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Kultursplitter

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Filmbild aus «Paracelsus – Ein Landschaftsessay» Filmbild aus «Competencia oficial» Eine Reise mit Paracelsus

WER IST DER BESTE?

Jacqueline Maurer Ein neuer Dokumentarfilm widmet sich dem Arzt und Alchemisten Paracelsus, der vor 500 Jahren in Basel lehrte und praktizierte.

Der Titel «Paracelsus – Ein Landschaftsessay» offenbart Erich Langjahrs zweifachen Anspruch mit seinem ersten Dokumentarfilm über eine historische Persönlichkeit: eine audiovisuelle Annäherung an den bei Einsiedeln geborenen Gelehrten Theophrastus Bombast von Hohenheim (1493/1494–1541), genannt Paracelsus, und eine Einbettung in die Landschaften, die mit dessen Wirken und dem seiner Zeitgenossen sowie Vorfahren und «Nachfolger» verbunden sind.

Von Ruhm und Verruf.

Vielen Baslerinnen und Baslern mag der Arzt, Naturphilosoph und -mystiker, Alchemist und Laientheologe bekannt sein. Denn vor 500 Jahren wirkte er hier als Stadtarzt und Professor. Er heilte Johannes Froben, der die Schriften von Erasmus von Rotterdam druckte, und der ebenfalls sein Patient war. Seine Nähe zur Reformation und seine Lohnforderungen schädigten seinen Ruf; er flüchtete übers Elsass nach Deutschland und landete in Salzburg. Dort lagern seine vielfach untersuchten Gebeine – und mit diesen beginnt der Film. Er führt an diverse Schauplätze in der Deutschschweiz, im Schwarzwald und im besagten Salzburg. So werden neben den Landschaften die spezifischen baulichen und städtischen Wirkungsorte des Protagonisten und seines Umkreises gezeigt, darunter das Haus zum Sessel und heutige Pharmaziemuseum der Universität Basel. Wir begeben uns so auch auf eine Reise durch die Renaissance, deren Baukultur, Kunstschaffen und Handwerk.

Bäuerinnen, Bergler und Hirten – dies ist nur eine Auswahl an passionierten Berufsleuten, die Langjahr gemeinsam mit seiner Partnerin Silvia Haselbeck bisher filmisch gewürdigt hat. Durch seine oft wortkargen und feinsinnigen Werke zieht sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit Landschaften. Film studiert hat der 1944 geborene Zuger Regisseur, Produzent und Verleiher nie, gilt aber längst als Dokumentarist der Innerschweiz. Dies bezeugte eindrucksvoll die im letzten Herbst im Stadtkino präsentierte Langjahr-Retrospektive. Und so wäre «Paracelsus» kein Langjahr-Film, wenn bei aller Geschichte, Kultur und Religion nicht auch deren Koexistenz mit der modernen, profanen Welt hineinspielen würde: Verkehrsinfrastrukturen und Kommerzialisierung mach(t)en vor Heiligem nicht halt. Heute etwas ungewöhnlich, da wie aus einer anderen Zeit stammend, ist indes die gewählte Erzählform: Neben weiteren Personen ist die Präsenz des Paracelsus-Biografen und ehemaligen Lehrers Pirmin Meier, der durch den ganzen Film führt, etwas zu dominant. Eine besondere musikalische Note verleiht dem Werk wiederum der Basler Perkussionist und Klangforscher Fritz Hauser, dessen multimediales Schaffen gerade noch im Kunsthaus Baselland zu erleben war. Jacqueline Maurer In «Competencia oficial» duellieren sich zwei selbstgefällige Schauspielgrössen unter der Regie einer exzentrischen Frau.

Die argentinisch-spanische Komödie «Competencia oficial» beginnt mit dem Entschluss des gerade 80 Jahre alt gewordenen Pharmaunternehmers Humberto Suárez: Um sein soziales und kulturelles Kapital zu erhöhen, will er etwas Nachhaltiges für die Nachwelt erschaffen lassen. Ein Film von der besten Regisseurin und mit den besten Schauspielern soll es werden. Hier beginnt die Arbeit der berühmt-berüchtigten Filmemacherin Lola Cuevas (Penélope Cruz). Sie bestellt den Theatermann Iván Torres (Óscar Martínez) und den Hollywoodstar Félix Rivero (Antonio Banderas) in das verlassene Mega-Firmengebäude irgendwo in der spanischen Pampa. Hier spielen sich die Proben ab. Es sind kuriose «Übungen», welche die Egos der sich von Anfang an argwöhnisch begegnenden Männer arg auf die Probe stellen. Minimales Dekor, maximale Schauspielleistungen.

Film im Film soll eine Adaption des Romans werden, mit dem Daniel Mantovani einen Nobelpreis gewonnen hat. Damit knüpfen die beiden Regisseure Gastón Duprat und Mariano Cohn wiederum an ihren Film «El ciudadano ilustre» an, in dem Martínez die Rolle des fiktiven Schriftstellers verkörpert hatte. Diesmal lassen uns die beiden Argentinier humorvoll, ja satirisch hinter die Kulissen der Filmindustrie blicken: Bildstark inszeniert ist die Konfrontation der sich duellierenden Schauspieler vor einfarbigen Wandflächen, leeren Rängen, Spiegeln und Screens. Es ist ein wahrer Genuss, den kleinen, grossartigen Cast in diesen seltsam weiten Räumen zu erleben. Schauspiel und Vorspiegelungen wechseln sich ab, da jeder stets der Erste und Beste sein will.

Am Schluss der Geschichte läuft der fiktive Film «Rivalidad» im Wettbewerb eines Festivals. Im Cast hat indes eine massive Verschiebung stattgefunden, die zuvor bereits vorgespurt wurde. Dies widerspiegelt perfekt das Thema von «Competencia oficial», dessen Titel übersetzt «offizieller Wettbewerb» heisst und (mangelnde) «Sozialkompetenz» anklingen lässt.

«Competencia oficial» läuft ab Do 31.3. im Mittagskino und ab Do 7.4. regulär in den Kultkinos Basel, www.kultkino.ch → S. 44

Christian Fluri

Das Stadtkino Basel und das Neue Kino widmen je eine Reihe dem Hotel im Film.

Filmbild aus «Mystery Train»

In einer barocken Hotelhalle bewegen sich Menschen in Smoking und Abendkleidern wie Traumgestalten. Etwas Unwirkliches, der Zeit Fernes haftet ihnen an – wie auch dem Grandhotel, in dessen Räumen und Garten sie wandeln. Der französische Filmemacher Alain Resnais (1922–2014) hat in seinem filmischen Kunstwerk «L’année dernière à Marienbad» (1961) Schloss Nymphenburg mit der im Park liegenden Amalienburg und dem Schoss Schleissheim im Raum München zum Hotel-Palast zusammengeschnitten. In der sich entwickelnden Geschichte der von Delphine Seyrig zauberhaft gespielten Frau A, die von einem Mann X an ihre Liebe vor einem Jahr in Marienbad erinnert und von ihm begehrt wird, verweben sich mehrere Ebenen. Alles bleibt in der Schwebe, aus der Tiefenstruktur der filmischen Erzählung wirkt ein geheimnisvoller Eros. Resnais schafft berückende und geometrisch angeordnete Bilder. Er setzt die literarische Gestalt des Drehbuchs von Alain Robbe-Grillet, Vertreter und Erfinder des Nouveau Roman, perfekt um. Der grandiose Film ist im Stadtkino Basel wie auch im Neuen Kino Basel zu sehen.

Beide Kinos widmen dem Hotel eine Filmreihe. Auslöser für die Stadtkino-Reihe ist das Symposium «Ungenierte Unterhaltungen. Mit Frieda Grafe im Grandhotel» des Seminars für Medienwissenschaften der Universität Basel, das im Stadtkino Basel stattfinden wird. Die Filmkritikerin Frieda Grafe (1934–2002) ergründete in ihrem wunderbaren Essay «Eine Schweizer Erfindung – die Grandhotels in der Unterhaltungsindustrie» den Zusammenhang von Grandhotel und Kino. Das Grandhotel mit seiner reichen Vergangenheit war und ist Kino. Die Filmkunst sieht seit ihren Anfängen das Grandhotel als idealen Dreh- und Spielort.

Das Hotel als Labyrinth.

Jean-Luc Godard reflektiert in seinem wunderbar doppelbödigen Film «Détective» (1985) die filmhistorisch bedeutende Verknüpfung von Grandhotel und Verbrechen. Er drehte in einem realen Hotel, im Terminus Saint-Lazare in Paris. Johnny Hallyday

Filmbild aus «L’année dernière à Marienbad»

spielt herrlich den Privatdetektiv, der einen Mord aufzuklären versucht und sich in einem Labyrinth von Verwechslungen wiederfindet.

Die Filmreihen im Stadtkino wie im Neuen Kino führen mit vielfältigen Programmen durch die Geschichte des Hotels im Film. Sie widmen sich auch der Melancholie des sich leerenden Hotels – mit «Hors saison» (1992) von Daniel Schmid. Den im Hotel Schweizerhof in Flims aufgewachsenen Filmkünstler faszinierte die Welt, in der Fremdes kommt, sich trifft und geht.

Das Neue Kino wendet sich der Poesie des verfallenden Hotels zu – mit Jim Jarmushs «Mystery Train» (1989). Sein Film erzählt die Geschichten verlorener, nach Leben haschender Menschen, die im Hotel Arcade in Memphis, der Heimatstadt von Elvis Presley, gastieren.

Filmreihe «Das Grand Hotel – Dramaturgien eines paradiesischen Ortes» im April im Stadtkino Basel, www.stadtkinobasel.ch → S. 45 Symposium «Ungenierte Unterhaltungen. Mit Frieda Grafe im Grandhotel» des Seminars für Medienwissenschaften der Uni Basel: Do 21.4. bis Sa 23.4., Stadtkino Basel Filmreihe «Hotel» im April im Neuen Kino Basel, www.neueskinobasel.ch

Jacqueline Maurer François Ozons neuster Film «Tout s’est bien passé» themat isiert die Folgen eines Schlaganfalls und die Sterbehilfe.

Das Drama beginnt mit einer Alltagssituation, die jäh unterbrochen wird: Emmanuèle Bernheim arbeitet zu Hause am Computer. Ein Anruf reisst sie aus ihrer Konzentration und lässt sie hastig die Wohnung verlassen. Bald marschiert sie mit ihrer Schwester Pascale durch die fensterlosen Gänge eines Spitals. Während die beiden hinter einer Schutzscheibe und im blauen Licht nur noch die Füsse ihres Vaters erkennen, sehen wir in Grossaufnahme die MRIBilder seiner Gehirnströme. Der bildgenerierende Prozess erzeugt einen unangenehm lauten Ton. Diesem Auftakt, der Infrastrukturen und Technologien der modernen Medizin beinah dokumentarisch vor Augen führt, folgt die Chronologie eines langsamen, emotionalen Abschieds. Denn der über 80-jährige Lebemann Arthur Bernheim hat einen Schlaganfall überlebt, möchte aber so nicht weiterleben. Er bittet Emmanuèle um Hilfe.

Hochkarätige Besetzung.

Der französische Regisseur François Ozon ist längst für seine schwerwiegenden Themen bekannt: Liebeswirren, Krebsleiden, Abtreibung, Kindsmissbrauch in der Kirche, Tod ... die Liste ist noch länger. Die Umsetzung ist meist meisterlich, denn Ozon hat die Gabe, uns diese Lebensthemen und die Personen, die sie stellvertretend durchleben, mit grosser Intensität nahezubringen. Diesmal konnte sich Ozon auf den autobiografischen Roman seiner inzwischen verstorbenen Drehbuchautorin verlassen. Wir

erhalten Einblick in ein privilegiertes Pariser Milieu, das sich die Sterbehilfe in der Schweiz leisten kann. Auf dem Weg dorthin kommt manches aus der Vergangenheit hoch und wir verstehen, weshalb Emmanuèle beinah professionell distanziert die Wünsche ihres Vaters erfüllt.

