbeiten, wo die Familie wohnt. Dennoch bleibt die Frage nach dem Wohn- und Arbeitsort eine individuelle Entscheidung. Bedeuten ein neuer Arbeitsplatz oder das Haus im Grünen aber regelmäßige Pendlerfahrten mit dem eigenen Pkw, wird die individuelle Entscheidung gesellschaftlich relevant. Denn wo mit dem Pkw gependelt wird, entstehen Kosten für die Allgemeinheit. Die müssen berücksichtigt werden – von Politikern und anderen Entscheidern vor Ort und in der Region. Der Einzelne kann das kaum leisten und hat – mangels Alternativen – auch oft keine andere Wahl, als sich mit Hunderten anderen jeden Morgen auf die Straße zu begeben. _

Hans-Paul Kienzler, Düsseldorf hans-paul.kienzler@prognos.com Hans-Paul Kienzler ist Leiter des Bereichs Mobilität & Transport der Prognos AG mit Sitz in Düsseldorf und beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit der Mobilität von Personen und Gütern. Er pendelt jede Woche von Freiburg nach Düsseldorf.

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Wohnen | Interview

„Die Mehrheit ist für sozialen Wohnungsbau und Mietpreisbremsen“ Kaum jemand kennt die Deutschen so gut wie sie, denn seit vielen Jahren bittet sie die Menschen um ihre Meinung – die Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, Prof. Dr. Renate Köcher. Im Interview mit der trendletter-Redaktion beschreibt sie, wie sich gesellschaftliche Veränderungen auf den Wohnungsmarkt auswirken und rät zu smarten Strategien auf städtischen und ländlichen Wohnungsmärkten. In der Vergangenheit standen bei den Deutschen die Themen Arbeit und Gesundheit ganz oben auf der Liste der Dringlichkeiten. Glaubt man den Medien, sorgen sich die Menschen heute zunehmend um Mieten und Wohnraum. Welchen Stellenwert hat dieses Thema heute im Vergleich zu früher? Es steht nicht an der Spitze des Sorgenkatalogs, hat aber beträchtlich an Bedeutung gewonnen. Die Mehrheit der Bevölkerung macht sich mittlerweile Sorgen, dass es zu wenig bezahlbaren Wohnraum gibt, vor vier Jahren waren es erst 35 Prozent. Wie dringend ist die Sorge um die passende Wohnung für einzelne Bevölkerungsgruppen? Man muss vor allem sehen, dass Wohnungsnot nicht flächendeckend ein Problem ist. In Westdeutschland ist die Situation wesentlich schwieriger als in Ostdeutschland, wo viele Kommunen sogar mit einem hohen Leerstand kämpfen. Und in den großen Städten ist der Wohnungsmangel ein weitaus größeres Problem als auf dem Land. So ziehen in den Großstädten zwei Drittel der Einwohner eine kritische Bilanz der Situation auf dem Wohnungsmarkt, auf dem Land nur gut jeder Dritte. Wer ist denn von der Wohnungsnot in den Städten besonders betroffen? Die Preisentwicklung in den Städten macht es vor allem für schwächere Einkommensschichten immer schwieriger, bezahlbare Wohnungen zu finden. Dazu kommt, dass die Entwicklung der Mieten und Nebenkosten auch die immer mehr belastet, die eine Wohnung haben. Ein eigenes Haus, eine Wohnung mit je einem Zimmer für jedes Kind, die perfekte Lage und natürlich ein Balkon – die Ansprüche der Menschen an ihr Zuhause sind hoch. Haben sich die Ansprüche angesichts der Wohnungsnot verändert? In erster Linie sind die

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Ansprüche an das Wohnumfeld gestiegen. Arbeitsplätze in der näheren Region, gute Kinderbetreuungsangebote, gute Schulen, ein großes kulturelles Angebot und besonders auch eine zufriedenstellende ärztliche Versorgung werden den Menschen immer wichtiger. Und hier fällt die Bilanz in Stadt und Land immer mehr auseinander. Das gilt sowohl für medizinische Versorgung wie für das kulturelle Angebot, aber auch für Einkaufsmöglichkeiten, die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr und die Verfügbarkeit von schnellem Internet. Die Anziehungskraft der Ballungszentren ist gewachsen, während viele ländliche Regionen stagnieren oder Wegzugsgebiete geworden sind. Aber haben sich nicht auch die Ansprüche an die Qualität und Größe der Wohnungen verändert? Durchaus, auch angetrieben von den langfristigen strukturellen Veränderungen der Gesellschaft: immer mehr Singlehaushalte, der steigende Anteil Älterer, in Teilen der Mittelund Oberschicht steigender Wohlstand und auch die Auseinanderentwicklung der Infrastruktur von Stadt und Land. Es ist keineswegs so, dass immer mehr mit ihrer derzeitigen Wohnsituation unzufrieden sind. Knapp 90 Prozent ziehen eine positive Bilanz, auch gut 80 Prozent in den großen Städten. Die Größe der Wohnung wird häufiger moniert: Jeder Vierte würde sich hier gerne verändern, wobei sich die junge und mittlere Generation primär mehr Wohnraum wünschen, während die 60-Jährigen und Älteren eher auf eine Verkleinerung aus sind.

„ Jeder Vierte würde sich eigentlich gerne vergrößern oder verkleinern.“

In vielen europäischen Ländern und den USA wird schnell mal ein Haus gekauft und auch gleich wieder verkauft. In Deutschland wird das eigene Haus gehegt und gepflegt und schließlich an die Kinder vererbt. Sind die Menschen hierzulande zu unflexibel? Wir haben eine andere Kultur als die USA, in vieler Hinsicht. So ist die Mobilität in den USA wesentlich größer, es wird wesentlich häufiger für einen Arbeitsplatz der Wohnort gewechselt, während die Bindung an die Heimatregion in Deutschland eine große Rolle spielt. Aber wenn der regionale Arbeitsmarkt in einer schlechten Verfassung ist, nimmt auch in Deutschland die Mobilität rasch zu. Ostdeutschland musste ja nach der Wende einen enormen Aderlass verkraften, den Wegzug von Millionen insbesondere jüngerer Menschen. In solchen Situationen ist die Flexibilität außerordentlich groß, und wir haben ja durchaus beträchtliche Wanderungsbewegungen innerhalb Deutschlands mit Zuzugs- und Wegzugsregionen.

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„ Wohneigentum wird von der Bevölkerung als wichtige Säule der Alterssicherung gesehen.“

Dennoch hängen wir sehr an unserem Wohneigentum. Warum ist das so? Wohneigentum wird von der Bevölkerung als wichtige Säule der Alterssicherung gesehen. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist auch durchaus überzeugt, dass es sich lohnt, in Wohneigentum zu investieren. An sich ist der Anteil der Immobilieneigentümer in Deutschland ja im Vergleich zu vielen anderen Ländern eher niedrig.

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Was können, was müssen Entscheider aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft tun, um die angespannte Wohnungssituation in Deutschland zu entschärfen? Noch einmal: Die Wohnungssituation ist nicht flächendeckend angespannt, sondern in bestimmten Regionen, insbesondere in den Ballungsgebieten. Es müssen Strategien für beide Problemfelder entwickelt werden: Zum einen für die Städte und Regionen mit einer angespannten Wohnungssituation, zum anderen auch für die Regionen, die von einem anhaltenden Wegzug geprägt sind und entsprechend auch von einer Entwertung der Immobilienvermögen.

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Welche Themen sind aus Ihrer Sicht dabei besonders entscheidend? In den größeren Städten und Zuzugsregionen kommt es vor allen Dingen darauf an, den Bau neuer Wohnungen zu beschleunigen, und auch dafür zu sorgen, dass sich auch sozial Schwächere leisten können, in Städten zu wohnen. In den Wegzugsregionen geht es dagegen vor allem um die Frage, wie man eine intakte Infrastruktur aufrechterhalten kann, die die Grundbedürfnisse zufriedenstellend abdeckt, wie ausreichend Schulen, eine zufriedenstellende medizinische Versorgung, Verkehrsanbindung, schnelles Internet etc. Was erwarten die Menschen konkret von der Politik? Vor allem, dass der soziale Wohnungsbau wieder forciert wird, aber auch, dass es den mittleren und schwächeren sozialen Schichten erleichtert wird, Wohneigentum zu erwerben, sei es durch Zuschüsse oder Steuererleichterung. Auch Mietpreisbremsen hält die Mehrheit für ein grundsätzlich richtiges Instrument.

