Progress - Uni Burn out

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MAGAZIN DER ÖSTERREICHISCHEN HOCHSCHÜLERiNNENSCHAFT 06/10

P.b.b. | Erscheinungsort Wien | Verlagspostamt 1040 | GZ02Z031545 M | EUR 0,73

www.progress-magazin.at

Beklagt

Befragt

Beschallt

Besprochen

Sergej Mitrochin über Korruption in Russland

Einblicke in die geheime Mont Pelerin Society

Queere Alternativen halten Einzug in den Hip Hop

Buchrezension: „Der kommende Aufstand“

Uni Burn-Out

Wie die Bildung kaputt gespart wird

Dossier: Quo Vadis Marktwirtschaft? Jetzt folgt die Interpretation der Krise


Quermeinen Querdenken Querreden. Und zwar am besten über Hochschulpolitik. Der „Higher Education Reloaded“-Kongress geht in die zweite Runde. Von 10. bis 12. Dezember an der FH Campus Wien – Alle Infos und die Anmeldung findest du auf: www.her2010.at

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Cover n | PROGRESS 06/10 | 3

Cover

Dossier

Der Budgetentwurf von SPÖ und ÖVP erhitzt die

Die Wirtschaftskrise entfacht eine

Gemüter. Vor allem Studierende sind stark betrof-

Diskussion über verschiedene

fen von diversen Sparmaßnahmen. PROGRESS

ökonomisch-politische Konzepte.

thematisiert die aktuellen Ereignisse und blickt

Dem Neoliberalismus gehen die

hinter die Kulissen einer der schlechtesten Inszi-

Argumente aus.

nierungen 2010: Das Bildungsbudget.

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Der Protest lebt

Der ehemalige Präsident der Mont Pelerin Society

Die "Nachbesserungen" im Budget lassen zu wün-

wettert über den Staat.

schen übrig. Die Proteste gehen weiter.

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18 Sie werden keine Adresse von uns finden

21 Zurück in die keynesianische Zukunft?

Das ist blanker Zynismus

Die Hilflosigkeit staatlichen Handelns und der zer-

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Gespräch über die geplanten Sparmaßnahmen.

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platze Traum eines „guten" Kapitalismus.

22 Gutes Leben statt Wachstumswahn

Studieren schwer gemacht

Von der Wachstumskritik zur solidarischen Post-

Betroffene melden sich zu Wort.

wachstumsökonomie.

Im Klub der glücklichen Spermien Wie der Staat einer sozialen Selektion im Bil-

Feuilleton

dungswesen entgegenwirken könnte.

24 „Der kommende Aufstand" Eine Rezension des heiß diskutierten linken Mani-

ÖH 9

fests.

Welche Uni ist die Beste?

25 Zeit statt Zasta

Sind Uni-Rankings sinnvoll und inwieweit beein-

Zeittauschbörsen freuen sich über immer größere

flussen sie unsere Studienwahl?

Beliebtheit

11 Paris, eine geteilte Stadt

26 Reise zu einem alten Nachbarn Ein Essay über erstaunliche Parallelen zwischen

Ein Erasmusaufenthalt in der französischen Hauptstadt macht soziale Ungleichheit spürbar.

Kärnten und Serbien.

27 „I'm an F-A-G-E-T-T-E!“ Hip Hop in den Blick genommen.

28 Die Macht der Worte Die argentinische Autorin Luisa Valenzuela zeigt, wie sehr Sprache

14 Russland ist eine sanfte Diktatur Sergej Mitrochin spricht über Korruption und die politischen Zustände in Russland.

15 Die Angst vor dem Demos

unser Denken beeinflusst.

29 Buchrezension – Ein Versuch vom Wesen Europas Eine Reise durch Europa auf der Suche nach

Demokratie braucht informierte

Lebensstationen zahlreicher SchriftstellerInnen.

BürgerInnen. Doch wie sieht die Praxis in Österreich aus?