Sehenswert ist «Tout s’est bien passé» auch, da Frauen die Hauptrollen spielen und aufgrund der Schauspielerinnen: Sophie Marceau verkörpert Emmanuèle, Charlotte Rampling die an Parkinson erkrankte, depressive Mutter, Hanna Schygulla die Sterbehelferin. Und da ist der ebenso berühmte André Dussollier, der überzeugend den leidenden, alten Herrn mimt, der bis zuletzt seinen Humor nicht verloren hat.

«Tout s’est bien passé» läuft ab Do 14.4. in den Kultkinos Basel, www.kultkino.ch → S. 44

Bruno Rudolf von Rohr Das Dokumentarfilmfestival Visions du Réel in Nyon will eine Schule des Sehens sein.

Im schmucken Waadtländer Städtchen Nyon, am westlichsten Zipfel des Jurabogens, findet alljährlich eines der wichtigsten europäischen Dokumentarfilmfestivals statt. Nach zwei virtuell beziehungsweise hybrid organisierten Anlässen wird die diesjährige 53. Ausgabe von Visions du Réel wieder mit Zuschauerinnen und Zuschauern vor Ort abgehalten. Auch wenn für Emilie Bujès, Direktorin des Festivals, eine Online-Version durchaus den Vorteil hat, eine grosse Bandbreite an Leuten zu erreichen, ist für sie das Fehlen der «Autorität des Saals» in keiner Weise mit der gemeinsamen Erfahrung aufzuwiegen. Deshalb ist Bujès glücklich, das Festival mit seinen 160 Filmen im Programm – insgesamt wurden 3000 eingereicht – wieder mit der physischen Präsenz des Publikums und der 1600 Akkreditierten veranstalten zu können.

Hommage an Marco Bellocchio.

Ehrengast in diesem Jahr ist der Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Marco Bellocchio, dessen vielfältige, oft zwischen Dokumentation und Fiktion angesiedelte Filmografie die Festivalleitung zur Einladung bewogen hat. Er wird mit dem Goldenen Sesterz – in symbolischer Anspielung auf die römische Gründung der Stadt Nyon – für sein Gesamtwerk geehrt. In seinem neuen Dokumentarfilm «Marx può aspettare», der als Schweizer Premiere am Festival gezeigt wird, lässt er die Geschichte seines Bruders wieder aufleben, rekonstruiert eine historische Epoche und lässt auch sein eigenes Schaffen Revue passieren. Eine Retrospektive und eine Masterclass ergänzen die Hommage.

Eine spezielle Einladung geht in diesem Jahr an die Amerikanerin Kirsten Johnson, eine Regisseurin und mehrfach ausgezeichnete Kamerafrau: Für Laura Poitras «Citizenfour» und «The Oath» führte sie die Kamera. Sie verantwortet in diesem Jahr ausserdem den visuellen Auftritt des Festivals. Für Emilie Bujès zeigt Johnsons Arbeit, was das «cinéma du réel» sein kann, auch in ethischer Hinsicht: eine Schule des Sehens. Dementsprechend will Bujès ein möglichst grosses Spektrum an filmischen Formen präsentieren, vom klassischen AutorenDokumentarfilm bis zur experimentellen Videoarbeit, die auch in einem Museum ihren Platz hätte.

Eine tröstliche Neuerung erwartet all jene, die es nicht nach Nyon schaffen: Gegen eine kleine Gebühr können während einer Woche sechs ausgewählte Filme pro Tag online angeschaut werden.

Visions du Réel: Do 7.4. bis So 17.4., Nyon, www.visionsdureel.ch Filmbild aus «Les Olympiades»

UNSTETE LIEBE

Bruno Rudolf von Rohr «Les Olympiades» ist eine zeitgenössische Fabel über wechselhafte Beziehungen.

Inspiriert von drei Novellen des amerikanischen Cartoon-Autors Adrian Tomine zeichnet der Regisseur und Drehbuchautor Jacques Audiard («Ein Prophet», «Dheepan») in seinem neuen Film «Les Olympiades» das Porträt einer Generation und des gleichnamigen Pariser Viertels im 13. Arrondissement. Es ist ein Stadtteil, der am Ende der 60er Jahre gebaut wurde und dessen Hochhäuser jeweils den Namen einer Stadt tragen, in der die Olympischen Spiele ausgetragen wurden. Schon im Vorspann versteht man, warum der nachts in eindrücklichen Schwarz-Weiss-Bildern eingeführte Ort der Handlung einen wichtigen Platz einnimmt. Audiard verleiht scheinbar unfotogenen Räumen wie einem Callcenter, Supermärkten, unterirdischen Shoppinggalerien, ja gar Abfallcontainerräumen kinematografische Würde. In diesem kosmopolitischen Stadtteil, in dem Audiard selber gelebt hat, kreuzen sich die Wege der Endzwanziger und Mittdreissiger Emilie, Camille und Nora. Sie sind Freunde, manchmal Liebhaber, meist beides.

Aktuell und zeitlos.

Damit ist auch der Ton dieses zeitgenössischen Sittengemäldes gegeben mit seinem leichtfüssigen Rhythmus und der Unverbindlichkeit in den Beziehungen der Figuren, welche die Drehbuchautoren Audiard, Céline Sciamma und Léa Mysius aus Tomines Novellen übernommen haben. Audiard rückt seinen Film in die Nähe von Eric Rohmer, den er, genauso wie Tomine als Moralisten betrachtet. Bei beiden, so Audiard, lernen die Menschen aus den erzählten Geschichten etwas über sich und die Welt. Der Film zeichnet eine innere Entwicklung nach, der die Personen, ein Stück weit, dem näherbringt, was sie, ohne es klar formulieren zu können, suchen.

Man könnte dem Film eine gewisse Oberflächlichkeit vorwerfen wegen der scheinbaren Unbekümmertheit in den wechselhaften Beziehungen zwischen den Hauptfiguren und der Vielfalt der Themen, die er berührt: das Verhältnis der Generationen, Migration und Assimilation, Bildungsmisere, Cyber-Mobbing und natürlich der Umgang mit der Sexualität. Doch hat dieses stellenweise komödienhafte, visuell starke Zeitdokument, wohl auch wegen der Schwarz-Weiss-Optik, erstaunlicherweise etwas Universales, Zeitloses.

Die Orgel des Doms zu Arlesheim, Foto: zVg

«Eine Art Pilgerreise durch Bachs Orgelkosmos»

Christian Fluri Im Arlesheimer Dom erklingt das gesamte Orgelwerk Johann Sebastian Bachs.

«Der Gedanke wirkt schon lange in mir, das Gesamtwerk von Bachs Orgelkompositionen aufzuführen», sagt Organist Markus Schwenkreis. Als er 2012 seine Stelle im Arlesheimer Dom antrat, rückte die Realisierung näher. Die Silbermann-Orgel von 1761 eignet sich gut dazu, obwohl sie von Johann Andreas Silbermann aus der elsässischen Linie der Familie gebaut wurde und somit keine mitteldeutsche Orgel ist.

Als David Blunden 2016 zweiter Organist am Dom wurde, stand dem Projekt nichts mehr entgegen. Nun können die Konzerte gleichsam auf zwei Schultern verteilt werden. Beide studierten an der Schola Cantorum Basiliensis und lehren heute dort: Schwenkreis ist Dozent für Improvisation, Blunden wirkt als Korrepetitor der Opernklasse. «Wenn wir beide das gesamte Orgelwerk spielen, erklingt es wie aus einem Guss und zugleich besteht zwischen uns ein Dialog in der interpretatorischen Herangehensweise», so Schwenkreis.

Bis 2024 findet jeden zweiten Mittwoch des Monats, mit Pause während der Sommer- und Herbstferien, ein Konzert mit Bachs Orgelmusik statt – insgesamt 27 Konzerte. Das erste Jahr ist dem Frühwerk gewidmet, das zweite der mittleren Schaffensperiode und der Meisterschaft des Weimarer Hoforganisten, das dritte dem in Leipzig entstandenen Spätwerk. Schwenkreis und Blunden wechseln sich in den Konzerten ab. Zudem wird in jedem Jahr einmal ein Gast eingeladen. Dieses Jahr im April ist es Altmeister Jean-Claude Zehnder. Sein Konzert mit Jugendwerken findet ausnahmsweise an einem Sonntag statt. Zehnder war vor Schwenkreis Dom-Organist, und er hat eine umfassende Studie zu Bachs Frühwerk verfasst. «Der nun 80-Jährige gibt damit seinen eigentlichen Abschied als Organist am Arlesheimer Dom», fügt Schwenkreis an. 2023 konzertiert Rudolf Lutz, emeritierter ScholaProfessor, Organist und künstlerischer Leiter der J. S. Bach-Stiftung St. Gallen, mit Studierenden der Schola. 2024 gibt Wolfgang Zerer ein Doppelkonzert mit den Choralbearbeitungen der «Leipziger Orgelhandschrift».

Mehr als Konzerte.

Das Projekt «Bach im Dom» bietet jedoch mehr als nur Konzerte: Die Musikpädagogin Berit Drechsel gibt an jedem Abend eine ausführliche Einführung zu Leben und Werk. Während der Konzerte äussert jeweils ein geladener Gast seine Gedanken zu Bach und zur gespielten Musik. Nach dem Konzert wird zum Apéro der eigens dafür produzierte Wein «Grand Jeu» (benannt nach einer typischen Registerzusammenstellung) kredenzt. Und die Besucherinnen und Besucher erhalten für jedes Konzert einen Stempel und können so an einem Wettbewerb teilnehmen. Schwenkreis erklärt: «Als ich den Pilgerweg nach Santiago de Compostela machte, erhielt ich in jeder Herberge einen Stempel. Das hat mich auf den Gedanken gebracht, denn das dreijährige Projekt gleicht einer Pilgerreise durch den Bach’schen Orgelkosmos.»

«Bach im Dom – das gesamte Orgelwerk»: nächstes Konzert So 10.4. mit Jean-Claude Zehnder, www.bach-im-dom.ch

Dagmar Brunner Eine kulturell-liturgische Karwoche lässt sich in der Titus Kirche erleben.

Seit vielen Jahren trägt die Konzertreihe «Titus beflügelt» zur Belebung der Titus Kirche auf dem Bruderholz bei. Initiiert wurde sie von den Pianisten Jean-Jacques Dünki und Mischa Sutter: Letzterer war von 2008 bis 2019 künstlerischer Leiter. Seither zeichnet sein Vater Christian Sutter verantwortlich und lädt damit zu literarischmusikalischen Streifzügen durch die Jahreszeiten ein. Der Kontrabassist, der sein halbes Leben im Sinfonieorchester Basel spielte, setzte sich auch dafür ein, dass die Karwoche in der Titus Kirche kulturell und liturgisch begangen wird. In Kooperation mit Offline, dem ökumenischen Zentrum für Meditation und Seelsorge (gegründet 2017), dem Verein Atelier du Monde (gegründet 2013) sowie den evangelischen und katholischen Kirchgemeinden vor Ort ist das nun zum fünften Mal möglich (2020 fiel aus). Geheimcode Fisch.

Standen in den bisherigen Feiern Louise Rinsers «Mirjam» (2017), die «Sieben letzten Worte» (2018), die «Grenzgänger» Karl Barth und W.A. Mozart (2019) und «Nichts als die Bibel und Bach» (2021) im Zentrum, geht es diesmal um «Ichthys – Fische, Frauen und der Menschenfischer aus Galiläa». Das Fisch-Symbol spielte im frühen Christentum eine wichtige Rolle und ist heute noch das Erkennungsmerkmal von Gläubigen. Am Palmsonntag wird ein Referat in die Bedeutung und Hintergründe dieses Zeichens einführen.

An den weiteren Abenden bis Ostern gestalten Christian Sutter und befreundete Musikschaffende drei literarische Passionskonzerte. Dabei kommen Stellen aus berühmten Büchern und zauberhafte Musik zu Gehör: Zu «Quo vadis» von Henryk Sienkiewicz über die Christenverfolgung in Neros Rom erklingt am Dienstag traditionell armenische Flötenmusik, Ernest Hemingways «Der alte Mann und das Meer» wird am Karfreitag von Schuberts Trio in EsDur begleitet, und zu einem von Walter Jens übersetzten Bibeltext und dem Grimm-Märchen «Vom Fischer un syner Fru» steht am Ostersonntag Schuberts «Forellenquintett» auf dem Programm. Eine Abendmeditation, Bibelbetrachtungen zu «Jesus und die Frauen», Kirchenmusik und Gottesdienste runden die feierliche Woche ab.