„ Immer mehr Menschen sehen sich als

Wohlstandsgewinner und die Abstiegsängste sind in den letzten Jahren zurückgegangen.“

Sie fragen in Ihrem Institut die Menschen seit vielen Jahren nach ihren Sorgen, Nöten und Wünschen. Welches Ergebnis einer Befragung hat Sie persönlich zuletzt gefreut? Dass sich immer mehr Menschen als Wohlstandsgewinner sehen und die Abstiegsängste in den letzten Jahren zurückgegangen sind. Mittlerweile ziehen in der mittleren Generation zwischen 30 und 60 Jahren 42 Prozent die Bilanz, dass ihre wirtschaftliche Lage positiver ist als vor fünf Jahren. Der Anteil, der ausgeprägte Abstiegsängste hat, ist in den letzten vier Jahren von 15 auf elf Prozent zurückgegangen. Generell ist es eigentlich so, dass der Umgang mit repräsentativen Bevölkerungsumfragen erfreulicher und beruhigender ist als die Beobachtungen der öffentlichen Debatten. _

Professor Dr. Renate Köcher wurde 1952 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Publizistik in Mainz und promovierte 1985 in München zum Dr. rer. pol. zur „Berufsethik von deutschen und britischen Journalisten“. 1977 wurde Renate Köcher wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Demoskopie Allensbach. Seit 1988 leitet sie die Geschicke des Instituts als Geschäftsführerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Reform- und Innovationsbereitschaft der Bevölkerung, Akzeptanz neuer Technologien, politische Analysen und Wertewandel. Im Jahr 2003 wurde Renate Köcher der Professorentitel verliehen. Neben zahlreichen Gastbeiträgen in Publikationen aus Wirtschaft und Gesellschaft schreibt sie regelmäßig für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und ist unter anderem in mehreren Aufsichtsräten renommierter Großunternehmen tätig.

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Grundstückskonzepte | Eine gute Idee

Eine gute Idee

Vergabe mit Verantwortung Grundstückskosten werden in angespannten Wohnungsmärkten zu einem erheblichen Engpass für den Wohnungsbau. Fehlende bebaubare Grundstücke in Verbindung mit der Zurückhaltung von Bodenspekulanten treiben die Grundstückspreise in die Höhe. Weil Grundstückspreise mit einem Anteil von 20 bis 40 Prozent an den Gesamtkosten eines Neubaus zu Buche schlagen, hat das deutliche Auswirkungen auf Kauf- und Mietpreise. Warum also greifen Städte und Kommunen nicht mit einer aktiven und direkten Baulandpolitik preisdämpfend ein? Sie könnten etwa bei Grundstücksverkäufen verstärkt auf Konzeptvergaben setzen. Dabei sind definierte Zuschlagskriterien (u. a. Nutzungsmischung, Quote geförderter Wohnraum, Zielgruppen) beim Verkauf mitentscheidend, sodass Grundstücke nicht nach dem Höchstpreis vergeben werden. Alternativ zum klassischen Verkauf können Grundstücke im Eigentum von Kommunen, Kirchen oder Dritten auch über Erbbaurecht dem Markt zugeführt werden: eine Win-Win-Situation sowohl für den Erbpachtgeber (Erhalt von Eigentum und laufende Einnahmen) als auch für den Nutzer (Reduktion der Kauf- und Investitionskosten). So können Städte und Kommunen bezahlbaren Wohnraum entwickeln und diesen für breite Bevölkerungs- und Einkommensgruppen gezielt aktivieren. _

Dr. Olaf Arndt, Bremen olaf.arndt@prognos.com Dr. Olaf Arndt leitet den Bereich Stadt & Region. Er ist Experte auf dem Gebiet der Standortund Regionalentwicklung. Ein strategisches Flächenmanagement erhält dabei ein immer größeres Gewicht.

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Alltagsfakten I Ausgerechnet

19,27 Mio. Um rund

Beschäftigte* in Deutschland sind Pendler. Das bedeutet, ihr Wohnort und ihr Arbeitsort sind nicht identisch. Bezogen auf die Gesamtbeschäftigten in Deutschland im Jahr 2017 machen Pendler einen Anteil von 60 % aus.

21,5 %

* SVP

stiegen zwischen 2011 und 2016 die Mietpreise. Im Vergleich zum Haushaltsnettoeinkommen (Anstieg um 10,9 %) sind Mietpreise damit im Durchschnitt rund doppelt so stark angestiegen und Kaufpreise sogar etwa dreimal so stark (Anstieg um 33,4 %).

2016 pendelten

238.687

Menschen nach Stuttgart ein und 87.074 aus.

3 Prozent beträgt der Anteil preisgebundener Wohnungen am Wohnungsbestand. Seit 2002 ist die Zahl der preisgebundenen Wohnungen in Deutschland von 2,47 Mio. um 48 % auf 1,28 Mio. Wohnungen gesunken. Bis 2020 werden voraussichtlich weitere knapp 160.000 Wohnungen aus der Preisbindung herausfallen, was einem Rückgang um weitere 12 % entspricht.

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90 Minuten Das ist die Zeit, die Menschen am Tag durchschnittlich unterwegs sind – und das bereits seit der Jungsteinzeit. Beschrieben hat dieses konstante Reisezeitbudget erstmals der Physiker Cesare Marchetti (1994). Experten nennen es daher auch Marchetti-Konstante.

1.450.000 neue Haushalte gibt es seit 2011, aber nur 615.000 neue Wohnungen. Im Vergleich zur Wohnungsnachfrage ist die Zahl der Wohnungen in Deutschland langsamer gewachsen. Die Folge ist eine erhebliche Verknappung des Wohnraumangebots insbesondere in Regionen mit hohem Zuzug.

17 km hin und 17 km zurück: Das sind die durchschnittlichen Distanzen, die ein Pendler täglich zurücklegt. Tendenz steigend. Im Jahr 2000 legten Pendler im Durchschnitt noch 14,6 km zwischen Wohn- und Arbeitsstätte zurück.

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Werkswohnungen | Fachbeitrag

Suche Mitarbeiter – biete 3 Zi-Kü-Bad Der Mangel an Wohnungen und Fachkräften gibt einer alten Idee neuen Aufschwung: Um Fachkräfte zu gewinnen, unterstützen Arbeitgeber immer öfter bei der Wohnungssuche. Schon ist die Rede von einer Renaissance der Werkswohnungen. Wer an Werkswohnungen denkt, denkt an Siedlungen, die während der Industrialisierung zum Beispiel im Ruhrgebiet entstanden. Oder an die Wohnungen großer Konzerne wie Krupp, Thyssen oder Bayer, die nach dem Zweiten Weltkrieg dazu beitrugen, die Wohnungsnot während der Zeit des Wiederaufbaus zu bekämpfen. Und heute? Wieder ist der Wohnungsmarkt angespannt. Gleichzeitig mangelt es an Fachkräften – kein Wunder, dass die Idee der Werkswohnungen erneut aufflammt und zum Standortvorteil bei der Suche nach qualifizierten Fachkräften avanciert. Denn ein angemessenes Gehalt reicht längst nicht mehr aus, um Fachkräfte zu gewinnen. Tatsächlich können Mitarbeiterwohnungen oder die Vermittlung von Wohnraum auf dem regionalen Wohnungsmarkt im Rennen um die Fachkräfte den entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Unternehmen sichern. Auch kommunale Betriebe und Verwaltungen profitieren von diesem Konzept. Dabei sind flexible oder temporäre Lösungen in Form von Anmietungen oder Belegungsrechten durch das Unternehmen vor allem für die ersten Beschäftigungsmonate eines neuen Mitarbeiters beliebt. Werkswohnungen haben viele Vorteile: Der Arbeitgeber hat bessere Chancen, qualifizierte Mitarbeiter zu rekrutieren. Der Mitarbeiter hat durch die gute Lage oft einen geringeren Mobilitätsaufwand, spart also Zeit und Geld. Und auch die Region oder Kommune profitiert. So wird nicht nur der Verkehr entlastet. Insbesondere dann, wenn Unternehmen selbst Wohngebäude auf firmeneigenem Gelände errichten und damit Brachflächen bebauen, die dem Wohnungsmarkt normalerweise nicht zur Verfügung gestanden hätten, kann auch der lokale Wohnungsmarkt insgesamt entlastet werden. Zudem werden Werkswohnungen in der Regel nicht renditeorientiert und damit günstiger angeboten, sodass die erhobenen Mieten dem Anstieg des örtlichen Mietpreisni-

veaus entgegenwirken können. Dass ein solches Modell aufgrund der zurzeit niedrigen Bauzinsen auch für kleine und mittlere Unternehmen funktionieren kann, zeigen Beispiele von Bäckereien in Memmingen und Berlin oder von Reinigungsfirmen im Großraum München. Damit das Modell der Werkswohnung eine Renaissance erfährt, müssen Hürden für den Bau und Betrieb von Mitarbeiterwohnungen abgebaut werden. Denkbar ist ein Freibetrag für den geldwerten Vorteil aus einer vergünstigten Miete oder die Möglichkeit von Sonderabschreibungen für den bauenden Arbeitgeber. Auch vereinfachte Baugenehmigungen auf Firmengeländen könnten entscheidende Anreize für Unternehmen und Wohnungswirtschaft sein. (RegioKontext GmbH 2016, 2018: „Wirtschaft macht Wohnen“) Aber Vorsicht: Positive Effekte für die regionalen Wohnungsmärkte entstehen nur, wenn Unternehmen das regionale Wohnungsangebot erweitern. Mieten Unternehmen hingegen auf dem freien Wohnungsmarkt bestehenden Wohnraum auf Vorrat an, um ihn neuen Mitarbeitern zeitweise zur Verfügung zu stellen, kann der Trend zur Mitarbeiterwohnung sogar den Druck auf dem Wohnungsmarkt erhöhen. Städte und Gemeinden sollten Unternehmen deshalb vor allem bei Neubauvorhaben unterstützen. _

