PROGRESS - Aus Prinzip: Warum es heute so kompliziert ist, Feministin zu sein.

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MAGAZIN

DER

ÖSTERREICHISCHEN

HOCHSCHÜLERiNNENSCHAFT

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www.progress-online.at

Eismann. Gleich gekickt.

Eiswüste. Gleichgesetzt.

Eichmann. Gleich verurteilt.

Einsperren. Gleich Frühling.

Drei Missy, Ms. STEOP-Prüflinge Popfeminismus erzählen, und ein Magazin wie es wirklich im abläuft. Portrait

Moishe Im Uni-Streitgespräch Postone im Interview prallenzur Welten aufeinander. TäterInnen-Opfer-Umkehr der FPÖ.

Wien und Bach Ankläger Berlin über im Vergleich den in einzigartigen punkto Drogenkonsumräume. Prozess in Israel.

Die Electrobandder Alternativform Pop:sch Haftstrafe zeigtauf dir, der Gefängnisinsel wie du dein FahrradBastøy. aufmotzt.

Warum es heute so kompliziert ist, Feministin zu sein.

Dossier: Druckausgleich. Guter Stoff zum Lernen

P.b.b. | Erscheinungsort Wien | Verlagspostamt 1040 | GZ02Z031545 M | EUR 0,73

Aus Prinzip


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Editorial

Dossier

Wie feministisch ist die heutige Studierendengeneration?

Ob Ritalin, Amphetamin oder der Klassi-

Geschlechterverhältnisse und Solidarität zwischen Ellen-

ker Alkohol: Wenn der Druck in Studium

bogentaktik und Repolitisierung.

und Forschung steigt, greifen immer mehr

Ich wollte ein Männerleben leben.

Studierende und WissenschafterInnen

Anlässlich des internationalen Frauentages am 8. März

zu Suchtmitteln abseits von Kaffee und

baten wir Journalistin, Feministin und Buchautorin Katja

Kuchen. Im Dossier klären wir über Do’s

Kullmann zum Gespräch.

and Dont’s für den Konsum gängiger Drogen auf, werfen einen Lokalaugenschein auf einen Konsumraum in Berlin und fra-

Bildungspolitik 8

gen nach politischer Aktualität und Notwendigkeit der Unterscheidung in „harte“

Studieren gegen die Uhr. Unter Zeitdruck werden in ganz Österreich tausende Diplomarbeiten im Eiltempo fertiggestellt: Die Diplomstudien laufen aus und setzen Studierende unter enormen Druck.

10 Schikanen zu Studienbeginn. Wer die neue Studieneingangsphase nicht schafft, ist ein Leben lang für sein/

und „weiche“ Drogen.

21 Warum Kiffen spießig macht. Ein Kommentar von Hubert Kolbin.

22 Fixpunkt in Berlin. Konsumräume entschärfen die Kriminalisierung von Drogenabhängigkeit.

24 Lerndosis. Wenn Crystal, Gras und Dopamin durchs Studium helfen.

ihr Wunschstudium gesperrt. Drei STEOPPrüflinge im Portrait.

12 Ab in den Osten. Die rumänische Unistadt Temeswar lockt mit vielfältigem Studienangebot in deutscher Sprache und freiem Unizugang.

Feuilleton

Liebe Leserin, lieber Leser! Nicht nur der 8. März ist Jahr für Jahr die Zeit der aufeinanderprallenden Gegensätze. Ob Winter und Frühling, Fisch und Gemüse, STEOP und Studium, Zeitdruck und Diplomarbeit oder internationaler Frauentag und Muttertag. Wir sitzen dabei immer genau zwischen den Stühlen und versuchen zwischen schlechtem und gutem Essen, Arbeit und Party und naja, wir sitzen doch nicht überall zwischen den Stühlen. Und seit dem Gespräch mit Cowboy Katja Kullmann mögen wir englische Phrasen in deutschen Sätzen. Daher: It’s time to say goodbye! Ihr haltet die letzte Ausgabe, die mit diesem Layoutkonzept gestaltet wurde, in den Händen. Der Abschied fällt uns nicht leicht, aber wir wagen uns auf neue Ufer und in neues Gewand. Wir freuen uns auch schon sehr auf den internationalen Frauentag am 8. März, und darauf, euch alle dort: •

22. März, 20 Uhr, Uni Wien, HS III NIG, Buchpräsentation "Rechtsextremismus und Gender“

28. März, 18 Uhr, Aula der Akademie der Bildenden Künste, Abschlussveranstaltung Forum Hochschule

27. April, 19 Uhr Uni Wien, PROGRESS -Lesung mit Katja Kullmann aus ihren Büchern

28 Warum Liebe wehtut. Die israelische Soziologin Eva Ilouz im Interview über Gefühle und Kapitalismus.

29 In der vierten Runde.

Politik

Kettcar präsentieren ihr neues Album.

14 Neues aus dem Westen.

30 Pop:sch my Bike! Die Wiener Electroband Pop:sch zeigt dir

Über studentische Aufstände in der Westsahara.

15 Braune Umweltschützer. Eine rassistische Anti-Atomgruppe sorgt in Oberösterreich für Turbulenzen.

16 Faschistische Revolutionäre Gegen „Raffgier“ und „Mietwucher“ in Italien.

17 „Die neuen Juden“ Historiker Moishe Postone über Antisemitismus und den Strache-Sager am WKR-Ball.

das A und O der Fahrradreparatur.

32 Chicklit! Wien hat wieder eine feministische Buchhandlung. PROGRESS war zu Besuch.

33 Genauer hingeschaut:

zu sehen. Feministische Grüße und Kopf hoch an alle, die Opfer der aktuellen Bildungspolitik geworden sind. Wir kämpfen weiter,

Two and a half Men in der TV-Kritik.

Eure Progress -Redaktion

34 Neue Männer, alte Sitten. Gastkommentar von an.schläge-Redakteurin Lea Susemichel.

18 Service, das hilft

impressum PROGRESS – Magazin der Österreichischen HochschülerInnenschaft, Ausgabe 1/2012, Erscheinungsmonat: März Medieninhaberin: Österreichische Hochschüler­Innenschaft, Taubstummengasse 7–9, 1040 Wien HerausgeberInnen: Angelika Gruber, Martin Schott, Janine Wulz Chefinnenredaktion: Vanessa Gaigg, Flora Eder RedakteurInnen dieser Ausgabe: P. Bierl, M. Brüggemann, J. Falkinger, B. Figl, E. Gamperl, E. Grigori, S. Grössing, K. Hellwagner, E. Kleibel, C. Kulaç, P. Landorfer, J. Marot, E. Mittendorfer, A. Obermüller, B. Pisecky, M. Poigner, C. Rechberger, S. Sailer, A. Salzer, I. Schwarzenbacher, L. Susemichel, F. Wagner, F. Tomasini, B. Wakolbinger, D. Wurnig Blattlinie: Die Meinungen der RedakteurInnen.

Lektorat: M. Weissinger

Layout: T. Jenni, J. Kolda

Cover-Fotos: P. Ohligschläger, Dossier: Wenn nicht anders angegeben: C. Valuch Ressortcover-Fotos: J. Kolda, Illustration: S. Sailer Inserate: Öffentlichkeitsreferat, presse@oeh.ac.at Artikelvorschläge können per E-Mail oder in den Redaktionssitzungen eingebracht werden. Kontakt siehe unten. Gratis-Abo anfordern! www.progress-online.at Telefon: 01/310 88 80–61

E-Mail: progress@oeh.ac.at

Auflage: 120.000 Stück

Druck: Leykam, Neudörfl

Web: progress-online.at


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Ich wollte ein Männerleben leben Der Cowboy Katja Kullmann über weiches Kapital und harte Realität.

ir trafen die selbsternannte Weltenbürgerin Katja wusstsein erzogen wurde. Alte Säcke als Lehrer hatte ich Kullmann, die schon zwischen Financial Times, zwar schon noch im Gymnasium, aber eine oder zwei dem Freitag, der EMMA als auch der GALA oder für junge Kolleginnen waren auch dabei. Zwischen diesen Sie bummelte, an einem windigen Vormittag auf der Polen bin ich aufgewachsen. Mein Ziel war es, mein LePrater Hauptallee in Wien. Bei einem Kaffee am dor- ben größer zu machen, als das meiner Eltern. Wir hatten tigen Antifaschismus-Platz erklärt sie uns, wo bei die- das Versprechen vor uns, dass die Kindergeneration ein ser Bandbreite an Medien ihre Loyalität liegt: Bei den Stückchen weiter kommen sollte. Das habe ich absolut linken Feministinnen, auch wenn die nicht mehr so verinnerlicht. Ich bin dabei nicht der Schrankwand-Typ viel EMMA lesen wie früher. In ihrer Erzählung spannt und ich brauche kein teures Auto, aber ich bin immer Katja Kullmann große Bögen, baut argumentative viel gereist und das war mir in puncto Freiheit und AuKurven – und steht dabei aber immer auf dem Boden tonomie immer wahnsinnig wichtig. der Realität. Sollte der Begriff Freiheit aus linker Perspektive zurückerProgress: Du beschäftigst dich in deinen Büchern sehr obert werden? stark mit dem Generationenwandel. Was unterscheidet Ich habe den Deal immer als fair empfunden: Ich strenge mich an, schreibe gute Noten und lerne dich von der heutigen Studentin? Kullmann: Meine Frauengeneration hatte noch ein Fremdsprachen, und damit komme ich dann weidurchwegs positives Ideal von Freiheit und Autonomie. ter. Das war der Plan: nicht früh zu heiraten, nicht Das war für uns noch nicht neoliberal besetzt, sondern an den Herd gefesselt zu sein und auch was die Beeine positive Utopie. Ich war eine Nach-68erin, hatte rufstätigkeit betrifft, mich nicht über 40 Jahre hochvereinzelt LehrerInnen, die sehr liberal waren. Ich ge- dienen müssen. Vor allem: immer selbstständig sein, höre zur ersten Frauengeneration, die zum Selbstbe- von niemandem abhängig, und bloß Staats-Stipendi-

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um beantragen oder sowas. Heute reibe ich mich daran, dass es letztlich ein lupenrein neo­liberaler Entwurf des Ich ist – ein perfekter Yuppie-, Westerwelle-, FDP-Lebenslauf. Obwohl es ursprünglich widerständig gemeint war. Die jüngere, eure Generation, ist da viel realistischer: Ihr wisst, wie hart es aussieht. Ihr habt den Vorteil, dass sich der Restglaube an Statussicherheit erübrigt hat. Keiner rechnet wahrscheinlich mit einer festen Anstellung oder anderen verlässlichen sozialen Absicherungen. Wie hat sich diese Vorstellung vom perfekten Lebenslauf verändert? Die Marge der Leute, die sich heute noch Praktika leis­ten können, wird immer kleiner: Denn sie werden nicht mehr bezahlt. Damit spielt das Elternhaus eine viel größere Rolle. Bei meinen Praktika war zumindest die Unterkunft gedeckt. Herkunftsfragen werden für Männer wie auch Frauen wichtiger. Denn Ausbildung ist unser neues Gut, unser weiches Kapital. Es ist zunehmend ungerecht verteilt, weil der Zugang schwerer wird.


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Portrait

Echtes Leben Die Journalistin und Buchautorin Katja Kullmann (41) schreibt alles, was die Herzen der neuen akademischen Wissensgesellschaft begehren: Reportagen über Facebook und Sex-Dating, Essays und Bücher zum neuen Prekariat und über Gentrifizierung. Sie erklärt uns aber auch, warum Ally McBeal scheiße ist und Feminismus nicht sexy sein muss. An diesem Punkt unterscheidet sie sich von den meisten FeuilletonistInnen oder PopmagazinredakteurInnen im deutschsprachigen Raum. Als hundertwichtigste Denkerin Deutschlands (Cicero) besitzt Kullmann, die Soziologie, Amerikanistik und Politikwissenschaft in Frankfurt studiert hat, vor allem die Fähigkeit, treffende Gesellschaftsanalysen zu formulieren und schafft es, dass sich dabei sowohl der enttäuschte Jungsozi als auch der Adorno-Fan gern was von ihr abschauen.

Wie geht die Generation Praktikum mit den schlechten Rahmenbedingungen um? Bei den Mittzwanzigern und Jüngeren gibt es aus meiner Sicht einerseits solche, die das, was man in den 80ern Ellenbogengesellschaft nannte, extrem fah­ ren. Das ist die Gruppe, die sich extrem ins Private zurückzieht, eine Affinität zu Psychotherapien und zu einer unglaublichen Innerlichkeit entwickelt hat. Sie wollen sich schützen und besitzen eine kaltschnäuzige Statusangst. Auf der anderen Seite sehe ich eine ganz starke Repolitisierung, gerade bei jungen Frauen, die unbelastet schwere Begriffe, mit denen meine Generation noch Schwierigkeiten hatte, wie Solidarität, auf den Lippen haben. Allein das Wort Feminismus nehmen die Jüngeren viel sportlicher in die Hand und sprechen es aus. Ich glaube, es gibt die Streber und die, die sich politisieren. Warum fangen trotzdem so wenige etwas mit dem Wort Feminismus an? Man sollte das nicht zu kleinreden. Ich sehe wirklich viele junge Frauen, die versuchen, den Feminismus neu zu bespielen, ihm neue Inhalte zu geben. Es gibt aber viele Ängste. Wir leben in einem Klima, in dem es einerseits diese starken, politisierten Bewegungen gibt und andererseits aber diese Diskussion, wo unglaublich schnell geschlechtsübergreifend abgewatscht wird. Es gibt viele Leute, die sagen, sie würden lieber hungern, als im Lidl bei den abgeranzten HartzIV-Leuten einkaufen zu gehen. Die Angst davor, zur „Gutmenschin“ oder „Wutbürgerin“ erklärt zu werden, ist heutzutage riesig. Denn als solches abgestempelt zu werden, macht dich zum Problemfall, zur Querulantin. Das ist ein Spiegel dieses Funktionieren-Müssens. Erstmals betrifft das beide Geschlechter: Dieser Leis­tungsdruck, diese fröhlich wirkende Stromlinienförmigkeit, die man erfüllen sollte, und die sehr stark ins Persönliche reicht. Damit hängt auch die Angst

zusammen, das Wort Feminismus in den Mund zu nehmen, denn es klingt nach Problemen, nach Haltung. Seit den späten 90ern heißt es: Die Zeit der Ideologien ist vorbei. Genau das ist aber die neue Ideologie.

Als Feministin, die den Kampf gerne mit der Klassenfrage verbinden würde, lebt sie selbst eine typische FDP-Biographie: Als Einzelkämpferin am journalistischen Markt wurde sie am Flur des Amtsganges zum Hartz-IV-Antrag repolitisiert. Seither ist sie eine der wenigen, die sich getraut haben, dem neuen Prekariat die Augen zu öffnen und gleichzeitig dessen Lonely-Wolf-Kitsch abzukratzen. Das Kullmann-Dilemma nennt man das neuerdings (der Freitag). Über die verachteten Bobo-Hipster weiß sie deshalb so gut Bescheid, weil sie selbst aus diesen Kreisen kommt. Aber sie ist immerhin nicht stolz darauf. Ihre letzten Sachbücher behandeln das neue Prekariat (Echtleben), Feminismus (Generation Ally) und Gentrifizierung (Rasende Ruinen). Am 27. April 2012 könnt ihr sie live bei einer PROGRESS -Lesung an der Universität Wien erleben.

te, war das eine Mischung aus Arzt- und Vorstellungsgespräch. Ich hatte mir einen Businessplan zurechtgelegt, der natürlich nicht funktioniert hat. Denn du darfst dann im Grunde nicht mehr freiberuflich tätig sein. Es blieb dabei: Ich hatte 13 Euro am Tag, ich durfte nicht aus der Stadt weg, das war vollkommen Inwiefern wirkt sich das neue Prekariat auf die Geschlech- irre. Ich dachte mir: Aha, jetzt bin ich also auch eine terverhältnisse aus? Verliererin – und so sieht das also aus: Sie lassen dich Es gibt dieses Zitat, dass es in jeder Schicht oder Klasse nicht mehr mitspielen. eine Unterklasse oder Unterschicht gibt, und das sind die Frauen. Seit über 20 Jahren kennen wir dieselben Hat diese Erfahrung mit Hartz-IV deine Sicht auf die Zahlen: Frauen verdienen im Schnitt, quer durch alle Welt verändert? Branchen, noch immer rund ein Viertel weniger als Meine Repolitisierung ist auf diesem Amtsflur pasMänner. Und wenn sie zur Alleinerziehenden werden, siert, weil ich gesehen habe, dass ich als Medienarist das Armutsrisiko besonders hoch. Gerade in der so- beiterin Teil einer Avantgarde bin, die systemisch genannten Kreativbranche werden Frauen, denen es be- freigesetzt ist. Das ist eine neurotische Branche, die ruflich oder finanziell mal nicht so gut geht, schnell pa- mitforciert hat, dass der Fensterputzer und die Pflethologisiert – als ob sie ein psychologisches Problem gekraft mit immer niedrigeren Löhnen in die Knie hätten. Da heißt es dann: Die trinkt, die nimmt Dro- gezwungen werden. Und ich bin Teil derer, die den gen, die ist depressiv. Typen können genauso abge- Quatsch auch noch erzählt haben: Jeder sei seines brannt sein, aber potentiell gibt es immer das Bild vom Glückes Schmied. Cowboy oder dem Lonely Wolf, wo gesagt wird, der hat einfach eine schwierige Phase. Genau dieses Bild Würdest du sagen, du hast erlebt, was Armut ist? – der lonesome rider, immer unterwegs, die Welt ent- Man darf so ein elitenartiges Prekariat, wie ich es erdecken – war übrigens eine Art Leitbild für mich, als lebt habe, nicht verkitschen und vergleichen mit echter ganz junges Mädchen. Das hat wieder mit dem unbe- Armut. Damit meine ich, wenn du in der dritten oder dingten Willen zur Autonomie zu tun: Es gab fast nur vierten Generation SozialhilfeempfängerIn bist und es männliche Vorbilder dafür. Im Grunde wollte ich im- nicht zum Abitur geschafft hast, fehlt dir ein ganz wichmer eher ein Männerleben führen, denke ich. In Teilen tiges Kapital, das Kulturkapital. Das unterscheidet dann ist mir das auch gelungen. doch die akademisch Prekarisierten von dem Kollegen mit dem Hauptschulabschluss. In Bezug auf Status und Nach dem Erfolg deines Buches „Generation Ally“ und Codes kann man sich dann trotzdem noch verkaufen, deiner Zeit als selbständige Journalistin folgte bei dir eine kann sich seinen Blog so einrichten, dass man so wirkt, sehr prekäre Phase als Hartz-IV-Empfängerin. Wie hast als sei man beschäftigt und kann sich augenzwinkernd du die erlebt? im abgefransten Kaffeehaus treffen. Das hilft erstens, Das ist eine schizophrene Erfahrung, die viele in den vor sich selber viel zu verschleiern, und zweitens, diesen Nullerjahren gemacht haben. Als ich beim Amt als Shabby Chic zur Schau zu stellen. Jemand, der wirklich künftige Hartz-IV-Empfängerin vorsprechen muss- arm ist, kann das gar nicht so veräußern.


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Wie ist denn das Frauenbild unter diesen Bobohipstern? Gibt’s da einen Backlash? Das Abziehbild ist tendenziell männlich, wir denken ja sofort an die Typen mit den Jesusbärten und den Baumwollbeuteln. Den Hipster aber gab’s schon immer, der ist nicht neu. Das ist sozusagen eine urbane Avantgarde. Es gab schon den Yuppie, den Bobo, das taucht alle fünf Jahre auf. Was eigentlich damit gemeint ist, ist diese bunte Bildungselite, die sehr urban, intellektuell, gut vernetzt ist, die diese Codes kennt und die reiche Symbolsprache, an die auch Statusfragen gehängt werden. Auch wenn sie im Second Hand Shop um drei Euro ihre Karohemden kaufen, kann das statusmäßig ein total wertvolles Karohemd sein. Du musst nur wissen, wie das gerade zu tragen ist, und ab wann nicht mehr. Sobald das Elitenwissen dann im Mainstream angelangt ist und die BerlintouristInnen das auch tragen, suchst du dir was Neues. Ist das Hipstertum so männlich, weil es so Ich-bezogen ist? Ja, damit hat das sicher zu tun – was ich interessant finde, gerade weil der Begriff do it yourself stark verbreitet ist. Das ist ja auch ein Teil dieser Bewegung: Sehr viele der modischen und hippen Frauen stricken oder craften. Auch auf queerfeministischen Webseiten spielt das

eine Rolle. Ich habe nichts gegen Stricken, ich kann nine Frau. Es ist grundsätzlich erst mal gut, dass es heuaber die bildhafte Logik überhaupt nicht verstehen, te mehr interessante Frauen in der Öffentlichkeit gibt, und sehe nicht, was daran zum Beispiel widerständig glücklicherweise nicht nur verzweifelte Schlauchbootoder feministisch ist. Der Hipster ist jedenfalls keine Lippen-Trägerinnen. politische Figur, er demonstriert nicht, er beschäftigt sich mit sich selbst, seinen Gefühlen, seinen Style-Äng- Warum ist es heute überhaupt so kompliziert, Feministin sten, und sieht dabei veträumt aus. zu sein? Die Welt ist ganz schön unübersichtlich. Und ich Gibt es denn heute positive feministische Rolemodels? denke, der Feminismus leidet wie auch andere poliEs gibt heute ein unglaubliches Prinzessinnenwesen. In tische Inhalte und Strömungen darunter, dass die den 70er-Jahren waren es vor allem im Kinderfernsehen Leute vereinzelt sind. Darüber hinaus ist es vor allem Figuren wie die Rote Zora, Ronja Räubertochter. Das der Leistungsdruck, unter dem wir leiden, und die waren aggressive, mutige, aufmüpfige Figuren und Na- Angst davor, zu nervig und zu kompliziert zu sein, in men. Heute haben wir Lillifee und die Manga-Ästhetik, dem Moment, in dem man Prinzipienfragen stellt. Ich also diese Verniedlichung. Schwierig finde ich auch, dass glaube, dass Feminismus ganz oft mit innerem Unjüngere Frauen sich wieder so „girliehaft“ benennen, wie mut anfängt. Man muss den Mut finden, Dinge auswir es vor 20 Jahren schon mal hatten: Sie nennen sich zusprechen, dazu muss man stark sein. Und viele Leu„Mädchen“ oder „Missys“. Ich kann nur sagen: Dieses te fühlen sich gerade nicht stark, haben Angst, sich Augenzwinkern hat der Feminismus schon einmal ver- verwundbar zu machen. Aber ich habe den positiven sucht – es funktioniert nicht. Ich glaube nicht, dass es Eindruck, dass es eine neue Sehnsucht gibt, sich mit die eine gibt, die saisonal das Rolemodel schlechthin ist. anderen zusammenzutun und dass das, erst mal im Das entspricht auch nicht der Vielfalt und Diversität der Kleinen, auch gerade wieder passiert. Niemand kann Frauen. Für mich ist es Le Tigre Kathleen Hanna. Ich alleine Verhältnisse umstoßen. glaub auch, dass Anke Engelke eine Breitenfunktion besitzt, die ganz anders ist, als eine klassische fernseh-femi- Das Interview führten Flora Eder und Vanessa Gaigg.