16 Von der UN ausgebeutet

Liebe Leserin, lieber Leser! Die Kälte ist eingebrochen. Frostig wird es ab 2011 auch für 27.000 Studierende, denen die Regierung künftig die Familienbeihilfe entzieht. Neue Mittel wird es, selbst redend, auch nicht für die Hochschulen geben. Diese Ausgabe widmet sich daher ausführlich den Folgewirkungen des kommenden Sparpakets. Den Umständen zum Trotz hoffen wir, dass Euch ein paar Tage von den Winterferien bleiben, in denen ihr nicht für eine Prüfung lernen oder eine Seminararbeit schreiben müsst. Während die RegierungsvertreterInnen sich mit Sekt und Punsch zu Opernklängen die Ferienzeit versüßen, kommen wir Studierende nicht umhin, in der freien Zeit zu arbeiten. Das Cover (S.4–8) widmet sich diesmal ausführlich den tiefen Kerben, die das Sparbudget in das Leben vieler Studierender schlägt. Im Politikteil werden sowohl die beschränkten Zugänge zu Information in der österreichischen Demokratie (S.15) als auch die unbezahlten Praktika bei der UN kritisch hinterfragt (S.16).

Immer häufiger werden queere Alternativen im

12 Service, das hilft

Politik

Editorial

30 Warum wir Medien brauchen Uwe Kaufmann zufolge wären die Menschen ohne

Praktika bei der Weltorganisation sind in der Regel

Das Dossier (ab S. 17) wirft die Frage auf, welche wirtschaftspolitischen Konzepte durch die Finanz- und Wirtschaftskrisen an Deutungsmacht gewonnen oder verloren haben. Das Feuilleton ist gespickt mit Geschichten über Zeittauschbörsen (S.25), eine Reise in die Vojvodina (S.26) und queerem Hip Hop (S.27). Der Gastkommentar ist ein Auszug einer Rede von Uwe Kammann, in welcher er die Bedeutung der Medien erörtert. Trotz der turbulenten Zeit wünschen wir Euch möglichst erholsame Ferien und einen guten Jahresbeginn 2011!

Medien nur passive ZuschauerInnen.

unbezahlt und schwer zu bekommen.

31 Neues aus Europa Kurzmeldungen aus dem studentischen EU-Raum.

Eure Progress -Redaktion

impressum PROGRESS – Magazin der Österreichischen HochschülerInnenschaft, Ausgabe 6/2010, Erscheinungsmonat: Dezember

Layout: T. Jenni, J. Kolda

Medieninhaberin: Österreichische Hochschüler­Innenschaft, Taubstummengasse 7-9, 1040 Wien

Cover-Illustrationen: S. Mikel, Dossier-Fotos: D. Novotny, Ressortcover-Fotos: J. Kolda, N. Oberleitner

HerausgeberInnen: Sigrid Maurer, Thomas Wallerberger, Benedikt Rust

Inserate: Öffentlichkeitsreferat, presse@oeh.ac.at

ChefInnenredaktion: Georg Sattelberger, Ann-Kathrin Slupek, Wolfgang Zwander

Artikelvorschläge können per E-Mail oder in den Redaktionssitzungen eingebracht werden. Kontakt siehe unten.

RedakteurInnen dieser Ausgabe: K. Almasy, M. Burtscher, V. Ehrnberger, L. Eichberger, A. Ellmer, A. Fanta, C. Girardi, S. Hayden, N. Hofmüller, U. Kammann, M. Kiesenhofer, E. Maltschnig, A.J. Passadakis, N. Reichart, A. Rossmeissl, M. Schmelzer, J. Schmid, N. Strobl, A. Tiefenthaler, M. Wein. Lektorat: A. Palienko, A. Sawerthal

Gratis-Abo anfordern! www.progress-magazin.at Telefon: 01/310 88 80–61

E-Mail: progress@oeh.ac.at

Auflage: 120.000 Stück

Druck: Leykam, Neudörfl

Web: www.progress-magazin.at


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Der Protest lebt Das Armutsbudget der Regierung bedroht die Existenz vieler Studierender. Der Protest dagegen ist kämpferisch.