Leander Schulte, Düsseldorf leander.schulte@prognos.com Leander Schulte arbeitet bei Prognos als Berater im Bereich Region & Standort. Seine Schwerpunkte sind Standort- und Wohnungsmarktanalysen sowie Strukturwandelprozesse und Regionalentwicklung.

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Deutschland-Studie Thema | Werkstattbericht

Werkstattbericht

Rankings gibt es viele, aber nur eine Deutschland-Studie 24.000 Datenpunkte, 53 Indikatoren und mehr als 365 Tage Arbeitszeit: Prognos hat in einem intensiven Forschungsprozess die bisher umfassendste Studie über Deutschlands Regionen erstellt. Der Auftraggeber: Das Zweite Deutsche Fernsehen. Die Frage: Wo lebt es sich am besten? Die Antwort: Ein Ranking aller deutschen Kreise und Städte und damit ein messbarer, möglichst objektiver Vergleich der Lebensqualität in ganz Deutschland. Nach welchen Kriterien aber bewertet man die äußeren Rahmenbedingungen von Lebensqualität? Noch dazu flächendeckend und vergleichbar, ohne den Einfluss persönlicher Präferenzen und Stimmungen? Um diese Herausforderung zu meistern, mussten Statistiken und Indikatoren her, die für alle 401 Kreise und Städte mit der gleichen Aussagekraft vorliegen – qualitativ hochwertig, eindeutig und verständlich zugleich. Richtschnur für die Auswahl der Kriterien waren die Grundbedürfnisse der Menschen: Gesundheit, Wohnen, Versorgung, Arbeit, Sicherheit, Freizeit und Erholung. Subjektive Einflüsse – etwa Stimmungen oder Meinungen – wurden bewusst ausgeklammert. Nur so konnten sich die Prognos-Experten ein möglichst objektives Bild von den äußeren Bedingungen für ein gutes Leben machen. Als Zwischenergebnis ergab sich eine lange Liste von über 100 möglichen Indikatoren. Von dieser Liste wurden schließlich 53 sozioökonomische Indikatoren ausgewählt, die für das Ranking der Deutschland-Studie verwendet wurden. Die gewählten Indikatoren waren für alle 401 kreisfreien Städte gleichermaßen vorhanden und stammten aus zuverlässigen Quellen wie dem Ärzteregister, der polizeilichen Die Studie ist crossmedial aufbereitet unter diesen Links einsehbar: Klickbare Deutschlandkarte: www.deutschland-studie.zdf.de Hintergründe und Methodik: www.deutschlandstudie.prognos.com/ Film zur Studie: www.zdf.de/dokumentation/zdfzeit/zdfzeitwo-lebt-es-sich-am-besten-102.html

Kriminalstatistik, dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft oder der Bundesagentur für Arbeit. Sie lieferten Antworten zu den drei Themenbereiche der Studie: ■■

„Arbeit & Wohnen“ mit Indikatoren z. B. zu Wohnen und Einkommen

■■

„Freizeit & Natur“ mit Indikatoren z. B. zu Restaurants und Sonnenstunden

■■

„Gesundheit & Sicherheit“ mit Indikatoren z. B. zu Einbrüchen, Verkehrstoten und Ärzten

Die Deutschland-Studie reiht sich in eine lange Tradition scheinbar ähnlicher Untersuchungen ein – und liefert gleichzeitig Neues. Denn Rankings gibt es viele. Doch bisherige Studien bewegen sich oft auf internationaler Ebene oder vergleichen nur Metropolen. Andere Studien basieren auf Befragungen oder Dialogprozessen, also den subjektiven Bewertungen von Lebensqualität. Eine Studie, die die äußeren Lebensumstände der Menschen in allen 401 kreisfreien Städten rein auf Basis objektiver Daten und Fakten bewertet, gab es bisher nicht. Das Grundgesetz sowie der aktuelle Koalitionsvertrag fordern die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland. Die Beurteilung von Gleichwertigkeit kann nur mit Messlatten gelingen. Die Deutschland-Studie bietet eine solche Messlatte. Damit kann die Studie eine sinnvolle Ergänzung in der Debatte um Lebensverhältnisse in Deutschland sein. Sie ist dabei nicht besser oder schlechter als andere, etwa demoskopische Ansätze. Sie ergänzt das Bild um eine weitere Perspektive, gibt Orientierung und ist für jedermann transparent. _

Felizitas Janzen, Berlin felizitas.janzen@prognos.com Felizitas Janzen ist Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin und leitet die PrognosUnternehmenskommunikation. Bei der Deutschland-Studie verantwortete sie die externe Kommunikation – in engem Austausch mit dem Auftraggeber und Prognos-Studienleiter Peter Kaiser. Felizitas Janzen lebt in Berlin (Rang 189), wo es sich aus ihrer Sicht gut leben lässt.

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Smart City | Fachbeitrag

Smart: neue Technologien für Stadt und Land Die Digitalisierung unserer Städte und Regionen schreitet voran. Können durch smarte Vernetzung Disparitäten und Konflikte zwischen Stadt und Land aufgelöst werden?

■■ Intelligente Ampelsysteme verbessern den Verkehrsfluss. ■■ Sensoren in Abfallbehältern ermöglichen bedarfsgerechte Touren der

Entsorgungsbetriebe. ■■ Beleuchtung,

Der Begriff Smart City wurde um die Jahrtausendwende geprägt. Im Kern beschreibt er Ansätze, die klassischen Abläufe in einer Stadt mithilfe der Vernetzung von Daten und digitaler Technologie zu optimieren. Im Zuge der Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche hat die Diskussion um den Begriff in den letzten Jahren erneut an Dynamik gewonnen – er wird mittlerweile auf größere Gebietseinheiten wie Regionen oder Staaten gemünzt. Zahlreiche Städte haben sich ihre digitale Transformation auf die Fahnen geschrieben, der Einsatz smarter Technologien beschränkt sich bislang jedoch zumeist auf einzelne Handlungsbereiche: auf das Energiemanagement etwa oder auf die Verkehrssteuerung und digitale Verwaltungsabläufe. Eine Vernetzung der einzelnen Bereiche zu einem reagiblen Gesamtsystem findet bislang kaum statt, obwohl nicht nur die notwendigen Sensoren, sondern auch Server und Plattformen zur Datenverwaltung und -auswertung längst am Markt verfügbar sind. Der Weg in die Smart City scheitert insofern weniger an fehlenden technischen Lösungen denn am politischen Willen zur Umsetzung. In der Smart-City-Charta von 2017 (BBSR und BMUB) werden die Ziele formuliert, die bei der Digitalisierung von Siedlungen verfolgt werden sollten. Im Wesentlichen sollen Abläufe optimiert, Ressourcen geschont, Infrastrukturen resilienter und politische Prozesse inklusiver und transparenter gestaltet werden. Es handelt sich also um traditionelle Leitbilder einer nachhaltigen Stadtentwicklung, die nun mithilfe neuer technologischer Möglichkeiten verfolgt werden soll. Ausgewählte Beispiele zeigen die Potenziale: ■■ Ein

sensorgesteuertes Parkraum-Management in Echtzeit verringert den Verkehr durch Parksuchverkehr und mindert so Emissionen und Staus.

■■ Der

öffentliche Nahverkehr kann anhand von Echtzeitdaten so optimiert werden, dass er sich nach den tatsächlichen Bedarfen der Bürger richtet.

die auf die Anwesenheit von Fahrzeugen oder Menschen reagiert, spart Energie.