«Ichthys – Fische, Frauen und der Menschenfischer aus Galiläa»: So 10. bis So 17.4., Titus Kirche, Im Tiefen Boden 75, Bruderholz, www.tituskirche.ch, www.offline-basel.ch → S. 34 Ausserdem: Play Schubert: Die Band Extrafish und die Künstlerin Caroline Schenk interpretieren Schuberts Lieder-Zyklus neu. Urbanmusic-Konzert: Sa 16.4., 20 h, Humbug Basel. Videoinstallation: So 17.4. bis So 24.4., 10–22 h, Padel Basel (Vernissage Sa 16.4., 18.30), www.playschubert.ch → S. 31

Ruedi Ankli

Julian Lage – Familiar Flower (Official Video), Screenshot: Youtube

Das 32. Offbeat-Jazzfestival Basel präsentiert 40 Konzerte an 27 Spieltagen – ein gutes Drittel davon schon im April.

Los geht es mit einer Uraufführung am 24. April: Über 60 Musiker werden sich am Offbeat-Jazzfestival auf der Bühne des Musiksaals des Stadtcasinos in einem einzigartigen Konzert begegnen. Unter dem Motto «Bop im Grossformat» stehen sich gleich zwei Orchester gegenüber, die Basel Sinfonietta und die NDR Bigband, und in ihrer Mitte das Basler Jazztrio Vein, bestehend aus den Zwillingsbrüdern Michael und Florian Arbenz sowie Thomas Lähns. Das Trio, das Ende März seine neueste CD «Our Roots» vorgelegt hat, arbeitet nicht zum ersten Mal in seiner 15-jährigen Karriere mit einer Bigband zusammen. 2019 hatte es eine Begegnung mit der Norbotten Bigband aus Schweden. Für die dabei eingespielte CD «Symphonic Bop» wurde das Konzept des Gastsolisten im Trio umgekehrt: Das Trio selber wurde zum Gast der Bigband und stand im Zentrum. Für die neue Auftragsarbeit mit der Basler Sinfonietta hat der Pianist Michael Arbenz Kompositionen des Trios – es komponieren übrigens alle drei Musiker – neu arrangiert. Dabei soll neben dem Spannungsfeld zwischen der zeitgenössisch klassischen Sinfonietta und der jazzaffinen NDR Bigband natürlich auch die Improvisation eine Rolle spielen.

Florian Arbenz hat seinerseits ein eigenes Projekt für diese erste Phase des Festivals in petto: Mit dem Saxofonisten Greg Osby stellt der Drummer das inspirierte Duo-Album «Reflections of the Eternal Line» vor – dies in einem Doppelkonzert mit dem Trio Bachthaler, Koch und Bürgin. In einer Saxofon-Nacht erleben wir zudem das Trio von Fabian Willmann mit Bassist Arne Huber und Drummer Jeff Ballard. Willmann wird auch im Jazzcampus aktiv, in einer Werkschau von fünf Konzerten mit vier Bands und Orchestern. Ziel ist der Einblick in das vielseitige Schaffen der originellen Indie-Plattform des 2017 gegründeten Labels Hout.

Schräg und schrill.

Kaum zuordnen lässt sich der immer originelle und eigenwillige Stil von Jazz-Querdenker Marc Ribot. Mit seinen schrägen und schrillen Ceramic Dogs wird der Gitarrist im Trio die Kaserne verunsichern, am gleichen Abend wie Kuu mit dem Projekt «Artificial Sheep»: An der Seite von Sängerin Jelena Kuljic und Drummer Christian Lillinger wirken

Arbenz X Mehari/Veras, «Let’sTry This Again», Screenshot: Youtube

Kuu!, Foto: Gregor Hohenberg

die zwei profilierten Gitarristen Kalle Kalima und Frank Möbus. Diese beiden Bands werden wohl kaum auf Tanzbarkeit machen, sondern ein interessantes Kapitel im Buch experimentierfreudiger Jazzmusik aufschlagen.

Bereits Anfang April steht mit dem Trio von Julian Lage im Vor-Festival-Programm ein Höhepunkt für Gitarrenfans an, und im Mai wird die Fusion-Band von Mike Stern erwartet.

32. Offbeat-Jazzfestival Basel: So 24.4. bis Mo 30.5., Region Basel, www.offbeat-concert.ch CDs: – Vein, «Our Roots», 2022 – Vein feat. Norrbotten Big Band, «Symphonic Bop», 2019 – Greg Osby & Florian Arbenz, «Reflections of the Eternal Line», 2020

Auf die Zukunft!

Hybridpop von Gina Été, Foto: zVg

Benedikt Lachenmeier Seine 25-Jahre-Feier hat das BScene coronabedingt verpasst. Mit der Jubiläumsausgabe 25 + 1 zelebriert das Basler Musikfestival nun die Zukunft.

Statt zurückzublicken, setzt das BScene den Fokus auf neue und aktuell relevante Acts, die mit ihrem frischen Material die Musikszene aufmischen. Nur eine Basler Band aus den Anfangszeiten des Festivals ist im Programm zu finden: Cloudride. Ab 2001 machten sich die Indierocker in der lokalen Szene einen Namen und kratzten mit einer Europatour am Durchbruch. Irgendwann wurde es ruhig um die fünf Freunde. Die Prioritäten verschoben sich. Die Band allerdings lebte weiter. Und ausgerechnet in der Coronazeit stieg die Lust, wieder mehr von sich hören zu lassen. Neue Songs entstanden, alte wurden wieder zum Leben erweckt. Unterstützt werden Cloudride im Parterre One von Weird Fishes – einer jungen Band, deren Durchschnittsjahrgänge über dem BSceneGründungsjahr 1996 liegen. Die Band bewegt sich weit weg vom Kommerz und überzeugt mit präzisen Kompositionen, die an die Musik ihrer Urväter aus den psychedelisch geprägten 60s und 70s erinnern. Ebenfalls jung, aber topaktuell im Sound sind Nomuel. Die sechs Herren überwinden gekonnt Musik- und Sprachbarrieren. Sie befinden sich irgendwo zwischen Indiepop und Rap, und sie singen auf Englisch und Französisch.

Kein Festival ohne bekannte Namen – das gilt auch beim BScene. Am Start ist deshalb auch Sam Himself, der gleich mit dem Sinfonieorchester Basel die Bühne unter Beschlag nimmt. Aus Zürich reist Gina Été an. Ihr sogenannter Hybridpop findet auch international Anklang – weshalb die ausgebildete Bratschistin gerne in einem Atemzug mit Björk genannt wird. Platz 14 in den Charts, 200 000 Klicks, ausverkaufte Plattentaufe trotz Corona – das ist die Bilanz des Newcomer-Reggaemusikers Skip. Und auch im kHaus-Saal wird der Basler garantiert für gute Vibes sorgen. Treuen Radiohörerinnen und -hörern ist zudem Musikerin Femi Luna ein Begriff: die Appenzeller Singer-Songwriterin, welche in ihrer Ballade «Quiet as The Moon» tief aus ihrem Herzen singt.

Specials und Netzwerkanlässe.

Von Jazz, Electropop und Hip-Hop bis hin zu Indierock und Hard’n’Heavy bietet das BScene wie immer eine breite Palette. Aber statt wie in anderen Jahren die ganze Stadt zu bespielen, konzentriert sich das Festival auf das Kasernenareal – damit pro Abend noch mehr Konzerte besucht werden können. Eine Jubiläumsfeier gibt es nicht. Allerdings will das BScene 2022 das Programm rund um die beiden Konzertabende mit Specials und Netzwerkveranstaltungen erweitern. Zum Beispiel findet am Samstagnachmittag ein Workshop in Zusammenarbeit mit Sonart Musikschaffende Schweiz zum Thema Spotify statt. Entdecken, vernetzen, geniessen: Das BScene bringt Publikum und Musikacts auf den neusten Stand. Auf die Zukunft!

Ukrainische Kulturschaffende melden sich zu Wort

Judith Schifferle, Sabine Knosala Der Krieg mit Russland erschüttert die Ukraine. Die ProgrammZeitung hat bei fünf ukrainischen Kulturschaffenden, drei im Kriegsgebiet und zwei wohnhaft in der Region Basel, nachgefragt, wie sie mit der aktuellen Situation umgehen.

Mark Belorusetz, geboren 1943, Übersetzer, Kiew, Foto: Belorusetz

Mark Belorusetz

Im Krieg geht die Arbeit schlecht. Ich muss Nachrichten hören, und die Gedanken an unsere Verwundeten, Obdachlosen oder Geflüchteten verunmöglichen die innere Ruhe, die für eine solche Arbeit wichtig wäre. Dennoch vertiefe ich mich regelmässig in ein Gedicht. Ich übersetze, um den Krieg für eine Stunde zu vergessen. Poesie erschafft und entwickelt die Sprache – auch die alltägliche. Es ist ein Eindringen der Sprache in Alltäglichkeit – so sagt es Paul Celan. Nur die Sprache erlaubt, die Wirklichkeit zu entdecken, auch die Wirklichkeit des Krieges, die Wirklichkeit des Friedens, die Wirklichkeit des Humanismus. «Wirklichkeit», sagte Celan, «ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.»

Dann kommen wieder die guten und schlechten Nachrichten, Anrufe und Briefe aus der ganzen Welt: Wie geht es? Hat man bei euch geschossen? Gibt es was zu essen? Ich schreibe Briefe, ich rufe zurück. Ich frage dasselbe, denn es ist elementar: Es verlangt nach Zeit, nach meiner Zeit.

Die grössten Sorgen bereiten mir die Ukrainerinnen und Ukrainer unter der Besatzung. Sie leben in schrecklicher Gefahr, beraubt, gefoltert oder erschossen zu werden.

Bürgerinnen und Bürger, Kulturschaffende, Intellektuelle machen schon viel für die Ukraine.

Wir bräuchten aber auch Jagdflugzeuge! Wir bitten um stärkere Sanktionen gegen den russischen Staat …, aber die Sache geht langsam. Wir bleiben in Kiew, wir laufen auch nicht in den Schutzbunker. Wahrscheinlich sind wir Fatalisten.

Evgenia Lopata, 1994, Kulturmanagerin, Czernowitz, Foto: Meridian Czernowitz

Evgenia Lopata

Es gibt ruhige Tage, an denen ich Artikel schreibe und in Flüchtlingszentren helfe. Es gibt aber auch Tage und vor allem Nächte, in denen ich mich im Bunker voller Angst und Panik verstecke. Am schwersten fällt mir die Kommunikation mit den Flüchtlingen, die momentan in meinem Haus wohnen. Es ist sehr schwer, mit unseren neuen Traumata umzugehen.

Ich bleibe in meiner Heimatstadt Czernowitz und helfe vor Ort den Geflohenen aus der Ost- und Zentralukraine sowie mit Transportieren von Hilfsgütern aus Rumänien. Man darf die Ukraine nicht im Stich lassen. Die Ukraine ist nur der erste Schritt Putins im Dritten Weltkrieg, den er begonnen hat.

Das Paul-Celan-Literaturzentrum müssen wir bald schliessen, wegen Schulden mussten wir alle Projekte stoppen. Das Festival Meridian 2022 sollte durch Staatsmittel gefördert werden, doch diese werden nun für die Armee geopfert. Und der Verlag leidet am eingebrochenen Buchmarkt, niemand weiss wie lange noch. Es kann auch für grosse, bekannte Verlage das Ende bedeuten. Mit der russischen Aggression in der Ukraine 2014 hat sich viel verändert. Schriftstellerinnen und Schriftsteller ziehen in den Krieg. Andere, die sich sonst wahrscheinlich nie ans Schreiben herangewagt hätten, setzen ihre Erfahrungen literarisch um. Die Revolution der Würde, die Annexion der Krim und der russische Krieg in der Ukraine haben radikale soziokulturelle Veränderungen herbeigeführt und den Literaturbereich dabei auch positiv deformiert.