Pop und Freiheit Früher verliebten wir uns in den Typen mit der Carhartt-Hose, aber nicht in den mit S.Oliver-Shorts und Deckenfluter, schreibt Katja Kullman in ihrem Buch Generation Ally. Die 70er-Jahre-Lampe war schnell out, die Billabong-T-Shirts und Caipirinhas wurden in, dann kam die Zeit mit „Single sein, Adiletten tragen, Kängurusteak essen und zu House-Musik tanzen“. Kullmann beschreibt die kurzatmigen Trends, die ihre Generation erst zu einer solchen gemacht haben. Es sind Lifestyle-Bilder wie die Kostümchen von Ally McBeal in XS, die Generationen zusammenhalten, die Gesprächsstoff und Identifikationsfläche liefern und helfen, die Welt in Gut und Böse zu unterteilen. Sie zeigen Status und Hipness an, und wandeln sich so schnell, wie sie vom Geheimtipp zum Mainstream werden. Egal ob Kleidung oder Getränke, auch Filme, Autos, Bücher, Kochutensilien oder Bettwäsche reihen sich ein in die lange Reihe jener modernen Güter, die nicht mehr ob ihrer Nützlichkeit konsumiert werden, sondern um mit ihnen den gesellschaftlichen Status zur Schau zu stellen. Es ist eine Show des Bescheidwissens, des immer Up-to-date-Seins und des Dabeige-

wesen-Seins – und des Bastelns einer vermeintlich „individuellen“ Identität. In den Mainstream sickern diese Statussymbole durch die unglaubliche Glücksverheißung, die sie transportieren: Mit dem Paris-Hilton-Armband kann auch die Zeitschriftenverkäuferin ein Stück von deren Glamour haben – auch wenn sie damit genau jenes System einzementiert, das im Grunde verhindert, dass die Welt gerechter werden könnte. Es ist eine Identifikation mit einer Welt und ein Aufrechterhalten eines gesellschaftlichen Systems durch die Sphäre der Freizeit, deren Angebot uns als immer Neues und doch immer Gleiches erscheint. Diese „Sphäre des Amusements“ (Theodor Adorno und Max Horkheimer) betrügt uns alle dabei um eben genau das, was sie uns KonsumentInnen immerwährend verspricht – mit dieser Einsicht zitiert auch Kullmann die beiden Theoretiker. Dabei wird der Einspruch gegen diese Realität jedoch zusehends schwieriger, denn gerade die „Kulturindustrie“ (Adorno) selbst verhindere „die Bildung autonomer, selbständiger, bewußt urteilender und sich entscheidender Individuen“.


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ÖH

Hoher Preis für wenig Nutzen

Kommentar des bildungspolitischen Referats der ÖH-Bundesvertretung m Juli 2011 wurde die bisherige Regelung zu den Studiengebühren durch den Auswirkungen. Die Einführung der Studiengebühren im Jahr 2001 durch die ÖVP/ Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig erkannt. Auf politischer Ebene FPÖ-Regierung bewirkte einen Rückgang der Studierendenzahlen um 20 Prozent. wurde das Gesetz innerhalb der dafür gegebenen Frist bis Ende Februar 2012 nicht Rund 40.000 Studierende mussten ihr Studium abbrechen, weil sie sich dieses nicht repariert und läuft daher mit Sommersemester aus. Seit der Erkenntnis des VfGH mehr leisten konnten. Gerade für finanziell schlechter gestellte junge Menschen bebildeten sich zwei verschiedene Rechtsmeinungen heraus: Das vom Wissenschafts- deuten Studiengebühren ein nicht zu überwindendes Hindernis. ministerium bezahlte Gutachten erklärt autonom eingehobene, beliebig hohe Gebühren für zulässig, der Verfassungsdienst und andere JuristInnen hingegen halten Wenig Nutzen. Studiengebühren werden oft als ultimative Lösung für die Untereine gesetzliche Bestimmung für notwendig, um Studiengebühren einheben zu kön- finanzierung der Unis dargestellt. Die Wiedereinführung würde jedoch hohe Vernen. waltungskosten mit sich bringen, die die vergleichsweise geringen Einnahmen kaum rechtfertigen können. Studiengebühren würden ein weiteres Mal zur Verdrängung Gebühren im Sommersemester? Trotz vieler Befürchtungen ist das Sommerse- junger Menschen aus dem Unisystem führen, die soziale Durchmischung weiter vermester 2012 das erste Semester seit 2001, in dem keine einzige Studentin und kein schlechtern und zu einem starken Rückgang der Studierendenzahlen führen. Ein Student an einer öffentlichen Universität Gebühren bezahlen muss. Doch trotz der sehr hoher Preis für sehr niedrige Mehreinnahmen, die das Budgetloch der Unis unklaren rechtlichen Lage kündigten die Universitäten schon an, ab Herbst 2012 nicht einmal im Ansatz stopfen können. Autonome Studiengebühren ab Herbst 2012 wieder Gebühren einzuheben. Wenn es bis dahin keine gesetzliche Regelung gibt, sind abzulehnen – notwendig ist ein klares Bekenntnis auf politischer Ebene für den dann eben autonom und rechtlich nicht gedeckt. Mit dieser Ankündigung dürfen freien Hochschulzugang und die Ausfinanzierung der Unis, ohne Wenn und Aber. sich die Unis auf unzählige Klagen durch Studierende gefasst machen. Alles andere ist Ablenkung. N

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Bildungsshortcuts

Ausbildung der LehrerInnen

Schulreförmchen-Modularisierung

Dritter Hochschulsektor „Berufsakademie“?

In dem ewigen Schlagabtausch darum, ob die Pädagogischen Hochschulen (PHs) oder die Universitäten bei der neuen LehrerInnenbildung die Zügel in die Hand nehmen sollen, spricht die Universitätskonferenz klare Worte. Wenn es nach den RektorInnen geht, sollen die PHs als Fakultäten in die Unis integriert werden. Das entspricht jedoch nicht den Vorstellungen der Unterrichtsministerin und der PH-ChefInnen. Schmied will die Pädagogischen Hochschulen zu „Pädagogischen Universitäten“ ausbauen. ek

Die Regierung hat sich auf die „Oberstufe Neu“ geeinigt. Ab 2013 sollen stufenweise alle 850 Gymnasien und BMHS bis 2017 umgeändert werden. Auf Basis der Erfahrungen aus Schulversuchen wurde gemäß den Zielen des Regierungsprogramms ein Modell der neuen Oberstufe mit semesterweiser Lehrstoffverteilung entwickelt. SchülerInnenvertreterInnen kritisieren, dass dabei keine Wahlmöglichkeiten für SchülerInnen geschaffen wurden und statt dem groß angekündigten Abschaffen des Sitzenbleibens nur eine Erweiterung der Aufstiegsklausel geschaffen wurde. ek

WKÖ-Präsident Leitl machte Ende Jänner mit dem Vorschlag auf sich aufmerksam, neben dem bereits bestehenden Hochschuldschungel aus Universitäten, PHs, FHs und Privatunis sogenannte „Berufsakademien“ einzuführen. Damit soll dem FacharbeiterInnenmangel entgegengewirkt und der „Wirtschaftsstandort Österreich“ stabilisiert werden. Die ÖH kann dem Vorschlag nicht besonders viel abgewinnen: „Akademische Ausbildung mit Berufsbezug ist ganz klar Aufgabe der Fachhochschulen. Mit einer Einführung von Berufsakademien wäre das Chaos perfekt“, hieß es in einer Aussendung. ek


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Studieren gegen die Uhr Schon vor Jahren wurden fast alle Diplomstudien auf Bachelor und Master umgestellt. Für Studierende, die doch noch im Diplom begonnen haben, tickt nun die Uhr: Ihre Studienpläne laufen jetzt endgültig aus.

Dominik Wurnig

nna Schwab* hat Angst. Angst davor, dass sie mit ihrer fertigen Diplomarbeit ganz am Ende nochmal zurück an den Anfang geworfen wird. Sie ist 25 Jahre alt und studiert Pädagogik „auf Diplom“, also nach dem alten Studienplan, an der Universität Wien. 100 Seiten hat ihre Arbeit bereits, 30 sollen noch dazukommen. In einem Monat will sie die wissenschaftliche Abschlussarbeit abgeben. Bis heute arbeitet sie ins Blaue hinein: „Ich kriege so wenige Rückmeldungen, dass ich nicht weiß, wo ich stehe.“ Ihre Diplomarbeitsbetreuerin ist zwar bemüht, hat aber einfach keine Zeit für intensive Betreuung. Von Anna Schwabs fast fertiger Diplomarbeit hat die Professorin noch keine Zeile gelesen. Es sind zu viele Studierende für zu wenig Lehrende: Alleine auf der Pädagogik wollen heuer noch 650 Studentinnen und Studenten abschließen. Anna Schwab sagt: „Ich fühle mich alleine gelassen. Ich habe Angst, dass das Feedback zu spät kommt und ich die Änderungen nicht mehr rechtzeitig einarbeiten kann.“ Dann müsste sie in den neuen Studienplan umsteigen und noch einige Lehrveranstaltungen zusätzlich absolvieren.

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Plötzliches Ende? Am 30. November 2012 ist es zu spät. Im neuen Bachelorstudienplan der Pädagogik heißt es auf Amtsdeutsch: „Studierende, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Curriculums in einen vor Erlassung dieses Curriculums gültigen Studienplan unterstellt waren, sind berechtigt, ihr Diplomstudium der Pädagogik bis zum 30.11.2012 abzuschließen.“ Das heißt: Alle Lehrveranstaltungen, die Diplom-

arbeit sowie die kommissionelle Diplomprüfung müssen bis dahin absolviert sein. Wer die Diplomprüfung beim ers­ten Mal verhaut, hat eigentlich noch drei weitere Chancen. Anna Schwab darf sich nicht so viele Fehltritte erlauben: Die Universität Wien garantiert die vier Prüfungsantritte nur, wenn die Abschlussarbeit bereits im Jänner 2012 eingereicht wurde. Prinzipiell ist das Ende des Diplomstudiums schon lange bekannt. Das Ablaufdatum der alten Diplomstudien konnten alle Studierenden in den neuen Bachelorstudienplänen nachlesen: Seit 2007 im Fall der Pädagogik bzw. Bildungswissenschaft. Sie wussten, bis wann sie mit dem Diplom fertig werden müssten und hätten jederzeit in den aktuellen Bachelor- oder Masterstudienplan umsteigen können. Die absolvierten Lehrveranstaltungen werden beim Umstieg meistens kulant für den neuen Studienplan angerechnet. Trotzdem haben es sehr viele Studentinnen und Studenten an der Universität Wien vorgezogen, im Diplom zu bleiben. Warum? Option Umstieg. Raphaela Blaßnig hat es sich nie überlegt. Die Pädagogikstudentin schreibt jeden Tag im Lesesaal der Universitätsbibliothek an ihrer Diplomarbeit. „Ich bin keine Bachelor-Freundin: Es ist mir zu schulisch aufgebaut, zu wenig frei, zu wenig Entscheidungen, zu wenig Bildung um ihrer selbst willen“, sagt die 25-jährige Studentin. Es mache Sinn, länger zu studieren – für die Selbsterfahrung und die allgemeine Bildung. Schlussendlich aber auch, um am Arbeitsmarkt bessere Chancen zu haben. In die selbe Kerbe schlägt der baldige Politikwissenschafts-Magister Michael Wögerer. Der

30-Jährige war immer nur zur Hälfte Student. Die andere Hälfte der Zeit hat er mit Arbeit und politischem Engagement verbracht. In der kleinen nieder­ österreichischen Gemeinde Winklarn war er einst der jüngste Gemeinderat. „Gerade bei einem Studium wie Politikwissenschaft sagen sie einem durch die Bank, man solle sich nicht nur auf das Fach konzentrieren. Es ist sicher kein Problem, das Studium in der Frist zu schaffen. Aber du hast keine Chance am Arbeitsmarkt, wenn du dich nicht vorher umgesehen hast“, sagt Wögerer. In Studienrichtungen ohne ein konkretes Berufsbild ist es wichtig, Erfahrungen zu sammeln, eigene Interessen zu entwickeln und sich mit den Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Wer sich rein auf sein Fach konzentriert, tut sich danach noch schwerer im Kampf um die Jobs. Problemfall Uni Wien. Wie viele Studenten und Studentinnen noch in einem auslaufenden Diplomstudium studieren, weiß man nicht. Die Sprecherin des Rektorats der Universität Wien geht von 15.000 Studierenden aus, die in diesem und dem nächsten Jahr ihr Studium abschließen müssen. Wie viele es genau sind, kann die Universität Wien auch nach mehrmaligem Nachfragen des PROGRESS nicht sagen. Jedenfalls müssen Diplomstudierende aus 33 Studienrichtungen 2012 und 2013 abschließen. Der große Zeitdruck für die Studierenden und Mehrbelastungen für die Lehrenden sind aber hausgemacht: An keiner anderen Universität oder Hochschule in Österreich gibt es solch massive Probleme. Die Universität Wien hat sich bei der Befristung der Diplomstudien an der Mindeststudienzeit plus zwei Extra-Semestern orien-

tiert – also im Regelfall zehn Semester. Dass der Durchschnitt aber 13,3 Semes­ ter bis zum Diplom braucht, wollten die Vorsitzenden der zuständigen Stellen im Senat nicht gelten lassen. In vielen Studienrichtungen haben Studierende und Lehrende Initiativen gesetzt, um die Frist zur Beendigung des Diplomstudiums zu verlängern. An der Uni Wien bisher stets erfolglos. „Die Leute im Diplomstudium sollen fertig machen dürfen. Ich verstehe überhaupt nicht, wieso man ihnen da Steine in den Weg legt“, fragt sich Michael Wögerer. Sein Vorschlag lautet: „Alle, die den ersten Studienabschnitt abgeschlossen haben, dürfen das Diplomstudium noch fertig machen.“ Die Umsetzung für die Universität wäre ein Leichtes: Alter und neuer Studienplan kosten gleich viel und mittels Äquivalenzlisten – die gleichwertige Lehrveranstaltungen für das BA/MA und das Diplomsystem ausschildern – hat es auch bisher bestens funktioniert, beide Systeme parallel laufen zu lassen. Die Universität für Bodenkultur in Wien war jedenfalls toleranter. Insgesamt 16 Semester wurden dort beispielsweise den Diplomstudierenden des Fachs Lebensmittel- und Biotechnologie Zeit gegeben. Auch eine Verlängerung der Frist war dort im Gegensatz zur Uni Wien kein Ding der Unmöglichkeit: Die Auslauffrist des Diplomstudiums Kulturtechnik und Wasserwirtschaft wurde im Nachhinein um ein Jahr verlängert. Genau weiß die Universität Wien nicht, was in den nächsten Monaten auf sie zukommt. Die Dekanin der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft, Ines Maria Breinbauer, fühlt sich aber organisatorisch gut gerüstet: „Ich versuche, es so gut es geht aufzu-


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Raphaela Blaßnig (25) ist keine Freundin von Bachelor und Master.

fangen. Ich kann aber nicht garantieren, dass es gelingt. Probleme gibt es dann, wenn irgendwer krank wird oder ausfällt.“ Allein 650 Studierende der Pädagogik arbeiten daran, noch heuer fertig zu werden. Mit zusätzlichem Geld aus dem Wissenschaftsministerium will die Uni Wien die angespannte Lage verbessern: „In auslaufenden Diplomstudien, in denen noch viele Abschlussarbeiten anstehen, werden Gastprofessuren zur Unterstützung der DiplomandInnen eingesetzt, um Betreuungsengpässen entgegenzuwirken“, sagt eine Sprecherin der Uni Wien. „Diese Professoren und Professorinnen kommen mit März 2012 zu spät“, kritisiert der Studienvertreter der Vergleichenden Literaturwissenschaft Andreas Maier, der eigentlich auch sein Diplomstudium noch abschließen wollte. „Aber ich müsste mein ganzes politisches Engagement in der ÖH sein lassen oder die Diplomarbeit wird nicht fertig“, sagt der Student im elften Semester. Ein halbjähriges Auslandspraktikum in Ankara, die Zusatzausbildung „Deutsch als Fremd- und Zweitsprache“ und das Engagement als Studienvertreter kosten zu viel Zeit. Statt seine komplette Aufmerksamkeit der Diplomarbeit zu widmen, wird er in das Masterstudium wechseln: Zehn absolvierte Lehrveranstaltungen sind damit quasi umsonst, weil sie nicht anrechenbar sind. Außerdem braucht er dadurch ein Jahr länger bis zum Abschluss. Während am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft noch ein Jahr Zeit ist, hat die Politikwissenschaft der Uni Wien den Diplomarbeitsmarathon schon hinter sich. Wer vor dem 30. April – und damit das Diplomstudium – abschließen will, musste bis

31. Jänner die Diplomarbeit einreichen. Stundenlanges Warten, überforderte BetreuerInnen, das Versagen der elektronischen Plagiatsprüfung und Frust bei allen Beteiligten waren die Folge. „Den Unmut bekommen die an der Basis zu spüren, nicht die Oberen, die das entschieden haben“, ärgert sich Michael Wögerer. Auch die Ellenbogenmentalität unter den Studierenden habe in den letzten Monaten zugenommen, hat er beobachtet: „Durch den großen Druck hat keiner mehr Ressourcen, um anderen zu helfen.“ Harte Monate. Schon unter normalen Bedingungen ist das Leben für Studierende nicht einfach, in einer solchen Drucksituation geht es aber an das Eingemachte. Ohne die finanzielle Unterstützung der Eltern würde die Studienbeihilfebezieherin Raphaela Blaßnig die Diplomarbeit nicht fristgerecht schaffen. Ihr Arbeitsleben als Outdoortrainerin bei Schulprojektwochen ist im Moment gestrichen. Auch Michael Wögerer hat einige harte Monate hinter sich, aber für ihn persönlich hatte die nahende Frist auch eine positive Auswirkung: Es motivierte. „So kann man die Diplomarbeit nicht mehr hinausschieben. Einen Zehn-StundenSchreib-Marathon macht man ohne Druck einfach nicht“, sagt er, und gibt zu bedenken: „Der enorme Stress war sicher nicht gesund. Ich war noch nie so oft krank wie in diesem Jahr.“ N Fotos: Gotter

Der Autor studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaften im Diplom. *Da die Diplomprüfung noch bevorsteht, wurde der Name von der Redaktion geändert.


Ich finde, dass die STEOP dabei zu viel Druck ausübt, verglichen mit ihrem Nutzen.

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Ich finde, dass die STEOP dabei zu viel Druck ausübt, verglichen mit ihrem Nutzen.

Ich finde die STEOP insgesamt eine sinnvolle Maßnahme.

Gesichter der STEOP Mit der Begründung, StudienanfängerInnen einen Einblick in ihr Studium geben zu wollen, wurde im Wintersemester 2011/12 die Studieneingangsphase (STEOP) verschärft und verpflichtend am Anfang des Studiums an allen österreichischen Universitäten eingeführt. Wieviel dieser Einblick gebracht hat, erzählen drei STEOP-Prüflinge.

eit dem Wintersemester 2011/12 gibt es an allen österreichischen Universitäten eine verpf lichtende Studieneingangs- und Orientierungsphase (STEOP). Die Umsetzung dieser wird allerdings nicht einheitlich gehandhabt. So kommt es vor, dass den StudienanfängerInnen an fast allen Wiener Unis sowie in Graz, Klagenfurt, Salzburg und Leoben drei Prüfungsantritte pro STEOP-Prüfung zugestanden werden, während die Uni Linz und Uni Wien eine rigorose Umsetzung mit nur zwei Antritten beschlossen haben. Meist sind die Prüfungen, die man

S

innerhalb der STEOP absolvieren muss, klar vorgeschrieben, vereinzelt können die StudienanfängerInnen wählen. Immer aber kann man mit negativ absolvierter STEOP keine anderen Lehrveranstaltungen abschließen, was nun viele Studierende vor immense Beihilfen- oder Stipendienprobleme stellt. Ich bin mit der Umsetzung der STEOP

Alexandra, Johanna und Stefan erzählen dem in meinem Studium…zufrieden. PROGRESS ihre Geschichte.

Ich bin mit der Umsetzung der STEOP in meinem Studium…zufrieden.

Die STEOP hat zu meiner Orientierung an der Universität und in meinem Studium beigetragen.

Gesprächsprotokolle: Vanessa Gaigg

„Dem Töchterle ist das scheißegal“ Alexandra Eisenmenger (33) ist alleinerziehende Mutter und wollte Biologie an der Uni Wien studieren: Ich bin eine Nachzüglerin. Ich habe vor sechs Jahren die Matura an der Abendschule nachgeholt, und letztes Wintersemester Biologie inskribiert. Ich bin draufgekommen, dass mich Biologie extrem interessiert, dass ich gerne ins Labor gehen würde. Ich komme aus der kaufmännischen Richtung und wollte weg von dort. Da ich alleinerziehende Mutter bin,

Foto: Burtscher

habe ich mich um ein Stipendium gekümmert, und das auch bekommen. Ich habe mich sehr darauf gefreut und war irrsinnig motiviert. Ich war bestimmt 80 Prozent der Vorlesungen anwesend, hab das immer irgendwie gedeichselt, außer wenn ich krank war oder es nicht gegangen ist wegen meiner Tochter. Ich habe auch parallel schon andere Vorlesungen besucht. Bei der ersten von zwei Prüfungen habe ich mich gefragt, ob ich da wirklich auf der Uni bin. Die Prüfung hat 15 Minuten später gestartet, weil sie zu wenig Prüfungsbögen hatten, die Fragen hatten überhaupt nichts mit Wissen zu tun. Wir waren so eine ViererMädls-Lernpartie, die haben alle zu mir gesagt, ich könne das in- und auswendig. Es hat dann geheißen, das Ergebnis komme vor Weihnachten, erfahren hab ich es dann nach Jahreswechsel: Nicht geschafft. Das war wirklich das totale Aussiebverfahren, 56 Prozent sind durchgefallen. Ich hab mich aber wieder hingesetzt, alles gelernt, ich hab mir gedacht: ‚Bitte fragt’s mich das alles, ich kann’s ja!’ Bei der zweiten Prüfung war’s aber dasselbe in grün. Ich find’s irrsinnig traurig, wie man Leuten wie mir, die halt erst später draufkommen, was sie machen wollen, noch mehr Steine in den Weg legen kann. Die Fragen waren viel zu detailliert und teilweise auch nicht mal aus dem Stoffgebiet. Die Stimmung unter den Studierenden war absoluter Wahnsinn, wir haben uns alle angeschaut und gefragt, was das für ein Theaterstadl ist! Warum kann man denn da keine normalen Fragen stellen?

Ich bin wiedermal in ein großes Loch gefallen. Von der Stipendienstelle hab ich bestimmte Auf lagen bekommen, und man kann ja keine anderen Prüfungen machen, solange man die STEOP nicht abgeschlossen hat. Ich muss jetzt knapp 5.000 Euro zurückzahlen, außer ich finde eine andere Lösung. Ein mündlicher Antritt – ich würd’ alles dafür geben. Ich bin 33, ich bin nicht alt, das weiß ich schon – aber für gewisse Sachen bleibt die Zeit nicht stehen, die rennt. Irgendwann geht’s einfach nicht mehr mit Ausbildung und Hin und Her. Ich hab nicht wirklich ein anderes Fach, das ich studieren will. Viele haben auch gesagt; ‚Na dann geh doch nach Graz studieren!’, aber die stellen sich das auch ziemlich einfach vor: Ich bin alleinerziehend mit einem siebenjährigen, schulpflichtigen Kind. Ich kann nicht einfach alle Sachen packen und gehen! Mein Lernaufwand war sehr hoch. Neben 20 Stunden die Woche Arbeiten und meinem Kind habe ich zwei Monate intensiv gelernt. Es gibt natürlich immer welche, die’s heraußen haben. Ich hab seit sechs Jahren nichts mehr gelernt, trotzdem war ich supergut vorbereitet. Jetzt bin ich lebenslang für Biologie gesperrt. Überall liest man: Bildung! Bildung! Bildung! Wir wollen alle bilden und stellen alles zur Verfügung! Da kannst du dir doch nur an den Kopf greifen, wenn dann sowas rauskommt. Aber so Leuten wie dem Töch‘‘ terle, denen is das im Prinzip alles scheißegal.


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finde, dass STEOP dabei zu viel Ich bin mit der Ich Umsetzung derdie STEOP in meinem Studium…zufrieden. Druck ausübt, verglichen mit ihrem

Ichzufinde die Orientierung STEOP insgesamt eine Die STEOP hat meiner sinnvolle an der Universität und Maßnahme. in meinem Studium beigetragen.

Nutzen.

Quelle: Österreichweite Onlineumfrage der Österreichischen HochschülerInnenschaft unter rund 3.000 STEOP-KandidatInnen.

„Es sind nur 26 Leute angetreten“

Foto: Rauch

Die Linzerin Johanna Mayr (18) studiert Mathematik im Bachelor an der Karl Franzens Universität in Graz: Ich bin mit der Umsetzung der STEOP in meinem Studium…zufrieden.