■■ Webportale

informieren Bürger individuell über Unterstützungsleistungen, die ihnen zustehen.

■■ Telemedizinische

Anwendungen oder die digitale Erfassung von ansteckenden Krankheiten können die medizinische Versorgung spürbar verbessern.

Die Beispiele zeigen die vielfältigen Möglichkeiten wie digitale Technologien in den verschiedensten Bereichen einen Beitrag zu einer lebenswerteren Stadt leisten können. Das gilt besonders dann, wenn vormals isolierte Bereiche (z. B. Energie und Verkehr) miteinander vernetzt und optimal gesteuert werden (etwa durch variables Laden von E-Fahrzeugen je nach Netzbelastung).

Lösen Smart Citys das Stadt-Land-Gefälle auf oder verstärken sie es sogar? Die geschilderten Ansätze bieten erhebliches Potenzial, um das Leben in den Städten effizienter zu machen. Sind die Kernstädte also die alleinigen Profiteure der Digitalisierung? Verstärken Smart Citys damit unweigerlich den bereits beobachtbaren Urbanisierungstrend? Nicht unbedingt! Auch ländlichere Regionen können von der Digitalisierung tiefgreifend profitieren. Smarte Verkehrssysteme können Pendler bei ihrem täglichen Arbeitsweg vom Umland in die Stadt entlasten und ein ökologischeres Verkehrsverhalten anstoßen. In diesem Fall profitieren Stadt und Land: Die Bevölkerung im Umland kann dank optimierter Pendelverbindungen ihrem Wohnort treu bleiben, während in der Stadt der Wohnungsmarkt und das Verkehrssystem entlastet werden. Smarte Angebote können in ländlicheren Regionen auch Teile der Daseinsvorsorge aufwerten und das Umland dadurch unabhängiger von der Kernstadt machen. Wer im Homeoffice arbeitet oder einen

Lesen Sie dazu die aktuelle Studie „Gesellschaft 5.0“ von Prognos und Capgemini: link.prognos.com/Gesellschaft5.0 oder scannen Sie den QR-Code.

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Coworking-Space nahe seinem Wohnort nutzt, muss nicht mehr jeden Tag in die Stadt pendeln, um zu arbeiten. Kranke oder auch ältere Menschen profitieren von der Telemedizin oder von smarten Systemen – sogenannten Ambient-Assisted-Living-Lösungen –, die sie im Alltag in der eigenen Wohnung unterstützen. Darüber hinaus können der Online-Handel oder die intelligente Verbindung von Einzelhandel und öffentlichem wie privatem Verkehr helfen, Menschen außerhalb der Städte adäquat zu versorgen. So entfallen Wege in die Stadt und die urbane Infrastruktur wird entlastet. Zudem verringert es die Notwendigkeit, sich bevorzugt in der Nähe physischer Infrastrukturen (Arbeitsplätze, Krankenhäuser etc.) anzusiedeln. Smart-City-Ansätze nutzen also längst nicht nur der Kernstadt, sondern werten auch das Umland auf, wenn sie in größerem Kontext als Smart Region gedacht werden. Zentrale Voraussetzung ist und bleibt allerdings eine flächendeckende Verfügbarkeit leistungsfähiger Internetverbindungen. Naturgemäß verfügen Städte über bessere Möglichkeiten zur Digitalisierung als das Umland (Finanzen, Expertise, Infrastruktur). Die vorherigen Ausführungen haben aber gezeigt, dass Städte durchaus ein Interesse daran haben sollten, ihr Umland diesbezüglich zu unterstützen.

Was ist zu tun? Klar ist: Ohne die strukturellen Voraussetzungen geht es nicht. Doch eine Kommune ist mehr als nur „Einkäufer“ ihrer digitalen Infrastruktur. Und Smart City ist mehr als nur eine Investition in eine neue Technologie. Smart City ist ein politischer und gesellschaftlicher Prozess, der die Kommunen vor neue Aufgaben stellt. Das heißt: Die Kommunen müssen auch alle Beteiligten ihrer Region intensiv einbinden und auf ein gemeinsames Leitbild einschwören. Erfolgreiche Beispiele zeigen, dass dies gelingt, wenn darüber hinaus die Zuständigkeiten klar definiert sind: Eine übergeordnete Stabstelle oder ein Chief Digital Officer (CDO), der die Transformation begleitet, helfen, eine ganzheitliche Vision voranzutreiben und die Fachressorts in der Verwaltung zu koordinieren. Aber nicht nur die Vertreter aus Politik und Wirtschaft, auch die Bürger müssen in den Prozess eingebunden werden. Nur so kann die Idee der Smart City mit Leben gefüllt werden. Kernstädte und ihr Umland müssen dabei ein gemeinsames Leitbild entwickeln und sich auf die finanzielle und technische Unterstützung durch Bund und Länder verlassen können. Dann können aus Einzelprojekten nicht nur „echte“ Smart Citys entstehen, sondern es wird der Weg geebnet, um auch die umliegenden Regionen und letztlich das ganze Land „smart“ zu machen. _

Sven Altenburg, Düsseldorf sven.altenburg@prognos.com Sven Altenburg ist bei Prognos Experte für Zukunftstechnologien im Verkehr und deren Einbindung in die Siedlungspolitik. Mit Hamburg, Düsseldorf und Berlin ist er in gleich drei deutschen Smart-CityVorreitern regelmäßig unterwegs. Mit großem Interesse verfolgt er dort die Debatten um die gesellschaftlichen Effekte der urbanen Digitalisierung.

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Verkehrsknoten in der Peripherie | Fachbeitrag

Nächster Halt: Montabaur Ortschaften zwischen Ballungsräumen haben es oft schwer. Doch durch eine verkehrsgünstige Anbindung an übergeordnete Verkehrsachsen rücken sie näher an Wirtschaftszentren heran. Mit geschickter Planung können sie dabei im Sinne einer Entlastung nicht nur Wohnstandorte für Pendler werden, sondern auch Firmen anziehen und zum neuen Arbeitsort werden. Die Bevölkerung Deutschlands konzentriert sich zunehmend auf große Städte und attraktive Ballungsräume. Die Großstädte haben dabei mit negativen Wachstumseffekten wie hohen Lebenshaltungskosten und Engpässen bei der Infrastruktur (insbesondere beim Verkehr) zu kämpfen. Flächen und bebaubare Grundstücke sind bereits Mangelware und die Planungs- und Gestaltungsspielräume der Städte werden immer geringer. Die Suburbanisierung, also die Verlagerung von Wohnen und Arbeiten ins direkte Umland von Großstädten, ist nicht neu. Dass sich aber Gewerbe und unternehmensnahe Dienstleistungen in weiter entfernten, peripheren Lagen (sogenannte Standorte der zweiten oder dritten Reihe) ansiedeln, erstaunt. Tatsächlich gelingt das vor allem dort, wo eine gute Verkehrsanbindung die Region als Wohn- und Arbeitsstandort attraktiv macht. Zu den bekanntesten Beispielen gehört die Stadt Montabaur. Als die Planungen für die Hochgeschwindigkeitstrasse zwischen Frankfurt und Köln bekannt wurden, kämpften Kommunal- und Landespolitiker erfolgreich für einen ICE-Halt. 2002 hielt dann der erste InterCityExpress am neu erbauten Bahnhof am Stadtrand von Montabaur. Mit der neuen Anbindung an das Fernnetz der Bahn gelang den Politikern ein Geniestreich für die 13.000-Einwohner-Gemeinde. Montabaur wurde nicht nur zum idealen Wohnort für Pendler nach Frankfurt oder Köln. Die Kleinstadt im Westerwald avancierte rasch auch zu einem interessanten Standort für Unternehmen. Auf einer Fläche von rund 30 Hektar entstanden ein neues Büro- und Dienstleistungszentrum sowie ein neuer Stadtteil als Verbindung zur Innenstadt. Auf dem Areal befinden sich heute 80 Unternehmen mit 2.200 Arbeitsplätzen. Auch wenn mit dem Unternehmen 1&1 bereits ein wichtiger Hauptmieter für das Gebiet vorhanden war, der die Ansiedlung weiterer

Unternehmen förderte, zeigt das Beispiel Montabaur eindrucksvoll, wie durch die Schaffung neuer attraktiver Verkehrspunkte zwischen oder am Rand von Ballungsräumen eine neue wirtschaftliche Dynamik gezielt aktiviert werden kann. Und Montabaur ist kein Einzelfall: Der ICE-Halt in Fulda, Erfurt als Verkehrsknoten auf der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke München-Berlin und Herrenberg mit IC-Halt in Richtung Zürich sind nur einige prominente Beispiele. Sogar die 2.000-Einwohner-Gemeinde Merklingen auf der Schwäbischen Alb soll einen Halt für schnelle Regionalzüge auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Ulm und Stuttgart erhalten. Die kleine Gemeinde wäre damit nur noch 20 Minuten vom Stuttgarter Flughafen entfernt und könnte perspektivisch in den Blick standortsuchender Unternehmen geraten.