Oleg Ljubkiwskij

Noch ist es ruhig in Czernowitz, und ich arbeite so viel wie möglich zu Hause. In meinem Atelier unter dem Dach im fünften Stock ist es zu kalt. Ich halte an der Planung für Oktober 2022 fest, dann soll meine neue Ausstellung «Gelobtes Land» in Lemberg und Czernowitz eröffnet werden. Bis jetzt habe ich fünf unvollendete Bilder.

Das Schicksal Europas hängt jetzt vollkommen von der Ukraine ab, die sich mit aller Kraft der russischen «Bestie» entgegenstellt. Dieser Krieg zeigt, wem Leben, Kultur und menschliche Werte in Europa wichtiger sind als Big Business und Milliardeneinnahmen. Die intellektuelle Elite der Schweiz sollte ihre starke Stimme zur Unterstützung der Ukraine genauso wie für den Frieden in Europa erheben. Jede Stimme ist ein Beitrag zum Sieg der Ukraine über den russischen Aggressor, ein Beitrag zu ihrer Zukunft, der Zukunft unserer Kinder und ein Beitrag zur Wahrung unserer gemeinsamen Kultur.

Das Böse hat kein Daseinsrecht: Die Menschheit wurde für den Gesang der Musen erschaffen und nicht für die Salven tödlicher Kanonen. Die Kultur siegt immer über das Böse – und sie wird auch dieses Mal gewinnen!

Halyna Petrosanyak

Es ist sehr schwer, sich mit der neuen grausamen Realität abzufinden. Auf das Schreiben kann ich mich kaum konzentrieren. Ich gebe dafür viele Lesungen: in München, Leipzig, Basel, Luzern … Ich fühle mich verpflichtet, allen zu erklären, dass die Ukraine, die ukrainische Sprache und Kultur 1991 nicht aus dem Nichts entstanden ist, sondern seit Jahrhunderten besteht und von der Welt nur deswegen übersehen wurde, weil unser Nachbar uns brutal daran gehindert hat, einen eigenen Staat aufzubauen.

Mich bedrückt, dass europäische Politiker Putin in den letzten 20 Jahren einfach haben

Halyna Petrosanyak, geboren 1969, aus Tscheremoschna und Iwano-Frankiwsk, lebt seit 2016 als Dichterin in Hofstetten, Foto: Dmytro Petryna Irena Zeitz, geboren 1965, aus Lviv (Lemberg), lebt seit rund 30 Jahren in Basel. Sie ist als Organistin sowie Orgel- und Klavierlehrerin tätig. Foto: zVg

machen lassen. Putin hat Tschetschenien vernichtet, Georgien zersplittert, Syrien bombardiert und so weiter. Wieso wurde er nicht gestoppt? Wieso wurde mit ihm weiter verhandelt und gehandelt?

Die Schweiz zeigt enorm viel Solidarität, wir erwarten aber auch, dass mehr politischer Druck auf Putin ausgeübt wird. Es ist kein Geheimnis, dass russische Oligarchen ihr Geld hier deponieren und Putin nahestehende Personen das Schweizer Bürgerrecht besitzen.

Ich mache mir Sorgen um die Zukunft meines Landes, um meine Geschwister, ihre Kinder und meine Freunde in der Ukraine. Ich habe meine Nichte abgeholt, sie kam aus Lviv (Lemberg) über Krakau nach Deutschland. Sie ist Studentin, ihre Mutter militärpflichtig und muss in der Ukraine bleiben. Sie arbeitet in einem Militärspital mit Verwundeten aus der Ostukraine.

Irena Zeitz

Die ersten Kriegswochen waren für mich der Horror. Jetzt geht es, da ich meine Mutter zu mir in die Schweiz holen konnte. Sie ist 83 Jahre alt und kann nicht mehr so gut gehen. Zwei Mal hat sie in Lviv (Lemberg) versucht, einen Zug nach Polen zu nehmen – ohne Erfolg. Die Stadt im Westen der Ukraine ist überfüllt mit Flüchtlingen. Auf dem Bahnhof stürmten die Leute die Züge. Meine Mutter konnte schliesslich zusammen mit zwei befreundeten Musikern mit dem Bus nach Warschau reisen, wo mein Mann sie in Empfang nahm. Nun wohnen alle drei bei uns – ein kleines Stück Glück im Elend. Die Wohnung meiner Mutter in Lviv fungiert nun als Flüchtlingslager, meine Nichte managt das.

Viele Freunde und Verwandte wollen aber nicht weg aus der Ukraine, sondern ihr Land verteidigen: Die Männer, die nicht an der Front sind, organisieren sich in Selbstverteidigungsgruppen. Sie patrouillieren auf den Strassen und vor Infrastrukturobjekten, denn es gibt auch einige Pro-Putin-Anhänger. Die russische Propaganda, zum Beispiel im russischen Fernsehen, wirkt, und es wurden im Vorfeld des Krieges auch Anhänger des Feindes gezielt ins Land eingeschleust.

Trotzdem dürfte jedem klar sein, dass Putins Idee, die Ukraine mit Gewalt in die Familie eines grossslawischen Reichs zurückzuholen, nicht funktionieren kann. Die Ukraine wird ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben, auch wenn sie jetzt militärisch besiegt werden sollte. Und ich glaube fest daran, dass die Ukraine am Schluss gewinnen wird.

Das Swiss Offspring Ballet, «piano piano», Foto: Karl Klaey

Spitzentanz contra Erdenschwere

Annette Mahro «Piano piano» ist klassisches Ballett in Reinform und eine tiefe Verneigung vor dem Klavier, das jede Tanzkarriere musikalisch begleitet.

Das neue Programm des Swiss Offspring Ballet, mit dem das Ensemble vom Zürichsee im April in Basel und im Juni in Dornach gastiert, kombiniert zwei Choreografien des Schweizers Franz Brodmann und des Franzosen Félix Duméril. Brodmann ist künstlerischer Leiter der Company, die sich als Nachwuchsplattform für voll ausgebildete Tänzerinnen und Tänzer versteht, denen es noch an Bühnenerfahrung fehlt. Für «piano piano» hat er Klavierkompositionen von Robert Schumann, Frédéric Chopin, Franz Schubert und Ludwig van Beethoven ausgewählt, die den Tanz selbst und die Musik zum Thema haben.

Vor allem die Chopin-Etuden begeistern Brodmann, der in den 1980er Jahren bei Maurice Béjart gelernt und später unter anderem in Zürich unter Heinz Spoerli getanzt hat und mit Blick auf Chopin von «Fingerfertigkeitsübungen von hohem künstlerischem Wert» spricht. Das gelte disziplinübergreifend. Sein aktuell aktives Ensemble aus sieben Frauen und zwei Männern tanzt im längeren ersten Teil des Abends in wechselnden Formationen tief aus dem klassischen Vokabular schöpfend. Ohne konkreten inhaltlichen Rahmen bleibt alles weitgehend abstrakt. Bilder dazu entstehen im Kopf. So war es bei Brodmann, wie er erzählt, etwa in einer Sequenz eine Begegnung von Clara und Robert Schumann mit dem jungen Johannes Brahms.

In den Köpfen der Mächtigen.

Inhaltlich greifbarer wird es bei Félix Duméril, in dessen «Mad Men Made» die Frage im Raum steht, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt auf den realen Bühnen dieser Welt, in den Köpfen der Mächtigen und ihrer Unterstützer. Die Tanzenden treten diesmal in dunklen Anzügen auf. Jeder Einzelne ist bemüht, ein Bild von sich selbst aufzubauen, es schlüssig zu bedienen und nie das Gesicht zu verlieren. Da wird in Kameras gelächelt oder hier ins Publikum, der Daumen voller Zuversicht in die Höhe gereckt. Zu analog veränderter Mimik kehren sich die Gesten in der nächsten Minute wieder um. Was sich vor und was hinter den Kulissen abspielt, verschwimmt. Die Musik stammt diesmal von Georg Friedrich Händel und dem Filmkomponisten Mario Batkovic.

Die eben noch schwebende Leichtigkeit ist der Erdenschwere gewichen. Als Schnittmenge bietet sich der Kontrast an. Franz Brodmann, der als Inspirationsquellen der eigenen choreografischen Arbeit allen voran die Handschriften von William Forsythe nennt, aber auch von Jiri Kylián oder der einer Generation jüngeren Crystal Pite, setzt auf Perfektion. Unumstösslich gilt für den gebürtigen Basler, der vor dem Swiss Offspring Ballet zwei Jahrzehnte lang Ballettmeister und Choreograf der ähnlich aufgebauten Schaffhauser Cinevox Junior Company war, dass ein wirklich guter Tänzer auf klassischem Terrain erstklassig sein müsse. Das gelte fürs Zeitgenössische ebenso wie für jeden Schwanensee.

Swiss Offspring Ballet, «piano piano»: Fr 8.4., Scala Basel, Sa 11.6., Neues Theater Dornach, jeweils 19.30, www.swissoffspringballet.ch Mixed Pickles #11: Plattform für Tanz- und Performancestücke. Do 28.4., Fr 29.4., jeweils 20 h, Roxy Birsfelden, www.theater-roxy.ch

Christian Fluri Leonie Böhm inszeniert am Theater Basel «König Teiresias».

Teiresias hat in Sophokles’ Stück «König Ödipus» einen kurzen, aber entscheidenden Auftritt: Der blinde Seher weiss als einziger, dass der Herrscher, den Ödipus getötet hat, sein Vater war, und Ödipus’ Frau seine eigene Mutter ist. Teiresias ist der Verkünder der schrecklichen Wahrheit. Ihn macht Leonie Böhm, Regisseurin, Performerin und bildende Künstlerin, zur Titelfigur ihres Stückes nach Sophokles, das sie «König Teiresias» nennt: «Unser Gedanke ist, dass das Sehen, das Wissen um Wahrheit ein königliches Prinzip unserer Gegenwart ist», erklärt die Regisseurin, die den antiken Stoff von heute aus befragt – so, wie sie das schon in packenden Theaterabenden getan hat wie unter anderem bei «Medea»: Diese Inszenierung von 2020 wurde ans Theatertreffen Berlin eingeladen.

«König Teiresias» am Theater Basel entwickelt sie mit Jörg Pohl, Mitglied der Schauspieldirektion, und Gala Othero Winter. Ein Kernpunkt des Stückes ist der Dialog zwischen Ödipus und Teiresias. Dieser leidet, weil er die Wahrheit kennt. Böhm sagt: «Am Anfang will der Seher nicht sprechen, entscheidet sich aber doch dafür.» Er erkennt die Notwendigkeit der Wahrheit. Vom Umgang mit Macht.

Wäre denn der Seher der bessere König? Böhm stellt die Frage, welcher Umgang mit Macht sinnvoll, menschlich ist. «Braucht es seherische Eigenschaften, die Erkenntnis tiefer Wahrheiten, um mit Macht richtig umzugehen?» Das Nachdenken über die Macht, auch über ihren Missbrauch, hat durch den Krieg gegen die Ukraine eine bittere Aktualität erhalten. «Die Erfahrungen, die wir gerade machen müssen, fliessen in die Entwicklung des Stückes mit ein», sagt Böhm.

Zurück zur Figur des Teiresias: Wissend ist er auch deshalb, weil er beide Geschlechter aus eigener Erfahrung kennt. Er tötete gemäss mythologischer Erzählung das weibliche Tier eines kopulierenden Schlangenpaars und wurde deshalb zur Frau. Als er Jahre später das männliche eines Schlangenpaars umbringt, wird er wieder zum Mann. In Basel spielen deshalb Pohl und Othero Winter den Teiresias: «Die beiden teilen sich die Rolle und ergänzen sich», merkt Böhm an. Und Teiresias ist als Seher blind. «Macht in unserer Welt der Überflutung mit Bildern nicht der Blick nach innen, die Erkenntnis seiner selbst, viel eher sehend?», so die Regisseurin.

König Teiresias: Premiere: 9.4., 19.30, Theater Basel, Schauspielhaus, www.theater-basel.ch

Teiresias (links) mit Odysseus, Paris

Dorothea Koelbing Das Figurentheater Michael Huber spielt «Lupineli» im Pup up, dem temporären Figurentheater für Familien.

Die Puppe Lupineli fühlt sich einsam und traurig. Deshalb lädt ihr Freund, der Vogel Robert, zwei seiner besten Freunde ein, den neunmalklugen Schachtelmann und Humpty Dumpty, den Engländer in Eiform. Sie wollen Lupineli aufheitern. Mit Fantasie und Mut entdecken sie zusammen unbekannte Gegenden und erleben richtige Abenteuer.