Georg Sattelberger

amit haben sie nicht gerechnet. Noch am Tag zuvor verkündeten sie in entspannter Übereinkunft ihre Einigung über das neue Budget. Tags darauf sollte der Bevölkerung der Weg in die budgetäre Zukunft gewiesen werden. Dann kam es doch anders. Am 24. Oktober hatten Vertreter von SPÖ und ÖVP eigentlich vor, den Entwurf zum kommenden Armutspaket im Haas-Haus vor laufenden ORF-Kameras zu zelebrieren. Nicht gerechnet haben sie allerdings mit den rund 2000 Studierenden, die bei strömenden Regen ein paar Stockwerke tiefer, auf dem Stephansplatz, ihrem Zorn Ausdruck verliehen. Sichtlich um Beherrschung bemüht versuchten die Frontmänner der Regierung ihre Pläne als Erfolg für Österreich zu vermarkten. Wer die Diskussion live mitverfolgte, merkte schnell, wie der lärmende Protest von der Straße die DiskutantInnen ins Wanken brachte. Zeitweise schienen ihre Argumente im Groll der Studierenden unterzugehen. Oben sozialpartnerInnenschaftlicher Konsens in österreichischer Tradition. Unten auf der Straße die Betroffenen, die nicht gefragt wurden. Ein Sinnbild für die Politkultur in Österreich.

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Armutszeugnis. Das Armutsbudget, gegen das nicht einmal 24 Stunden nach der Verkündung in Loipersdorf bereits heftig angekämpft wurde, schlägt tiefe Kerben in das Leben vieler Studierender. Noch im vergangen Jahr waren zentrale Forderungen der Audimax-Besetzung eine bessere finanzielle Absicherung der Studierenden sowie eine angemessene finanzielle Ausstattung der Hochschulen. Jetzt muss gegen herbe Einschnitte gekämpft werden. Die Bezugsdauer der Familien-

beihilfe wird ab dem ersten Juli 2011 von 26 auf 24 Jahre herabgesetzt. 27.000 Studierende verlieren damit 2.700 Euro jährlich. Anders gesagt: Ab nächstem Jahr werden 27.000 neue Studijobs gebraucht. Viele, die auch jetzt schon gerade mal über die Runden kamen, werden sich nun ernsthaft mit der Frage eines Studienabbruchs beschäftigen müssen. Die Hochschulen und damit jene, die in ihnen forschen, lehren und lernen, werden missachtet. Schlimmer noch: als politischer Pokereinsatz missbraucht. Dies ist nun einmal mehr deutlich geworden. Der heftige Protest, nicht nur von Studierenden, bewegte die Regierung nun aber zumindest zu einer Medieninszenierung. Zur Beschwichtigung des Protests wurden am 27. November so genannte Nachbesserungen verkündet. Wesentliches wurde aber nicht geändert. Im Gegenteil, über weite Strecken verbergen sich hinter dieser Ankündigung eklatante Mogelpackungen. Eine dieser „Nachbesserungen“ sieht etwa vor, dass Studierende mit Kindern oder jene, die Präsenzdienst geleistet haben, auf Grund des verspäteten Studieneintritts die Familienbeihilfe ein Jahr länger beziehen können sollen. Nichts Neues, bereits zuvor war dies gesetzlich gesichert. An den drastischen Einschnitten hat sich jedenfalls gar nichts geändert. So auch bei der Förderung der studentischen Selbstversicherung. Wer bisher nicht die Möglichkeit hatte, sich bei den Eltern mitzuversichern, der/die konnte für gut 300 Euro im Jahr eine, vom Staat geförderte, Krankenversicherung abschließen. Diese Förderung soll nun ersatzlos gestrichen werden. Künftige Kosten für die Betroffenen: 600 Euro jährlich. In den Radius des finanziellen Kahlschlags gelangen auch die Studierendenheime. Für viele Studierende stellten diese bisher eine leistbare Alternative dar. In Zukunft werden Neuerrichtungen aber nicht mehr