Solche neuen Standorte für Gewerbe und Dienstleistung punkten aber nicht nur durch eine gute Verkehrsanbindung und Lage zwischen Ballungsräumen. Sie überzeugen ansiedlungswillige Firmen sowie wohnraumsuchende Haushalte auch mit attraktiven Flächenangeboten und moderaten Preisen. Bei der Planung künftiger Verkehrsachsen müssen daher mögliche Verkehrsanbindungen und ergänzende Haltepunkte mit Entlastungsfunktion außerhalb der Ballungsräume in den Blick genommen werden. So kann die Entwicklung neuer Wohn- und Arbeitsorte zwischen großen Zentren gezielt gefördert werden. Das hilft ländlichen Regionen und entlastet die Ballungsräume. _

Melanie Reisch, Stuttgart melanie.reisch@prognos.com Als Geografin interessiert sich Prognos-Beraterin Melanie Reisch dafür, wie sich Regionen wirtschaftlich und demografisch entwickeln. Bei Prognos berät sie Gemeinden, Landkreise und Regionsverbünde bei der Gestaltung ihrer zukünftigen Entwicklung.

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Radschnellwege | Fachbeitrag

Auf dem Radschnellweg zur Arbeit Lange Staus, überfüllte Busse und Bahnen und steigende CO2-Werte in den Städten – die zunehmende Anzahl Berufspendler verstärkt das tägliche Verkehrschaos zu den Stoßzeiten. Können Radschnellwege einen Beitrag zur Entlastung leisten? Durchschnittlich 17 Kilometer beträgt die Strecke, die ein Pendler in Deutschland pro Tag für eine einfache Fahrt zwischen Wohn- und Arbeitsort zurücklegt. Angesichts der wachsenden Zahl an Berufspendlern steigt die Notwendigkeit effizienter und alternativer Mobilitätslösungen. Distanzen im Bereich von rund 20 Kilometern sind grundsätzlich gut mit dem Fahrrad zu schaffen. Besonders in urbanen Gebieten wird das tägliche Radfahren immer beliebter. Mit dem Vormarsch der Pedelecs entsteht zudem eine klimafreundliche Alternative zum Pkw. Damit künftig noch mehr Berufspendler, Auszubildende und Studenten auf das Rad umsteigen, braucht es eine geeignete Radinfrastruktur, die eine komfortable Fahrradnutzung möglich macht und dabei als unterstützende Verkehrsverbindung für die Stadt-Umland-Verflechtungen dient. Eine Möglichkeit, das Pendeln auf zwei Rädern attraktiver zu gestalten und die Nahmobilität zu verbessern, liegt im Ausbau von Radschnellwegen. Der Bau von Radschnellwegen orientiert sich an den Anforderungen, die durch die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) festgelegt wurden. Demnach müssen Radschnellwege eine Mindestlänge von fünf Kilometern haben, mindestens drei Meter breit sowie für die steigenden Fahrgeschwindigkeiten von bis zu 30 km/h ausgelegt sein. Die Gewährleistung eines kontinuierlichen Verkehrsflusses gilt als wichtige Voraussetzung für einen Reisezeitgewinn, Verzögerungen an Ampeln und Kreuzungen sollen vermieden werden und der Fahrbahnbelag qualitativ hochwertig sein. Darüber hinaus ist vorgesehen, dass bereits vorhandene anschließende Radinfrastrukturen ausgebaut werden – Radschnellwege müssen einfach erreichbar sein und im Idealfall an ein lückenloses Radwegenetz angeschlossen werden.

Die positiven Effekte liegen auf der Hand: Durch den Bau von Radschnellwegen, wird das Fahrrad zur echten Alternative im Straßenverkehr und es kann ein wichtiger Beitrag zur Entspannung im täglichen Pendlerchaos geleistet werden. In Zeiten des Klimawandels und drohender Dieselfahrverbote wirkt sich die Verlagerung von Verkehrsflüssen auf das Fahrrad zudem positiv auf Abgasemissionen und Klimaschutz aus. Gleichzeitig findet eine Lärmminderung statt – und die regelmäßige Bewegung fördert die Gesundheit der Bevölkerung. Kosten-Nutzen-Analysen für deutsche Radschnellwege zeigen, dass der gesamtwirtschaftliche Nutzen bis zu fünfmal so hoch sein könnte wie die Kosten. Die Niederlande investieren bereits seit den 1980er-Jahren in Radschnellverbindungen. Dort nutzen 25 Prozent der Berufspendler das Fahrrad, in Deutschland dagegen nur neun Prozent. Um auch in Deutschland mehr Pendler auf das Rad zu bekommen, fördert der Bund den Ausbau von Radschnellwegen seit dem Jahr 2017 mit jährlich 25 Millionen Euro. Erste Abschnitte von Radschnellwegen sind zum Beispiel der Radschnellweg Ruhr oder der eRadschnellweg Göttingen. Daneben erstellen aktuell mehrere Bundesländer Potenzialanalysen und Machbarkeitsstudien für weitere Verbindungen. Die vom Bund bereitgestellten Fördergelder decken allerdings nur einen Bruchteil der Kosten, die für einen Kilometer Radschnellweg zwischen ca. 500.000 und zwei Millionen Euro liegen. Für eine nachhaltige und weitreichende Förderung bedarf es deshalb zusätzlicher Investitionen und einer verstärkten politischen Ausrichtung auf den Bau von Radinfrastrukturen auf allen Ebenen. Dann können Radschnellwege eine gute Alternative für Berufspendler bieten, die Anbindung von Metropolregionen verbessern und die Lebensqualität steigern. Der Weg dahin ist noch steinig, aber die Investition lohnt. _

Maike Breitzke, Berlin maike.breitzke@prognos.com Maike Breitzke forscht zum Thema nachhaltige Mobilität. Als Beraterin bei Prognos beschäftigt sie sich intensiv mit dem Nutzen und der Förderung von Radverkehr.

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Stadtkinder | Fachbeitrag

Unerwarteter Kindersegen – Stadtkinder fordern Planer heraus Deutsche Großstädte erleben einen Boom der Kinderund Familienzahlen, der angesichts der allgemeinen Demografie-Prognosen die meisten Kommunen überrascht. Was hinter diesem Boom steckt und warum er anhalten wird.

Entwicklung in Zukunft fortsetzen wird. Das Wichtigste in Kürze: Der Anstieg der Kinderzahl ist keineswegs auf einzelne Städte beschränkt. Der Reurbanisierungstrend bei Familien ist bundesweit zu beobachten. Während die Kinderzahl in den kreisfreien Städten in zehn Jahren insgesamt um 18 Prozent gewachsen ist, konnten allenfalls Landkreise im direkten Umfeld der Metropolen starke Zuwächse verzeichnen.

Über Jahrzehnte hinweg galten Großstädte in Deutschland als unattraktiv für Familien. Städte sahen vielfach die Qualität des sozialen und kulturellen Lebens durch die geringe Zahl von Familiengründungen und Abwanderungsbewegungen ins Umland gefährdet. Seit etwa zehn Jahren aber ist eine massive Trendumkehr zu beobachten: Die meisten Großstädte verzeichnen einen massiven Anstieg der Kinderzahl. Zwischen 2006 und 2016 ist die Zahl unter sechsjähriger Kinder etwa in Frankfurt um 26 Prozent gewachsen, in München um 27 Prozent, in Berlin um 31 Prozent – und in Leipzig gar um 52 Prozent. Das bereitet nicht nur der Kinder-, Jugendhilfe und Schulplanung Kopfzerbrechen, sondern verschärft auch das Problem der Versorgung mit ausreichend angemessenem und bezahlbarem Wohnraum.