Zu seinem Stück «Lupineli» wurde der Figurenspieler Michael Huber durch das bekannte Bilderbuch «Lupinchen» von Binette Schroeder inspiriert. Im Pup up in Basel, seinem temporären Figurentheater für Familien, spielt Michael Huber die Geschichte auf Schweizerdeutsch für Gross und Klein ab vier Jahren. «Das Figurentheater eignet sich sehr für die Pflege der regionalen Sprache, weil man durch die Bilderwelten immer alles verstehen kann», meint Huber, «Gefühle und Klangfarben werden durch den Dialekt sehr lebendig.» Die Regie führt Matthieu Rauchvarger. Einblick in Welt des Theatermachens.

Im ehemaligen Restaurant Tapadera zum Krug eröffnete Huber das Pup up im Jahr 2020: «Im eigenen Theater bin ich das Theater», lacht er, «ich mache ja einfach alles selber!» Kontakt und familiäre Atmosphäre sind ihm wichtig. Im Eingangsbereich stehen Tischchen, an denen man auch malen kann, ungefähr 30 Personen finden Platz. Kinder und Erwachsene können die Geschichte auf der Bühne nicht nur miterleben, sondern auch sehen, wie das Zusammenspiel von Puppen, Kulissen, Licht und Schattenbildern auf der Bühne entsteht. Huber führt die Figuren, spielt Mundharmonika, ist gleichzeitig der Gärtner und der Figurenspieler, der die Figuren gärtnern und singen lässt.

Die ästhetische Kraft sorgfältig aufgebauter Bildstimmungen bedeutet ihm viel. «Der spielerische Umgang interessiert mich, der kindlich offene Zugang», meint der 69-Jährige, «Dinge verändern sich durch den Blick, der auf sie gerichtet wird.» Michael Huber findet spielend sowohl eine Verbindung zu den Lebenswelten der Kinder wie zu den Erfahrungen der Erwachsenen.

Lupineli: ab 23.4., Pup up – temporäres Figurentheater für Familien, Innere Margarethenstrasse 28, Basel, www.pup-up.ch → S. 41

«Lupineli», gespielt von Michael Huber, Foto: © Guido Schärli

Bühne frei für internationale Gäste

Nurgül Koyuncuer

Die Performancekünstlerin und Choreografin Venuri Perera, Foto: Perera Elsewhere

Die vierte «Kaserne Globâle» gibt Kunstschaffenden aus dem globalen Süden die Möglichkeit, sich in Basel zu präsentieren.

Es ist so weit, die «Kaserne Globâle» öffnet unter dem frisch renovierten Dach des kHaus der Kaserne Basel, aber auch im Roxy Birsfelden ihre Tore für Künstlerinnen und Künstler rund um den Globus. Ob Film, Performance, Theater oder Talk, das lange Wochenende bietet für jeden Geschmack etwas an. In der mittlerweile vierten Ausgabe präsentieren Künstlerinnen wie Azade Shahmiri aus dem Iran, Venuri Perera aus Sri Lanka oder Eisa Jocson aus den Philippinen ihre Arbeiten. In den letzten zwei Jahren mussten viele Kunstschaffende ihre Tätigkeit coronabedingt auf Eis legen: Keine politische Unterstützung, eine zu wenig ausgeprägte lokale Kunstszene oder schlicht Mittellosigkeit zählen zu den Gründen. Die Pandemie zwang viele in die Knie, doch die jüngsten Lockerungen der Massnahmen schenken hier und auch weltweit wieder Hoffnung.

Das Format «Kaserne Globâle», das im Schnitt einmal pro Jahr stattfindet, ermöglicht einen weltweiten Austausch zwischen den Kunstschaffenden und eine enge Zusammenarbeit mit der Basler Szene, was heute wichtiger ist denn je: «Mit ‹Kaserne Globâle› geben wir den Kunstschaffenden, die während der Pandemie in ihren Heimatländern über keine Ressourcen verfügten, eine Bühne und die Möglichkeit, sich zu präsentieren», sagt Zarah Mayer, Programmleiterin der Kaserne für Theater und Tanz. Auf die Frage, wie die Künstlerinnen und Künstler für die diesjährige Ausgabe ausgewählt wurden, erklärt Mayer, dass deren Arbeiten schon seit Längerem mitverfolgt wurden und massgebend für die Auswahl waren.

Die Frage nach dem Ich.

Eine davon ist Venuri Perera: Mit dem Stück «descendance» macht die Sri Lankerin eine One(wo)man-Bühnenshow mit musikalischer Begleitung. «Descendance» ist der Versuch, sich selbst in einer Welt wiederzuerkennen, die uns täglich mit Informationen verschlingt. Wie der Titel verrät, geht es um die Herkunft, also um die Identitätsfrage. Wer bin ich und wie kann ich mich verändern, sodass ich von anderen anerkannt werde? Perera versucht diesen Fragen mit einem «Ritual», wie sie es nennt, auf der Bühne nachzugehen. Sie ist Performancekünstlerin und Choreografin aus Colombo. Sie gehört zur oberen Schicht von Sri Lanka und ist sich diesen Privilegien bewusst. Sie verarbeitet in ihrer Arbeit die Kolonialgeschichte ihrer Heimat und stellt sich der Nationalismus-Frage. Immer wieder fragt sie sich, woher sie kommt und wohin sie geht. Das Patriarchat, gesellschaftliche Machtdynamiken und die Grenzpolitik sind unter anderem Themen, die ihre Kunst inspirieren. Im Anschluss an «descendance» findet ein Nachgespräch mit Mayer auf Englisch statt.

Kaserne Globâle: Do 7.4. bis So 10.4., Kaserne Basel, www.kaserne-basel.ch → S. 39, Roxy Birsfelden, www.theater-roxy.ch

Dagmar Brunner Die Obere Mühle Oltingen lädt mit historischem Charme zu vielfältigen Aktivitäten ein.

Schon die Fahrt im Autobus durch die hügelige Baselbieter Landschaft ist ein Genuss, und das anmutig gelegene Dorf gilt als eines der schönsten im Kanton. In Oltingen leben knapp 500 Menschen, darunter viele handwerklich Tätige. Und es gibt einige sehenswerte Bauten, etwa die Obere Mühle, die seit Ende 2019 im Besitz einer Genossenschaft ist und umsichtig wiederbelebt wird. Der denkmalgeschützte Bau hat mittelalterliche Wurzeln und eine bewegte Geschichte. 1986 wurde er samt der Scheune sorgfältig renoviert und schliesslich zu fairen Konditionen an die heutige Betreibergemeinschaft verkauft, die den Gebäudekomplex liebevoll eingerichtet hat. Die unterschiedlichen Räume werden für eine breite Palette von Aktivitäten genutzt und können auch gemietet werden. Ein lauschiger Garten gehört ebenfalls zum Anwesen.

Die Obere Mühle ist ein Treffpunkt für Ortsansässige und Auswärtige, für Gross und Klein. Die Events finden zum Teil in Zusammenarbeit mit anderen Veranstaltern statt: Konzerte verschiedener Richtungen, Erzählabende und Märchenstunden, Kasperlitheater und Kabarett, Seminare, Vorträge und Lesungen, Filme und Ausstellungen, Klangperformances und Installationen. Ausserdem werden Gesundheits- und Kreativkurse angeboten, es gibt eine traditionelle Polsterei, eine Töpferwerkstatt, eine Kleidertauschbörse, eine Gästewohnung (B & B) und eine Ladestation für E-Bikes.

Lokal verankert und weltoffen.

Wer vor zwei Jahren zu Beginn der Coronakrise ein Projekt gestartet hat, hat keine einfache Zeit hinter sich. Aber das Mühlen-Team wusste sie innovativ zu nutzen und ist immer noch mit viel Elan bei der Sache. Das Kulturprogramm wird von Fidelio Lippuner betreut, der jahrelang in den Werkstätten des Theaters Basel tätig war. Er wohnt auch in der Mühle, ist für Hauswartung und Polsterei zuständig, seine Partnerin Thekla Michel ist Präsidentin der Genossenschaft. «Wir wollen diesen Ort als Arbeits- und Begegnungsstätte etablieren und so das Dorfleben mitgestalten», sagt er. Nachhaltigkeit und Do-it-yourself werden dabei grossgeschrieben. So kann man in einem Workshop etwa ein Schafwollduvet herstellen, dessen Wolle von lokalen Tieren stammt.

Willkommen sind auch Kooperationen mit Hochschulen, Handwerksbetrieben, sozialen Einrichtungen und Kunstschaffenden aus nah und fern. Und wer einfach eine Auszeit braucht, findet im Bed-and-Breakfast eine freundliche Oase. Kurz: Ein Besuch an diesem kreativen Ort lohnt sich, zumal in den nächsten Monaten wieder viel geboten wird, unter anderem ein «Insektenkrimi», Jazzkonzerte, Ausstellungen, ein Duft-Atelier und ein Festival, das sich interdisziplinär den vier Elementen widmet.

Obere Mühle Oltingen, Schafmattstr. 71, Oltingen, www.oberemühleoltingen.ch Park im Grünen, Foto: zVg

GRENZGÄNGE

Iris Kretzschmar Der neue Frauen-Stadtrundgang erkundet auf dem Areal des ehemaligen Brüglinger Guts den Zusammenhang von Natur und Geschlecht.

Der Frauen-Stadtrundgang «Nur Kraut und Rüben am Stadtrand?» führt vom Dino, dem Wahrzeichen der ehemaligen Grün 80, bis zum Dreispitzareal. Auf der Wanderung entlang der Kantonsgrenze werden mit kleinen szenischen Einlagen Umweltfragen erläutert, Geschichten über die Bewohnerinnen und Bewohner der Villa Merian weitergegeben und die Geschichte des Dreispitzareals in Hinblick auf geschlechterrelevante Themen betrachtet.

Das grüne Naherholungsgebiet mit Kräutergarten, Rhododendren und der bekannten IrisSammlung der Gräfin von Stein-Zeppelin (1905–1995) bietet sich geradezu an, um über Pflanzenheilkunde, Ökologie und unser Verhältnis zur Geschichte nachzudenken. Mittendrin eine Villa, die einst dem berühmten Basler Ehepaar Merian als Sommerresidenz diente. Hier steht Margaretha Merian-Burckhardt (1806–1886) im Fokus, die nach dem Tode ihres Mannes 1858 seine zahlreichen wohltätigen Stiftungen weiterführte. Obwohl selbst auch sehr einflussreich, stand sie lange in seinem Schatten. Zur Heirat 1824 erhielten die beiden den 56 Aren umfassenden Landsitz geschenkt. Eine Grossnichte schreibt über Margaretha: «In Brügglingen gehörte ihr das ganze Dorf mit seiner Mühle und der Landwirtschaft als ‹Leibeige›. Sie trat ungeklopft wie eine Mutter überall ein. Alles gehorchte ihr auf’s Wort.» Von wegen Kraut und Rüben!

Entfernt verwandt ist Maria Sibylla Merian (1647–1717), die rund 150 Jahre vorher als Naturforscherin und Künstlerin in die niederländischen Kolonien aufbrach, um Insekten und Pflanzen zu studieren. Viele ihrer kostbaren Aquarelle und kolorierten Stiche sind im Kunstmuseum Basel zu sehen. In dieser Zeit erhält auch die Laienmedizin und insbesondere Frauenheilkunde einen zentralen Stellenwert, ersichtlich an Fachliteratur von Heilerinnen und Apothekerinnen! In Bezug auf damals verbotene Schwangerschaftsabbrüche spielten Pflanzen mit abtreibender Wirkung, die seit der Antike bekannt waren, eine wichtige Rolle. Von wegen Kraut und Rüben!

«Nur Kraut und Rüben am Stadtrand? Ein Spaziergang zwischen Dino und Dreispitz»: Premiere Sa 9.4., 14 h, Treffpunkt Spielplatz beim Restaurant Seegarten, Park im Grünen (ehemals Grün 80), www.frauenstadtrundgang-basel.ch

Lesen in einem Zug

Dagmar Brunner Die Remise des «Waldeburgerli» wird auch kulturell genutzt.