Meine STEOP besteht aus einer Orientierungs- muss ich viel mehr lernen, und viele sind die anderen lehrveranstaltung und einer zu Line- Prüfungsmodalitäten auch noch nicht gewöhnt. Mathe Die STEOP hat zuVorlesung meiner Orientierung arer Algebra, insgesamt istUniversität sie 6,5 ECTS Neben in der Schule und Mathe auf der Uni sind halt zwei an der und inwert. meinem den Leuten aus demStudium ersten beigetragen. Semester, die den Mathe- ganz verschiedene Dinge. Zum Glück werde ich auch Bachelor angefangen haben, sitzen da auch die Lehr- finanziell von meinen Eltern unterstützt. Wenn ich neamtsleute aus dem dritten Semester drinnen. Es ist also benbei 20 Stunden die Woche arbeiten müsste, wäre vielleicht nicht die beste Idee, gerade diese Vorlesung sich das mit der STEOP nie ausgegangen. Ich würde in eine STEOP reinzupacken. Ich finde, sie war relativ die STEOP abschaffen, was sonst? Sie hat überhaupt schwierig. Die Prüfung sieht so aus, dass es zuerst ei- nicht zu meiner Orientierung beigetragen. Ich finde nen schriftlichen Teil gibt, und erst, wenn du den be- das nicht sinnvoll, weil es nur Stress schafft. In Graz stehst, darfst du zur mündlichen Prüfung antreten. Bei hat man zwei normale Antritte und der dritte ist komder schriftlichen Prüfung hat es drei Fragen gegeben, missionell. Wenn ich weiß, ich hab jetzt zwei Antritte wobei wir die erste so nie durchgemacht haben. Zu der und dann sitz ich vor der Kommission, dann glaub ich Prüfung sind nur 26 Leute angetreten, weil sie als so nicht, dass man da gut rausfinden kann, ob das das schwierig gilt. 14 Leute haben 8,5 Punkte und dürfen richtige Studium für einen ist. Wie soll eine Prüfung zur mündlichen Prüfung antreten, zwölf haben weni- darüber entscheiden? Die meisten Leute kommen diger. Ich hab 8,5 Punkte und darf antreten. Ich habe mir rekt von der Schule oder nach dem Zivi, und die sind in der Schule recht leicht getan mit dem Lernen, mein schon generell von der Abstraktion am Anfang ‘‘ Maturazeugnis hat einen 1,0-Schnitt. Aber für die Uni überfordert.

„Es ist eine Selektionsphase“ Stefan Kastel ist Mitbegründer der Stop-STEOP-Bewegung in Wien und wollte Deutsch und Geschichte auf Lehramt studieren: Ich hab mir nach der Schule überlegt, welchen Beruf es gibt, wo ich mit Menschen in Kontakt kommen kann und anderen helfen kann. Das war dann der Lehrerberuf, und da bin ich auch mit viel Begeisterung an die Sache rangegangen. Mit der STEOP ist das dann immer weniger geworden. Ich wollte Deutsch- und Geschichtelehrer werden, und habe auch in beiden Fächern alle Prüfungen und Übungen positiv absolviert. Nur die Pädagogikprüfung, die hab ich verhaut. Die Pädagogikprüfung ist für alle, die Lehramt studieren wollen, gleich. Das war ein Single Choice Test. Da sind die meisten gescheitert, ich denke, ein paar hundert. Diese Prüfung sagt überhaupt nichts darüber aus, ob du als Lehrer geeignet bist oder nicht. Aus der Sicht von vielen waren bei den Fragestellungen mehrere Antworten möglich, das war teilweise einfach nur realitätsfremd. Eine Frage war zum Beispiel: ‚Was ist ein symbolhaftes Tier für den Unterricht?“ Esel wär‘s gewesen, keine Ahnung. Das Problem ist aber sowieso eher grundsätzlich: Bei einem Test mit 40 Fragen kannst du nicht herausfiltern, ob du für den Beruf geeignet bist oder nicht. Aber das interessiert

Foto: Rauch

die Uni anscheinend nicht. Meine Erwartungen waren, dass es zuerst mal die Möglichkeit gibt, sich wirklich zu orientieren, genug Zeit für sich selber zu haben, und herauszufinden, was wichtig ist fürs Studium. In der Realität war es dann so, dass sie uns in der zweiten Woche gesagt haben: ‚Ihr habt zwei Antritte, dann fliegt ihr raus.‘ Vom Stress her war das sicherlich wesentlich mehr als bei der Matura. Die Stimmung im Studium war einfach nur angepisst. Alle haben sich das anders vorgestellt, orientierungsmäßiger, ruhiger, und nicht so zukunftsabhängig. Die Studieneingangs- und Orientierungsphase soll ihrem Namen gerecht werden, jetzt ist das eine Selektionsphase. Ich glaube, es wurde gezielt so angelegt, dass einige Studenten keine Chance haben, weiter zu studieren. In Pädagogik war es so, dass ein paar zuerst 20 von 40 Punkten hatten und kurz vor der Prüfungseinsicht waren‘s dann auf einmal 21. Töchterle finde ich extrem arrogant. Wie kann ein Mensch, der alles erreicht hat und sicher gut verdient, so herablassend mit den Zukunftsplänen anderer ‘‘ Menschen umgehen?


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Foto: Kolda

Ab in den Osten Rumänien ist für viele noch immer akademisches Niemandsland. Dennoch steigt die Zahl angehender MedizinstudentInnen, die es in die Universitätsstadt Temeswar zieht. Weit entfernt vom Massenbetrieb bildet die Hochschule praxisnah aus.

as sie einmal werden will, wusste Laura Bogdan schon von klein an. „Medizinerin!“, schießt es aus der heute 24-Jährigen heraus. Doch die Tochter eines Zahnarztes verpasste die Anmeldung für den Eignungstest der österreichischen Medizinuniversitäten in Wien, Graz und Innsbruck. Ein Jahr warten und auf gut Glück an der Seite von 11.000 weiteren Studieninteressierten den Eignungstest durchackern? Das kam für die Klagenfurterin mit deutsch-rumänischen Wurzeln nicht in Frage; sie wollte sofort loslegen. Also suchte sie sich eine Studienstadt im Ausland und landete in ihrer Wahlheimat: Rumänien.

weile gibt es bereits 70 Studiengänge in deutscher Sprache, darunter Journalistik, Europawissenschaften und Betriebswirtschaft. Laura, die bereits im achten Semester ist, studiert zusammen mit überschaubaren 1.500 KomilitonInnen an den drei Fakultäten Humanmedizin, Zahnmedizin und Pharmazie. Fast zwei Drittel davon hat es aus aller Welt in die alte mehrsprachige Kulturstadt gezogen, deren drei offizielle Namen von ihrer wechselvollen Geschichte zeugen: Timişoara (rumänisch), Temesvár (ungarisch) und Temeswar oder Temeschwar (deutsch). Das noch bestehende deutsche und ungarische Staatstheater inmitten der Stadt zeugt von ihrer K.u.k.-Vergangenheit. Und aufgrund ihrer optischen und geografischen Nähe zu Wien wurde Temeswar auch immer wieder „Klein-Wien“ genannt.

„Mit denen ist es viel lustiger. Man muss sie zum Lachen bringen, das ist das Wichtigste.“ Seit Dezember 2010 leitet sie das Projekt „Volunteers for rare diseases“ für „Save the children“ in Rumänien. Dass sie so viel machen kann, verdanke sie vor allem „den tollen ProfessorInnen. Hier kann man viel erarbeiten, wenn man ehrgeizig ist.“ Jede Woche verbringt sie mit anderen Freiwilligen Zeit auf der Kinderstation der Neuropsychiatrie in Temeswar – spielt, lernt und malt mit den jungen PatientInnen. Manchmal sammelt sie auch Geldspenden in Klagenfurt, um Spielzeug zu kaufen oder organisiert Veranstaltungen mit Clowns oder GesichtsmalerInnen im Krankenhaus, um auf die Bedürfnisse der Kinder aufmerksam zu machen. Dass Laura sich hier wohl fühlt, ist nicht zu übersehen.

Akademisches Niemandsland. Dass das Land am Rande der Europäischen Union jahrelang als akademisches Niemandsland galt, reizte sie erst recht: „Es gibt sehr viele RumänInnen, die hart, viel und gut im Ausland arbeiten, nur leider wird darüber nichts berichtet.“ Rumänien ist weder für kosmopolitisches Flair, noch für einen gehobenen Lebensstil berühmt. Nach wie vor verbinden die meisten ÖsterreicherInnen mit dem Land Armut, Korruption und technische Rückständigkeit. „Wenn du dort aus einem Auto aussteigst, droht dir sicher jemand mit der Waffe. Viele Autos kann es dort ja nicht geben, mehr Pferdekutschen, oder? Solche und ähnliche Sätze muss ich mir anhören, wenn ich von meinem Studienort erzähle“, so Laura trocken. Sie ist es leid, sich für ihren Studienort rechtfertigen zu müssen. Viel lieber spricht sie über die 300.000-EinwohnerInnen-Stadt im Westen Rumäniens, Temeswar, als ihre Schule des Lebens, über die engagierten ProfessorInnen und erzählt, dass man sich untereinander kennt. „Ich nenne Temeswar gern meinen Dschungel, weil hier vieles so anders ist als im Westen.“ Temeswar ist neben Klausenburg (Cluj) in Siebenbürgen und der Hauptstadt Bukarest die beliebteste Stadt für ein Auslandsstudium in Rumänien. Mittler-

Vielsprachiges Angebot. Seit 1997 wird hier das Medizinstudium auf Englisch oder Französisch angeboten. Nur ein paar hundert Studierende kommen laut Andrei Motoc, Vizedekan an der Medizinischen Fakultät, aus Deutschland oder Österreich. „Aber es werden immer mehr. Wir überlegen uns auch schon seit geraumer Zeit, Medizin auch in Deutsch anzubieten. Zurzeit wählen die meisten ausländischen Studierenden Französisch als Unterrichtssprache“, sagt Motoc und fügt hinzu: „Und zwar deswegen, weil MarokkanerInnen und TunesierInnen hier am öftesten studieren.“ Der weltgewandte Mann mit dem schwarzen sauber gestutzten Schnauzer und den dunklen Augen sitzt in seinem dezent eingerichteten Büro an der medizinischen Fakultät und erzählt stolz von seinen AbsolventInnen, die nun in den Metropolen der Welt arbeiten. „Das, was das Studium hier so besonders macht, ist die frühe Praxis. Bereits im zweiten Jahr müssen StudentInnen ihr Wissen an den PatientInnen anwenden. Egal, ob sie Rumänisch sprechen oder nicht“, sagt Motoc und fügt hinzu: „PatientInnen sind es hier gewohnt, sich zehn Mal am Tag die Leber von StudentInnen abtasten zu lassen.“ Auch Laura hat schon Blutabnahmen bei Kindern und etliche Krankenhausdienste hinter sich. Mittlerweile ist ihr klares Ziel, einmal Kinderärztin zu werden.

Höhere Gebühren für AusländerInnen. Doch auch Rumänien hat seinen Preis. Rund 2.000 Euro Studiengebühren zahlen ausländische Studierende pro Semester, obwohl Rumänien von Brüssel dazu angehalten wird, einheimische und ausländische StudentInnen gleichzustellen, so wie es in der EU üblich ist. Vielleicht versucht Rumänien seine – angesichts der Finanzkrise – gebeutelte Lage zu stabilisieren; LehrerI­ nnen und ProfessorInnen mussten sich ihr ohnehin bescheidenes Gehalt um 25 Prozent kürzen lassen, vielerorts sticht auch in der Region um Temeswar noch die Armut ins Auge. „Also mir gefällt es hier sehr gut. Man muss es im Verhältnis sehen, im Gegenzug gibt es keine Aufnahmeprüfung und die Lebenskosten sind hier äußerst gering“, sagt Laura. Aber auch sie wird nach dem Studium in Österreich oder Deutschland als Assistenzärztin arbeiten. Hier würde sie einem mageren Lohn von 300 Euro ins Auge sehen; in Deutschland wird sie mit 3.700 Euro mehr als das Zehnfache verdienen. „So gut es mir hier gefällt, ich kann und will nicht weitere fünf Jahre von meinen Eltern Geld verlangen.“ N

Elisabeth Gamperl

W

Die Autorin studiert Kultur- und Sozialanthropologie in Wien. Die Reportagereise nach Rumänien wurde durch das europäische Austauschprojekt Eurotours 2011 gefördert.


Politik n | PROGRESS 01/12 | 13

Politik

Westbahn. Fehlentwicklung Hilfsausdruck.

Was Wolf Haas vielleicht über die Westbahn sagen würde. Ein Kommentar von Iris Schwarzenbacher. s ist schon wieder was passiert. Die Westbahnstrecke haben’s privatisiert, also ei- fahrt nämlich nur auf den Strecken, die auch wirklich rentabel sind, quasi Geld schefgentlich teilprivatisiert. Das mit der Westbahn GmbH ist ja eigentlich eine ganz feln. Die ÖBB kann sich das nicht aussuchen. Die muss alles machen. Mariazell, Mittereine eindeutige G’schicht, weil das nämlich eine Liberalisierung des öffentlichen Ver- sill, Mooskeuschen. Nicht nur Salzburg und Wien. Weil die Lisa aus Hintertupfing muss kehrs ist, sprich nicht mehr so öffentliche Dienstleistung. Da gibt’s so einige Leute, die trotzdem in die Schule und die Huber in die Arbeit. Aber Geld kostet das, das glaubst das mit den Privatisierungen normal überhaupt nicht gut finden. Die Westbahn finden’s du nicht. Auf der Westbahnstrecke, da hat die ÖBB Geld machen und damit auch die aber dann doch gar nicht so schlimm. Widerspruch Hilfsausdruck. Nebenstrecken finanzieren können. Dann kommen die Privaten und bum, ist die Westbahnstrecke wegen der Konkurrenz nicht mehr so rentabel für die ÖBB. Die NebenstreÖffentlich vs. privat. Du wirst’s nicht glauben, aber da gibt’s einen Unterschied zwi- cken sind dann auch nicht mehr finanzierbar, weil weniger Geld, und die Arbeitsplätze schen den öffentlichen und den privaten Dings, also Unternehmen. Die einen nämlich, auch nicht immer. Lisa und die Huber nicht mehr so glücklich. die haben da quasi eine Aufgabe. Bestmögliche Qualität, billige Preise, viele Arbeitsplätze, gute Arbeitsbedingungen – sprich öffentlicher Auftrag. Die anderen, also die Privaten, Jetzt aber ÖBB. Du glaubst jetzt vielleicht, lustig, ich bin ÖBB-Fan. Stimmt gar nicht imdie sind dann eher die mit dem Profit. Du hast vielleicht schon mal von der englischen mer, weil die ÖBB mit der bestmöglichen Qualität und den billigen Preisen auch oft so Bahn gehört, auch Privatisierung, aber in den 80ern. Da hat’s sogar Tote gegeben, weil ein Dings ist. Aber Fan vom öffentlichen Verkehr bin ich. Weil die öffentlichen DienstProfit im Vordergrund und nicht das mit der Sicherheit. Vielleicht heißt’s dann in ein leistungen, die sollten halt auch öffentlich sein, nicht privat. Verkehr genauso wie Bildung, paar Jahren nicht mehr happy-beppi mit den blau-grünen Zügen, sondern Arbeitsplätze Gesundheit und solche G’schichten. Fazit: Den öffentlichen Verkehr und damit die ÖBB gekürzt, Lohndumping, Einsparung von Nebenstrecken. verbessern und nicht aushungern. Nichts mit Profitgier, Kürzungen und dem Mythos von der Konkurrenz, die eh niemandem was bringt. Hausverstand Hilfsausdruck. N Das mit der Konkurrenz. Da meinst du vielleicht, Nebenstrecken einsparen ist eher die Sache von der ÖBB und gar nicht die von der Westbahn. Aber Vorsicht: Die Westbahn Die Autorin studiert Politikwissenschaft an der Uni Wien.

E

Kurzmeldungen

Rücktritt auf den Malediven

Budgetloch in Libyen

Der erste demokratisch gewählte Präsident der Malediven, Mohamed Nasheed, wurde von Oppositionsprotesten zum Rücktritt gezwungen. „Ich will nicht durch Gewalt an der Macht bleiben“, so Nasheed. Im Jahr 2008 löste er nach 30 Jahren M. A. Gayoom ab, unter dessen Herrschaft Nasheed als politischer Gefangener inhaftiert war. Nun übernimmt Vizepräsident M. Waheed die Amtsgeschäfte, der Gerüchten zufolge an Drohungen gegen Nasheed beteiligt war. Ein Sprecher von Gayooms Partei sichert ihm die Unterstützung der Opposition zu. as

Nach der blutigen Revolution kämpft die libysche Regierung nun mit Schulden von zehn Milliarden Dollar. Die Öleinnahmen, die sich auf vier Milliarden belaufen, reichen nicht einmal aus, um die BeamtInnengehälter in der Höhe von 22 Milliarden Dollar zu decken. Nur ein Bruchteil der eingefrorenen 150 Milliarden wurde dem Staat bisher repatriiert. Die Wiederaufnahme der Ölförderung sei der Schlüssel für die wirtschaftliche Erholung Libyens. Seit November 2011 baut die OMV diese langsam wieder aus. Vor dem Bürgerkrieg stammten zehn Prozent der konzernweiten Fördermengen aus Libyen; bis Ende 2011 waren es nur 3,5 Prozent. as

Wien: Gesundheitsgefährdung im Sexspielzeug Viele Dildos und andere Sexspielzeuge wie Vibratoren und Analplugs enthalten hohe Mengen an krebserregenden Weichmachern. Johann Maier (SPÖ) richtet eine dementsprechende Anfrage an das Bundesministerium, um Gefahren besser abschätzen zu können und dementsprechende Gesetzesänderungen in Gang zu setzen. Weichmacher, die sich als höchst gesundheitsgefährdend erwiesen haben, werden vor allem in Kunststoffprodukten eingesetzt. Für Babyartikel und Kinderspielzeug erteilte die EU-Kommission bereits ein Anwendungsverbot dieser Substanzen. Eine derartige Regelung fehlt für „Erwachsenenspielzeuge“ noch gänzlich. as


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Foto: Marot

Zwischen 80.000 und 160.000 Saharauis leben in algerischen Flüchtlingslagern.Es herrsche ein „kontinuierlicher Terror gegen die in Marokko lebenden Saharauis“, sagt der Politologe Abdeslar Omar.

Am toten Winkel der Welt Seit Dekaden pochen die aus Marokko vertriebenen BewohnerInnen der Westsahara auf staatliche Souveränität. Mangels diplomatischer Lösung während einer UN-Waffenruhe setzen seit 2005 vor allem StudentInnen auf zivilen Ungehorsam und einen durch den Arabischen Frühling verstärkten Aufstand in den besetzten Gebieten.

Jan Marot

r wird des Teufels Vorgarten genannt. Der Süden der algerischen Sahara, nahe der verminten Grenze zu Marokko, verdeutlicht, dass die Wüste in ihrer Trostlosigkeit variiert. Hierher, wo nicht eine Akazie auf ihre Existenz beharrt und keine Dattelpalmen Oasen umsäumen, sind die Saharauis, die BewohnerI­ nnen der Westsahara, vor fast 40 Jahren vor der marokkanischen Armee geflüchtet. Ein vergessener Konflikt, der bis heute auf eine Lösung wartet. Trotz seiner reich vorhandenen Phosphatvorkommen wurde Spanien 1975 seiner Kolonie Fluss des Goldes (span. Rio de Oro) überdrüssig und verließ den Westen der Sahara. Die Saharauis führten bereits seit 1973 mit der von Mohamed Abdelaziz mitbegründeten Frente POLISARIO einen Guerillakrieg gegen Spanien und Frankreich. Während mauretanische Truppen, die ebenfalls Gebietsansprüche in der Westsahara stellten, 1979 zermürbt wurden, scheiterte der Widerstand der Saharauis gegen Marokko. Als die Vereinten Nationen (UN) 1990/1991 schließlich einen Waffenstillstand erwirkten, war ein Referendum über die Selbstbestimmung der Saharauis vorgesehen – unter Einbeziehung derer, die unter marokkanischer Besatzung leben, getrennt durch einen 2.700 Kilometer langen „Wall der Schande“. Abgestimmt wurde jedoch bis heute nicht, während Marokkos Königshaus über Niedrigsteuern seine Art der Kolonialisierungspolitik betreibt. Lokale Arbeitskraft wird gebraucht – für Bergbau, Fischerei, Infrastruktur, im Tourismus und für Solarkraftwerke, die in Zukunft auch Europas Netze laben sollen.

E

Verhaftungen, Folter, Mord. Im Zuge des Konfliktes hat sich eine Form der Apartheid etabliert, warnt die saharauische Menschenrechtsorganisation Afapredesa. „Saharauis werden in Marokko als minderwertige Menschen behandelt“, so deren Präsident Abdeslar Omar im algerischen Rabouni, eines von mehreren Flüchtlingslagern im Umkreis von Tindouf. Dort leben zwischen 80.000 und 160.000 Saharauis und auch die Exilregierung der Demokratischen Arabischen Repu-

blik Westsahara (RASD) hat hier ihren Sitz. Es herrsche ein „kontinuierlicher Terror“ gegen die in Marokko lebenden Saharauis“, klagt Politologe Omar: vom „Verschwindenlassen“ und wahllosen Verhaftungen über Folter bis zum Mord – „schwerste Menschenrechtsverletzungen, doch deren Überwachung ist nicht Teil des UN-Mandats“. Zwar haben sich die Konfliktparteien darauf geeinigt, Saharauis Kurzreisen aus den Lagern zu gewähren, aber viele Familien sind seit Dekaden getrennt. Tausende Anträge habe Marokko abgelehnt, und „viele, die reisen durften, wurden schikaniert, attackiert, verhaftet und misshandelt“. Mohamed Hassanna (26) erwirkte ein Wiedersehen mit seinen Angehörigen per Hungerstreik. „Zig meiner Anträge waren abgewiesen worden, da ich mich für eine unabhängige Westsahara ausgesprochen habe“, sagt Hassanna. Über einen Monat harrte er aus, an den Zaun der kleinen UN-Dependance gekettet. „Mit Erfolg“, sagt er den Tränen nahe. Fünf Tage durfte er seine Familie sehen. Seit über sechs Jahren begehrt auch eine junge Generation von Saharauis in den von Marokko besetzten Städten auf. Aber auch gegen die studentisch organisierte Protestwelle wird massiv vorgegangen. „Ein Studienkollege von mir ist bei einem Protest verhaftet und in Gewahrsam ermordet worden“, sagt Ahmed Salem (24), Wirtschaftsstudent aus dem marokkanischen Agadir. Kein Einzelfall, und doch will Ahmed weiter demonstrieren. Er fordert einen saharauischen Staat und Gerechtigkeit für die Hunderten von Opfern. Deren Namen füllen eine meterlange Wand beim Büro der NGO Afapredesa. „Wir Saharauis fürchten uns nicht mehr“, sagt sich Mohamed Abdelaziz, Generalsekretär der Frente POLISARIO und seit 1976 Präsident der R ASD: „Wir haben vierzig Jahre der Erniedrigung durchlebt und werden nicht ewig an diesem Grad festhängen.“ Auf das studentische Auf begehren, das er „parallel zu anderen friedlichen Bewegungen des Arabischen Frühlings“ sieht, ist er stolz. Der Widerstand werde „weitergehen und wachsen“. Marokko stehe nunmehr einer „Doppelbelastung“ gegenüber – dank der Protestbewegung des 20. Februar, deren Forderungen von der regierenden islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung völlig ignoriert wurden. „Das

saharauische Volk zu unterdrücken und dem eigenen Volk grundlegende Rechte abzusprechen, ist nicht lange durchzustehen.“ Aber die Situation der saharauischen Flüchtlinge bleibt vorerst prekär: Ohne die UNHCR-Flüchtlingshilfe, staatliche Nahrungsspenden und die Unterstützung durch private Vereine, die „Solidaritätskarawanen“ organisieren, wären Bildung und Gesundheitsversorgung undenkbar. Mangelernährung ist weit verbreitet. Von Klagenfurt ins Krisengebiet. Aus diesem Grund hat sich rund um den Soziologen Hubert Höllmüller an der Fachhochschule Kärnten eine Initiative formiert, die mit dem Bildungsministerium der RASD kooperiert. Ende Oktober 2011 wurde in Klagenfurt ein VW-Bus samt Anhänger mit PCs, der Ausstattung eines ersten Turnsaales und Lehrmaterialien bepackt, um via Marseille und Oran in die Sahara zu den Lagern bei Tindouf zu fahren. Begleitet wurden die FH-MitarbeiterInnen und Studierenden stets vom algerischen Militär, das sich zu Recht um AusländerInnen sorgt. Am Tag der Abreise des Teams [an dem sich auch der Autor beteiligte, Anm. d. Red.] wurden just in Rabouni drei NGO-MitarbeiterI­ nnen von der Al Kaida des islamischen Maghreb entführt. Noch sind sie nicht freigekommen. Die Zahl der freiwilligen HelferInnen sinkt seither. Und angesichts der Wirtschaftskrise nehmen auch Hilfstransporte aus Spanien und Italien ab. Das erschwert die Umsetzung der ehrgeizigen Pläne der RASD-Bildungsministerin Mariam Salek Hmada. Sie will mit internationalen PartnerInnen eine erste Universität in Tifariti umsetzen. „Bildung ist der Schlüssel zum Leben, wenn auch oftmals fern der Lager“, sagt Hmada. An Lehrbüchern mangelt es, die maroden Unterrichtsräume sind überfüllt, Atemwegserkrankungen weit verbreitet, und doch schafft das Gros den Schulabschluss nach algerischem Standard. Knapp 20.000 Saharauis studieren in Algerien, aber auch in Kuba und Venezuela. Hmada weiß, dass „viele junge Saharauis daran denken, zu den Waffen zu greifen“. Sie rät zur Bedachtsamkeit: „Ich habe nicht an zivilen Ungehorsam geglaubt. Aber das ist der Weg.“ N Der Autor arbeitet als freier Journalist in Granada.


