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Redaktion

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Heinz Stahlhut Das St. Johann zeigt einen Tag lang, was es zu bieten hat.

Die Quartiere von grösseren Städten wie Basel sind heute im besten Fall, was das Dorf jahrhundertelang war: ein autarker, kleiner Kosmos, der nahezu alles bietet, was man zum Leben braucht. Das gilt auch für das am linken Rheinufer liegende St. Johanns Quartier mit Kleingewerbe, Gastronomie, Geschäften, sozialen und kulturellen Einrichtungen, Grünanlagen und dem nahen Flussufer. Doch es ist insbesondere die soziokulturelle Vielfalt an Menschen, die in diesem Quartier lebt und arbeitet, die es zu einem sehr bunten Fleckchen Basel macht.

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Dieses Potenzial will nun der Verein Quartierkultur St. Johann besser bekannt machen, der im Mai 2021 vorwiegend von Berufsleuten aus der Kreativszene gegründet wurde. Er führt daher Ende April erstmals den Anlass «Quartierkultur St. Johann» durch – eine Art Abend des offenen Quartiers, wie es ihn beispielsweise im Iselin-Quartier bereits gibt. Von 17 bis 22 Uhr öffnen 18 soziale und kulturelle Einrichtungen sowie lokale Betriebe im St. Johann ihre Türen, bieten feine Verpflegungsmöglichkeiten an und zeigen kulturelle Beiträge von Kunst- und Kulturschaffenden aus der Region. Das Angebot reicht vom Origami-Workshop in der Beiz über eine Zeichen-Performance in der Bäckerei bis zu einem DJ-Workshop im Café. «Das Besondere ist, dass Kultur an ungewohnten Orten stattfindet», erklärt Co-Vereinspräsidentin Klara Klapfer Suter. So wird beispielsweise Balthasar Ewald in ihrer Reflexzonen-Massagepraxis ein kontemplatives Konzert geben und sein neues Album «Quiet Space Inside» vorstellen. «Gerade in der heutigen Zeit ist es sehr wichtig, zur Ruhe zu kommen», meint Klapfer Suter.

Kostenfreies Kultur-Programm.

Mit dem breiten, niederschwelligen und vor allem kostenfreien Programm will der Verein die Vielfalt im St. Johann zeigen, soziale und berufliche Netzwerke fördern sowie die Lebensqualität und den sozialen Zusammenhalt fördern. «Kommt der Anlass gut an, möchten wir ihn jährlich durchführen», verrät die Co-Vereinspräsidentin.

Quartierkultur St. Johann: Fr 29.4., 17–22 h, St. Johann Basel, www.quartierkultur.ch Illustration (Ausschnitt) aus dem Flyer: «Quartierkultur St. Johann» «Boaz», Poupées de Malachie, 2019–2022, © Romain Kronenberg

FIKTIVES UNIVERSUM

Peter Burri Die Ausstellung «Boaz» inszeniert in der Kunsthalle Mulhouse den gleichnamigen Roman dreidimensional.

Auf der Insel Procida bei Neapel fand der französische Komponist, Schriftsteller und Künstler Romain Kronenberg eine Tonbandkassette mit ein paar anonymen Minuten Text, die ihm mysteriös vorkamen. Sie inspirierten ihn zu einem kurzen Roman, den er nun in der Kunsthalle Mulhouse dreidimensional inszeniert: mit nachgestellten Fotos, Videos, Objekten und in Klangwelten.

Im Mittelpunkt steht Boaz, ein Waisenjunge, der von einer Familie aufgenommen wird und vor allem deren gleichaltrigen Sohn Malachie magisch in Bann zieht. Die Namen sind biblisch: Boaz (oder Boas) ist eine Figur aus dem Buch Ruth, die den Boden für spätere christliche Tugenden bereitet; Maleachi, wie er bei uns heisst, ist ein Prophet. Bei Kronenberg gibt Malachie den Boten für den meist schweigenden Boaz, der die Menschen allein durch seine sanfte Ausstrahlung verändert. Schon als Jugendlicher wird er zu einer schillernden Erlöserfigur, und so sammelt Malachie seine Spuren und ergänzt diese. Aus Bast kreiert er filigrane Figuren in existenziellen Haltungen, die wir jetzt ausgestellt sehen. In einem Album finden wir Fotos aus Boaz’ Kindheit, die sein Ziehvater Amos knipste. Wir begegnen Boaz und Malachie in Filmen, finden eine fotografische Dokumentation von Kreuzzeichen, die Boaz’ Fangemeinde an Hauswänden anbringt, und hören ab Band Aussagen von Malachies Schwester Deborah (auch sie, wie ebenso Amos, biblisch benannt).

Von mittelalterlicher Mystik inspiriert.

Der 1975 geborene Kronenberg, tief geprägt von der spätmittelalterlichen Mystik, entwirft ein rätselhaftes emotionales Universum, das er stets erweitert. In der neusten Phase, die Mulhouse zeigt, hat er Boaz und Malachie auf Procida, wo das Szenario spielt, verschwinden lassen. «Legendäre Figuren müssen sterben, um Wirkung zu entfalten», erklärt er. In sein faszinierendes pseudodokumentarisches Spiel rund um Boaz hat er dafür nun die Mitwirkenden der Kunsthalle integriert: In der Begleitbroschüre, die man unbedingt lesen muss, um die Ausstellung zu verstehen, korrespondieren sie munter mit den fiktiven Partnerfiguren des Protagonisten.