An Ostern 2021 war die Waldenburgerbahn zum letzten Mal öffentlich im Einsatz. Ein paar Tage darauf wurden die 17 alten rot-weissen Zugwagen abtransportiert, um ab 2025 in der Slowakei ihren Dienst zu versehen. 140 Jahre lang (ab 1880) war die schmalste Schmalspurbahn der Schweiz in Betrieb (Spurweite 75 Zentimeter) und wurde zu einem Oberbaselbieter Kulturgut, das auch von der städtischen Bevölkerung für Ausflüge geschätzt und vor allem zur Warenbeförderung genutzt wurde. Erst 1953 wurde sie elektrifiziert. Derzeit wird die 13 Kilometer lange Strecke komplett umgebaut und für Tramzüge mit Meterspur eingerichtet.

Der historische Dampfzug der Waldenburgerbahn erhielt indes eine neue Bleibe. Die «Remise Waldeburgerli» ist ein moderner Holzbau neben dem Restaurant und der Station Talhaus in Bubendorf, der 2018 vom Verein Dampfzug Waldenburgerbahn in Kooperation mit der Talhaus AG, der BLT und dem Swisslos Fonds errichtet wurde. Nebst der alten Dampflok sind ein restaurierter Personen- und ein Gepäckwagen untergebracht. Abgesehen davon, dass man in diesem kleinen Museum einiges zur Technik und zur Geschichte des Tals erfährt, kann man in einer Modell-Dampfbahn (mit Echtdampf!) um das Gelände herumfahren und auf dem Dachboden des Restaurant-Gebäudes eine riesige Hø-Anlage bewundern.

Ein Ort fürs Wort und mehr.

Die stimmungsvolle Remise ist aber nicht nur für Bahnfreunde attraktiv. Sie kann für private Anlässe günstig gemietet werden und wird auch für öffentliche Veranstaltungen genutzt. Die Verwaltungsratspräsidentin der Talhaus AG und Autorin Esther Maag möchte den Personenwagen zudem kulturell bespielen und bietet damit ein Forum für Solo-Vorstellungen an. Die Einstiegsplattform dient als kleine Bühne, und das Publikum nimmt im Bahnwagen an Vierer- und Zweiertischen Platz (35 Personen). Für Literatur ein geeignetes Setting.

So lancierte Maag die Reihe «Wort für Wort in einem Zug», in der Schreibende ihre eigenen Texte zu einem vorgegebenen Thema präsentieren. Mitmachen können auf Anmeldung bis zu sieben Personen pro Abend. In diesem Jahr sind Beiträge gefragt zu «Mein Alltag – ein Desaster» (10.4.), «Gärten» (12.6.), «Haifischbecken» (21.8.) und «Daheim» (9.10.). Ein Vortrag darf maximal 10 bis 15 Minuten dauern, weitere Bedingungen gibt es nicht. In der Art eines Salons können Publikum und Schreibende sich danach über die Texte austauschen. Diese werden sodann auf der Website veröffentlicht.

Die Reihe ist 2019 erfolgreich gestartet und brachte bisher rund ein Dutzend Autorinnen und Autoren aus der Region zu Gehör. Wer mag, kann sich vor den Veranstaltungen im Restaurant Talhaus italienisch verköstigen.

www.wortfuerwort.ch, www.waldeburgerli.ch, www.talhaus.ch Modell-Dampfbahn: jeden letzten Sonntag der Monate April bis Oktober

Der restaurierte Personenwagen steht bereit fürs Publikum, Foto: Dagmar Brunner

Verena Stössinger Peter Gisi legt mit «Mutters Krieg» einen grossen, bedrückend aktuellen Roman vor.

Der Krieg ist in Mutter drin. Sie hat ihn als Kind eines niederländischen Unternehmers auf Java zwar überlebt, all die Angst und die Gewalt, Hunger und Identitätsverlust, Gefangenschaft in «Lagern» und unfassbare Grausamkeit, aber das ging nur, weil sie sich «psychisch abwesend gemacht» hat. Jetzt lebt sie nur noch in Büchern, umhüllt von Zigarettenrauch, in stummer Einsamkeit. Ihr ältester Sohn spürt ihre Not und will ihr helfen, löst sich dabei aber «wie ein Stück Zucker in Mutters Welt auf».

Peter Gisi erzählt in seinem Roman von «Mutters Krieg». Das, was sie ihm kurz vor ihrem Tod davon noch erzählen mochte, aber auch, wie er die Familie geprägt hat, explosiv aufgemischt von der Kälte und vom Jähzorn des Vaters, der meint, die Schweizer hätten es auch nicht leicht gehabt. Es ist ein «offener Krieg» zwischen den Eltern. Und der Bub, die Ich- Figur, macht sich klein «wie ein Abfallkübel», wird von Ängsten gejagt, versagt in der Schule, wird geschlagen, verhöhnt und ist zu Kameraden ebenso brutal – er hat nur seine Fantasiewelten, in denen er aufblüht. Selten sind es friedliche, warme, kreative, meist aggressive. Indianerkämpfe, Wolfjagden, Landserbrutalität. Räume, in denen es nur Sieg gibt oder Zerstörung und Tod. Schonungslos, genau und eindringlich.

Mutter lässt sich schliesslich scheiden und zieht mit den drei Kindern in die Niederlande. Es soll ein Neuanfang sein, doch natürlich kommen alle Geschichten mit. «Überleben ist eine Mission», nach wie vor; für den Bub führt es in Verwilderung. Peter Gisi erzählt davon schonungslos, genau und eindringlich. Er reiht Bild an Bild, Szene an Szene und springt durch die Zeiten, die Jahre. Die Fragmente sind von grosser poetischer Kraft, nicht nur die Naturschilderungen und seltenen Glücksmomente – man spürt den Lyriker, der er ist. Und doch tut er weh, dieser schwarz glänzende, grossartige Text, und es ist besonders schwer, ihn jetzt zu lesen, wo in Europa Krieg herrscht. Aber vielleicht auch gerade deshalb wichtig? Weil er zeigt, was Kriege anrichten. Nicht nur bei denen, die ihm physisch direkt ausgesetzt sind.

Peter Gisi, «Mutters Krieg»: Lenos Verlag, 2022. 120 S., CHF 26, erscheint am 5. April

Dagmar Brunner Julia Vermes sammelt Kunstvolles rund um Buch und Schrift.

In seiner Novelle «Bibliomanie» schildert Gustave Flaubert, wie ein Bücherliebhaber zum Mörder wird. So weit geht Julia Vermes’ Leidenschaft nicht, aber wie dem Protagonisten Flauberts liegt ihr weniger an den Texten. Vielmehr schätzt sie den schöpferischen Ausdruck eines Werks und seine sinnlich erfahrbaren Qualitäten. Sie hat sieben exquisite Sammlungen aufgebaut, die besondere Bücher und verwandte Objekte umfassen. Alles begann mit (illustrierten) Ausgaben der schmucken InselBücherei. Es folgten Brieföffner, Exlibris, Künstlerbücher, Alphabete und Künstlerkataloge sowie umgestaltete Insel-Bändchen zum 100-jährigen Bestehen der Reihe 2012. Ihre Funde konnte sie auf Flohmärkten und Messen, im Buch- und Kunsthandel erwerben oder tauschen, und viele Unikate sind im Kontakt mit Kunstschaffenden entstanden.

Julia Vermes sammelt seit rund 50 Jahren und ist international vernetzt. 1940 in Budapest geboren, bildete sie sich nach der Handelsmatur zur Dekorateurin aus und setzte sich 1967 mit ihrem damaligen Mann in die Schweiz ab. Sie arbeitete zunächst auf ihrem Beruf und dann über 30 Jahre als Steuerberaterin bei einer Privatbank in Basel.

Umgeben von Kunst.

Im Gegensatz zu Flauberts Held ist Julia Vermes jedoch keine Sammlerin, die ihre Schätze einsam und eifersüchtig hütet, sondern stellt sie gerne für Ausstellungen zur Verfügung (derzeit in Köln) und hat auch Teile davon an diverse Museen und Bibliotheken verschenkt. Besonders wichtig ist ihr der Austausch mit zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern im In- und Ausland. Von ihren wohlgeordneten Kollektionen weiss sie zudem kenntnisreich und lebendig zu erzählen.

Einblick in eine grosse Auswahl ihrer Sammlung von Künstlerbüchern gibt nun eine neue, attraktive Publikation. Und man staunt über die enorme Vielfalt an Ideen, Stilen, Techniken, Formen und Materialien. Da gibt es bemalte, bedruckte, beschnittene, gelochte, collagierte Werke: Leporelli, Textilbücher, Schachteln, Mappen, Blätter und vieles mehr – inspirierende Kreationen voller Überraschungen. Sie erfüllen Julia Vermes’ Wunsch, «umgeben von Kunst» zu sein.

«Im Zauber der Künstlerbücher», Aus der Sammlung von Julia Vermes: 172 S., kt., CHF 20, Bezug bei julia.vermes@hispeed.ch

Basia Irland (1946, USA), «Bound Volume I», 1983, Unikat, Mischtechnik, Schnur, Stein, Foto: zVg

Sabine Knosala Der Roman «Hundepark» von Sofi Oksanen thematisiert die Kinderwunschindustrie in der Ukraine.

Eine Frau sitzt auf einer Bank in Helsinki und beobachtet eine Familie mit zwei Kindern, die ihren Hund im Park laufen lässt. Eine andere Frau setzt sich daneben. Schon bald stellt sich heraus, dass die beiden eine gemeinsame Vergangenheit haben. «Hundepark» heisst der neue Roman der estnisch-finnischen Autorin Sofi Oksanen. Doch um Hunde geht es darin mitnichten: Olenka, die Frau auf der Parkbank, erzählt in Rückblenden von ihrer Jugend in der Ukraine – einem Land, in dem Armut und Korruption herrschen und wo jeder schauen muss, wie er durchkommt. Die Männer schuften in illegalen Bergwerken und die Frauen setzen ihren Körper ein, um über die Runden zu kommen – so auch Olenka. Nach einem gescheiterten Versuch als Model fängt sie bei einer Agentur an, die Eizellenspenderinnen und Leihmütter an zahlungskräftige, aber kinderlose Paare aus dem Westen vermittelt. Dort macht sie Karriere und wirbt Daria als Spenderin an, eine Bekannte aus Kindheitstagen, die aufgrund ihrer Schönheit schon bald zum Star der Agentur wird. Das geht so lange gut, bis Olenka einem der mächtigsten Männer im Land dank Daria zu einem Kind verhilft – mit fatalen Folgen.

Gekonnt springt der Roman zwischen der Gegenwart 2016 in Finnland, wo Olenka unter falscher Identität als Putzfrau lebt, und den Ereignissen rund zehn Jahre zuvor in der Ukraine hin und her. Lange weiss man nicht, was zu Olenkas dramatischer Flucht aus ihrer Heimat geführt hat. Stück für Stück löst die Ich-Erzählerin dieses Rätsel selbst auf, in dem sie einem mysteriösen Du (und damit auch der Leserschaft) zu erklären versucht, wie alles zusammenhängt. Alltag und politische Verhältnisse.

Das ist sprachlich nicht immer leicht zu lesen, aber raffiniert gemacht. Und es erlaubt der Autorin, mehrere Themen zu behandeln. Der Schwerpunkt liegt auf der globalen Kinderwunschindustrie: Reiche Leute aus dem Westen können sich die Ware Kind in einem Land kaufen, wo Menschen aufgrund lascherer Gesetze und wirtschaftlicher Not noch nicht so gut geschützt sind wie bei uns. Aber auch der Alltag und die politischen Verhältnisse in der Ukraine kommen zur Sprache – inklusive russischer Annektion der Krim 2014. Leider hat der Roman durch den Krieg mit Russland seit seinem Erscheinen auf Deutsch im Januar deutlich an Aktualität gewonnen.

Sofi Oksanen, «Hundepark»: Kiepenheuer & Witsch, 2022. 480 S., gb., ca. CHF 35

Team Kolibri Ein Sachbuch geht dem Weinen auf den Grund.