N Cover Politiknn| | PROGRESS 01/09 P ROGRESS 01/12 | 15

Wenn die FPÖ sich um die Umwelt sorgt Oberösterreichs grüner Umweltlandesrat kommt immer mehr unter Druck. In Folge eines Streits gegen Rechte im Anti-Atom-Bündnis wurden einer unabhängigen, antifaschistischen Gruppe 73.000 Euro Fördergelder gestrichen.

Peter Bierl

ntifaschistische AtomkraftgegnerI­ nnen erhalten in Oberösterreich kein Geld mehr vom Staat. Das ist das Resultat eines Streits zwischen der BürgerInneninitiative Antiatom-Szene und Umweltlandesrat Rudi Anschober (Grüne). Die Initiative weigert sich, mit einer Gruppe zu kooperieren, die mit dem rassistischen Weltbund zum Schutz des Lebens (WSL) verbunden ist und Kontakte zur FPÖ pflegt. Ein Mediationsverfahren, das die Landesregierung verlangt hatte, endete vor einigen Wochen ergebnislos. Antiatom-Szene verliert Fördermittel von rund 73.000 Euro im Jahr. Der Kampf gegen Atomkraftwerke in Tschechien ist in Oberösterreich Regierungssache: Die Landesregierung, der neben ÖVP und Grünen auch SPÖ und FPÖ angehören, fördert im Rahmen der Anti-Atom-Offensive diverse BürgerInneninitiativen. Der Streit entzündete sich vor Jahren, als der Verein Atomstopp den WSL-Präsidenten Friedrich Witzany für ein Personenkomitee des Volksbegehrens nominierte, das den österreichischen Austritt aus Euratom, der europäischen Institution zur Förderung der Atomindustrie, durchsetzen soll. Die Gruppe Resistance for Peace stieg aus der Kampagne aus, einige Mitglieder wurden daraufhin auf der nazistischen Homepage Alpen-DonauInfo bedroht. Die Antiatom-Szene solidarisierte sich mit Resistance for Peace

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und forderte, sich von rechten Gruppen abzugrenzen. Umweltschutz auf rassistischer Basis. Der WSL steht in einer Tradition, die Umweltschutz aus Sorge um das Erbgut einer „weißen Rasse“ treibt. Der Förster Günther Schwab gründete den Verband 1958 in Salzburg und prägte den WSL ideologisch. Schwab war im Oktober 1930 in Wien der NSDAP und der SA beigetreten, wo er es bis zum Sturmführer brachte. 1939 publizierte er den völkischen Kitschroman Mensch ohne Volk im Eher-Verlag, dem Zentralverlag der NSDAP, in dem auch Hitlers Mein Kampf und der Völkische Beobachter erschienen. Ende der 1960er-Jahre sah Schwab eine angebliche „Bevölkerungsexplosion“ als „Hauptsorge der Menschheit“ und forderte, in „primitiven Ländern“ eine Geburtenbeschränkung zu erzwingen. In Deutschland mischt die WSL-Sektion unter Führung des Nationalsozialisten Werner Georg Haverbeck mit Erfolg in der Ökologie- und Anti-AKW-Bewegung mit und wird dafür von österreichischen GesinnungsfreundInnen bewundert. Haverbeck war an der Gründung der Grünen führend beteiligt, verließ die Partei aber, weil sie ihm zu links erschien. Nach Recherchen von Elvira Pöschko von der Antiatom-Szene ist der Verein Atomstopp 2005 aus der Oberösterreichischen Überparteilichen Plattform gegen Atomgefahr hervorgegangen, die von WSL-FunktionärInnen geleitet worden

sei. Die Vorsitzende der Überparteilichen Plattform, Mathilde Halla, amtierte bis 2004 als Vizepräsidentin des WSL-Ö und organisierte Grenzblockaden gegen das AKW Temelin. Einmal trat dort auch Jörg Haider auf und hielt eine Rede. Der Geschäftsführer der Plattform Atomstopp und Witzany unterzeichneten ein von der FPÖ initiiertes Volksbegehren gegen das AKW Temelin. 2007 sei der Obmann der Initiative Atomstopp als Fraktionsexperte der FPÖ aufgetreten, erzählt Pöschko. Als Atomstopp 2010 kein Geld von der Landesregierung erhielt, protestierte die Linzer FPÖ. Grüne wiegeln ab. Anschober und der grüne Nationalrat Karl Öllinger, der als Neonazi-Experte gilt, verweisen auf ein Gutachten des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW). Demnach sei der WSL bis Mitte der 1980er-Jahre im „engeren Vorfeld“ des Rechtsextremismus zu verorten gewesen, der WSL-Präsident seit 1986 nicht mehr in Nazi-Kreisen aufgetreten. Dafür ist Witzany bei den Grünen aktiv. Auf der Homepage der Grünen von St. Florian wird er als Mitgründer und Ersatzmann für den Gemeinderat vorgestellt. Eine Nachfrage beim DÖW ergab, dass das Archiv für die Zeit nach 1986 kein Material über den WSL und Witzany hat und keine Recherchen anstellen kann. Nach Ansicht Öllingers hätten sich der österreichische und der internationale WSL Mitte der 1980er Jahre aus

Kontroverse Die Grünen beziehen sich in der Debatte um den Weltbund zum Schutz des Lebens auf ein Gutachten des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands (DÖW). Dessen Einleitung und Resummee hier im Wortlaut: „Eine Analyse des Weltbund zum Schutz des Lebens (WSL) auf Basis des im DÖW vorliegenden Materials erlaubt es, diesen für den Zeitraum zwischen 1960 und Mitte der 1980er Jahre im engeren Vorfeld des Rechtsextremismus zu verorten. Diese Einschätzung basiert sowohl auf einer Analyse der Positionen und des Einflusses des WSL-Gründers Günther Schwab und anderer Führungsaktivisten (wie DI Friedrich Witzany) als auch vor allem auf den Kon-

takten von Maria Summer (WSL-Vorarlberg) zur neonazistischen Zeitschrift Sieg. (...) Ab Mitte der 1980er Jahre lassen sich keine Anhaltspunkte für eine derartige Verortung mehr finden. Auch die Analyse des dem DÖW im Frühjahr 2010 übermittelten Materials (aus dem Landesarchiv OÖ) ergab keine neuen Anhaltspunkte für eine Charakterisierung des WSL-Ö als rechtsextrem oder als dem Vorfeld des Rechtsextremismus zugehörig. Seit den frühen 1990er Jahren hat der WSL-Ö zudem keine wahrnehmbaren Aktivitäten (auch publizistischer Natur) mehr gesetzt, vielmehr handelt es sich nach den Worten Schwabs seit damals um einen „wenig bedeutenden Verein“. Diese Bedeutungslosigkeit erschwert eine politische Verortung.“

ideologischen Gründen von der deutschen Sektion getrennt. Im DÖW-Gutachten steht dazu nichts. Belegt ist ein Streit der alten Kameraden ums Geld: KontrahentInnen warfen Haverbeck vor, WSL-Gelder für sein Schulungszentrum abzuzweigen. Dass Schwab jemals zur Besinnung kam, lässt sich auch nicht behaupten. 1992 behauptete er einen „Intelligenzverlust“ der Menschheit, die Kultur sinke ab, Schwachsinnige würden sich stärker vermehren als angeblich Begabte. Die Folge sei „der Geltungsverlust der weißen Rasse in aller Welt“. Weder der WSL-Ö noch Witzany haben sich je von Schwab und seiner Ideologie distanziert. Das räumt auch Öllinger ein, meint aber, der österreichische WSL bestehe aus „fünf bis zehn Hanseln“ und sei „rechtskonservativ“. Teure Courage. Der Streit beschäftigt sogar die Gerichte, die Landesregierung hat ein Mediationsverfahren durchgesetzt, das jedoch keine Einigung brachte. „Zuerst sollten wir eine Schweigevereinbarung über den Verlauf unterzeichnen, dann konnten wir nachweisen, dass die beiden Mediatoren befangen sind, weil sie für die Landesregierung gearbeitet hatten, jetzt kriegen wir kein Geld mehr“, sagt Pöschko. Der Anti-Atom-Berater des Bundeslandes trat Ende 2010 wegen dem Streit zurück. Radko Pavlovec warf Landesrat Anschober einen „politisch motivierten Willkürakt“ vor. Anschober wolle kritische Gruppen „mittels Zwangsmediation zur Kooperation mit Personen oder Organisationen zwingen, die im Vorfeld des Rechtsextremismus angesiedelt sind“. Dass die Antiatom-Szene nun kein Geld mehr bekommt, nennt Pavlovec einen „Skandalbeschluss“: Ein grüner Landesrat kooperiere mit der FPÖ gegen eine unabhängige Anti-Atom-Initiative, die sich gegen eine Zusammenarbeit mit dem braunen Milieu wehrt. Von Anschober war trotz zweifacher Anfrage per E-Mail keine Stellungnahme zu bekommen. Die Antiatom-Szene fordert inzwischen seinen Rücktritt. N Der Autor arbeitet als freier Journalist und hat Politikwissenschaft mit den Nebenfächern Soziologie und Psychologie in München studiert.


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Faschistisch und revolutionär Eine faschistische Kleingruppe in widersprüchlichem Gewand gewinnt immer mehr Einfluss in Italien.

Jakob Falkinger, Michael Poigner

m Jahr 2003 besetzte eine Gruppe von NeofaschistInnen ein Gebäude in Rom, das sie nach dem Dichter Ezra Pound, einem Verfechter Mussolinis, Casa Pound (CP) nannten. Sie berufen sich auf den italienischen Bewegungsfaschismus der 1920er-Jahre, den sie zu modernisieren versuchen – mit beunruhigendem Erfolg: Das Haus beherbergt heute über 20 italienische Familien und die Casa Pound ist mit über 2.000 eingeschriebenen Mitgliedern bereits in 14 Städten in ganz Italien vertreten. Unterstützt wird sie von ihrem intellektuellen Arm, dem Blocco Studentesco.

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Weder links noch rechts. Die Einteilung des politischen Spektrums in links und rechts betrachten die NeofaschistInnen als veraltet: Weder links noch rechts, sondern „faschistisch-revolutionär“ sei die CP. Die Dinge werden selbst in die Hand genommen, Parteien und Gewalt nach außen hin abgelehnt. Im Zentrum ihres Programmes steht die Einheit der italienischen Nation und der Erhalt der Kernfamilie.

Ewiggestriges in poppigem Gewand. Ordentlichkeit und das Verbot von Waffen und Drogen innerhalb der CP sollen ein seriöses Bild vermitteln. Der Öffentlichkeit präsentiert die Casa Pound ein breites kulturelles Angebot. Rechtsrockkonzerte gehören ebenso dazu wie ein Radiosender und Theaterstücke. Außerdem wird zu Flashmobs, Demos und klassischen NGO- und Charity-Tätigkeiten aufgerufen. Ihre Bildsprache bedient sich antisemitischer Sujets, die allerdings auch aufgrund ihrer weiten Verbreitung in linken Kreisen für viele nicht unmittelbar auf rechtes Gedankengut hinweisen. In den politischen Kampagnen der CP wird neben dem „Aussaugen“ Italiens durch „Mietwucher“, „Raffgier“ und das personifizierte Böse, verkörpert von ImmobilienspekulantInnen („Vampire“), auch alles angeprangert, was die italienische Kernfamilie bedroht (Homosexuelle, FeministInnen, illegalisiert lebende MigrantInnen). Mit diesen widersprüchlichen Positionen will sich die CP in die in Mode gekommenen Grassroots-Bewegungen eingereiht wissen. So gewaltfrei und bürgerlich sich die CP nach außen hin auch geben mag, so sehr widersprechen die

Fakten dieser Selbstdarstellung. Der studentische Zweig der CP, der Blocco Studentesco, schreckt nicht vor Gewalt zurück: 2011 wurde bei Studierendenprotesten in Rom ein Demonstrationszug linker SchülerInnen und StudentInnen angegriffen. Auch der Attentäter, der im Dezember 2011 in Florenz zwei senegalesische Händler auf offener Straße erschoss und drei weitere schwer verletzte, stand in enger Verbindung zur Casa Pound. Letztere versuchten in den Tagen nach dem Mord auf ihrer Homepage ihr angekratztes Image wieder herzustellen, indem sie jede Verbindung zum Täter leugneten und diesen als irren Einzeltäter hinstellten. Gleichzeitig wird der grausame Mord in einschlägigen Internetforen und Facebookgruppen als HeldInnentat dargestellt. Dass solche Strategien des Leugnens nach wie vor aufgehen, liegt weniger am Geschick einer Organisation wie der CP, als vielmehr an der Akzeptanz rechtsextremer Ideologien in weiten Teilen Europas. N

Die Autoren studieren Philosophie und Romanistik an der Uni Wien.

Please disturb!

Ein Kommentar von Fabio Tommasini ie Geschichte des Sextourismus in Südostasien nahm ihren Anfang während des Vietnamkrieges unter dem Titel Front- und Erholungsurlaub. Seither hat sich dort eine immer strukturiertere und salonfähigere (fragwürdige) Kultur des Sextourismus entwickelt, erleichtert durch immer erschwinglichere Flugpreise. Das enorme wirtschaftliche Gefälle der betroffenen Länder zum Westen, korrupte Staatsapparate, fehlende Bildungsmöglichkeiten und Perspektiven tun ihr Übriges. Jährlich werden unzählige Kinder und junge Erwachsene Opfer von sexueller Ausbeutung und Menschenhandel. Viele Betroffene kommen aus den Berggebieten in Nordthailand, Laos oder Vietnam und werden von ihren eigenen Eltern verkauft, die angesichts ihrer häufig prekären Lage nur zu gerne an das Versprechen glauben, ihre Kinder fänden seriöse Arbeit in der Großstadt. Wie die Realität tatsächlich aussieht, können oder wollen sich die auf dem Land zurückbleibenden Verwandten nicht vorstellen.

D

Ausbeutung. Von völlig fremdbestimmten Endlosschichten in Go-Go-Bars und Bordellen bis hin zum direkten Weiterverkauf als Ehefrau oder Sexware ins Ausland reicht der sexuelle Missbrauch. Statistiken sind stark schwankend und mit

Vorsicht zu genießen, jedoch ist eine steigende Tendenz unbestritten. Als relativ gesichert gilt, dass allein in Thailand circa ein Drittel der Prostituierten unter 18 Jahre alt ist. Verschiedene Hilfsorganisationen und Behörden haben das Problem erkannt. So lancierte terre des hommes die Kampagne PLEASE DISTURB!, die auf den weltweiten Sextourismus und insbesondere auf Kinderprostitution aufmerksam macht. Hilfe vor Ort. Ziel muss sein, die Lebensumstände, Infrastruktur und Gesellschaft des entsprechenden Landes soweit zu entwickeln, dass Familien gar nicht mehr in die Lage kommen, ihr Kind für den finanziellen Support weggeben zu müssen. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg, der Bildung und Aufklärung vor Ort erfordert. Aus diesem Grund unterstütze ich eine Organisation, die bewusst diesen präventiven Ansatz verfolgt und durch Aufklärung und Ausbildung gegenwirkt: Development and Education for Daughters and Communities (DEDC) ist eine 1996 gegründete thailändische Initiative, die auch Freiwilligeneinsätze anbietet. N Der Autor arbeitet für die thailändische Hilfsorganisation DEDC.


Foto: Kulaç

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Von mysteriösen Mächten verfolgt Moishe Postone im PROGRESS-Interview über Straches „ Wir sind die neuen Juden“-Sager am WKR-Ball, Opfermythos und Antisemitismus.

Am 27. Jänner 2012 – dem Internationalen Holocaust-Gedenktag, dem Tag der Befreiung von Auschwitz – luden Wiener Burschenschaften in die Hofburg, um das Tanzbein zu schwingen. Doch der Ball des Wiener Korporationsrings ist mehr als nur eine Tanzveranstaltung, er ist Dreh- und Angelpunkt zur Vernetzung von Rechtsextremen und Neo-Nazis in Österreich und ganz Europa. PROGRESS sprach über den Strache-Sager und typisch österreichische Kontinuitäten nach 1945 mit Moishe Postone, Professor an der University of Chicago. Ein hintergründiger Bogen von Antisemitismus, falsch verstandenem Antikapitalismus, TäterInnen-Opfer-Umkehr, bis hin zur Bedeutung von Auschwitz.

dem Glauben der Menschen, dass sie von mysteriösen Mächten verfolgt werden, die sie dann mit den Juden gleichsetzen. In diesem Sinne besteht eine Kontinuität auf einer tiefliegenden Ebene zwischen NaziAntisemitismus und einem Opfermythos Österreichs und Deutschlands – noch bevor sie sich mit Juden gleichsetzten. Damit findet ein Austausch der TäterI­nnenund der Opferrolle statt? Ja, allerdings setzt Antisemitismus Juden immer mit Tätern gleich.

Sie schreiben, „Auschwitz war eine Fabrik zur Vernichtung des Wertes …, das Ziel, das Konkrete vom Abstrakten zu befreien“. Sie setzen damit Antisemitismus und KapitalisPROGRESS: Über Heinz-Christian Straches mus in Bezug. Könnten Sie das weiter ausAussage „Wir sind die neuen Juden“ wurde führen? in den österreichischen Medien ausführlich Ja, ich habe auch in meinem Aufsatz geberichtet. Es hagelte Kritik, aber Tiefgang schrieben, der Antisemitismus sei eine fefehlte. War das nur ein einmaliger „Ausrut- tischisierte Form von Antikapitalismus. scher“ oder steht das für eine Kontinuität in Das haben viele missverstanden. Denn ich sage damit nicht, die Nazis seien auf dem Österreich und Deutschland nach 1945? Moishe Postone: Seit 1945 haben sich richtigen Pfad gewesen. Sondern nationalRechte in Österreich und Deutschland auf sozialistisches Denken ist eine Reaktion unterschiedliche Art und Weise als Op- auf den Kapitalismus, die auf fundamenfer dargestellt. Denn Öster­reich hat ja den talem Unverständnis gegründet ist. Denn wunderbaren Mythos, das erste Opfer des das Faktum, dass man gegen etwas ist wie Nationalsozialismus, und dann Opfer der Kapitalismus, macht diese Gegnerschaft ja Besatzung gewesen zu sein. Aber auch die noch nicht progressiv. Es kann sie auch reDeutschen fühlten sich als Opfer der Bom- aktionär und mörderisch machen. bardierungen und der Teilung des Landes in BRD und DDR. Wenn die österreichi- Also ist es eine rückschrittliche Form des Anschen Neo-Nazis und Burschenschaften tikapitalismus? nun sagen, sie seien „die neue Juden“, sa- Es ist vielmehr eine Verschiebung, eine gen sie damit: Wir sind die Opfer. Dabei verschobene Form des Antikapitalismus. ist es wichtig, festzuhalten: Das sieht zwar Denn anstelle eines post-kapitalistischen, aus wie eine Umkehrung, ist es aber nicht. deutet der Nationalsozialismus auf die Denn Antisemitismus selbst basiert auf Utopie eines post-jüdischen Universums.

Man glaubt: Gäbe es keine Juden, die Welt wäre heil. Ist es dann richtig zu sagen, Juden und Jüdinnen hatten keinen Wert für die Nazis? Nein, ich würde diese Problematik mit Marx betrachten und eher das Gegenteil behaupten. Was die Nazis glaubten zu vernichten, indem sie die Juden umbrachten, waren jene Merkmale der kapitalistischen Gesellschaft, die Marx mit dem Wert assoziiert. Marx sagt, dass die grundlegende Form der kapitalistischen Gesellschaft, die Ware, einen Doppelcharakter hat, einen konkreten und einen abstrakten. Im Weltbild des NS werden Juden und Jüdinnen zur Verkörperung des Abstrakten, und die Deutschen zu Repräsentanten des Konkreten, des Gebrauchswerts. Das Abstrakte, den Wert, will man dann auslöschen. Auch daran erkennt man, dass es widersinnig ist, Nazis als antimodern zu bezeichnen. Sie haben sich sehr positiv auf Technologie bezogen, weil Technologie für sie konkret war.

fen wollte. Sein Verständnis des Kapitalismus und sein Antisemitismus sind aufs Engste verbunden. Die Niederlage der K.u.k.-Monarchie im ersten Weltkrieg verbunden mit sozio-ökonomischen Veränderungen führte ja damals in Österreich zur Zunahme von Antisemitismus. Wie hat sich das weiter ausgewirkt? Man erinnere sich, dass knapp ein Viertel der Einwohner Wiens Juden waren. Neben Budapest lebten hier die meisten städtischen Juden in Europa – mehr als in Berlin. Bis die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen, war der Antisemitismus in Österreich stärker als in Deutschland. Der frühere Oberbürgermeister von Wien, Karl Lueger, ist dafür ein gutes Beispiel. Hitler bewunderte ihn sehr, und doch ist noch immer die Straße vor der Universität Wien nach ihm benannt.

Hitler bezeichnete ihn als “größten deutschen Bürgermeister aller Zeiten“. Dass noch immer ein Teil der Wiener Ringstraße nach ihm benannt ist, sollte sich dringend ändern. Das heißt, die JüdInnen wurden der kon- Vielen Dank für das Gespräch. kreten, produktiven Arbeit gegenübergestellt? Ja. Im Gegensatz dazu wurden Juden und Jüdinnen zu Parasiten erklärt. Sie stehen Das Interview führte Cengiz Kulaç. für die Finanzwelt. Gleichzeitig wurden sie aber auch mit Bolschewisten identifiziert. In beiden Fällen wurden sie als Zur Person: Moishe Postone (*1942) ist Historiker der University of Chicago und Teil des abstrakt, als Kosmopoliten gesehen, die an Committee on Jewish Studies. Er war Mitarbeiter wurzellos sind. Darin zeigt sich eine pri- des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und mitive Form des Antikapitalismus. An- promovierte 1983 an der Frankfurter J. W. Goethe statt die Warenform zu begreifen, wird Universität. Bekannt wurde Postone im deutschsprachigen Raum insbesondere durch seinen offenen nur die abstrakte Dimension gesehen, Brief an die deutsche Linke und seinen Aufsatz ähnlich wie bei Pierre-Joseph Proudhon Nationalsozialismus und Antisemitismus - Theoreim 19. Jahrhundert, der das Geld abschaf- tischer Versuch.