Bildungswanderung als Trendursache

Kommunalpolitiker, aber auch die Stadtbevölkerung, die einer weiteren baulichen Expansion und Nachverdichtung gegenüber oft kritisch eingestellt ist, brauchen fundierte Aussagen darüber, wie sich diese

Dabei sind es nicht die Familien, die vermehrt in die Städte ziehen. Im Gegenteil: Es ziehen nach wie vor mehr Menschen im typischen Familienalter (unter 18-Jährige und 30- bis 50-Jährige) aus den Städten heraus als hinein. Auch sind Familien in den Landkreisen weiterhin kinderreicher als Familien in kreisfreien Städten. Grund für die gestiegene Zahl der Kinder in den Städten ist vielmehr die rasante Zunahme der Geburten selbst. In den letzten rund zehn Jahren gab es in den Städten ein Geburtenplus von 20 Prozent, in den Landkreisen weniger als zwei Prozent. Für diesen städtischen Geburtenboom ist schlicht die hohe Zahl der Frauen und Männer im typischen Familiengründungsalter verantwortlich. Und die wiederum wird durch den vorausgehenden außerordentlich hohen Zuzug junger Erwachsener in die Städte verursacht. Wenn die große Zahl an Kindern mit besonders vielen Geburten und diese wiederum mit der großen Zahl an jungen Erwachsenen verbunden ist – was zieht junge Erwachsene in die Städte? Die Wanderbewegungen zeigen: Es sind junge Bildungswanderer zwischen 18 und 25 Jahren, aber auch 25- bis unter 30-Jährige, die in großer Zahl in die Städte ziehen. Der gegenüber früheren Dekaden erhöhte Zuzug in Städte mit Hochschulen und Bildungsangeboten steht ohne Zweifel in Zusammenhang mit der – insbesondere bei Frauen – stark angestiegenen Akademisierung. Immer mehr Männer und Frauen haben oder wollen einen Hochschulabschluss. Und immer mehr bleiben nach Abschluss ihrer Ausbildung in den Städten. Sie gründen Familien und halten an ihrem Wohnort fest, obwohl gewichtige Argumente wie ein begrenztes Wohnraumangebot, hohe Wohnkosten oder wenig Freiflächen und eingeschränkte Aktionsräume für Kinder gegen die Städte als Lebensmittelpunkt sprechen.

Der Beitrag basiert auf der 2017 im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellten Studie „Stadtkinder. Städte in Deutschland werden immer mehr zum Lebensraum für Familien“. link.prognos.com/stadtkinder oder scannen Sie den QR-Code.

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Hier wiederum zeigt sich der Wandel der Familienmodelle. In den zurückliegenden zehn Jahren gibt es – flankiert durch familienpolitische Maßnahmen wie den Rechtsanspruch auf Betreuung unter dreijähriger Kinder oder das Elterngeld – immer mehr partnerschaftliche Familienmodelle: Beide Elternteile gehen in substanziellem Umfang einer Erwerbstätigkeit nach. Nach Prognos-Auswertungen des Mikrozensus ist der Anteil der erwerbstätigen Mütter mit jüngstem Kind zwischen einem und drei Jahren seit 2006 von 37,4 Prozent auf 49,4 Prozent gestiegen und bei Müttern mit jüngstem Kind im Kindergartenalter von 58,5 Prozent auf 69,3 Prozent. Dabei sind insbesondere vollzeitnahe Arbeitsverhältnisse immer häufiger. Während traditionelle Einverdiener-Familienmodelle im ländlichen Raum gut gelebt werden konnten, sind partnerschaftliche Modelle mit substanzieller Erwerbstätigkeit beider Elternteile in einem urbanen Umfeld weitaus einfacher realisierbar: Geeignete Arbeitsangebote für beide Elternteile, eine dichte und ausgeprägte Betreuungsinfrastruktur sowie kurze Wege zwischen Wohnung, Kita und Schule, Freizeiteinrichtungen und Arbeitsstätten sind in urbanen Gebieten sicherlich häufiger zu finden als im ländlichen Raum. Ein Umzug aus der Stadt würde vielfach bedeuten, das bevorzugte Familienmodell aufgeben zu müssen.

Urbanisierung bleibt längerfristig Herausforderung Betrachtet man die wesentlichen Trendursachen, wird deutlich, dass der Wachstumsdruck auf die Städte auf absehbare Zeit bestehen bleiben wird. Weder bei der Bildungswanderung noch bei der Verbreitung partnerschaftlicher Familienmodelle und der Müttererwerbstätigkeit sind eine Abschwächung oder gar eine Trendumkehr zu erwarten. Und auch die Arbeitsmarktentwicklung als traditioneller Einflussfaktor auf Wanderungen bremst die Reurbanisierung keineswegs: Aufgrund der anhaltend guten Konjunktur sowie der langfristig durch die demografische Entwicklung verursachten Fachkräfteknappheit besitzen qualifizierte Fachkräfte gute Wahlmöglichkeiten bei Arbeitsplatz und Arbeitsort. Die strukturellen Treiber für einen weiteren Zuzug in die Städte dürften daher in den kommenden Jahren bestehen bleiben. Ein Nachlassen des Zuzugsdrucks und damit eine Entspannung der städtischen Wohnungsmärkte ist nicht absehbar. Vielmehr besteht die Gefahr, dass sich die Verdrängungsbewegungen zu Lasten sozial schwächerer Familien – die in besonderer Weise auf zwei Einkommen angewiesen sind – weiter verschärfen. Städte müssen damit planen, dass die Zahl der Familien weiter wächst. Die Herausforderung, ausreichend bezahlbaren Wohnraum und eine angemessene Infrastruktur für Kinder und Familien zu schaffen, wird deshalb in den Städten auf absehbare Zeit bestehen bleiben. _

Tilmann Knittel, Freiburg tilmann.knittel@prognos.com Tilmann Knittel ist Senior-Projektleiter bei Prognos und berät zu Gesellschaftspolitik und Demografie. 2006 entwickelte er im Auftrag der Landeshauptstadt Hannover eine kommunale Strategie gegen den Wegzug von Familien. Seitdem ist die Zahl unter sechsjähriger Kinder in Hannover um 13,7 Prozent gestiegen.

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Nahverkehr | Eine gute Idee

Eine gute Idee

Grenzgänger im Nahverkehr Zwei Millionen EU-Bürger pendeln täglich über nationale Grenzen wie beispielsweise zwischen Kehl und Straßburg. Daher ist es zu begrüßen, dass die EU seit 2017 Maßnahmen zum Schließen grenzüberschreitender Lücken im Bahnnetz außerhalb des transeuropäischen Kernnetzes fördert. Der Lückenschluss allein aber garantiert noch keinen reibungslosen grenzüberschreitenden ÖPNV. Oft sind die historisch gewachsenen Bahn-Regelwerke der europäischen Staaten nicht miteinander kompatibel. Statt freier Fahrt für freie Bürger in einem grenzenlosen Europa herrscht nach wie vor viel zu oft nationales Klein-Klein, das die Organisation grenzüberschreitender Verkehre zum bürokratischen Kraftakt werden lässt. Um diesen Zustand zu durchbrechen, bedarf es mehr Interoperabilität, die das Zusammenspiel unterschiedlicher Systeme gewährleistet – technisch etwa durch das einheitliche Zugsicherungssystem ETCS, administrativ zum Beispiel durch gemeinsame europäische Zulassungsregelungen für Lokführer, die deren Einsatz über Landesgrenzen hinaus erleichtern. Oder durch einheitliche Tarifsysteme, die den Ticketkauf unkomplizierter, günstiger und somit das grenzüberschreitende Bahnreisen insgesamt attraktiver machen. Dass das geht, beweisen erfolgreiche Systeme wie die Regio-S-Bahn Basel tagtäglich. _

Alexander Labinsky, Düsseldorf alexander.labinsky@prognos.com Alexander Labinsky ist Berater und Mobilitätsexperte bei Prognos. Der Bahnverkehr begleitet den Enkel eines Lokführers seit Kindertagen. Nach einer Tätigkeit bei der DB Netz AG im Fahrplanmanagement beschäftigt er sich nun bei Prognos unter anderem mit dem Bahnverkehr entlang der Neuen Seidenstraße.