Weinen gehört zum Menschsein. Es gibt viele Gründe, warum man weinen oder heulen muss, aus Freude, aus Wut, aus Schmerz und aus Trauer … Und es gibt verschiedene Tränen, die basalen, die reflektorischen und die emotionalen, so erfahren wir. Wer weiss das schon? Am Beispiel einer Grossfamilie werden unterschiedliche Gründe und Formen des Weinens beschrieben, mal ganz sachlich, allgemein, mal ganz individuell und spezifisch.

In der weitläufigen Familie der Autorin kommen die verschiedensten Menschen und Formen des Zusammenlebens vor, alle haben auch ganz unterschiedliche Gründe zu weinen. Und manchmal kann man sie auch nicht genau benennen, dann ist es vielleicht Weltschmerz: «Das ist ein Gefühl von schwerer Traurigkeit. Oma Ostsee bekommt es, wenn sie an die schlimmen Dinge denkt, die auf dieser Welt passieren und sich dabei so hilflos wie ein Wattwurm fühlt.»

Emotional, körperlich, sprachlich.

Nicht nur die emotionale Seite wird in diesem klug und anregend aufgebauten Sachbuch beschrieben. Man erhält auch Informationen zur Anatomie des Auges, zur Physiologie des Weinens und zur Beschaffenheit der Tränen. Begriffe und Wendungen, die in Verbindung mit dem Weinen in die Sprache Eingang gefunden haben, werden genannt und erklärt, wie etwa Heulsuse oder Krokodilstränen. Und dass nicht überall auf der Welt gleich mit Tränen und Weinen umgegangen wird, wird auch jüngeren Kindern auf verständliche Weise klargemacht.

Der Autorin und der Illustratorin ist ein spannendes Sachbuch über das Weinen und die damit verbundenen Gefühle der Menschen gelungen. Es macht den Weg frei für Anteilnahme und Identifizierung mit den verschiedensten Menschen und ihrer Trauer. Die Illustrationen sind grossflächig vor allem in Weiss, Rot und Blau gehalten, oft bei Nacht und am Wasser, was dem Buch passend zu den Gefühlen manchmal einen melancholischen, manchmal einen cholerischen Anstrich verleiht.

Frauke Angel (Text)/Stephanie Brittnacher (Ill.), «Heul doch! Vom Heulen, Plärren, Weinen und Flennen»: Tyrolia Verlag, Innsbruck, 2021. 28 S., gb., CHF 23.90 «Weltsichten» sind Kinder- und Jugendbuchempfehlungen der Lesegruppe Kolibri von Baobab Books: www.baobabbooks.ch

Samuel Herzog Postkarte aus dem Val Grande, Italien.

Plötzlich mischt sich ein Räuspern in das Rauschen des Flusses, der tief unter mir durchs Val Pogallo tobt. «Scusi! Sorry! Posso …» Ich springe zur Seite. Ein junger Mann in Turnschuhen und fluoreszierendem Höschen fliegt an mir vorüber, eine sonnengegerbte, mit nichts als Muskeln und Sehnen vollgepumpte Lederhaut. Beim Überholmanöver allerdings hängt sich sein Stock in einem Gebüsch fest, wird ihm die Schlaufe vom Handgelenk gezupft.

«Merda!», schimpft er, bleibt mit einem Ruck stehen, drückt schnell einen Knopf an seiner Sportuhr, «ok, prendiamo pausa». Ich entschuldige mich. «Niente, non è successo niente», sagt er grosszügig und erzählt mir dann ohne Übergang von den sieben Gipfeln, die er an diesem Morgen schon bezwungen hat, «molto technico, molto pericoloso». Als er merkt, das ich als Ortsfremder das Ausmass seiner Taten wohl nur ungenügend ermessen kann, wechselt er flugs das Thema und zeigt durch den Buchenwald hinab in Richtung Fluss.

«Mein Urururur… Habe ich jetzt schon eins zu viel? Non importa. Einer meiner Vorfahren hat hier noch Holz ins Tal geschafft, Ende des letzten, ach was sage ich, des vorletzten Jahrhunderts. Ich habe ein Foto, das zeigt ihn vor einer Art Seilbahn über dem Rio Pogallo. Damit beförderte man die Stämme, eine wahnsinnige Anlage, elektrisch. Und mein Opa hat Oberarme auf dem Bild! Te lo giuro! Der brauchte kein Fitnesszentrum!»

Er fasst mit zwei Fingern etwas Haut über seinem Bizeps und lässt den Muskel dann zucken wie ein Geisslein im Winterwind.

«Wir haben das in der Familie.»

«Das Zucken?»

«Ach, und auf dieser Autostrada hier», er weist auf den Waldpfad vor uns, «da war er sicher täglich unterwegs.»

Schweizer Ingenieurskunst.

Tatsächlich stehen wir auf einem ungewöhnlich gut ausgebauten Fussweg, der von Cicogna nach Pogallo führt. Die «Strada» besteht zur Hauptsache aus mächtigen, flachen Granitplatten, die so akkurat mit Mauern befestigt und so präzise im Boden verankert wurden, dass man sie auch 150 Jahre später noch gut mit einem Wagen befahren kann.

Ihr Erbauer war ein Schweizer Ingenieur namens Carlo Sutermeister, der in der Landschaft und in den Köpfen der Leute hier multiple Spuren hinterlassen hat – nicht nur als Holzhändler und Textilunternehmer, sondern auch als Konstrukteur des ersten Wasserkraftwerks von Italien, dank dem die Strassen von Pallanza und Intra schon im Frühling 1892 elektrisch leuchteten – früher noch als die Strassen von Rom. Die Zentrale seiner Holzunternehmung lag in Pogallo. Das Dorf ist heute nur noch eine Wiese mit ein paar Steinruinen mitten im Nationalpark Val Grande.

«Ohne meinen Opa gäbe es auch den Dom von Mailand nicht!» Immer noch zuckt sein Bizeps, lässt sich offenbar nicht so leicht abstellen.

«Ist der nicht aus Stein?»

«Schon, aber ohne Holz hätte man ihn nicht bauen können. Und alles Holz stammte aus diesem Tal. Mein Opa, sage ich doch.»

«Familie eben!»

«Esattamente! Aber auch du wirst es schaffen. Bis Cigogna sind es nur noch zwei Kilometer.» Er schaut auf seine Uhr, drückt wieder einen Knopf und nimmt die Stöcke locker in die Hand. «Ich denke, dass ich in zehn Minuten da sein werde, wenn es nicht viel Verkehr hat in neun. Ciao!» Und noch ehe ich die Hand zum Gruss heben kann, fliegt er schon über die Strada Sutermeister davon und ist nach wenigen Augenblicken verschwunden. Jetzt höre ich das Rauschen des Rio Pogallo wieder, der sich tief unten im Tal in Richtung Lago Maggiore gräbt – ohne Baumstämme heute, aber mit viel Familiengeschichte.

«Ohne meinen Opa gäbe es auch den Dom von Mailand nicht!

Strada Sutermeister, Foto: Samuel Herzog LITERARISCHE REISEKOLUMNE.

Dagmar Brunner Manons Werk kreist vielfältig um Identitäts- und Geschlechterfragen.

Eine grosse Einzelschau in der Fotostiftung Winterthur würdigt derzeit die Schweizer Künstlerin und Performerin Manon. Anlässlich ihres 80. Geburtstages war sie bereits 2020 geplant und wurde coronabedingt verschoben. Gezeigt werden Manon-Klassiker neben weniger bekannten Werken, frühe Serien und Fotoarbeiten der letzten Jahre. Vor Beginn der Ausstellung verweist ein Spiegel mit dem Lippenstift-Vermerk «Too late» und umgeben von verwelkten Rosen auf zentrale Themen ihres Oeuvres: Schönheit, Erotik, Vergänglichkeit. Ein Film vermittelt Einblicke in ihre bewegte Biografie.

Glamourös und rebellisch.

Ohne Kunst wäre sie kaum noch am Leben, sagt Manon. Sie wird als Rosmarie Küng 1940 in Bern geboren und wächst in St. Gallen auf. Als ungeliebtes, schüchternes Kind verbringt sie ihre Jugend meist in Heimen, macht früh Psychiatrie-, bald auch Drogenerfahrungen. Nach Kunstgewerbe- und Schauspielschule ist sie vielseitig schöpferisch tätig, wird zu einer umstrittenen Kultfigur. Sie tritt als Femme fatale auf, provoziert mit fotografischen Selbstporträts, Kunstaktionen und Installationen. So präsentiert sie etwa ihr sinnlich ausgestattetes Schlafzimmer als «Lachsfarbenes Boudoir», stellt in einem Schaufenster sieben Männer aus, erzählt in verschiedenen Rollen und Arrangements vielschichtig von Lust, Angst und Schmerz, von Freiheit, Macht und Verlust. Heute gilt sie als wichtige Wegbereiterin und Vertreterin feministischer Kunst.

Zu Manons Vorbildern gehört die britische Autorin Virginia Woolf (1882–1941), die 1928 den avantgardistischen Roman «Orlando» schrieb. Die Hauptperson ist erst männlich, dann weiblich und erlebt alterslos rund 400 Jahre. Eine Gruppenausstellung im Fotomuseum Winterthur befasst sich mit der Figur sowie den Themen Identitätskonstruktion, Geschlechterfluidität und Endlichkeit. Kuratiert wurde sie von der Schauspielerin Tilda Swinton, die 1992 die Hauptrolle im gleichnamigen Film von Sally Potter spielte.

«Manon»: bis So 29.5., Fotostiftung Winterthur, www.fotostiftung.ch «Orlando: bis So 29.5., Fotomuseum Winterthur, www.fotomuseum.ch Mit Begleitveranstaltungen, Publikation «Manon» (D/E/F) bei Scheidegger & Spiess, Zürich, 2019. 352 S., zahlr. Abb., gb., CHF 49 Weitere Werke von Manon im Kunsthaus Zürich, Fr 8.4. bis So 17.7., Aargauer Kunsthaus, Sa 27.8.22 bis So 8.1.23) Ausserdem: Das Kunsthaus Zürich zeigt Performances und Aktionen von Yoko Ono aus den 1960er/70er-Jahren: bis So 29.5., www.kunsthaus.ch Julian Salinas, «Fata Morgana»: bis Sa 23.4., Galerie Monika Wertheimer, Hohestr. 134, Oberwil, www.galeriewertheimer.ch «Kleinbasel», mit Fotografien von Maria Patzschke, Ursula Sprecher, Roland Schmid, Christian Jaeggi und Bildern aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt: bis So 26.6., jeweils Sa–So 11–17 h, Bellevue – Ort für Fotografie, Breisacherstrasse 50, Basel, www.bellevue-fotografie.ch

Manon, aus der Serie: Borderline, 2007, © Manon/2022, Pro Litteris, Zürich Laurent Güdel, «Over the Horizon», 2022

Marc Lee, Iris Qu Xiaoyu & Shervin Saremi, «YANTO – Yaw And Not Tip Over», 2022

Medientechnologie und Umwelt

Iris Kretzschmar Das Haus der elektronischen Künste zeigt Werke der drei Gewinnerinnen und Gewinnern der Pax Art Awards.

Der Schweizer Medienpreis wurde 2021 zum vierten Mal verliehen und unterstützt ein künstlerisches Medium, das in unserer Gesellschaft sehr präsent, aber schwierig auszustellen ist. Dank des Preisgeldes von insgesamt 60 000 Franken konnten Marc Lee, Chloé Delarue und Laurent Güdel neue Werke erarbeiten, die noch bis zum 24. April im Haus der elektronischen Künste (HEK) besichtigt werden können. Die Beschäftigung mit den medienbasierten Werken öffnet die Augen für die Komplexität der technisch-virtuellen Möglichkeiten und Chancen, unsere Umwelt zu verändern.