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Service, das hilft! Die Alternative zum ewigen Ministeriumsmurks

Fristen und Stipendien in neues Semester beginnt und wie immer gibt es unzählige Termine und Stichtage zu beachten. Die zwei aus unserer Sicht wichtigsten seien dir hiermit ans Herz gelegt:

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Bis 15. März läuft die allgemeine Zulassungsfrist fürs Sommersemester 2012; bis 30. April die Nachfrist. Innerhalb dieses Zeitraums musst du deinen ÖH-Beitrag einbezahlen. Am 15. Mai endet die Einreichfrist für die Anträge auf Studienbeihilfe. Wir empfehlen ALLEN StudentInnen, diesen Antrag zu stellen. Das kostet nichts und im schlimmsten Fall kassiert man einen negativen Bescheid. Das Antragsformular findest du unter www.stipendium.at. Ebenso am 15. Mai endet die Bewerbungsfrist für das Johann-Böhm-Stipendium des Österreichischen Gewerkschaftsbundes. Mit diesem Stipendium werden sechs wissenschaftliche Arbeiten (Diplom-/ Masterarbeiten, Dissertationen), deren Inhalt für die ArbeitnehmerInnenvertretung von Relevanz ist, mit bis zu € 5.000,- gefördert und dem ÖGB-Verlag zur Publikation vorgeschlagen. Nähere Infos findest du unter www.oegb.at. Das hier vorgestellte Johann-BöhmStipendium ist nur eines von vielen Stipendien, die von den unterschiedlichsten Stellen für wissenschaftliche Arbeiten vergeben werden. Einen Überblick vermittelt dir www. grants.at, die österreichische Datenbank

s gibt keine Alternativen zu Zugangsbeschränkungen. Die Unis sind nicht finanzierbar. Es ist halt einmal, wie es ist – zur Verbesserung der Qualität der Lehre fehlen einfach die Ressourcen.“ Mit den immerwährend gleichen Argumenten wie diesen beschäftigten sich Studierende, Lehrende und ExpertInnen aus verschiedenen Bereichen ein halbes Jahr lang und zeigen auf: Es gibt Alternativen. Das Projekt Forum Hochschule der ÖH-Bundesvertretung wurde mit dem Ziel ins Leben gerufen, einen Hochschulplan zu entwickeln, der Probleme an den Wurzeln packt, Konzepte für die Zukunft des Hochschulwesens in Österreich aufzeigt und sich nicht auf die immergleichen Argumente und Ausreden stützt. Im Gegensatz zu Wissenschaftsminister Töchterles sogenannten „ExpertInnenbericht“ entstanden die Ergebnisse von Forum Hochschule auf Basis eines partizipativen Prozesses, an dem sich alle Interessierten beteiligen konnten. In fünf Arbeitsgruppen wurden die Problemfelder des Hochschulwesens analysiert und Ableitungen getroffen. Das Ergebnis: Ein Hochschulplan, der mit konkreten Modellen Möglichkeiten aufzeigt, wie Hochschulpolitik im Gegensatz zur jetzigen Unimisere aussehen kann. Das umfangreiche Forderungspapier umfasst einen ganzheitlichen Hochschulplan, von einem komplexen Finanzierungsmodell, Vorschlägen zur Verbesserung der Qualität der Lehre über ein Konzept für eine demokratische Uni bis hin zu Modellen zur sozialen Absicherung von Studierenden und von Lehrenden. Am 28. März 2012 um 18 Uhr findet die Abschlusspräsentation des Projekts in der Aula der Akademie der Bildenden Künste Wien statt. Interesse, zu erfahren, wie Universitäten finanziert werden können, wie junge WissenschafterInnen gefördert werden und wie ein Studium ohne Anwesenheitspflicht funktionieren kann? Dann schau vorbei und diskutier mit! N

für Stipendien und Forschungsförderung.

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ÖH-Erinnerungsservice. Zunehmender Stress raubt Studierenden an den Hochschulen oft den letzten Nerv und kann darüber hinaus auch richtig teuer werden. Etwa für diejenigen, die wichtige Fristen, wie das Ende der Antragsfrist für Stipendien, vergessen. Damit die elektronische Erinnerung an diesen Umstand nicht erst am Bankomaten erfolgt, sondern wenn die Konsequenz noch abwendbar ist, hat sich die ÖH etwas einfallen lassen: Mit kommendem Semester startet ein neues Service der ÖH-Bundesvertretung. Über die Website www.oeh.ac.at kann man sich schnell und unkompliziert zum ÖH-Erinnerungsservice anmelden. Das Feld zur Anmeldung ist direkt auf der Startseite der Homepage zu finden. Per Mail und/oder SMS wird der/die NutzerIn dann automatisch und rechtzeitig an wichtige Fristen und Deadlines erinnert. Nach der Eingabe einer gültigen E-mail Adresse und/oder Handynummer, wählt man die eigene Hochschule aus und aktiviert das Service mit dem zugesandten Aktivierungs-Code. Ebenso einfach funktioniert dann auch wieder die Abmeldung vom Erinnerungsservice, schließlich soll dieses ein wirksames Mittel gegen die Unibürokratie sein. Neben ganz allgemeinen Fristen wie der bereits genannten Antragsfrist für Stipendien wird beispielsweise auch an die Antragsfrist für Leistungsstipendien oder an die Inskriptionsfrist erinnert. N

Termintipp: Abschlussveranstaltung Forum Hochschule 28. März 18 Uhr, Akademie der Bildenden Künste.

cr, bp

Iris Schwarzenbacher ist im Forum Hochschule aktiv.

referate der österreichischen hochschülerinnenschaft Referat für pädagogische Angelegenheiten Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 38, Fax: - 36 paedref@oeh.ac.at

Studien- und MaturantInnenberatung Montag, Mittwoch, Donnerstag 13–16 Uhr Dienstag, Freitag 9–12 Uhr

Referat für Fachhochschul-Angelegenheiten (bzw. Referat für Bildungspolitik) Beratung: Dienstag 9–12 Uhr, Donnerstag 13–16 Uhr Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 38, Fax: - 36 FH@oeh.ac.at, bipol@oeh.ac.at

Spezialberatung zur Studienberechtigungsprüfung: Dienstag 18–20 Uhr Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 24 bzw. - 25 studienberatung@oeh.ac.at Skype: OEH-Beratung

Referat für Sozialpolitik Sozialberatung: Dienstag 10–13 Uhr, Mittwoch von 16–19 Uhr sowie Donnerstag 14–16 Uhr Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 43 sozial@oeh.ac.at

Vereinbarung von Beratung an Schulen und Betreuung von Ständen bei Berufs- und Studieninformationsmessen Agnes Wühr: +43 (0) 676/888 522 92 agnes.wuehr@oeh.ac.at

Wohnrechtsberatung: Dienstag 10–13 Uhr; Montag 16–18 Uhr und Donnerstag 13–16 Uhr nur per skype: oeh-bv. wohnrechtsberatung Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 41 | wohnrecht@oeh.ac.at Sozialfonds: Montag 10–12 Uhr, Donnerstag 14–16 Uhr Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 22 | sozialfonds@oeh.ac.at

Referat für internationale Angelegenheiten Donnerstag 16–18 Uhr Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 95 Fax: +43 (0) 1/310 88 80 - 36 internationales@oeh.ac.at Skype: internats_bv

Referat für ausländische Studierende Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 65, Fax: +43 (0) 1/310 88 80 - 36 auslaenderInnenreferat@oeh.ac.at Dienstag: 10–12 Uhr (englisch, türkisch, deutsch) Dienstag: 15–18 Uhr (spanisch, englisch, deutsch) Donnerstag: 10–13 Uhr (persisch, englisch, deutsch) Freitag: 9–12 Uhr (englisch, spanisch, deutsch) Referat für feministische Politik Nach Terminvereinbarung Tel: +43 (0) 676/888 522 74 Fax: +43 (0) 1/310 88 80 - 36 frauenreferat@oeh.ac.at Referat für Menschenrechte und Gesellschaftspolitik Nach Vereinbarung Laura Allinger (Referentin): Tel: 0676/ 888 52 25 2 laura.allinger@oeh.ac.at Matthias.Nocker@oeh.ac.at Magdalena.Strasser@oeh.ac.at christoph.steininger@oeh.ac.at PA alle Referate: Taubstummengasse 7–9, 1040 Wien


Druckausgleich

Guter Stoff zum Lernen


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Der Drogenkoffer Cannabis Der Klassiker. Der Überbegriff Cannabis umfasst alle natürlichen Hanfprodukte, die den psychoaktiven Wirkstoff THC (Tetrahydrocannabinol) enthalten. Obwohl Haschisch (Hash, Dope, Shit) und Marihuana (Gras, Ganja) von der gleichen weiblichen Hanfpflanze gewonnen werden, ist ihr Aussehen markant unterschiedlich. Während Hash aus dem Harz der Blüten gepresst ist, sollte man bei Marihuana zumindest Bestandteile einer Pflanze erkennen können. Wie oft falsch vermutet, werden nicht allein die charakteristischen Blätter geraucht, sondern die zerriebenen Blüten (buds). Falls mal Knappheit herrscht, können Stängel und kleinere Blätter mitverwendet werden. Aufnahme: THC kann über die Lungen oder Magenschleimhäute, also oral oder beim Rauchen aufgenommen werden. Vorsicht! Bei oraler Aufnahme wirkt das THC oftmals verstärkt. Kosten: ca. 10 € / Gramm Mögliche Wirkung: Unter Einfluss von Cannabis werden Gefühlszustände und Sinneseindrücke verstärkt und das Zeitempfinden wird verändert. Die psychoaktiven Effekte von THC hängen vom Gehalt im konsumierten Cannabis, dem Aufnahmeweg, der Umgebung und der Erfahrung des/r KonsumentIn ab. Oft zur Entspannung eingesetzt, kann Cannabis das Wohlbefinden und die Sensibilität steigern. Es kann ebenfalls zu einer leichten Euphorie, aber auch Halluzinationen führen. Negative Effekte: Cannabiskonsum hat einen Anstieg der Herz-Lungen-Frequenz sowie die charakteristische Rötung der Augen und die Austrocknung des Mundes zur Folge. Ebenfalls kann es zur Einschränkung der kognitiven Leis­ tungsfähigkeit (Gedächtnis-, Aufmerksamkeits-, Konzentrationsleistung) kommen. Längerfristig können Aktivitäts-, Interessens- und Motivationsverlust sowie eine gesteigerte Anfälligkeit für Atemwegsbeschwerden eintreten, da die Schädlichkeit eines Joints in etwa der von drei bis fünf Zigaretten entspricht.

LSD & Magic Mushrooms Die Bewusstseinsweitung. LSD (Lysergsäurediethylamid) zählt neben verschiedenen Pilzsorten (Magic Mushrooms) zu den Halluzinogenen. LSD ist eine farb, geschmack-, und geruchlose Flüssigkeit und wird auf Löschpapier, (Mikro-)Tabletten oder Kapseln vertrieben. Mushrooms hingegen sind ausgewählte Pilze der Gattung Psilocybe, Panaelous oder Conocybe, die Psilocybin und Psilocin enthalten. Aufnahme: Da LSD im Mikrogrammbereich bereits eine hohe Wirksamkeit hat, wird es in minimalen Mengen geträufelt oral konsumiert. Pilze hingegen können getrocknet oder frisch gegessen werden. Vorsicht! Getrocknet wirken Pilze erheblich stärker. Kosten: Pilze: ca. 10 € / Stück, LSD: ca. 20 bis 60€ / Trip Mögliche Wirkung: Die Wirkung von LSD setzt nach 30 bis 90 Minuten ein und dauert bis zu 12 Stunden. Bei Pilzen reduziert sich die Dauer der Wirkung auf die Hälfte. Durch die extreme Veränderung des Zeitempfindens kann eine Stunde jedoch als ein Tag oder sogar eine Woche empfunden werden. Zusätzlich werden Stimmungen verstärkt und verändert, Unbewusstes und Vergessenes kann erneut und verändert erlebt werden. Sinneswahrnehmungen werden intensiviert, z.B.: Man hört Farben und schmeckt Töne. Die Wirkung von Halluzinogenen kann eher als eine Reise als ein Zustand verstanden werden. Danach sollte genug Zeit für eine Auseinandersetzung mit dem Erlebten eingeräumt werden. Negative Effekte: Physisch können eine Erhöhung der Körpertemperatur, Schwindel und Herz-, Atem- und Kreislaufbeschwerden auftreten. Besonders bei (frischen) Pilzen auf vollen Magen kann es zu Übelkeit und Erbrechen kommen. Halluzinogene verändern stark Raum-, Zeit- und Selbstwahrnehmung. Zusätzliche (Pseudo-)Halluzinationen können durch eine erschwerte Unterscheidung von Fantasiewelt und Realität zu „Bad Trips“ führen. Große Angst, Panik und Paranoia sind die Folge. Hier kann Traubenzucker oder Orangensaft helfen. Auch nach Tagen oder Wochen sind erneute sogenannte „Flashbacks“ möglich. Finger weg! Von einer Einnahme in lauten, menschenvollen und lichtintensiven Umgebungen wird abgeraten. Bei Herzkreislauferkrankungen oder psychischen Problemen sowie bei bestehender Angst vor einem Trip verzichte auf Halluzinogene!

Finger weg! Nicht konsumiert werden sollte Cannabis bei Lungenerkrankungen, Herzbeschwerden und Herzerkrankungen, oder bei Ängstlichkeit, Bedrücktheit oder psychischen Problemen.

Speed & Ecstasy Der Motivator. Speed ist ein vollsynthetisch hergestelltes Amphetamin. Ecstasy, also verschiedene Amphetaminderivate (MDMA, MDA, MDE, MBDB), kommt durch kleine, jeweils unterschiedliche Abweichungen in der Molekülstruktur von Amphetamin zustande. Früher alltäglich als Therapiemedikament verschrieben, ist Amphetamin heute verboten. Minimal verändertes Amphetamin (Ritalin) ist jedoch immer noch in Verwendung, z.B. bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS. Ecstasy und Speed sind als Pulver bekannt. Ersteres kommt auch in Form von Tabletten oder Kapseln vor. Aufnahme: Beide Drogen nimmt man oral (geschluckt) oder nasal (geschnupft) auf. Speed

wird in viel selteneren Fällen auch geraucht oder injiziert. Vorsicht! Kristallines Speed und Amphetaminderivate sind reiner und dadurch auch stärker. Kosten: Ecstasy: ca. 10€ / Kapsel oder Tablette, Speed: ca. 10€ / Gramm Mögliche Wirkung: Da Amphetamin ein Stimulans ist, bewirkt es im Gehirn eine vermehrte Freisetzung von Adrenalin und Dopamin. Bei Ecstasy wird vermehrt Serotonin freigesetzt. Speed und Amphetaminderivate erzeugen einen Zustand gesteigerter Wachheit, Unbeschwertheit, erhöhter Leistungsfähigkeit und Konzentration. Während Speed zur Selbstüberschätzung führt, verstärkt MDMA besonders die emphatische Empfindung.

Negative Effekte: Körperliche Nebeneffekte sind verspannte Kiefer und Zähneknirschen sowie Mundtrockenheit und ein Anstieg der Körpertemperatur, des Blutdrucks und der Herzfrequenz. Besonders belastet werden Nieren, Leber und Herz. Auf psychischer Ebene kann es auch zu Angstzuständen, im Fall von Speed auch zu Aggression und Reizbarkeit kommen. Besonders das „Runterkommen“ kann begleitet sein von Schlafstörungen, Depression und Erschöpfung. Hier sollten leichte Speisen (Obst) und Vitamine sowie genug Flüssigkeit zugeführt werden. Nur ein Drittel der geprüften Stoffe enthalten wirklich Amphetamin oder -derivate. Finger weg! Bei Herz-Kreislauf-, Leber-Nierenund psychischen Problemen als auch bei Epilepsie, Bluthochdruck und Unruhe oder Angst.

Alle angeführten Drogen unterliegen dem österreichischen Suchtmittelgesetz. Jede dieser Drogen wirkt auf jeden Menschen unterschiedlich! Zusammenfassung: Marlene Brüggemann, Quelle: Verein ChEck iT! – Kompetenzzentrum für Freizeitdrogen


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Kiffen macht spießig Über die Lüge von der Unterscheidung zwischen harten und weichen Drogen. Ein Kommentar von Hubert Kolbin.

nde der 1990er-Jahre schien es, als würde sich die „Legalize-it-Bewegung“ langsam, aber doch durchsetzen und „weiche Drogen“ würden in Europa entkriminalisiert werden. Dass es doch nicht so kam, ist vielleicht gar nicht schlecht. Denn die Trennung zwischen „weichen“ Drogen, die legalisiert werden sollten, und „harten“ Drogen, die mit gutem Recht verboten sind, ist verlogen und verschärft die Situation für Abhängige. In jenen Jahren, genauer 1997, erschien in der Zeitschrift tendenz, die der Bundesverband der Jungen Linken in Deutschland herausgibt, ein Artikel unter dem Titel „Kiffen macht spießig“, der hart mit den Strategien der AktivistInnen für eine Hanflegalisierung ins Gericht ging. Der „Hanfbewegung“ sei kein Argument zu blöd, um eine Freigabe ihres Krautes zu erreichen. Sie würde auf die Steuereinnahmen verweisen, die dem Staat entgingen, auf ihre Bedeutung als Gruppe finanzkräftiger KonsumentInnen und auf die Ungefährlichkeit des Hanfes als Rauschmittel – „als wäre eine eventuelle Gesundheitsgefahr, die die Herrschenden präsentieren könnten, bereits Grund genug, die Substanz zu verbieten und den Zugriff auf den individuellen Leib zu rechtfertigen“. Durchsetzt mit esoterischen Alltagsweisheiten möchten sie das Gras von dem aufrührerischen Geruch befreien, der ihm anhaftet und es als biologisch-nachhaltiges Produkt präsentieren, das in vielerlei Hinsicht verwertbar sei und für das es einen großen Markt gäbe, der bedient werden möchte. In dieser Argumentationskette verweist mancheR Kiff-Bewegte gar auf die im nationalsozialistischen Deutschland erschienene Hanf-Fibel, die zum Hanfanbau aufruft, um im Kriegsfall nicht von Baumwollimporten abhängig zu sein. Vor allem aber werden manche Hanf-LobbyistInnen nicht müde, sich von jenen zu distanzieren, die am meisten unter Prohibition und Verfolgungsdruck zu leiden haben: von „Junkies“, sozial deklassierten Drogensüchtigen, „Kriminellen“.

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Weiches vs. Hartes. Die Freigabe „weicher“ Drogen würde also ausschließlich jenen das Leben etwas erleichtern, die jetzt schon relativ unbehelligt ihren Joint rauchen. Dagegen ist an sich natürlich nichts einzuwenden, wenn ein solcher Schritt aber zu Lasten jener geht, die freiwillig oder aus einer Abhängigkeit heraus „harte“ Drogen konsumieren, dann kann er nur entschieden abgelehnt werden. Denn das Grundproblem hinter der Prohibitionspolitik würde bestehen bleiben – oder sogar verstärkt: Wer argumentiert, dass Hanf als Genussmittel nicht gefährlich sei, der/die stützt die These, dass es auch gefährliche Drogen gibt, die der Staat mit gutem Recht verbietet. Aber warum ist die „Gefährlichkeit“ einer Substanz – oder vielmehr der

ihr beigemengten Streckmittel – eigentlich ein Grund für deren Verbot? Warum soll ein Mensch nicht selbst entscheiden dürfen, was er dem eigenen Körper an Substanzen zuführen möchte? Wer mit der Gefährlichkeit „harter“ Drogen argumentiert, könnte genauso ein Verbot mancher Extremsportarten fordern. Emotionen raus. Die Vorteile einer kontrollierten Abgabe diverser bewusstseinsverändernder Substanzen liegen auf der Hand: Die Risiken des Konsums könnten durch qualitative Standards der jeweiligen Substanz erheblich reduziert werden. KonsumentInnen würden nicht länger an den Rand der Gesellschaft bzw. in die Beschaffungskriminalität gedrängt. Dem Schwarzmarkt, der allzu oft auch in Waffengeschäfte und Menschenhandel involviert ist, könnte das Wasser abgegraben werden. Trotzdem ist die Forderung einer Freigabe aller Drogen nicht mehrheitsfähig und wird von politischen Parteien kaum thematisiert. In Deutschland kamen Ende letzten Jahres die Piratenpartei und Die Linke in die Schlagzeilen, weil sie in unterschiedlicher Form eine Entkriminalisierung aller Drogen gefordert hatten. Die PiratInnen argumentierten damit, dass „Genuss und Rausch Bestandteil unserer Gesellschaft“ seien und „grundlegende soziale Funktionen“ erfüllen würden. Außerdem ermögliche eine Entkriminalisierung das regulierende Eingreifen des Staates. Auch Die Linke forderte im Oktober 2011 die langfristige Entkriminalisierung und Legalisierung aller Drogen, einschließlich Kokain und Heroin. Der Boulevard schlachtete diese Forderung sofort aus, unter dem Druck heftiger Kritik ergänzte der Parteitag der Linken die Forderung durch jene der kontrollierten Abgabe an Süchtige und der organisierten Hilfe beim Ausstieg aus dem Drogenkonsum. Auffällig – wenn auch wenig überraschend – war dabei, dass kaum inhaltliche Kritik an den Beschlüssen der Linkspartei zur Drogenpolitik geübt wurde. Vielmehr wurde emotionalisiert und polemisiert: „Nichts ist so schwach wie eine Idee, deren Zeit abgelaufen ist. Das wird auch mit Koks und Heroin nicht besser“, meinte etwa der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, zu dem Vorschlag der Linken.

Von Portugal lernen. Dabei gibt es in Europa längst Beispiele für eine erfolgreiche entkriminalisierte Drogenpolitik. In Portugal wurde der Besitz kleiner Mengen von Drogen aller Art schon vor mehr als zehn Jahren straffrei gestellt. Damals befürchteten Exper­­­t­Innen, Portugal könnte zur Anlaufstelle von DrogenkonumentInnen aus ganz Europa werden und in unkontrolliertem Rausch versinken. Heute ist der liberale Umgang Portugals mit Drogen kaum mehr ein Thema. Selbst die Vereinten Nationen, die die Liberalisierung 2001 noch heftig kritisiert hatten, mussten im Weltdrogenbericht 2009 einräumen, dass sich in Portugal „eine Reihe von drogenbezogenen Problemen verringert“ habe. Ein signifikanter Anstieg des Drogenkonsums ist – entgegen vieler Befürchtungen – übrigens auch nicht eingetreten. Die Anzahl der Drogentoten konnte hingegen deutlich verringert werden. Konkret reagierte Portugal mit der Straffreistellung auf einen Anstieg der HIV-Infektionen durch Heroinkonsum ausgehend von den 1980er-Jahren. Die Regierung beschloss den Besitz von zehn Tagesdosen diverser Drogen nicht mehr als Straftat, sondern als Ordnungswidrigkeit zu behandeln. Wird ein/e KonsumentIn aufgegriffen, kommt der Fall nicht vor ein Gericht, sondern vor ein Gremium aus Sozialarbei­ terInnen, RechtsexpertInnen und ÄrztInnen. Diese können Sozialdienste oder Therapie verordnen, mehr als zwei Drittel der Fälle werden jedoch sofort eingestellt. Ein gewisser staatlicher Zugriff auf individuelle Konsumentscheidungen bleibt in diesem System zwar erhalten, doch DrogenkonsumentInnen kommen immerhin nicht mit dem Strafrecht in Berührung. Tschechien geht seit 2010 einen ähnlichen Weg und bestraft Menschen nicht länger für die Entscheidung, Drogen konsumieren zu wollen. Die Aufregung nach diesem Beschluss war auch in Österreich lautstark hörbar. Heute ist es still geworden – die Entkriminalisierung scheint auch in Tschechien gut zu funktionieren. N

Der Autor studiert in Wien. Auf seinen Wunsch wurde der Name geändert.


Fotos: Berger

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Sicher, sauber, unerwünscht Immer wieder werden Rufe nach einem Drogenkonsumraum in Wien laut. Die positiven Auswirkungen einer solchen Einrichtung zeichnen sich in Deutschland und der Schweiz deutlich ab. Trotzdem stehen die Chancen für die Realisierung eines derartigen Projekts in Wien schlecht.