vom Wissenschaftsministerium gefördert. Dieses übernahm bisher rund ein Drittel der Gesamtkosten. Dass die Mietpreise in den Studiheimen folglich steigen werden, wird erwartet. Schließlich hat die Regierung auch Pläne für all jene, die vorhaben ein Studium ab dem Wintersemester 2011 zu beginnen: Zusätzliche Zugangsbeschränkungen. Wie diese konkret aussehen werden, ist bisher noch nicht geklärt. Manöver. Die Strategie der Regierung ist nicht ganz ungeschickt. Auf der einen Seite schmücken sich die Verantwortlichen der Koalition mit schönklingenden wie holen Phrasen über die profunde Bedeutung von Bildung. Anderseits wird an den Zusammenhalt appelliert, wenn gespart werden soll. Zusammenhalt ist hier selbstverständlich ein trügerisches Wort. Es wird nicht etwa bei jenen Vermögenden gespart, die auch bisher kaum einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten, oder höhere Beiträge von diesen verlangt. Nein. Zur „Verantwortung“ gezogen werden jene, deren soziale und ökonomische Position ohnehin am prekärsten ist. Widerstand wird es von Seiten der Studierenden und der Zivilgesellschaft gegen diese Ungerechtigkeiten auch weiterhin geben. Am 27. November haben wieder mehrere Tausend Menschen gegen das Armutspaket demonstriert. Aufgerufen hatte eine Allianz von 113 Organisationen (www.zukunftsbudget.at). Die ÖH-Bundesvertretung plant, vor den Verfassungsgerichtshof zu ziehen, sollte das Budget in seiner jetzigen Form beschlossen werden. Einstweilen geht der Protest der Studierenden weiter, er ist lebendig und kämpferisch. N Der Autor studiert internationale Entwicklung in Wien.


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Das ist blanker Zynismus Der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Gespräch über verblüffende Einsparungen im Budget, die Strategie der Regierung und die Erfolgsaussichten von StudierendenProtesten. PROGRESS: Herr Liessmann, was bedeuten die Budgetkürzungen für die Wissenschaft in Österreich? Liessmann: Die Diskrepanz zwischen dem, was ständig lauthals proklamiert wird – „Wissensgesellschaft, Forschung und Bildung sind unsere Zukunft, et cetera“ – und der Realität wird immer größer. Nehmen wir das Beispiel Bachelor-Abschluss: Auf der einen Seite wird er von der Regierung nicht als akademischer Abschluss gewertet, gleichzeitig sagt man bei der Beihilfenkürzung: „Aber die Studierenden sind eh nach drei Jahren fertig, was brauchen sie danach noch weiter Unterstützung?“ Das ist blanker Zynismus. Auch die Schließung der außeruniversitären Forschungseinrichtungen hat uns international geschadet. Wenn man die Berichte der deutschen Feuilletons dazu gelesen hat, sieht man, wie peinlich das eigentlich ist. Das wiegt das bisschen Geld, das hier eingespart werden kann, wirklich nicht auf.

Wo im Budget hätten Sie gespart? Nur weil die dafür Verantwortlichen inkonsistente Dinge machen, muss nicht jeder interessierte Bürger bessere Rezepte vorlegen. Da bräuchten

wir keine "politischen Eliten", wenn das jeder nachdenkende Mensch auch machen könnte. Aber manchmal hat man den Eindruck, dass es sich genau so verhält. In diesem Budget hat man weder größere Strukturreformen ins Auge gefasst, noch eine Neuorientierung des Steuersystems in Angriff genommen. Ein richtiger Schritt und wichtiges Signal wäre gewesen, die Besteuerung von Arbeit zu senken und die von Vermögen zu erhöhen. Passiert ist nichts. Was ist von dieser Regierung noch zu erwarten? Ich glaube nicht, dass wir von dieser Regierung noch irgendwelche strategischen Entscheidungen erwarten können. Man wird halt auf dieser Ebene weitertun, wird da und dort auch bei den nächsten Budgets Einschnitte vornehmen, und dann mit den Betroffenen reden. Das ist ja auch so eine seltsame Strategie – man verkündet zuerst ein Spar-Budget ohne vorher mit den Betroffenen zu diskutieren, und lädt sie nachher, wenn ohnehin schon alles entschieden ist, zu Gesprächen ein. Kollegen, die in außeruniversitären Forschungseinrichtungen arbeiten, ha-