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Autonomes Fahren | Fachbeitrag

Die Überwindung von Raum und Zeit? Autonome Fahrzeuge bieten einen nie dagewesenen Fahrkomfort und lassen Fahrzeit für Arbeiten, Online-Aktivitäten, Freizeit oder Schlafen verfügbar werden. Ändert dies das Pendel- und Wohnverhalten? Pendelzeit ist verlorene Zeit – zumindest dann, wenn man die täglichen Pendelstrecken mit dem eigenen Pkw zurücklegen muss. Was aber wäre, wenn man die Fahrtzeit im Pkw sinnvoll nutzen könnte? Was wäre, wenn das Auto seine Insassen autonom durch den Verkehr schleusen würde und diese entspannt den Arbeitsplatz erreichen würden? Autonome Fahrzeuge sind in der Lage, alle Fahrfunktionen uneingeschränkt im gesamten Straßennetz eigenständig zu übernehmen. Somit können Menschen von Tür zu Tür befördert werden, ohne dass sie während der Fahrt eingreifen oder auch nur aufmerksam sein müssen. Science Fiction? Jein. Technisch ist bereits heute vieles möglich. Doch dem autonomen Fahren stehen aktuell noch viele technologische und rechtliche Hürden entgegen. Dennoch ist es bereits heute unerlässlich, sich über die möglichen siedlungspolitischen Konsequenzen dieser Technologie Klarheit zu verschaffen. Denn autonome Fahrzeuge würden nicht nur das Fahren angenehmer machen. Sie würden die Menschen auch entfernungsunempfindlicher machen: Das eigene – autonome – Auto vor der Tür könnte dazu beitragen, auch abgelegenere Regionen als Wohnorte wieder attraktiv werden zu lassen. Der peripherere Raum würde damit als Wohnort gestärkt. Das ist zunächst positiv. Doch solange die Abhängigkeit von den zentralörtlichen Angeboten der Kernstädte (z. B. Kultur- und Bildungseinrichtungen, medizinische Versorgung) besteht, überwiegen auf dem Land die negativen Effekte. Mit dem autonomen Fahren würde im Wesentlichen eine neue Suburbanisierungswelle bislang ungekannten geografischen Ausmaßes auf uns zurollen: Der autonome Privat-Pkw würde seine Funktion als „third living space“ weiter ausbauen und noch mehr, noch längere und noch ressourcen-intensivere Strecken begünstigen.

entfallende Personalkosten und hohe Flexibilität könnten autonome Fahrzeuge (z. B. ÖPNV-Zubringer) auch bislang wirtschaftlich kaum erschließbare Räume bedienen. Ziel muss es dabei sein, das Umland der Städte möglichst hochwertig und emissionsfrei mithilfe dieser Angebote zu erreichen. So können bestehende Pendelbeziehungen nachhaltiger gestaltet oder sogar neue geschaffen werden, ohne die Zahl der Privat-Pkw auf den Straßen zu erhöhen. Städte sind daher gut beraten, autonomes Fahren nicht allein als Technologie des privaten Pkw zu verstehen. Es ist vielmehr proaktiv zu prüfen, ob Investitionen in diese Technologie Spielräume zur Ausgestaltung und Stärkung des ÖPNV und einer strategischen Regionalentwicklung bieten. Innovative und flexible Angebotsformen können kostengünstig insbesondere Zubringerfunktionen in der Fläche bieten. Gleichwohl sind parallel dazu erhebliche Investitionen in die Haupttrassen des ÖPNV unerlässlich, um die nötige Effizienz und einen Mehrwert gegenüber dem eignen Pkw zu bieten. Eine derartige Angebotsoffensive hilft dabei, Pendlerströme auch künftig beherrschbar zu halten. _

Anders in den Städten. Dort könnte autonomes Fahren eine Chance sein, den ÖPNV auszubauen – und zwar auch in das Umland. Durch

Lesen Sie die aktuelle Studie von Prognos für den ADAC unter link.prognos.com/autonomes-fahren oder scannen Sie den QR-Code.

Sven Altenburg, Düsseldorf sven.altenburg@prognos.com Sven Altenburg ist bei Prognos Experte für Zukunftstechnologien im Verkehr. Wohnhaft am Millerntor und beruflich zumeist irgendwo zwischen Kö und Kudamm unterwegs, gehört er zu den „Hoch-Mobilen“. Nicht nur deshalb beschäftigt er sich häufig mit Fragen des automatisierten Fahrens.

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Standpunkt

„Wohnungen werden für Generationen gebaut“ Lange galt die Devise „Deutschland ist gebaut“. Welch gravierende Fehleinschätzung!

Statt gemächlicher und architektonisch ansprechender Nachverdichtung der Wohnungsbestände im Innenbereich der Städte steht angesichts der Zunahme der Bevölkerung seit 2011 in Deutschland um rund 2,5 Millionen Menschen in vielen Regionen und Städten die Organisation dynamischer Wachstumsprozesse im Vordergrund. Wohnungen werden nicht nur für die nächsten Jahre, sondern langfristig für nachfolgende Generationen gebaut. Die Bau- und Wohnungspolitik war zu kurz gedacht und der Wohnungsbau fiel den kurzfristigen Einsparungszwängen bei der sozialen Wohnraumförderung nach der Finanzkrise 2008/2009 zum Opfer. Darüber hinaus hat sich der Bestand an sozialen Wohnungen in Deutschland in den vergangenen 15 Jahren halbiert und ruft bei deutlich gestiegener Wohnungsnachfrage einen massiven Engpass an bezahlbarem Wohnraum gerade in urbanen Wohnungsmärkten hervor. Einige Bundesländer und Großstädte haben sich zudem von Wohnungsunternehmen mit großen Mietwohnungsbeständen getrennt. Die fehlenden Wohnungen, die in den Jahren 2011 bis 2014 bei noch vorhandenen Kapazitäten der Bauwirtschaft zu deutlich moderateren Bau- und Grundstückskosten hätten gebaut werden können, lassen sich unter den nun angespannten Rahmenund Marktbedingungen kurzfristig nicht mehr auffangen.

Tobias Koch, Stuttgart tobias.koch@prognos.com Tobias Koch leitet den Bereich Region & Standort und beschäftigt sich mit Fragen der Immobilienentwicklung und langfristigen Wohnungspolitik. Nach einer längeren Suchphase in einer angespannten Wohnungsmarktregion konnte seine Familie dank eines kommunalen Bauträgers den Traum vom Eigenheim verwirklichen.

Der Wohnraummangel ist kein soziales Randthema mehr, sondern längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Der ländliche Raum ist inzwischen in wirtschaftsstarken Teilräumen ebenso betroffen wie das städtische Umland und die Ballungszentren. Wegschauen ist angesichts der überall wachsenden Engpässe, überproportional steigender Miet- und Kaufpreise und der Vielzahl an Wohnungssuchenden, die entweder ins Umland ziehen oder auf immer kleiner werdenden Flächen wohnen, nicht mehr möglich. Die nicht gelösten Wohnungsmarktprobleme in den Städten werden durch zusätzlich steigende Pendlerbeziehungen auf den Verkehrssektor abgewälzt. Und auch Arbeitgeber spüren die Konsequenzen des Wohnungsengpasses bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter. Städte und Kommunen als Träger der Bauleitplanung sind massiv gefordert – und teilweise überfordert. Neben fehlendem Personal in den Bauämtern und Flächennutzungsplänen aus den 70er- und 80er-Jahren bleiben die Neu- und Umbauaktivitäten oft deutlich hinter dem Wohnraumbedarf zurück. Ausnahmen bestätigen die Regel. In vielen politischen Gremien fehlt es zudem an Weitblick, Mut und beherztem Zupacken. „Nicht nachlassen, wir bauen weiter“ muss wie in vorherigen Generationen die zukunftsgerichtete Devise für Bürgermeister in angespannten Märkten lauten. Doch die langen Vorlaufzeiten für die Planung, Genehmigung und Bauphasen lassen kurzfristig keine Entlastung erwarten. In vielen Märkten ist es fünf vor zwölf, aber noch nicht zu spät. Städte und Kommunen müssen wieder entschlossen eine aktive Grundstücks- und Baulandpolitik verfolgen. Neben der Verdichtung im Bestand muss der Schwerpunkt auf die gezielte und zeitnahe Baulandgewinnung im Außenbereich gelenkt werden. Der alleinige Blick auf das jeweilige Gemeindegebiet der Stadt beziehungsweise Kommune stößt in vielen Ballungsräumen angesichts immer kleiner werdender Gestaltungsspielräume sowie wachsender Pendlerbeziehungen an Grenzen. Die Zukunft gehört der integrierten Siedlungs-, Verkehrs- und Infrastrukturplanung mit interkommunaler und regionaler Kooperation in vernetzten Wohnungsmärkten. _

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Aus den Projekten | Über uns

Aus den Projekten Auswirkungen der Digitalisierung in Bibliotheken E-Books, Virtual-Reality-Brillen oder Gaming-Events: Digitale Medien spielen eine immer größere Rolle in Bibliotheken. Bei der Gestaltung der Digitalisierung ist den Büchereien Kulturelle Bildung besonders wichtig, das zeigt eine Prognos-Studie für den Rat für Kulturelle Bildung. Die Untersuchung legt repräsentative Daten über die Auswirkungen der Digitalisierung in Bibliotheken im Hinblick auf Kulturelle Bildung vor. Im Rahmen einer bundesweiten Online-Umfrage wurden die Leitungen öffentlicher hauptamtlich geführter Bibliotheken befragt. Diese gaben unter anderem an, dass durch die digitalen Angebote Kultureller Bildung ein jüngeres Publikum besser erreicht wird und sich neue Chancen für die Zusammenarbeit mit Schulen und Kitas ergeben.