Elisabeth Mittendorfer, Julia Prummer

ie Lifttür geht auf und vor Matthias und Jo klebt eine Kackwurst in einer Lache Urin am Kellerboden. Wer macht sowas, fragen sich die beiden. Wenige Schritte weiter steht ein schwarzer Rucksack, daneben ein Paar Lederschuhe. Auf einem Prospekt liegen ordentlich aufgelegt zwei Spritzen und ein paar blutige Taschentücher. Es ist nicht das erste Mal, dass in diesem Haus in der Millergasse nahe dem Westbahnhof einE SuchtkrankeR übernachtet hat. Immer wieder passiert das in Wien; zuletzt berichtete der Falter von einem ähnlichen Fall in der Novaragasse im zweiten Bezirk. Auch Hamid* kennt diese Situation – aber aus einer anderen Perspektive: Früher hat er selbst oft in Kellern übernachtet, in Telefonzellen gespritzt: „Wo hätte ich hingehen sollen? Ich war Tag und Nacht unterwegs und wollte meinen Schmerzen entkommen.“ Die Frauen und Männer aus der Straßendrogenszene suchen einen ruhigen Ort, um sich einen Schuss zu setzen. Oft bleiben gebrauchte Spritzen und Kanülen oder sogar Fäkalien in Kellern, Telefonzellen oder öffentlichen Toiletten zurück. So ein Fund kann mehr als unangenehm sein: Wer sich mit einer Spritze sticht, kann sich noch ein paar Stunden nach ihrem Gebrauch mit HIV infizieren – mit Hepatitis C sogar bis zu drei Tage lang.

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Mit einem Konsumraum könnte diese Situation verbessert werden: Dort können Suchtkranke unter medizinischer Aufsicht Drogen nehmen und das Spritzbesteck sicher entsorgen. Sie bieten KonsumentInnen menschenwürdige und hygienische Bedingungen für ihren Drogenkonsum und schützen Unbeteiligte vor Infektionen. Sozialarbei­ terInnen und Krankenpflegepersonal sind ständig vor Ort, um im Notfall eingreifen zu können. Dadurch sinkt die Zahl der Drogentoten, Infektionen mit HIV und Hepatitis gehen zurück und es wird weniger im öffentlichen Raum konsumiert. In Deutschland und der Schweiz gibt es Konsumräume bereits seit Jahrzehnten, in Österreich hingegen fehlt ein solches Angebot. Lokalaugenschein Berlin. An den Wänden stehen sechs kleine Tische, davor jeweils ein Sessel. Über jedem Platz hängt ein Spiegel. Ein gelber Mistkübel, Feuerzeug und Schere gehören ebenfalls zur Ausstattung eines jeden Tisches. Die Wände sind aus Hygienegründen zur Hälfte gefliest, der Rest ist in einem freundlichen Orange gestrichen. Ein wenig erinnert der Raum in der Reichenberger Straße in Berlin-Kreuzberg an einen Friseursalon. Sein Verwendungszweck ist ein anderer: Es handelt sich um einen Drogenkonsumraum. Derzeit gibt es in Berlin zwei solche Räume sowie ein Drogenkonsummobil, das an

unterschiedlichen Orten der Stadt Halt macht. Das Suchthilfezentrum SKA mit Konsumraum gibt es in Kreuzberg seit Jänner. Die Einrichtung liegt ungefähr 15 Gehminuten vom Kottbusser Tor, einem zentralen Treffpunkt der Berliner Drogenszene, entfernt. Hier können DrogenkonsumentInnen nicht nur unter hygienischen Bedingungen konsumieren, sondern auch Spritzen tauschen, sich medizinisch behandeln und juristisch beraten lassen. Außerdem können sie ihre Wäsche waschen, duschen, essen oder einfach nur Zeit im Aufenthaltsraum verbringen. Zielgruppe von Konsumräumen ist vor allem die offene Straßenszene, der in Berlin etwa 800 Leute angehören. Viele KlientInnen sind arbeitslos, haben keine fixe Unterkunft und kein soziales Netz, das ihnen Rückhalt bietet. Meist sind die Drogen Selbstmedikation, um Probleme zu vergessen. In Einrichtungen wie in der Reichenberger Straße gibt es kein „du musst clean werden“, um das Angebot nutzen zu dürfen. Durch eine „akzeptierende“ Form der Drogenarbeit soll eine soziale und medizinische Grundversorgung gesichert werden, um später mit den KlientInnen ein Betreuungsverhältnis aufbauen zu können. Zunächst muss die Hilfe aber angenommen werden. Einen Monat nach der Eröffnung in der Reichenberger Straße nehmen vorerst nur wenige das Ange-

bot in Anspruch. „Wir wissen aus Erfahrung, dass Projekte wie dieses eine lange Anlaufzeit haben. Es muss sich erst herumsprechen, dass und wo es uns gibt“, sagt Sozialarbeiter Dennis Andrzejewski von der SKA. Die Abkürzung steht für Streetwork, Koordination und Akzeptanz. Letztere wird solchen Einrichtungen nicht immer entgegengebracht. Die NachbarInnenschaft. Früher befand sich das Suchthilfezentrum in unmittelbarer Nähe zum Kottbusser Tor, bis im Jahr 2009 der Mietvertrag nicht mehr verlängert wurde und die Einrichtung einer Spielautomatenhölle weichen musste. Zweieinhalb Jahre hat die Suche nach einer neuen Unterkunft gedauert. Der Kontakt zu den KonsumentInnen ist dabei weitgehend abgebrochen: Ohne fixen Raum erreichte die SKA 96 Prozent weniger KlientInnen. Als man die Reichenberger Straße ins Auge fasste, wurde dort eine Bür­ gerInneninitiative gegen den Drogenkonsumraum gestartet. Nach einer ersten, gut besuchten Informationsveranstaltung zum Thema seien nur noch wenige der kritischen Geister zu einem weiteren offenen Abend gekommen, so Andrzejewski. „Eine Drogenhilfeeinrichtung macht Probleme sichtbar, aber zieht sie nicht an“, aber aus Sicht des Sozialarbeiters besteht viel Unwissenheit: Die Leute hätten Angst, dass der Konsumraum DealerInnen und Suchtkranke anziehe und


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Kinder zum Drogenkonsum verführe. Laut einer Evaluation des zweiten Konsumraums in Berlin, der Birkenstube, trifft das nicht zu: Bei derartigen Einrichtungen gibt es keine Szeneverlagerung vor den Raum und auch die Kriminalität im Grätzel steigt nicht. Trotzdem haben einige AnrainerInnen weiterhin Probleme mit dem Projekt. „Letzte Woche hat jemand den Aufsteller vorm Eingang umgetreten“, erzählt And­r zejewski. Zurück nach Wien. Diese ablehnende Haltung gibt es auch in Wien. Der Ganslwirt ist die wohl bekannteste Drogenberatungsstelle der Stadt. Wie in Berlin gibt es dort eine multiprofessionelle Betreuung: Von der Grundversorgung über Spritzentausch und rechtliche Beratung bis hin zur Substitutionstherapie – nur konsumieren dürfen die KlientInnen nicht. Bedarf wäre aber durchaus da: Die Wiener Straßenszene besteht aus 300– 500 Menschen, täglich werden im Ganslwirt und seiner Nebenstelle, dem TaBeNO 7.000 Spritzen getauscht. Obwohl es im Vergleich zu der Anzahl der getauschten Spritzen relativ wenig Beschwerden gibt, scheint die Gesellschaft die Sucht nach illegalen Drogen noch nicht als Krankheit akzeptiert zu haben: KonsumentInnen werden als „Junkies“ oder „Giftler“ stigmatisiert und wie Kriminelle behandelt. „Bei Sucht handelt es sich um eine chronische Krankheit. Sie ist behandelbar, aber

nicht immer heilbar und die KonsumentInnen sind nicht selbst schuld“, erklärt Christine Tschütscher, Geschäftsführerin des Vereins Dialog, der größten ambulanten Suchthilfeeinrichtung in Österreich. Der Weg aus der Sucht ist ein langwieriger Prozess: „Abstinent zu werden, ist dabei nicht der erste Schritt. Die Person und ihre Lebenssituation muss zuerst stabil sein“, so Tschütscher. Um Entzugserscheinungen zu verhindern und die KonsumentInnen aus der Beschaffungskriminalität zu holen, werden Substitutionstherapien verschrieben. So wird auch das Risiko eingedämmt, dass die Ware verschmutzt ist oder eine Infektion stattfindet. „Substituierte KlientInnen können ein ganz normales Leben führen. Eine/r ihrer KollegInnen könnte substituiert sein, Sie würden es nicht merken.“ Etwa 7.700 Menschen werden im Moment in Wien substituiert. In Berlin sind es „nur“ 4.000. Und das, obwohl in beiden Städten 10.000–12.000 Opiatabhängige leben. „Deutschland hat trotz massiver Opiat-Probleme erst zehn Jahre nach Österreich mit der Substitution begonnen und anfangs auch nur die Schwerstkranken behandelt“, erklärt die Wiener Drogenkoordination. Was fehlt. Eines kann ein Substitut nicht ersetzen: Den Kick, den nur die Nadel bringt. Einige brauchen Jahre, um loszukommen. Andere schaffen es nie. Die Initiative Drogenkonsumraum ist

überzeugt davon, dass ein Konsumraum in Wien diesen Menschen helfen würde. Ihre Mitglieder kennen die Probleme der Szene aus erster Hand: SozialarbeiterInnen, StreetworkerInnen, Angehörige und KonsumentInnen, darunter auch Hamid. Seit mittlerweile drei Jahren macht er eine Substitutionstherapie, lebt mit seiner Frau und seinem Sohn: „Drei Jahre und vier Monate ist er alt“, erzählt er stolz. Damals, als er noch an der Nadel hing, hätte er lieber einen Konsumraum genutzt, als die Häuser fremder Leute. Ein solches Angebot wird es in Wien trotzdem noch länger nicht geben. „Das Problem ist zu klein, als dass es einen Schulterschluss der Interessensgruppen gibt“, erklärt Alexander David, Drogenbeauftragter der Stadt Wien. Die Politik müsste zustimmen und die Justiz den Konsumraum gesetzeskonform machen. Außerdem müsste die Polizei ein eigenes Konzept entwerfen, wie mit Suchtkranken im Areal um den Konsumraum umgegangen wird und die Medien müssten diesen Prozess mittragen. Kurzum: Es müsste einen gesellschaftlichen Konsens geben. Der fehlt bisher in Wien: „Am Platzspitz in Zürich lungerten täglich rund 2.000 KonsumentInnen herum, da konnte niemand mehr wegsehen. Am Karlsplatz waren es an warmen Tagen ungefähr 200. Die Konsumräume in der Schweiz und in Deutschland sind aus einer Notoperation am verpfuschten Pati-

enten entstanden, durch jahrelange verfehlte Drogenpolitik. Das gab es in Wien nie“, so David. Die Szene am Karlsplatz, die gibt es auch nicht mehr. Man habe sie aufgelöst, um eine ganz bestimmte Form von offenem Drogenhandel zu unterbinden. Die „Kinder vom Karlsplatz“ seien durch den Ganslwirt und TaBeNo aufgefangen worden. Die Initiative Drogenkonsumraum teilt diese Meinung nicht: „Wir haben Rückmeldungen von StreetworkerInnen, dass viele Betreuungsverhältnisse zerbrochen sind. Die Szene wurde aus diesem öffentlichen, touristischen Umfeld vertrieben. Die Konsequenzen müssen die KonsumentInnen tragen.“ Auch seien nicht alle Konsumräume aus einer „Notoperation“ heraus entstanden: „Für Zürich mag das stimmen, aber in Ländern wie Kanada und Australien sind die Räume später entstanden und unter anderen Voraussetzungen.“ In einem sind sich David und die Initiative aber einig: Die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt – in der öffentlichen Meinung sind KonsumentInnen immer noch kriminell und nicht chronisch krank. „Aber wer, wenn nicht der Drogenbeauftragte sollte Verantwortung übernehmen, diese Meinung zu kippen?“, heißt es seitens der Ini­tiative. N (Name geändert)

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Initiative Drogenkonsumraum Wien: http://i-dk.org Die Autorinnen studieren Journalismus und Medienmanagement an der FH in Wien.


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Die Dosis macht das Studium Amphetamine, Cannabis, Alkohol – der Drogenkonsum von Studierenden ist deutlich höher als bei jungen Leuten im Arbeitsleben. Macht der steigende Leistungsdruck anfällig?

Barbara Wakolbinger

aniel blendet die Umgebung aus. Hunger hat er keinen, auch müde ist er nicht. Dafür starrt er hoch konzentriert auf das Statistik-Skript vor sich. Nichts kann ihn ablenken. Facebook oder eine Putzattacke? Fehlanzeige. Hunderte Seiten Stoff kann er sich so in kürzester Zeit merken. Auch trockene Statistik-Materie kommt ihm spannender vor, das gibt einen extra Motivationsschub. Pausen macht er nur ganz kurz und auch das nur, weil er weiß, er muss. So schafft es Daniel auf bis zu zehn Stunden effektive Lernzeit pro Tag. Der 24-Jährige hat Hilfe: Methylphenidat heißt das Zauberwort, besser bekannt als Ritalin. Ritalin wird gegen das Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätssyndrom (AD[H]S) verschrieben. In geringen oralen Dosen wirkt es stimmungsaufhellend und euphorisierend, vermittelt ein Gefühl erhöhter Energie und steigert die Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit. Methylphenidat ist ein Dopamin-Wiederaufnahmehemmer. Das bedeutet, dass Ritalin die Wiederaufnahme des Botenstoffes Dopamin (das „Glückshormon“) hemmt und so die Konzentration auf den Rezep-

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toren deutlich erhöht. Die Folge: bessere Konzentrationsfähigkeit, deutlich motivierteres und effizienteres Lernen. Daniel kennt die Wirkung des Medikaments. Schon in der Schule hat er mit aufmerksamkeitssteigernden Drogen herumprobiert. Durch die Matura hat ihn das pflanzliche Ephedrin gebracht, doch das wurde kurz darauf verboten. Im Studium war er wieder mit großen Stoffmengen und wenig Lernzeit konfrontiert, also suchte er weiter. Auch mit Speed, also Amphetamin, hat der Oberösterreicher gelernt, das funktioniert fast noch besser. Schließlich stieß er im Internet auf die Diagnose ADS und das Medikament Ritalin. Heute hat Daniel ein ärztliches Rezept, das ihn regelmäßig mit Ritalin versorgt. „Der Unterschied im Lernen ist schon enorm. Mein Schlüsselerlebnis hatte ich zu Beginn des Studiums. Da habe ich zwei Wochen für eine große Prüfung gelernt und vielleicht ein Fünftel des Stoffes gekonnt. Dann ist mir durch einen glücklichen Zufall ein bisschen Methamphetamin (Crystal) untergekommen und zwei Tage später hab ich alles gewusst. Das ist vielleicht auch genau das Gefährliche daran: Wenn man erkennt, was möglich ist.“

Amphetamin: Droge der Wissenschaft. Harmlos sind Amphetamine nicht. Zu den körperlichen Nebenwirkungen wie Appetitlosigkeit oder Schlafdefiziten kommt das Risiko einer falschen Dosierung und der Abhängigkeit. Denn Ritalin bewirkt kurzfristig ein konsequentes Funktionieren. Es hilft besonders gut gegen Stress, weil es innere Spannungen bekämpft und man körperlich zur Ruhe kommt. Das weiß Robert Muhr von der Suchthilfeeinrichtung Grüner Kreis. Der große Nachteil ist jedoch die schnelle Abhängigkeit. Schon nach zwei oder drei Monaten kann es passieren, dass Stresszustände wie Prüfungen oder auch Prüfungsangst nicht mehr ohne chemische Unterstützung bewältigt werden können: „Besonders kritisch ist, dass nicht nur Prüfungen oder Lernphasen dann eine unlösbare Aufgabe darstellen, sondern jede Art von Aufregung oder Stress zu einem Problem wird.“ Daniel hat diese Probleme nicht. Er achtet penibel auf die Dosierung und darauf, das Medikament nur zu verwenden, wenn es wirklich notwendig ist. Alles eine Frage der Einstellung. In den USA sind Amphetamine längst zur Modedroge unter Studierenden wie auch WissenschafterInnen geworden. Im Jahr 2008 hat eine anonyme Befragung von 1.400 ForscherInnen, die die Fachzeitschrift Nature lesen, ergeben, dass 20 Prozent schon einmal Substanzen konsumiert hatten, um Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnis zu verbessern. Aber auch in Europa ist Daniel nicht alleine. In einer Studie unter dem Titel „Suchtprobleme bei Studierenden an deutschen Hochschulen“ der Katholischen Hochschule Nord­ rhein-Westfalen wurden rund 2.300 Studierende zu ihren Konsumgewohnheiten befragt. 6,4 Prozent der Studierenden gaben an, schon einmal Amphetamine konsumiert zu haben, 6,1 Prozent Kokain. Bei der regelmäßig durchgeführten Drogenaffinitätsstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung war es etwa die Hälfte. Allerdings zählen hier nur illegale Amphetamine, keine Medikamente wie etwa Ritalin. Die Dunkelziffer dürfte also beträchtlich höher liegen. Besonders auffällig ist aber der Wert für Cannabis. Über 60 Prozent aller Studierenden haben schon einmal Cannabis konsumiert, fast 40 Prozent im letzten Jahr. Im Vergleich: NichtStudierende hatten zu 35 Prozent schon einmal Cannabis konsumiert, nur 12,5 Prozent in den letzten zwölf Monaten. Ähnlich sieht das Bild bei Alkohol aus. Bei einer durchschnittlichen


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Trinkgelegenheit gaben etwa 30 Prozent der Studierenden an, fünf oder mehr Getränke zu konsumieren. In der Durchschnittsbevölkerung sind es nicht einmal 20 Prozent. 30 Prozent aller männlichen Studierenden können als alkoholmissbrauchend oder alkoholabhängig eingestuft werden. Studierende konsumieren zum größten Teil immer noch gesellschaftlich anerkannte Drogen. Das macht es aber auch leichter, ein potenzielles Problem zu leugnen. Kulturdroge Alkohol. Nach einem Tag auf der Uni oder einem Lerntag zuhause hat Marco eigentlich immer das Gefühl, sich mindestens ein Bier verdient zu haben. Schließlich muss auch der fleißigste Student irgendwann Pausen machen. Bei einem Bier bleibt es dann meistens aber nicht. Fünf bis sechs große Biere müssen es schon sein, damit der Stress des Tages abfällt. Ein Problem sieht der Jusstudent darin nicht: „Das machen doch alle so, dann hätte ganz Österreich ein Riesenproblem.“ Alkohol wird immer an der Spitze der konsumierten Drogen bleiben, ist Drogenberater Robert Muhr überzeugt. Er bezeichnet es als „unsere Kulturdroge“: Österreich trinkt Alkohol. Das macht es umso schwerer, Missbrauch zu erkennen. Weil immer und überall getrunken wird, kann Alkohol aber tatsächlich eine Gefahr darstellen, vor allem wenn er zum „Runterkommen“ oder als „Belohnung“ gebraucht wird. „Da machen die Dimensionen, in denen konsumiert wird, viel aus. Wichtig ist immer der Schritt, zu überlegen, ob es auch andere Möglichkeiten gibt, den Zustand zu erreichen, für den man jetzt Alkohol benötigt“, erklärt Muhr. Zum Problem wird Alkohol dann, wenn jeder Tag oder jede Anstrengung ausnahmslos so enden muss. Ähnlich sieht die Situation mit Cannabis aus. Denn auch hier kommt es ganz auf die Menge an. Cannabis wird in seiner beeinträchtigenden Wirkung häufig unterschätzt, ist der Leiter der Psychologischen StudentInnenberatung, Franz Oberlehner, überzeugt. Als Problem wird es erst erkannt, wenn täglicher Konsum dazu führt, dass man nicht mehr in der Lage ist, Prüfungen abzulegen und ein Studium weiter zu betreiben: „Cannabis wird auch häufig als ‚Rückzugsmittel‘ eingesetzt, wenn die Anforderungen zu hoch werden oder die eigenen Leistungen nicht genügen. Es wird fast wie ein Medikament verwendet, auch um Angst oder Panik zu bekämpfen.“ Dann führt Cannabis häufig zu Antriebslosigkeit, soziale Kontakte werden vernachlässigt. „Alleine und viel konsumieren, das ist problematisch“, meint dazu Robert Muhr vom Grünen Kreis. Die Gefahr von Cannabis ist Helene grundsätzlich bewusst. „Aber damit einem da etwas passiert, muss

schon viel schiefgehen.“ Wer nicht täglich konsumiere und keine psychische Vorbelastung habe, der sei auf der sicheren Seite. Deshalb raucht die 21-jährige Wienerin auch nur ab und zu mal. Beim Fortgehen oder in gemütlicher Runde am Abend. Alleine rauchen kommt für sie nicht in Frage. Der Druck steigt. Aber warum greifen Studierende zu potenziell gefährlichen Substanzen und das vergleichsweise häufiger als Nicht-Studierende? Franz Oberlehner arbeitet seit 20 Jahren mit Studierenden. Momentan betreut seine Einrichtung, die Psychologische StudentInnenberatung, rund 2.200 Studierende pro Jahr. Er ortet das Problem Substanzmissbrauch auch im steigenden Leistungsdruck: Denn der objektive Druck auf die Studierenden steigt eindeutig. Massenstudien und Studieneingangsphasen verschärfen die Kriterien, ein Studium kann sehr viel schneller unfreiwillig beendet werden, als noch vor zwanzig Jahren. „Die Mentalität hat sich erheblich geändert“, meint Oberlehner, „Studierende identifizieren sich viel stärker mit dem Leistungsgedanken, ja internalisieren ihn geradezu. Man muss so schnell wie möglich studieren, dabei so gute Noten wie möglich und schon jede Menge Praktika haben, um dann im Berufsleben bestehen zu können. Da ist der Druck sicher viel massiver als früher.“ Früher waren es vor allem Studierende aus sehr leistungsorientierten Fächern wie Medizin, die bei Franz Oberlehner Hilfe suchten. Das hat sich seit der Einfüh-

rung des Aufnahmetests verändert. Jene Studierenden, die es in das Medizinstudium schaffen, werden dort relativ gut betreut. Viel schlimmer ist es bei den Fächern, in denen es Studieneingangsphasen gibt und alles schon nach zwei Prüfungen vorbei sein kann. Hilfe suchen sich in den letzten Jahren vor allem viele Studierende von der Wirtschaftsuniversität, wo die Studieneingangsphase besonders viele scheitern lässt. „Am problematischsten sind Massenfächer mit Studieneingangsphasen, wie zum Beispiel Pharmazie. Da gibt es eine Riesenprüfung, an der etwa 90 Prozent scheitern. Natürlich hat man dann einen Riesendruck, da ist die Angst ja auch realistisch“, erzählt Oberlehner. Allerdings stellt Drogenexperte Robert Muhr klar: Bei Studierenden kann man meistens nur von Drogengebrauch bzw. leichtem Drogenmissbrauch sprechen. Mit schweren Abhängigkeiten ist es praktisch unmöglich, ein Hochschulstudium zu betreiben. „Wenn Studierende Drogen einsetzen, um den Druck oder den Prüfungsstress zu bewältigen, ist das keine schwere Abhängigkeit, aber es hat das Potenzial, sich in diese Richtung zu entwickeln – und das ist die Gefahr.“ Besonders, wenn auf die Frage: „Kann ich es auch sein lassen?“ die Antwort „Nein“ kommt, sollte man sich professionelle Hilfe suchen. N

Die Autorin studiert Journalismus und Medienmanagement an der Fachhochschule Wien.


EUROPÄISCHE BÜRGERINITIATIVE Die Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, gehört zu werden. Ab 1. April 2012 steht in Europa ein neues Instrument für direkte Demokratie zur Verfügung. EU-Bürgerinnen und -Bürger können von der EU-Kommission eine konkrete Gesetzesvorlage verlangen. Dafür braucht es in Zukunft:

Werden Sie aktiv! Wir unterstützen Sie dabei: ebi.zukunfteuropa.at

• mindestens eine Million Unterschriften innerhalb eines Jahres • aus mindestens sieben EU-Mitgliedstaaten und • je nach Einwohnerzahl eines Landes eine Mindestzahl an Unterschriften (für Österreich z. B.: 14.250).

Eine Information der Europapartnerschaft, finanziert aus Mitteln der Europäischen Union.