Das Schweizerische Architekturmuseum S AM widmet sich einem umstrittenen Baumaterial.

Bau und Unterhalt von Gebäuden sind verantwortlich für rund 40 Prozent des weltweiten CO2 -Ausstosses. Jeden Monat wird weltweit einmal ganz New York City gebaut. Der Anteil der Schweiz: In jeder Sekunde wird hierzulande ein Quadratmeter zuvor unbebautes Land überbaut. Die Fakten zeigen beinahe erschreckend auf, welche Bedeutung der Bauindustrie im Kampf gegen den Klimawandel zukommt. Matchentscheidend ist eine Neupositionierung von Architektur und Städtebau, aber auch der Baustoff-Technologie – kurzum: Es braucht Strategien für eine postfossile Baukultur und damit nichts weniger als die «Neuerfindung der Moderne», wie es die Initiative Countdown 2030 bezeichnet.

Facetten eines Baustoffes.

Inmitten dieser gesellschaftlichen Diskussionen zeigt das Schweizerische Architekturmuseum eine monografische Ausstellung zur Geschichte des Betonbaus in der Schweiz. Dabei erweist sich das Material als eigentlicher Wegbereiter der Architektur seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Alles schien und scheint möglich mit diesem universell einsetzbaren, zugleich ökologisch problematischen Baustoff.

Das Publikum der Ausstellung, die noch bis Ende April am Steinenberg zu sehen ist, findet sich in einer originellen Installation wieder. Mit Holzelementen, die sonst der Betonschalung auf Baustellen dient, haben die Kuratoren zehn Räume konstruiert und auf diese Weise bekannte und überraschende Aspekte des Materials strukturiert und präsentiert. Dabei werden technische und ästhetische, konstruktive und ökologische Themenfelder aufbereitet. Besonders sehenswert sind die vielen originalen, teilweise grossformatigen Zeichnungen und Pläne, vor allem aus der Zeit des Wirtschaftsbooms der Nachkriegsjahrzehnte, die nicht nur Zeitgeist atmen, sondern vom noch unbestrittenen Siegeszug des Betons Zeugnis ablegen.

Grandios ist das Modell von Walter Maria Förderers Betonkirche in Hérémence (1971). Erst vor wenigen Jahren wiederentdeckt hat man ein 1962 eingereichtes Wettbewerbsmodell von Förderer für die Marienkirche in Windisch. Letztere wurde nie gebaut, wie einige der in der Ausstellung gezeigten Beispiele, so Walter Jonas’ «Trichterhaus» von 1961, das als philosophisches Wohnkonzept der Gemeinschaft und als bautechnischer Sonderfall eine Utopie blieb. Auch Basler Bauten finden sich unter den vorgestellten Objekten, etwa die Antoniuskirche, der erste Betonsakralbau der Schweiz (Karl Moser, 1927), oder das Wasserkraftwerk Birsfelden (Hans Hofmann, 1953/54). Das Atelierhaus für den Liedermacher Linard Bardill in Scharans (Valerio Olgiati, 2007) ist mit einem Teil der hölzernen Betonschalung vertreten, in die Rosetten geschnitzt sind.

Aus der Vergangenheit in die Zukunft.

Erst in den 1970er-Jahren – parallel zur Ölkrise und im Vorfeld der Gründung Grüner Parteien – verschaffte sich die Betonkritik zunehmend Gehör. Beispielhaft zeigt die Ausstellung das 1973 erschienene Buch «Bauen als Umweltzerstörung» des Zürcher Architekten und Publizisten Rolf Keller. Der wortstarke Untertitel «Alarmbilder einer Un-Architektur der Gegenwart» bringt die Misere auf den Punkt.

Während sich die Ausstellung den historischen Aspekten des Betons widmet, beschäftigt sich das Rahmenprogramm auch mit aktuellen und zukünftigen Themen. Zwei der in den letzten Monaten abgehaltenen Podiumsdiskussionen sind auf dem Youtube-Kanal des S AM abrufbar und auch die Vorträge des Symposiums «Constructive Futures» am Institut Architektur der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW lohnen eine Online-Nachschau. Die Ausstellung des S AM zeigt, was Beton war und ist. Die Vorträge, Gespräche und neuen Bücher deuten an, was Beton sein soll, kann und muss, um als ein Baustoff der Zukunft konkurrenzfähig zu bleiben.

«Beton»: bis Do 21.4., S AM Schweizerisches Architekturmuseum, Steinenberg 7, Basel, www.sam-basel.org, www.constructivefutures.ch Neuerscheinungen: «Constructive Futures – Beyond Concrete», FHNW, Triest Verlag, Zürich, 2022. CHF 39, erscheint im April «Concrete in Switzerland – Histories from the Recent Past», EPFL Press, Lausanne, 2021. CHF 42, Buchvernissage Do 7.4., 17 h, Foyer public, Theater Basel

Oben: Keine Baustelle, sondern die Ausstellung «Beton» im S AM, Foto: Tom Bisig

Jean Tschumi, Hauptsitz Mutuelle Vaudoise Accidents, Lausanne, 1953–56. Der Einbau eines vorfabrizierten, armierten Betonpaneels in einen Rahmen an der Westfassade, April 1955, © Archives de la construction moderne – EPFL, Fonds Jean Tschumi

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