Auftraggeber:

Dresdner Kultur- und Kreativwirtschaft wächst weiter Mehr als eine Milliarde Euro Umsatz und rund 18.500 Beschäftigte: Die Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW) ist eine wichtige Branche für Dresden. Das zeigt die Studie „Kulturund Kreativwirtschaft Dresden“ von Prognos in Kooperation mit dem Landesverband der KKW Sachsen e. V. Deutlich wird, dass Innovationen oft dort entstehen, wo Akteure die Grenzen von Branchen durchbrechen. Mit mutigen Ideen und neuen Blickwinkeln bereiten die Kreativschaffenden den Boden für Erneuerungen, bahnen Wege für Kooperationen – auch in andere Wirtschaftszweige hinein. Deshalb wächst die kreative Szene auch deutlich dynamischer als die Dresdner Gesamtwirtschaft und bildet einen Wachstumsmotor – die Erwerbstätigenzahlen wachsen durchschnittlich um 3,6 Prozent pro Jahr.

Auftraggeber:

Wie gut gelingt die energetische Sanierung von Städten? Deutsche Kommunen und öffentliche Unternehmen können bei der KfW Förderdarlehen für die nachhaltige Sanierung ihrer Stadtquartiere beantragen. In den Jahren 2012 bis 2016 wurden dank der Förderung über 300 Vorhaben mit Darlehen von rund 450 Millionen Euro realisiert. Prognos hat die entsprechenden Förderprogramme im Auftrag der Kreditbank umfassend evaluiert. Um die Auswirkungen dieser Programme zu ermitteln, wendeten die Studienautoren ein mehrstufiges Datenerhebungsverfahren an. Unter anderem wurden alle Kreditnehmer befragt, um zusätzliche Daten zur Auswertung zu erhalten. Die Bilanz fällt positiv aus: Unter anderem konnten durch die Sanierungsmaßnahmen rund 461.000 Tonnen Treibhausgase pro Jahr eingespart und 6.600 Arbeitsplätze gesichert werden.

Auftraggeber:

Schweiz ist Globalisierungsweltmeister Kein anderes Land hat im Zeitraum von 1990 bis 2016 so große globalisierungsbedingte Pro-Kopf-Einkommenszuwächse erzielt wie die Schweiz. Damit ist das Land „Globalisierungsweltmeister“. Das ist das Ergebnis des Globalisierungsreports 2018, den die Prognos AG für die Bertelsmann Stiftung erstellt hat. Der Report zeigt, in welchem Maße die 42 wichtigsten Volkswirtschaften der Erde in der Vergangenheit von der Globalisierung profitiert haben. Prognos untersucht regelmäßig auf Grundlage eines umfassenden Datenbestandes die Entwicklung der weltweiten Vernetzung und setzt damit einen verlässlichen Standard zur Analyse aktueller Fragen zur Globalisierung.

Auftraggeber:

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Kontakt: klaudia.lehmann@prognos.com

Landeshauptstadt Dresden, Amt für Wirtschaftsförderung

Kontakt: olaf.arndt@prognos.com

Kontakt: karsten.weinert@prognos.com

Kontakt: johann.weiss@prognos.com

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Aus den Projekten | Über uns

Weiterentwicklung der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds Die fünf Struktur- und Investitionsfonds der EU (ESI) sollen europäische Regionen und Städte wettbewerbsfähiger machen. Prognos und KPMG haben gemeinsam untersucht, wie gut die Umsetzung der Fonds in der aktuellen Förderperiode 2014-2020 gelingt. In der Studie wurden die drei Kriterien „Kohärenz, Komplementarität und Koordinierung“ innerhalb der ESI-Fonds und zwischen diesen Fonds und anderen EU-Instrumenten (Horizont 2020, COSME etc.) analysiert. Der Bericht beinhaltet zudem zahlreiche Optionen für die Ausgestaltung der Fonds nach 2020. Als Grundlage dienten rund 240 Interviews, über 30 Fokusgruppen mit Stakeholdern in Brüssel, eine Literaturanalyse von mehr als 250 Dokumenten und zwei Experten-Workshops. Die Studienautoren kommen zu dem Schluss, dass die bisherigen Reformen viele positive Ergebnisse erzielt haben. Eine bessere Koordination der Politiken und Investitionen bleibt jedoch eine Herausforderung.

Auftraggeber:

Synthetische Kraftstoffe für die Energiewende unverzichtbar Welche klimaneutralen Alternativen gibt es zu Kerosin, Benzin oder Diesel? Dieser Frage ist Prognos zusammen mit Fraunhofer UMSICHT und dem Deutschen Biomasseforschungszentrum nachgegangen. Im Fokus der Studie „Status und Perspektive flüssiger Energieträger in der Energiewende“ standen sogenannte E-Fuels. E-Fuels sind die derzeit aussichtsreichste Alternative zu fossilen Flüssigkeiten. Das synthetische Öl ist technisch in allen Verbrauchssektoren einsetzbar. Es wird nahezu treibhausgasneutral hergestellt und könnte perspektivisch zu wettbewerbsfähigen Preisen angeboten werden. Um diese Vorteile für die deutsche Energiewende nutzbar zu machen, bedarf es erheblichen Kapitaleinsatzes und internationaler Kooperation. Auch dazu haben die Studienautoren Vorschläge erarbeitet.

Auftraggeber:

Wenn Sie Rentenminister in Deutschland wären… Stabiles Rentenniveau, gedeckelter Beitragssatz: Welche Folgen hätten solche Regelungen für das deutsche Rentensystem? Das Online-Tool „Rentenminister“ lässt es Interessierte selbst ausprobieren – per Mausklick. Prognos hat es für den Versichererverband GDV entwickelt. Das Tool ist auf Basis des geltenden Rechts Anfang 2018 erstellt worden. Die zugrunde gelegten Informationen zu Rentenniveau, Beiträgen und Steuerzuschuss basieren auf der geltenden Rentenformel. Mithilfe des „Rentenministers“ lassen sich unterschiedliche Reformoptionen, die zum Beispiel während der geplanten fast zweijährigen Beratungsphase der Rentenkommission diskutiert werden, leichter nachvollziehen. Der Rechner hilft einzuschätzen, wer welche finanziellen Lasten bei Reformvorschlägen tragen müsste.

Auftraggeber:

Wege zu einer erneuerbaren Stromversorgung bis 2050 Wie lässt sich in Deutschland der Übergang zu einer auf erneuerbaren Energien beruhenden Stromversorgung bis zum Jahr 2050 erfolgreich gestalten? Diese Frage beantwortet eine Studie für den WWF Deutschland, die Prognos gemeinsam mit dem Öko-Institut erstellt hat. Wichtiges Ergebnis: Ein Übergang zu einem vollständig auf erneuerbaren Energien beruhenden Stromsystem bis zum Jahr 2050 ist möglich. Der benötigte Strom kann aus erneuerbaren Energiequellen naturverträglich in Deutschland erzeugt werden. Die Studie „Zukunft Stromsystem II – Regionalisierung der erneuerbaren Stromerzeugung“ ist der zweite Teil des vom WWF in Auftrag gegebenen Ausblicks auf das Stromsystem nach 2035.

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Europäische Kommission, GD Regio Kontakt: jan.kramer@prognos.com

Mineralölwirtschaftsverband e. V. (MWV) Institut für Wärme und Oeltechnik e. V. (iwo) MEW Mittelständische Energiewirtschaft Deutschland e. V. UNITI Bundesverband mittelständischer Mineralölunternehmen e. V. Kontakt: jens.hobohm@prognos.com

Kontakt: oliver.ehrentraut@prognos.com

Auftraggeber:

Kontakt: hanno.falkenberg@prognos.com

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Prognos unterwegs | Über uns

RÜCKBLICK IN BILDERN

Erfahrungsaustausch auf dem Prognos „Women Together“ in Berlin

Strategieforum „Fachkräftestrategie 2030 für den Freistaat Sachsen“ in Dresden

Vorstellung des vbw-Reports beim Kongress „Bayerns Wirtschaft 2045“ in München

Vortrag zu Klimapfaden der Stahlindustrie auf der Branchenkonferenz Stahl der IG Metall in Dortmund

Prognos referiert zum Thema Online-Handel auf dem „Deutschen Shopping-Center Forum“ in Düsseldorf

Prognos auf der ITAD Mitgliederversammlung in Frankfurt

Auf ein Wort zur Zukunft! Buchen Sie einen Prognos-Redner unter prognos.com/Redner oder scannen Sie den QR-Code.

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Prognos präsentiert in Berlin die iwo-Studie „Flüssige Energieträger“

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www.prognos.com

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