Neu ab April

TTL 2012 Tutoriumstrainer*innenlehrgang 2012

Das unabhängige Tutoriumsprojekt der ÖH startet voraussichtlich mit Herbst 2012 einen TTL. Bewerbungsfrist 31. März 2012 Nähere Infos unter: www.oeh.ac.at/tupro Informationen befinden sich ganz unten auf der Seite

Präsentation

des

2 8 . M ä r z 2 0 1 2 . 1 8 – 2 3 u h r.

Alternativen

Hochschulplans

Aula der Akademie der Bildenden Künste Wien

www.oeh.ac.at / forum.hochschule@oeh.ac.at Präsentation

des

Alternativen

Hochschulplans

28. März 2012. 18 – 23 uhr. Aula der Akademie der Bildenden Künste Wien

www.oeh.ac.at / forum.hochschule@oeh.ac.at


Feuilleton n | PROGRESS 01/12 | 27

Feuilleton

An den Rand geschrieben Eine Hommage von Simon Sailer.

aul Valéry war ein Dichter. Und er war ein Philosoph. Beim Dichten wie beim Denken strebte er stets nach Klarheit und Deutlichkeit: „Von zwei Worten wähle man das weniger bedeutende.“ Seinem eigenen Rat versuchte der in Paris lebende Freund und Bewunderer des Schriftstellers Stephane Mallarmé stets zu folgen, in der Lyrik wie in der Philosophie. Tiefe war ihm nur ein Trick, ein sprachlicher Kniff. Seine Poesie entfaltet ihr Leben aus der Sprache selbst, unter Verzicht auf Brimborium, auf Überflüssiges. Die poésie pure sollte verzaubern ohne Magie: durch Genauigkeit und Formvollendung. Als Theoretiker ist der französische Lyriker in Österreich so gut wie unbekannt. Sein Werk liegt zerstückelt vor. Zum größten Teil besteht es aus posthum herausgegebenen Notizen, die er sich – und wohl zunächst nur für sich – machte: cahiers, Hefte. Darüber hinaus erschienen einige Essays und Aphorismen schon zu seinen Lebzeiten. Er schrieb etwa über Leonardo da Vinci und Edgar Degas, den er hoch verehrte. Dem Maler kritzelte er, „wie ein zerstreuter Leser seinen Bleistift an den Rändern eines Buches spazierenführt“, einen kleinen Text an den Rand einiger seiner Studien.

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So fällt an Valéry zuerst seine Unaufdringlichkeit ins Auge. Es handelt sich dabei um eine unaufdringliche Unaufdringlichkeit, eine, die nicht beständig ausrufen muss: Seht her! Wie bin ich doch edel und zurückhaltend. Bei ihm entspringt sie der Sache. Nicht das Wesentliche, das Wichtigtuerische ist für ihn entscheidend – der Vorbehalt dagegen schwingt noch in seinen konservativen Tiraden gegen das Neue mit. Das Unprätentiöse und Subtile gilt ihm soviel mehr. Der angestrengt errungene Gedanke, der, nur einen Augenblick lang wahr, sogleich wieder erlischt, verfliegt, vergeht … Die Form des Feuilletons ist dem Meister der vergänglichen Beständigkeit deshalb wie auf den Leib gegossen. Als journalistische Gattung ist es flüchtig, dahingesagt, einmal gelesen – gedacht und vergessen. Zugleich verlangt es, was Valéry stets von Denken und Sprache gefordert hat: Einfachheit und Subtilität in einer festen Form zu vereinen. „Man kann nicht subtil genug sein, und man kann nicht einfach genug sein. / Subtil genug, weil die Dinge es verlangen; einfach genug, weil unser Dasein und unsre Handlungen es gebieten.“ N Illustrationen: Sailer


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Aufhören, uns die Schuld zu geben Die israelische Soziologin Eva Illouz appelliert in ihrem letzten Werk „Warum Liebe wehtut“ daran, uns selbst weniger zur Verantwortung zu ziehen, wenn es mit unseren Beziehungen nicht klappt.

aut Illouz sollen wir unser Versagen in Liebesbeziehungen in einem gesellschaftlichen Kontext betrachten. Damit wäre uns nicht nur viel Druck genommen, sondern auch der Gang zum/r Therapeuten/in bliebe uns erspart. Ein PROGRESS -Interview über Kapitalismus, männliche Dominanz und Leidenschaft.

L

PROGRESS: In Ihrem Buch schreiben Sie,

dass die Soziologie bezüglich Beziehungsproblematiken den Platz der Psychologie einnehmen sollte. Wir sollten anfangen, gescheiterte Beziehungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu betrachten und gleichzeitig aufhören, die Fehler beim Scheitern in Liebesangelegenheiten bei uns selbst zu suchen. Ist das als eine Kritik der sogenannten Therapy Culture zu verstehen? Eva Illouz: Ja, es ist gänzlich als eine Kritik der Therapiekultur zu verstehen. Diese lässt uns kollektiv so viel an der Verbesserung unserer Selbst arbeiten, um gesellschaftliche Prozesse zu korrigieren. Die Psychologie ist zur privilegierten Allianz des Neoliberalismus geworden: Sie lässt uns dieses nagende Gefühl mitschleppen, dass etwas mit uns falsch wäre. Das soll dann mit unserer Familiengeschichte zu tun haben, oder mit unrealistischen Erwartungen, oder damit, dass wir es nicht geschafft haben, uns den richtigen Typen zu angeln. Ich will sagen: „Genug!“ Beziehungen sind schwierig, aber nicht, weil wir individuell mangelhaft sind, sondern wegen der sozialen Organisation des Kapitalismus, die es uns einfach schwer macht, unsere PartnerInnenwahl und unsere romantischen Gefühle zu organisieren.

Ist „Warum Liebe wehtut“ so gesehen ein Selbsthilfebuch? Ja und nein. Nein, weil ich ja die „Selbsthilfekultur“ vehement kritisiere, wie ich schon dargestellt habe. Außerdem will ich ja niemandem vorschreiben, wie man leben soll. Ich besitze weder die Weisheit dazu, noch ein besonderes Wissen über die Liebe. Aber es ist insofern ein Selbsthilfebuch, dass es dabei helfen kann, sich weniger unfähig in Beziehungen zu fühlen. Sie schreiben, es bedürfe wieder eines ethischen Rahmens, in dem wir unsere Beziehungen aufbauen und gestalten können. Sollten wir nicht zuallererst damit aufhören, in starren, binären Geschlechterkategorien zu denken, bevor wir uns mit Verhaltensregeln befassen? Klar, Stereotype zu verändern, ist nichts anderes als ein zutiefst moralischer Imperativ. Würden Sie Ihr Werk als feministisch bezeichnen? Ach, wer würde sich heute nicht als FeministIn bezeichnen? Sogar Hausfrauen sind heute nicht mehr der Meinung, dass sie nicht befugt wären, wählen zu gehen, oder ein eigenes Konto zu besitzen, oder die Scheidung einzureichen. Mein Werk ist jedenfalls in einem moralischen Verständnis als feministisch zu bezeichnen, da es die Ursachen von Problemen zwischen Frauen und Männern in den Überresten einer patriarchalen Machtstruktur verortet, jedoch ohne der zentralen Rolle, die Familien früher noch im Patriarchat besaßen. In der Vergangenheit waren Männer aufgrund ihres sozialen und ökonomischen Status genauso abhängig von ihren Familien wie Frauen. Vielleicht waren sie sogar abhän-

giger als Frauen, in einer bestimmten Art und Weise. Heute aber brauchen Männer keine Familien mehr für ihren sozio-ökonomischen Status. Frauen hingegen sind viel abhängiger von der Familie:: Sie wollen Mütter werden und brauchen einen Versorger während ihrer Mutterschaft. Das ist wohl einer der wichtigsten Gründe für die bestehende Asymmetrie zwischen Frauen und Männern und zugleich die Wurzel von dem, was ich als „emotionale Dominanz“ von Männern über Frauen bezeichne. In „Warum Liebe wehtut“ meinen sie, dass charakteristisch für moderne Liebesbeziehungen eine zwischenmenschliche Beliebigkeit ausgelöst durch eine massive Ausweitung des Marktes an potenziellen PartnerInnen wäre. Gleichzeitig scheinen sich aber vor allem junge Menschen nach Stabilität und Sicherheit zu sehnen und sich für traditionelle Familienmodelle zu entscheiden. Werden unsere Beziehungen wieder konservativer? Ich denke, es handelt sich eher um eine Pluralität von Modellen, die miteinander in Konkurrenz stehen und sich teils auch überschneiden. Die Sehnsucht nach konservativen Familienmodellen geht mit einer emanzipierten Sexualität und auch mit der gesteigerten Toleranz für einen sexuellen Pluralismus einher. Zugleich aber hat das auch mit einem höheren Grad an Unsicherheit und Ungewissheit zu tun. Wir bewegen uns so gesehen nicht zurück zu alten und gut bekannten Formen. Vielmehr handelt es sich dabei um alte Formen mit neuen Ressourcen. In Interviews präsentieren Sie sich selbst als Fan der Leidenschaft. Was genau ver-

stehen Sie unter diesem Begriff und kann Leidenschaft dazu dienen, herrschaftliche Ornungen innerhalb von Beziehungen zu unterwandern? Leidenschaft ist die Bereitschaft, die eigene Souveränität für jemanden anderen aufzugeben. Es ist eine Form der Emotionalität, die weniger reflexiv und weniger beschäftigt mit dem eigenen Wohlergehen ist. Das stellt ja in aktuellen Modellen offensichtlich die Norm dar: Gleichheit und Gegenseitigkeit werden ständig aufgerechnet und evaluiert. Ich denke, Gleichheit sollte niemals als ein regulierendes Ideal von Beziehungen in Vergessenheit geraten, aber wenn wir diese Gleichheit erreichen, sollten wir wieder Spaß an Leidenschaft haben und weniger ängstlich dabei sein. Das Interview führte Simone Grössing.

zur person

Eva Illouz wurde 1961 in Marokko geboren. Sie lebte und studierte in Paris und in Pennsylvania. Illouz lehrt derzeit Soziologie und Anthropologie an der Hebräischen Universität Jerusalem. Ihr Forschungsschwerpunkt ist das Verhältnis von Massenmedien, Kapitalismus und Emotionen. Damit beschäftigt sie sich auch in ihren zahlreichen Publikationen der vergangenen Jahre. „Warum Liebe wehtut“ ist ihr aktuelles Werk und erschien 2011 im Suhrkamp Verlag.


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Geschichtenerzählen bleibt Paradedisziplin „Zwischen den Runden“ heißt das vierte Album von Kettcar. Den fünf Hamburgern ist es gelungen, in bewährter textlicher Qualität neue Ufer zu erschließen.

Alexander Obermüller

ach einigermaßen viel Power auf der letzten Platte, wollten wir einfach Geschichten erzählen“, erzählt Erik Langer, Gitarrist der Band, dem PROGRESS. Geschichtenerzählen war und bleibt die Paradedisziplin Kettcars und erneut kreisen die Texte um Themen wie Liebe, Freundschaft, Selbstzweifel und das Älterwerden. Auf diesem Album stammen die Geschichten aus den Federn von zwei Schreibern: Neben Texter und Frontmann Marcus Wiebusch nahm sich Reimer Bustorff ebenfalls der Textproduktion an.

N

Gefühle ganz groß. Gerade die Verarbeitung von alltäglichen Themen bricht

im Zuge eines Kettcar-Konzerts als ein Schwall der einfachen Freuden und Leiden auf ein Publikum herein, das ebenso schwer mit dem Älterwerden zu Rande kommt wie die Band selbst. Danach fühlt man sich zumindest etwas mit der grausamen Welt versöhnt. Angesprochen auf ihre Verantwortung gegenüber den HörerInnen gesteht Erik, dass die Band natürlich daran interessiert sei, auf die Bedürfnisse ihrer Fans einzugehen. Eine moralische Verpflichtung kann er jedoch nicht festmachen: „Natürlich können wir nicht zu jedem nach Hause gehen und ihn streicheln.“ Dass man sich im Zuge eines Konzerts gerne in den Armen liegen würde, ist nun mal so.

Be aware!

Politische Ambivalenzen. „Zwischen den Runden“ ist auf Grand Hotel van Cleef, Kettcars eigenem Label, erschienen. Unabhängigkeit oder als schick stilisiertes, künstlerisches Prekariat – das eigene Label ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite stehe der bewusste Versuch, gegen den Druck des Marktes zu steuern und Alternativen zum Mainstream zu fördern, so Erik. Auf der anderen Seite gehe es eben nicht ohne Kompromisse, trotz des Versuchs, die hohen Ideale bis zu einem gewissen Grad zu verteidigen. Eine ähnliche Ambivalenz zeigt sich auch im Selbstverständnis von Kettcar, die für viele ihrer Fans als politische Band gelten: „Auch wenn wir das nicht

Wir verlosen zwei Exemplare des aktuellen Albums Fullscreen. Schicke dafür ein Mail mit deiner Adresse an: progress@oeh.ac.at

Die anonyme Band Notic Nastic (D, USA) ermutigt ihr Publikum, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dass dies keinesfalls leise und spaßlos passieren muss, beweisen ihre Live Shows. PROGRESS sprach mit der Frontfrau und Sängerin über Freiheit, Pop und Tubas.

Spaß machen würde, in einer Band zu sein. Was anfangs ein Musikprojekt war, entwickelte sich zügig zu einer Band. Mit der Zeit fingen wir an, darüber nachzudenken, wie wir als KünstlerInnen unsere Lebensphilosophie besser in das Projekt integrieren können, um Menschen zu erreichen und vielleicht auch eine Botschaft rüberzubringen. Wir sind für ethische Mode, und unser neues Album „Fullscreen“ steht dafür, die Augen aufzumachen. Wie funktioniert die Symbiose aus elektronischer Musik und politischer Botschaft? Wir sehen uns selbst nicht als elektronische Band. Es war eher Zufall, dass wir uns in der elektronischen Musik wiederfanden, weil wir ProduzentInnen sind und wir im technischen Sinne wussten, wie das funktioniert. Ursprünglich hab ich Tuba spielen gelernt, aber ich hab nicht wirklich eine Möglichkeit gesehen, damit junge Leute zu erreichen. Für den Weg, den ich gehen

wollte, war elektronische Musik einfach passender. Unsere Musik hat eine Message. Mein Ziel ist nicht, den elektronischen Musikgurus auf Weltniveau zu imponieren. Freiheit ist großes Thema bei Notic Nastic. Was ist für dich Freiheit? Ich denke, Freiheit ist zu einem Großteil, zu verstehen, wie viel Manipulation wir in dieser Welt ausgesetzt sind. Wir werden ständig von Bildern bombardiert. Als ich jünger war, habe ich nicht wirklich realisiert, wie viele von den Dingen, die ich gesagt und getan habe, von äußeren Einflüssen geformt waren. Aber ich habe angefangen, darüber nachzudenken und habe bemerkt, dass ein beträchtlicher Teil meiner Persönlichkeit nicht unbedingt durch meine freie Wahl entstanden ist. Ich denke, Freiheit bedeutet einfach, das zu verstehen und bewusst zu entscheiden, was ich unterstützen will. Das Interview führte Marlene Brüggemann.

Notic Nastic

PROGRESS: Wie kam es zur Entstehung von Notic Nastic? Notic Nastic: Es fing mit dem Gedanken an, dass es

so gerne vor uns hertragen, wird das Politische intensiv innerhalb der Band verhandelt.“ Bei Texten, die sehr stark am Alltag orientiert sind, bleibt der Wunsch, vielleicht einen Anstoß liefern zu können: „Der Reichtum unserer hübschen Welt basiert einfach darauf, dass andere Menschen leiden und sterben müssen. Dass man vielleicht manchmal so ein bisschen aufwacht aus seinem Alltagstrott und sich umguckt, das wär schon sehr schön. Das schaffen wir auch nicht immer, aber ab und zu.“ N Anspieltipp: „Im Club“. Der Autor studiert Geschichte in Wien.


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Schritt 1

Schritt 2

Schritt 3

Pimp your bike! Die queere Jetset-Electro-Popband Pop:sch holt mit dir die Räder aus dem Keller und startet in den Frühling. Schritt für Schritt durch den Fahrraddschungel mit Andrea, Alex und Flo in der Wiener Bike Kitchen.

Reifen geplatzt? Pop:sch zeigt dir was zu tun ist. Schritt 1 (siehe Bild): Hebe dein Rad in einen Montageständer (wie abgebildet) oder stelle es auf den Kopf. Dann öffne die Halterung deines Reifens – benutze dazu Schraubenschlüssel und Zange.

ein bisschen Geduld machen die Sache auf jeden Fall einfacher. Aufpassen, dass du den Schlauch mit dem Reifenheber nicht aufschlitzt.

Schritt 3 (siehe Bild): Nachdem du deinen Reifen aus dem Rad gehoben hast, solltest du nun ein loses Rad in Händen halten.

Schritt 5: Nun musst du dich auf die Suche nach dem Loch machen. Am besten geht das, indem du den Schlauch wieder aufpumpst und ihn in einen Kübel Wasser hältst. Wo Blubberblasen aufsteigen, tritt Luft aus und du hast das Loch gefunden. Am besten gleich mit Lackstift oder Klebeband markieren. Wenn die Luft nur ganz langsam ausgeht und du das Loch nicht gleich finden kannst, hilft Spülmittel im Wasser: Die Bläschen werden dadurch gleich viel größer.

Schritt 4 (siehe Bild): Nun kannst du einen sogenannten Reifenheber unter den Reifenmantel schieben und am anderen Ende in die Speichen hängen. Wenn du nun mit dem Reifenheber einen Kreis ziehst, löst sich der Mantel vom Rad und du kannst den Fahrradschlauch herausnehmen. Das kann einfacher oder ein bisschen schwieriger sein. Ein zweiter Reifenheber und

Schritt 6 (siehe Bild): Um den Schlauch nun zu „verarzten“, raust du den trockenen (!) Bereich um das Loch großräumig auf – das passende Schleifpapier liegt dem Flickzeug aus dem Fachmarkt bei. Trage dann die Vulkanisierlösung, also den „Kleber“, dünn auf und warte fünf Minuten bis der „Kleber“ ganz trocken aussieht und keine Fäden mehr zieht. Dann kannst du das

Schritt 2 (siehe Bild): Hänge deine Bremsen aus, damit sie den Reifen beim Herausheben nicht blockieren.

Schritt 4

Schritt 6

„Pflas­ter“ aufkleben – fest eine Minute lang andrücken! Um zu überprüfen, ob du alles richtig gemacht hast, noch einmal den Schlauch aufblasen und wieder im Wasserbad nach etwaigen Löchern suchen. Schritt 7: Den ganz leicht voraufgepumpten Schlauch (ein bis zwei Mal pumpen) legst du nun wieder in den Mantel über den Reifen. Aufpassen, dass er nicht verdreht oder verwurschtelt ist. Am besten fängst du an, indem du das Ventil beim Ventilloch in den Reifen steckst und dann den Schlauch auf beiden Seiten einlegst. Wenn der Schlauch zu lange erscheint, weil er schon recht ausgedehnt ist, dann nicht zusammenlegen, sondern einfach ein bisschen zusammenschoppen. Wenn der Schlauch ganz im Mantel und Reifen verschwunden ist, hebst du mit dem Reifenheber den Mantel wieder vorsichtig in die Felge, bis der Mantel ganz und verlässlich wieder sitzt. Nun kannst du deinen Reifen vorsichtig aufpumpen. Schritt 8: Jetzt hängst du den Reifen wieder in das Fahrrad ein – beim Hinterrad Achtung auf die Gang-

Wie pumpe ich mein Fahrrad auf?


Feuilleton n | PROGRESS 01/09 | 31

Du möchtest Pop:sch live sehen? Hier die kommenden Tourdaten: 10.03 – Linz / Ann and Pat; 08.05 – Wien / OST Klub Wir verlosen das aktuelle Pop:sch-Album! Schreibe uns dazu den Namen des Pop:sch-Erstlings an progress@oeh.ac.at

Fotos: S. Böhm

schaltung! Nicht vergessen, auch die Bremsen richtig einzustellen und darauf zu achten, dass das Rad beim zuzerren zentriert sitzt, damit es nicht eiert. Wenn das Rad nun ein wenig holprig ist, weil der Mantel nicht überall gleich tief in der Felge sitzt, gibt’s einen einfachen Trick: Ein bisschen Luft auslassen und einige Runden drehen – dann wieder fest aufpumpen. Fertig! Wie pumpe ich die Reifen auf? Andrea zeigt es dir! (siehe Bild) Wichtig ist dabei, dass du die benötigte BarAnzahl beachtest, die auf deinem Reifen angegeben ist. Für das Aufpumpen gibt es meist zwei Ventilgrößen – im Fachmarkt erhältst du entsprechende Pumpen. Am Siebensternplatz im siebenten Bezirk in Wien beispielsweise kannst du dein Rad auch an einer öffentlichen Stelle gratis aufpumpen. Ähnliche Vorrichtungen gibt es auch an vielen Fahrradwegen und vor den meisten Radgeschäften, die dafür auch kein Geld verlangen sollten.

Meine Bremsen sind locker! Was tun? Andrea zeigt es dir! (siehe Bild) Schritt a): Schraube mit einem Imbusschlüssel deine Bremsvorrichtung lockerer und ziehe das Drahtseil um einen Hauch fester. Am bes­ ten direkt ausprobieren, ob die Stärke passt! Schritt b) (ohne Bild): Direkt auf der Lenkstange gibt es eine kleine Schraube, mit der du das Bremsseil festerziehen kannst. Schraube dazu das äußere Teil der Vorrichtung so, dass der Abstand zur Bremse auf der Lenkstange größer wird! Fertig! Meine Kette wird rostig! Was tun? Alex zeigt es dir! (siehe Bild) Schnappe dir einen alten Fetzen und wische damit die Kette gut ab. Nun ist sie bereit, um mit Fahrradöl beträufelt zu werden. Damit sich das Öl gut verteilt, und nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig ist, wische nun noch einmal mit dem Fetzen darüber. Fertig!

Fahrradküchen und Selbsthilfewerkstätten Du brauchst doch ein wenig Unterstützung? Einrichtungen wie die Bike Kitchen in Wien, Linz und Graz sind selbstverwaltete Selbsthilfewerkstätten, mit all dem Equipment, das du brauchst. Bike Kitchen Wien, Goldschlagstraße 8, 1150 Wien Bike Kitchen ReparierBAR: Jeden Do 16–24 Uhr Frauen-/Lesben-/Transgender-Selbsthilfewerkstatt: Jeden 1. Fr im Monat, 16 Uhr bis ca. 20 Uhr. Nur für Frauen, Lesben, Transgender. http://bikekitchen.net Fahrrad.Selbsthilfe.Werkstatt im WUK Währinger Straße 59, 1090 Wien; am Ende des Hofes / LKW-Ausfahrt; Mo–Mi 15 bis 19 Uhr. 3,00 € für einen ganzen Nachmittag Werkstatt-Benützung. Preise für Ersatzteile sind Verhandlungssache – wende dich an den/die WerkstättenbetreuerIn. http://fahrrad.wuk.at Bike Kitchen Linz, Flügelhofstraße Ecke Lessingstraße Selbsthilfewerkstatt: Jeden Do ab 14 Uhr http://bikekitchenlinz.nospace.at Fahrradküche Combinesch Graz, Schießstadtgasse 40 Selbsthilfewerkstatt: Jeden Do, 17–21 Uhr http://combinesch.com Bikerei Innsbruck, Dreiheiligenstraße 21a Selbsthilfewerkstatt: Jeden Di 17–21 Uhr. www.bikerei. org Text: Flora Eder Technische Unterstützung: Bike Kitchen Wien

Die Bremsen sind locker. Was tun?

Meine Kette wird rostig! Was tun?


Foto: Kux

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Feministisch Schmökern Wien hat wieder eine feministische Buchhandlung. Zu Gast bei den Betreiberinnen zu einem Gespräch über Literatur, das Teilen der Macht und Österreichs kleine, aber feine feministische Szene.