Allen Arbeiten ist ein Nachdenken über die Zukunft in Bezug auf Technik, Menschheit und Natur gemeinsam. Marc Lee kümmert sich mit «Yanto» (2022, Yaw And Not Tip Over) um den bedrohten Zustand der Weltmeere. In einer in bläulich-grünlichen Farben leuchtenden Unterwasserszenerie tauchen Meerestiere auf. Wir blicken hier in die submarine Zukunft und erfahren, wie 2052 der gefährdeten Ökologie der Ozeane mit künstlicher Intelligenz geholfen werden könnte: Es schwimmen neue widerstandsfähige Fischsorten über den Screen, alles nummerierte Wesen, die der Umweltverschmutzung trotzen können. Die Arbeit ent-

stand zusammen mit der chinesischen Künstlerin Iris Qu Xiaoyu und für den Sound zeichnet der iranische Komponist Shervin Saremi verantwortlich. Eine weitere Arbeit von Lee, «Used To Be My Home Too», verkoppelt zwei Websites: In iNaturalist laden Userinnen und User weltweit Pflanzen, Pilze und Tiere hoch, die mit Daten auf RedList.org, einer Plattform für gefährdete und ausgestorbene Lebewesen, abgeglichen werden.

Verlebendigte Geräte.

Laurent Güdel sammelt Frequenzen, die er zu audiovisuellen Arbeiten verarbeitet. «Unknown Artist» (2021), ist eine 18-stündige Audiodatei, versehentlich aufgenommen auf der Reise des bestellten Gerätes von der Verpackung in Asien bis zum Empfänger in der Schweiz. Chloé Delarue zeigt geheimnisvoll wirkende Installationen aus ihrem laufenden Zyklus «TAFAA» (Toward A Fully Automated Appearance). Der Titel geht auf den Artikel eines Ökonomen zurück, der sich Gedanken über die Auswirkungen des technologischen Fortschritts auf die menschliche Existenz machte. Delarues mehrteilige Environments bestehen aus unterschiedlichen Materialien wie Leuchtstoffröhren, Latex oder Metallen. Sie zitieren Elemente aus Computerspielen und Internetkultur. Die abstrakten Körper erinnern an technoide Organismen, die letzte Reste eines organischen Wesens aufleuchten lassen.

«HEK Schweizer Medienkunst: Marc Lee, Chloeé Delarue, Laurent Güdel – Pax Art Awards 2021»: bis So 24.4., Haus der elektronischen Künste (HEK), Münchenstein, www.hek.ch

Chloé Delarue, «TAFAA – FERTILITY DEVICE (COOL AIR)», 2020 Fotos: Franz Wamhof Lika Nüssli, «Ohne Titel», On Stage-Zeichnung entstanden in der «Zeichnungsdisco» mit Dario Forlin im Palace St. Gallen, 2018

Bewegte Zeichenkunst

Christoph Dieffenbacher Das Cartoonmuseum Basel präsentiert eine Retrospektive und neuere Arbeiten der vielseitigen Künstlerin und Zeichnerin Lika Nüssli.

Sie beobachtet, erforscht und untersucht alles, was sie um sich herum antrifft, um es in eigene, neue Formen zu bringen. Ob mit Stift, Pinsel, Textilien, Sprühdose oder dem eigenen Körper: Die St. Gallerin Lika Nüssli (geboren 1973) bewegt sich in ganz verschiedenen Feldern zeitgenössischer Kunst – von Illustration und Comic über Malerei und Installation bis zu Performance und Texten. Oft reagiert sie auf aktuelle gesellschaftliche Themen, aber auch auf Geschichten und persönliche Erfahrungen. Vieles entstehe vor Ort und mit dem Ort, schreibt sie über sich, «in Verbindung und Austausch mit Städten, Natur und Menschen».

Unter dem Titel «Im Taumel» zeigt nun das Cartoonmuseum Basel eine erste grosse Retrospektive mit Arbeiten der Künstlerin aus verschiedenen Phasen. Dazu kommen aktuelle, für die Ausstellung geschaffene Werke sowie Zeichnungen aus ihrer neuen Graphic Novel «Starkes Ding». In diesem Band illustriert Nüssli die Erinnerungen ihres Vaters an seine Jugend als Verdingbub im Toggenburg; verfremdend und spielerisch setzt sie dabei Elemente der naiven Malerei ein.

Feiner Strich und schräg-witzige Texte.

Lika Nüsslis Bilder, Zeichnungen, Comics und Illustrationen drücken jene Spontaneität und Offenheit aus, wie sie für die freie Kunst typisch sind. Sie hat auch zu ihrem Stil gefunden: ein feiner Strich, der sich oft mit schräg-witzigen Texten und grosszügigen, farbigen Flächen verbindet. Von ihr würden wichtige Impulse für die junge Comicszene in der Deutsch- wie der Westschweiz ausgehen, wie Anette Gehrig sagt. Die Direktorin und Kuratorin des Cartoonmuseums Basel kennt Lika Nüssli – «wahrlich eine Künstlerin in Bewegung» – seit ihren Anfängen. Neben ihrem gesellschaftlichen Engagement schätzt sie besonders ihre Offenheit, sich auf Themen und Orte einzulassen, ohne die Art der Umsetzung bereits zu kennen.

So wird Lika Nüssli während der Ausstellung für einige Wochen als Artistin Residence in Basel arbeiten, das hier Entstandene zeigen und im Cartoonmuseum einen Raum mit Materialien ihrer Performances gestalten. Die ausgebildete Textildesignerin hat Illustration an der Hochschule Luzern für Design & Kunst studiert und ist unter anderem als Mitherausgeberin des Comicmagazins «Strapazin», als Dozentin, Kunstvermittlerin und Live-Zeichnerin unterwegs. Sie hat bereits mehrere Preise erhalten – eines der von ihr illustrierten Werke wurde kürzlich für den Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreis 2022 nominiert.

Ausstellung: «Lika Nüssli – Im Taumel», bis So 29.5., Cartoonmuseum Basel, www.cartoonmuseum.ch → S. 30 Graphic Novel: Lika Nüssli, «Starkes Ding», Verlag Edition Moderne, Zürich 2022. 232 S., s/w. CHF 35, erscheint im April Ausserdem: Fumetto Comic Festival Luzern: Sa 2.4. bis So 10.4., www.fumetto.ch Karen Lee Vendriger, israelische Illustratorin und Porträtkünstlerin: Fr 1.4. bis So 3.4., Balagan Arts, Allschwilerstrasse 101, Basel, www.balagan-arts.ch

Das Artstübli widmet dem «Shadowman» Richard Hambleton eine dokumentarische Ausstellung und eine Themenführung, integriert in die «Urban Art City Tour». Dabei greift die Basler Galerie auf Bildmaterial der Basler Fotografierenden Vera Isler und Thomas Christ zurück.

Der Amerikaner Richard Hambleton (1952–2017) gilt als «The Godfather of Street Art» und inspiriert bis heute renommierte Künstler wie beispielsweise Banksy, Blek le Rat und JR. Trotzdem ist er einer breiteren Öffentlichkeit nicht bekannt. «Dabei hätte er das Zeug gehabt, um ein ganz grosser Star der Kunstszene zu werden», ist Philipp Brogli überzeugt, der das Basler Artstübli leitet – einen Ausstellungs- und Projektraum für urbane Kunst und Kultur.

In den 80er Jahren verkehrte Hambleton nämlich in New York unter anderem mit Jean-Michel Basquiat, Keith Haring und Andy Warhol. Letzterer wollte ihn wiederholt porträtieren, was Hambleton jedoch ablehnte. Lieber wandte er sich seiner Kunst mit einem Hang zum Morbiden zu: Bereits in den 70er Jahren hatte er nachts mit Kreide Personenumrisse auf Trottoirs gezeichnet, die genauso aussahen wie diejenigen bei Mordopfern. Später begann Hambleton, in schwarzer Farbe menschliche Schatten an Hauswände zu malen und erreichte damit den Höhepunkt seiner Karriere: Der «Shadowman» (Schattenmann) war geboren. Seine ebenfalls in Schwarz gehaltenen Gemälde, die im Atelier entstanden, wurden zu jener Zeit sogar höher bewertet als die von Basquiat.

Nächtlich, hastig, unheimlich.

Doch nicht nur in New York tobte sich der Künstler aus, auch auf seinen Reisen hinterliess er Spuren: So besuchte Hambleton 1984 Basel und malte heimlich rund zwölf Schattenmänner im öffentlichen Raum. «Die schwarzen Männer gehen um», titelte damals die ‹Basler Zeitung› und ergänzte, «nächtlich hingeschmiert, hastig mit dem verbotenen Pinsel, unheimliche Schatten, Kleckse in der Altstadt.» Wer hinter den mysteriösen Malereien steckte, wusste die Tageszeitung jedoch nicht zu berichten.

Nichtsdestotrotz stachen die Werke zwei Basler Fotografierenden ins Auge: Thomas Christ (geboren 1953) und Vera Isler (1931–2015). Beide hatten zuvor einige Zeit in New York gelebt und beschlossen, unabhängig voneinander die anonymen Kunstwerke in ihrem Kontext zu fotografieren und so für die Nachwelt zu erhalten. Bei Isler ging die Verbindung zu Hambleton jedoch deutlich weiter: Während ihrer New Yorker Zeit durfte die Baslerin, wahrscheinlich durch Vermittlung ihres Freundes Keith Haring, den medienscheuen Künstler in seinem Atelier fotografieren. So gehören Islers Fotos zu den wenigen Porträts, die es von Hambleton überhaupt gibt.

Vera Isler, die 1936 als Tochter jüdischer Eltern in die Schweiz gekommen war, war selbst eine bekannte Künstlerin: Nachdem sie in verschiedenen Bereichen tätig gewesen war, widmete sie sich ab 1980 ganz der Fotografie, wo sie sich einen Namen durch ihre Porträtaufnahmen machte.

Drogen statt Karriere.

Weniger glücklich verlief dagegen Hambletons Karriere: Durch seine Heroinabhängigkeit verlor er immer mehr den Bezug zur Realität. Er schuf Kunst nur noch, um seinen Drogenkonsum zu finanzieren und geriet in Vergessenheit. Erst vor etwa zehn Jahren wurden seine Werke von der Kunstwelt wiederentdeckt.

Etwa gleichzeitig, nämlich 2014, bezog Philipp Brogli mit seinem Artstübli einen festen Standort im Basler Markthalle-Komplex. Dort erhielt der Galerist öfters Besuch von einer älteren Dame namens Vera Isler, die in der Nähe wohnte und ihm von ihren «Shadowman»-Fotos erzählte. Leider verschied Isler, noch bevor sie die Fotos zeigen konnte und 2017 starb auch Hambleton am Höhepunkt seines Comebacks in New York an Krebs.

Jetzt erhält der «Shadowman» dank der Fotografien von Vera Isler und Thomas Christ in Basel posthum einen grossen Auftritt: Das Artstübli würdigt den Street-Art-Pionier mit einer dokumentarischen Ausstellung. Dabei arbeitet die Galerie eng mit dem Verein Blaue Blume zusammen, der den Nachlass von Vera Isler erschliesst und erhält. Im Artstübli werden Fotografien von Vera Isler und Thomas Christ ausgestellt, welche die Schattenmänner von Hambleton in Basel und New York zeigen. Zitate, Videosequenzen, Zeitungsausschnitte und Musik aus den 80ern lassen die damalige Zeit wiederaufleben.

Wer noch etwas tiefer in die Welt des «Shadowman» eintauchen möchte, kann zudem an einer anderthalbstündigen «Urban Art City Tour» teilnehmen: Dabei führen die bewährten Artstübli-Guides maximal 15 Teilnehmende unter anderem an Orte, wo Hambleton in Basel gemalt hat. Zwar haben sich keine Originale des Künstlers im Stadtraum erhalten. Brogli plant aber, die Kunstwerke vor Ort sichtbar zu machen – beispielsweise auf dem iPad. Die Tour endet in der Ausstellung im Artstübli.

Ausstellung: Sa 9.4. bis Sa 25.6., jeweils Do/Fr 11–18 h, Sa 14–18 h (Vernissage Fr 8.4., 17–21 h), Artstübli, Steinentorberg 28, Basel Rahmenprogramm: – Buchvernissage: Mi 27.4., 18–20 h – Thomas Christ im Gespräch mit Isabel Balzer, Verein Blaue Blume: Fr 10.6., 18 h – Filmscreenings «Shadowman» (2017) von Oren Jacoby: Fr 13.5. und Fr 24.6., jeweils 19 h Geführte Touren sowie weitere Infos: www.artstuebli.ch

Links: Shadowman – Richard Hambleton, Im Atelier in New York, © 1982 Vera Isler

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