Bettina Figl

or fünf Jahren hat die Buchhandlung Frauenzimmer zugesperrt. Im vergangenen Jahr ist die Zeitschrift AUF zum letzten Mal erschienen – doch wer fürchtet, die feministische Szene in Wien werde bald ganz verschwinden, darf aufatmen: Seit Anfang 2012 residiert die feministische Buchhandlung ChickLit in der Kleeblattgasse im ersten Bezirk – just in den ehemaligen AUF-Redaktionsräumen.

V

Roman-Schwerpunkt und Webshop. Lesbenromane und Krimis – der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Roman-Seite, doch es gibt auch Literatur zur Frauenbewegung und -geschichte, Kinder- und Jugendbücher und solche zu feministischer Ökonomiekritik. Neben einem eigenen Webshop (derzeit noch im Entstehen) soll es eine Abteilung zu Wissenschafterinnen geben, die in und um Wien forschen.

Betrieben wird ChickLit vom AUFVerein, der 31 Jahre lang die gleichnamige feministische Zeitschrift her­ ausgegeben hat. Eva Geber hat jahrzehntelang als Redakteurin mitgearbeitet. Die 70-jährige Journalistin und Buchautorin berichtet, der feministische Aktivismus habe sich in den vergangenen Jahrzehnten quasi von der Straße hinter den Schreibtisch verlagert, und sagt: „Früher haben sich viele nicht getraut, zu sagen ‚Ich bin Feministin‘.“ Heute kann man sich trauen. Doch viele junge Frauen distanzieren sich davon, Feministinnen zu sein – dabei gäbe es noch viel zu tun: Die auseinanderklaffende ökonomische Schere oder Jobs von Frauen, die in Zeiten der Krise als erstes wackeln. Wie lange es dauert, bis sich etwas ändert, ist auch in der Literatur nachzulesen. „Wir müssen uns noch immer mit diesem blöden Thema beschäftigen“, das in Zeitschriften von 1790 ebenso zu finden ist wie in „Stadt der Frauen“

von Christine de Pizan aus dem 15. Jahrhundert. „Es dauert, es ist unfassbar. Die Macht wird nicht abgegeben oder geteilt“, sagt Geber. „Wir sind ja gar nicht so böse!“ Wahrlich nicht. Jenny Unger und Paula Bolyos – zwei Frauen Anfang 30 – schmeißen den Buchladen mit Charme und Humor. Und wenn Paula anfängt, Buchtipps zu geben, ist sie schwer zu bremsen (siehe Kasten). Für Jenny ist ChickLit ein Raum, der es ermög­licht, selbst wieder nach Büchern zu stöbern; denn das Internet stellt für sie keine Alternative dar: „Ich brauche jemanden, der eine Vorauswahl getroffen hat“, und fügt lachend hinzu: „Jetzt sucht Paula die Bücher raus, und ich lese sie dann.“ Obwohl die feministische Szene in Wien verschwindend klein ist, gibt es vergleichsweise viele feministische AutorInnen. Geber erinnert das an die „hundeschlechte“ Presselandschaft – doch in Kontrast dazu habe es immer außerge-

wöhnlich viele feministische Zeitschriften gegeben, um die sie von Freundinnen aus dem Ausland beneidet wurde. Männer sind in der Kleeblattgasse übrigens genauso willkommen: „Wir wollen natürlich, dass Männer kommen und sich weiterbilden“, sagt Paula und Geber fügt hinzu: „Außer sie reden blöd, dann fliegen sie gleich wieder raus.“ N Buchtipps: „Engel des Vergessens“ von Maja Haderlap (Bachmann-Preisträgerin 2011) – eine Familiengeschichte über die Kärntner SlowenInnen. Michelle Tea, eine queer-feministische Schreiberin aus den USA. Der autobiografische Roman „Der Boden unter meinen Füßen“ von Eva Kollisch, die 1939 als 14-Jährige nach Großbritannien flüchten musste. Katharina Tiwald, eine junge burgenländische Autorin. Von Sara Dreher stammt die sympathische lesbische Privatdetektivin Stoner MacTavish. Audre Lorde, eine feministische, schwarze, lesbische Aktivistin und Autorin aus den USA. Graphic Novels und Comics von Ulli Lust. Die Autorin hat Informationsmanagement an der FH Burgenland und Publizistik an der Uni Wien studiert.

Dreckige Gitarren Wild Flag, das sind Mary Timony, Carrie Brownstein, Rebecca Cole und Janet Weiss – die erste All-female-Supergroup der Rockgeschichte.

Jakob Falkinger

ie WildFlag Musikerinnen waren vor allem in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in verschiedenen Bands (Sleater Kinney, Helium), aktiv. Sie wirbelten den Malestream im Rockbusiness ordentlich auf. Die damalige Zeit stellt für Wild Flag immer noch einen wichtigen Bezugsrahmen dar, wie Rebecca Cole, Keyboarderin von Wild Flag im Interview mit PROGRESS bemerkt: „Wir alle profitieren von unseren individuellen Erfahrungen in unseren früheren Bands. Alle vier von uns sind der Musik leidenschaftlich verschrieben und es ist viel gegenseitiger Respekt und gegenseitige Bewunderung füreinander, sowohl als Musikerinnen als auch auf persönlicher Ebene, vorhanden.“

D

„ … the sound is what found us.“ Obwohl der selbstauf­ erlegte Anspruch, nach all den unzähligen Projekten eine „Traumband“ zu gründen, eher nach bedachter Beharr-

lichkeit klingt, veröffentlichten Wild Flag im Herbst 2011, bereits kurz, nachdem sie als Band zusammenfanden, ihren ersten Longplayer (Wild Flag) auf dem Londoner Label Wichita Records. Die Erwartungen an die junge Band waren, gemessen an der Prominenz ihrer früheren Projekte, sehr groß, weswegen der rasante Aufstieg nicht ganz so plötzlich kam, ihnen aber beachtliche Kritiken (Platz 9 der Besten Alben 2011 des Rolling Stone) bescherte. Dieses Tempo spiegelt sich auf gewisse Weise auch musikalisch wieder, wird hier doch ein ganz anderes Programm gefahren, als sich so manche, die dem 90erJahre-Sound von Helium und Sleater Kinney verfallen sind, erhofft hätten: Es wird durch die Bank gerockt – Mit allem, was dazugehört: Dreckige Gitarrensoli, wabernde Orgelsounds und hämmernde Drums. Mehr Rock und Punk als abgetragene Indie-Langeweile. Die Vocals von Carrie Brownstein und Mary Timony fallen mal rhythmisch, nahe am Sprechgesang, mal melodiös als Chorgesang aus. Energie und Dichte werden hier groß und vor allem laut geschrieben.

L’art pour l’art? Die meist sehr persönlich gehaltenen Texte nehmen oft auf das eigene musikalische Schaffen und das Spannungsverhältnis, das bei den Auftritten zwischen Band und Publikum entsteht, Bezug: „Wir wollen, dass sich die Leute im Publikum einen Moment der Freiheit, der Überraschung und der Selbstfindung an einem unerwarteten Ort erlauben“, betont Cole. Dieser sehr persönliche Zugang wird aber nicht als unumgänglich gesehen, sondern vielmehr als (politische) Konsequenz einer Offenheit, die ebensogut explizit politische Songtexte hervorbringen kann. Zur Zeit steht vor allem eines am Programm von Wild Flag: „We’re focused on making the music for the sake of making music.“ Ein Zugang wie dieser ist wohl nur vertretbar, wenn „Musik“ sehr weit gefasst wird, als etwas, das das immergleiche Rockstartum und Bandgehabe übersteigt. Das haben Wild Flag schon längst getan! N

Der Autor studiert Philosophie und Romanistik an der Uni Wien.


N Feuilleton Feuilleton n| | PPROGRESS 01/12 ROGRESS 01/09 | 33

Buch-Rezension

Two and a Half Ideas Two and a Half Men mag zwar eine der erfolgreichsten aktuellen Sitcoms sein – sie ist aber ebenso die uninspirierteste. In formaler Hinsicht erinnert die von Chuck Lorre entwickelte Serie Two and a Half Men an die typischen Familien-Sitcoms der 1990er-Jahre. Vielleicht macht für viele Mitt- und Endzwanziger gerade dieses allabendliche Wiedersehen mit dem aus der Kindheit Bekannten den Reiz der Serie aus. Dazu kommt – und das ist weniger erfreulich – der omnipräsente Sexismus. Denn die banalen bis konturlosen Figuren der Serie werden primär durch ein gemeinsames Programm zusammengehalten: Die Reduktion der weiblichen Figuren auf Funktionen als Sexobjekt, Mutter oder Hauspersonal. Von Charlie zu Walden. Der Rauswurf von Charlie Sheen stellte Chuck Lorre vor ein Problem. Die Hauptfigur musste in Abwesenheit aus der Serie hinausgeschrieben werden und durch eine bisher unerwähnte, von Ashton Kutcher verkörperte Figur ersetzt werden. Es gab eine Vielzahl von Spekulationen, wie das nun genau geschehen würde. Lorres Lösung war um einiges platter und unplausibler als so manche Fan-Fiction: Ein reicher Internet-Millionär taucht aus dem Nichts auf, kauft das Haus und hat kein Problem damit, dass die Verwandten des verstorbenen Vorbesitzers – quasi als

Ersatzfamilie – bei ihm wohnen bleiben. Denn der Millionär hat eine Schwäche: Er ist Frauen hilflos ausgeliefert und muss von einenhalb Männern vor selbigen beschützt werden. Probleme, wie das plötzliche Wegfallen von DarstellerInnen in Endlos-Serien, wurden durchaus schon kreativer und vor allem selbstreflexiver gelöst. Die Tochter bei Roseanne wurde insgesamt zwei Mal ausgewechselt und die plötzliche Veränderung ihres Aussehens von den anderen Familienmitgliedern jeweils ironisch kommentiert. In Till Death machte man daraus sogar einen Running Gag, wechselte die Tochter insgesamt vier Mal aus und besetzte sie letztlich absichtlich mit der Schauspielerin Kate Micucci, die zuvor bereits mehrere Folgen lang eine völlig andere Figur verkörpert hatte. Nerds und ihre Freundinnen. Ähnlich holzschnitt­a rtig wie Two and a Half Men funktioniert The Big Bang Theory, das bisher letzte große Sitcom-Projekt von Chuck Lorre, das ebenso sexistisch ist wie Two and a Half Men – wenn auch in einer anderen Form. Dem von der feministischen Medienkritikerin Anita Sarkeesian auf ihrem Feminist-Frequency-Blog anschaulich beschriebenen „Smurfette Principle“ folgend, bestand der Main Cast zunächst aus männlichen Nerds und einer einzigen, schlumpfinenhaften Frau. Ganz dem sexistischen Klischee entsprechend, wird sie als vergleichsweise dumm dargestellt. Diese Figurenkons­

tellation wurde in der zweiten Staffel zwar kurzzeitig um eine weitere Frau, eine Wissenschafterin, erweitert – diese Figur wurde jedoch von den Produzenten mangels Ideen wieder aufgegeben. Erst am Ende der dritten Staffel entschloss man sich, abermals andere Frauen neben Penny – wiederum zwei Wissenschafterinnen – fix in die Handlung zu integrieren. Alle drei Frauen eint, dass sie primär deshalb in die Serie eingeführt wurden, um an einem bestimmten Punkt eine Beziehung oder zumindest eine kurze Affäre mit einem der Nerds einzugehen. Teils erinnert The Big Bang Theory an die britische Nerd-Serie The IT Crowd. Auch hier haben wir es mit einem männlichen Cast und einer einzigen Frau zu tun – diese wird den beiden Nerds jedoch als Chefin vorgesetzt. Und diese Position erlangt sie auf eine Art, in der sonst eher Männer Karriere machen. Die Serie ist zwar ebenfalls nicht frei von sexistischen Klischees, setzt aber auch viele gegenläufige Akzente und hinterfragt auf satirische Weise Männlichkeitskonzepte, vom ITNerd bis zum Fußballfan. Ein einziges Mal kommt es zu einer sexuellen Begegnung zwischen Jen und einem der Nerds. Doch selbst dabei handelt es sich lediglich um einen Witz nach dem Abspann, der – wie die meis­ ten Ereignisse in der Serie – keinerlei Auswirkungen auf den weiteren Verlauf hat. Florian Wagner N fernseherkaputt.blogspot.com; feministfrequency.com

zweimal hingehört

Yasmo | Keep it realistisch (2011) KATI: Es ist das Debütalbum der 22-jährigen Yasmo aka Yasmin Hafedh, die Texte und Gedichte schreibt, Poetry Slams und Freestyle-Rapsessions organisiert. Der Wienerin ist der Poetry Slam – die geschliffene Sprache, das Feilen an den richtigen Worten, der exakte Rhythmus beim Sprechen – anzuhören und sie erinnert dabei sehr an die sympathische Nina „Fiva“ Sonnenberg. Eine „Möchtegern-Stylerin, die nicht flowt“ ist sie jedenfalls nicht, die Yasmo, eher MC und Poetin gleichzeitig. Ihr Erstling ist ein sehr straightes, mit geraden, einfachen Beats hinterlegtes Album geworden, das die gesprochene Sprache ruhig, klar und deutlich in den Vordergrund stellt. Zusätzlich bekommt das Wiener Einbaumöbel ein paar verdiente Props und die vielen Danksagungen reichen sicher auch noch für die nächsten drei Alben.

EVA: Yasmo ist Poetin, ja Dichterin, Slammerin, Spoken Word Ar-

tist … aber Rapperin? Als MC überzeugt sie nicht, das gleich vorweg. Die erste Nummer des Albums, „Ich“, ist noch am besten, ansonsten macht es harmlose Sounds und Texte nicht tiefgründiger, wenn eines Gottfried Benn zitiert, auf Marx anspielt oder im Protestsongcontestfinale stand. „Wow, jetzt wird’s ja echt ganz gut!“, denkt eins an einigen Stellen, nur um festzustellen: „Oh, das ist ja Guest Artist …“ (Miss Lead, Mieze Medusa, Bacchus, Selbstlaut). „Ich will nur Sachen in Sprache packen“, singt Yasmo in „Mehr Liebe“. Und das muss eins ihr ohne Abstriche lassen: Yasmo liebt die Sprache, spielt mit ihr, ihren Grenzen und ihrer Vielschichtigkeit. Mehr Infos über Auftritte und die von ihr veranstalteten Poetry Slams: www.yasmo.at

Sookee | Bitches Butches Dykes & Divas (2011) KATI: Die Freundin in Berlin erzählt, sie sei grade zum fünften Mal

auf einem ihrer Konzerte gewesen. Die Freundin in Wien sagt, sie träumte nachts von ihr. Kein Entkommen also vor Sookee. Auf ihrem dritten SoloAlbum erspart sie uns glücklicherweise die Spoken-Word-Anwandlungen des Vorgängers und präsentiert ein durchgängiges Hip-Hop-Album, das kräftig der Heteronormativität in die Fresse haut. Manches Mal siegt allerdings der Inhalt über den Stil, so scheint es – aber auch das ist besser als umgekehrt. Insgesamt bleibt das Gefühl, als wären Tic Tac Toe mit uns gewachsen und Linke geworden, anstatt zu heiraten, Kinder zu kriegen und peinliche Comebacks zu feiern. Ein Muss also für FeministInnen, die früher mal zu Girl-Power-Sound rumgehüpft sind. Gebt es ruhig zu! Kati Hellwagner studiert Soziologie in Wien.

EVA: Sookee hat etwas zu sagen, ihre Sounds lieferten den Sound-

track zur deutschsprachigen Slutwalk-Bewegung, gaben queeren Praxen und Überlegungen eine Stimme, ohne pädagogischen Zeigefinger oder Angst vor deutlichen Worten, sondern intensiv liebend, begehrend, wütend, verzweifelt, ermutigend, begeistert. Mit am Mic lassen sich Kobito, Pyro One, Badkat, Refpol und Captain Gips hören. Die Beats sind deutlich fetter als auf den beiden Vorgängerinnen, gestiftet von Majusbeats, Beat 2.0 und Forbiddan. Auf ihren Konzerten gibt sie auch ihre Slam Poetry Skills zum Besten, die an der Wirklichkeit geschulte, scharfsinnige Beobachtungen verdichten. Der Hype um Sookee ist die angemessene queerfeministische Antwort auf unpersönlichen Ravepunk à lá Egotronic und Co. Eva Grigori studiert Germanistik in Wien.


34 | PROGRESS 01/12 | Kommentar

Lektüre für Lila Pudel Über memmige Männer, Strickjacken und zeitungsübergreifende Geschlechterklischees: Eine Bestandsaufnahme über „Feminismus“ in deutschen Medien von an. schläge-Redakteurin Lea Susemichel.

m Feuilleton der konservativen FAZ wird erklärt, was mit „hegemonialer Männlichkeit“ gemeint ist. Braucht es da überhaupt noch feministische Medien? Feministische Fragen werden schließlich tatsächlich längst auch in etablierten Medien verhandelt. Das war in der Gründungsphase vieler Zeitschriften der Zweiten Frauenbewegung in den 1970ern noch anders (von den Organen der ersten Frauenbewegung gar nicht zu reden): Wer damals frauenpolitische Forderungen stellen und verbreiten wollte, musste fast notgedrungen etwas Eigenes gründen, anderswo kamen sie einfach nicht vor. Doch auch wenn sie heute vorkommen: Schaut man sich zum Beispiel jene Diskussion, in deren Rahmen in der FAZ über Geschlechterkonstruktion nachgedacht werden durfte, genauer an, wird sehr schnell klar, dass man dem medialen Main- und Malestream weiterhin tunlichst nicht das Feld in Sachen Feminismus überlassen sollte.

I

Das deutsche Feuilleton und der Macho. Im konkreten Fall ging es um die sogenannte „Schmerzensmänner“Debatte. Deren Anfang machte Nina Pauer mit einem Zeit-Artikel dieses Titels über identitätsirritierte junge Männer in Strickjacken, die aufgrund vielfältiger Anforderungen nicht mehr wissen, wie und wer sie sein sollen, und die deshalb eigentlich nicht mehr zu gebrauchen sind. Es folgten Repliken unter anderem in der taz, in der Süddeutschen und im Spiegel, und nur vereinzelt wird darin der naheliegende Einwand formuliert, dass ein verändertes männliches Rollenverständnis doch wohl eigentlich ein Grund zur Freude sei. Und dass die Alternative doch nicht ernsthaft sein könne, sich den Macho zurückzuwünschen. Doch der allgemeine Tenor der Diskussionsbeiträge ist ein ganz anderer: Solche Typen wollen wir nicht, ist man sich einig, der Feminismus mit seinem MännerUmerziehungsprogramm habe mal wieder übers Ziel hinausgeschossen, die jungen Frauen würden es nun ja selbst merken und wieder nach starken Schultern schreien. Dieses zeitungsübergreifende Resümee klingt vertraut, denn zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt die Presse immer wieder gerne anlässlich der seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich ausnahmsweise eingehender mit dem Geschlechterverhältnis befasst. Dass sich auch linke Medien wie die Jungle World dieser Einschätzung anschließen und im Rahmen der Debatte ganz besonders hämisch über die memmige „Metrosexualität“ dieser neuen Männer ätzen (Magnus Klaue:

„Weicher werden“), macht klar, wie dünn gesät konsequent feministische Positionen im medialen Spektrum weiterhin sind, selbst in Alternativmedien. Das Jammern über verweichlichte Männer ist dabei so alt wie die Angst vor männlichem Autoritätsund Machtverlust. Und es wird gegenwärtig auch besonders gerne von aggressiv antifeministischen Männerrechtlern betrieben, die vom neuen Mann als „Lila Pudel“ sprechen. Von „Softies“ spricht man spöttisch schon seit den 1980ern, einer Zeit, in der bereits das Tragen eines Strickpullis für dieses Label vollauf genügte. Wenn heute nun Strickjacken das zeitgemäße Erkennungsmerkmal des scheinbar in seinem Rollenverhalten tief verunsicherten Mannes sind, dann geht das leider ebenso wenig wie damals notwendigerweise mit einer gewandelten Gesinnung ihres Trägers einher. Er hat weder verlässlich Queer Theorie gelesen, noch ist er zwingend Vater in Kinderkarenz oder teilt sich die Hausarbeit fifty-fif­t y mit seiner Partnerin. Und selbst wenn er überraschenderweise all dies doch erfüllt – er stellt beileibe nicht die männliche Mehrheit.

In diesem Punkt geben uns inzwischen glücklicherweise auch viele Mainstreammedien prinzipiell Recht. Denn ungeachtet aller Kritik an medialen Debatten wie dieser jüngsten Neuauflage der alten Softie-Schelte: Im Unterschied zu den Anfängen emanzipatorischer Medienproduktion hat sich die Situation in den letzten Jahrzehnten selbstverständlich deutlich verändert. Über die Diskriminierung von Frauen berichtet heute jedes Medium zumindest dann und wann, und noch dem kleinsten Lokalblatt sind Vokabeln wie Lohnschere und gläserne Decke inzwischen durchaus geläufig. Doch dass es diese Begriffe selbst in die Politikressorts der konservativen Presse oder der Boulevardmedien geschafft haben – das ist letztlich der Erfolg eines zähen feministischen (Medien-)Aktivismus, dessen langfristiger Einfluss nicht zu unterschätzen ist. Diese Gegenöffentlichkeit beteiligt sich kontinuierlich an gesellschaftlichen Diskursen und nutzt dafür unterschiedlichste mediale Mittel: handkopierte DIY-Zines ebenso wie Fernseh- und Radiosendungen, klassische Magazine oder die, vor allem im letzten Jahrzehnt entstandenen, unzähligen Blogs und Websites.

Eine Vorliebe für Strickmode macht noch keinen Feministen. Und ein Feminist in Strickjacke macht noch keine gleichberechtigte Gesellschaft. Auf solch simple Zusammenhänge hinzuweisen, bleibt nun also nach wie vor feministischen Medien überlassen. Wie sie auch die einzigen sind, die argumentieren, dass eine grundlegende Änderung des Geschlechterverhältnisses letztlich unweigerlich mit einer Infragestellung von Identität einhergehen müsse, und memmige Männer demnach ein höchst begrüßenswertes und positives Phänomen darstellen würden. Anders als alle anderen, freuen wir uns also aufrichtig über echte neue Weicheier. Feministischer Journalismus muss zudem unermüdlich darauf hinweisen, dass zum Thema Männer weiterhin Wichtigeres festgehalten werden muss: Wie gering ihre Wandlungsbereitschaft im Privaten und wie groß ihr Beharrungsvermögen im Beruflichen ist, beispielsweise. Wie unerträglich schleppend deshalb Veränderungen passieren. Wie verbreitet Sexismus und Frauenverachtung weiterhin sind. Wie viel Männergewalt es immer noch gibt. Und wie himmelschreiend ungerecht die globale Macht- und Ressourcenverteilung ist. Die Kernaufgabe feministischer Medien besteht also weiterhin schlicht und ergreifend darin, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zu fordern. Denn es gibt sie noch nicht.

Die Notwendigkeit feministischer Medien. Und trotz widrigster Bedingungen hat sich diese feministische Medienlandschaft im Laufe der Zeit immer weiter professionalisiert und ausdifferenziert. Die Kritik, die sie formuliert, ist fundamental. Feministischer Journalismus belässt es idealerweise nicht alleine bei der Forderung nach einer Neuverteilung von Macht, Arbeit und Geld zwischen den Geschlechtern. Er stellt gesellschaftliche Grundstrukturen infrage und beschränkt sich bei der Analyse von Ungleichheit auch keineswegs auf das Geschlechterverhältnis. Was auch die Eingangsfrage erneut unmissverständlich beantwortet: Es braucht diese Medien unbedingt weiterhin. Denn im Unterschied zu einer bloß punktuellen Berichterstattung über gesellschaftspolitische „Frauenthemen“ wird Feminismus darin als ressort- und themenübergreifende Querschnittsmaterie behandelt. Das heißt, ausnahmslos alles wird immer auch aus einer feministischen Perspektive beleuchtet, egal, ob es um die Finanzkrise, die Arabischen Revolutionen, um Occupy oder Lana Del Rey geht. Denn alles ist immer auch von frauenpolitischer Relevanz. Manchmal eben sogar ein neuer Strickmoden-Trend. N Lea Susemichel ist Redakteurin der an.schläge. Das feministische Magazin und Mitherausgeberin von Feministische Medien. Öffentlichkeiten jenseits des Malestream (Helmer Verlag 2008).


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