ben zuerst den Brief bekommen, dass die Basisförderung gestrichen wird, und dann wurden sie zu Gesprächen gebeten. Das ist kommunikationstechnisch ein ganz schlechter Stil. Ich möcht' wirklich wissen, was eigentlich diese hochbezahlten und vollkommen überbewerteten Kommunikationsberater machen, die ja überall herumschwirren, und wohl auch unsere Regierung beraten? Da sehe ich wirklich Sparpotential, auf die könnte man leicht verzichten. Die Studierenden versuchen jetzt vehement, sich gegen das Sparpaket zu wehren. Meinen Sie, das macht Sinn? Das Einzige, bei dem die Regierung Intelligenz zeigt, ist, dass sie dort spart, wo keine großen Widerstände erwartet werden. Die Regierung hält den Bildungssektor für gesellschaftlich unwichtig, sowohl der Sache nach als auch in Hinblick auf mögliche Protestaktionen. So gesehen muss man nüchtern sein. Chancen sehe ich nur, wenn es hier zu einer breiten Koordination von Protestmaßnahmen zwischen Universitäten, Rektoren, Studierenden, außeruniversitären Forschungseinrichtungen, Schulen und Lehrern kommt. Aber

man merkt, wie schwer das ist. Kaum werden die außeruniversitären Forschungseinrichtungen zugesperrt, finden sich schon Rektoren, die das ganz toll finden, weil sie glauben, ein paar Hunderttausend von diesen eingesparten Euros werden auf ihre Universität abfallen. Mit diesem Prinzip des Sich-spalten-Lassens kann die Regierung natürlich rechnen, und wahrscheinlich werden auch Rektoren und Studenten auf keine gemeinsame Basis kommen. Dann werden die Protestaktionen in Einzelaktion verpuffen, und das hält die Regierung schon aus. Waren Sie von den Sparmaßnahmen im Bildungssektor eigentlich überrascht? Nein, eigentlich nicht. Budgets über Einsparungen bei Bildung und Sozialem zu sanieren, liegt ja europaweit im Trend. Überrascht war man vielleicht über Details. Auf bestimmte Ideen, wie die Familienbeihilfe zu kürzen und gleichzeitig die Studienbedingungen zu verschlechtern oder außeruniversitäre Forschungsinstitute zu schließen, muss man erst kommen, das war zum Teil echt verblüffend. Das Interview führte Eva Maltschnig.


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Studieren schwer gemacht 27.000 Studierenden werden ab 1. Juli 2011 jährlich rund 2.700 Euro im Geldbörsl fehlen. Grund dafür ist das Sparpaket der Regierung. Studierende melden sich im Progress zu Wort und beschreiben ihre Lage. Umstände die viele Studierende teilen.

Florian Bergmaier, 24, Master Bauingenieurswesen in Wien

Da ich eine HTL besucht und Zivildienst geleistet habe hat sich mein Studienbeginn um einiges verzögert. Studienbeihilfe wird mir aufgrund des Einkommens meiner Eltern nicht gewährt. Mein Vater, unterstützt das Studium aber nicht also musste ich ein Zivilrechtsverfahren gegen ihn einleiten. Dieses dauert bereits zwei Jahre an. Meine Mutter unterstützt mich nach ihren Kräften, wo sie nur kann. Ein Hochschulstudium zu bestreiten ohne die existenzsichernde Familienbeihilfe ist selbst mit Nebenjobs schwer bis unmöglich. Ich lebe derzeit von ca. 200 Euro Familienbeihilfe, dem Geld, welches mir meine Mutter und andere Verwandte geben sowie den Nebenjobs die ich manchmal annehmen kann. Ich habe Studiengebühren zu zahlen, bekomme keinen Studienzuschuss und keine Studienbeihilfe obwohl ich meinen Bachelor innerhalb der Mindeststudienzeit erreicht habe. Ich frage mich in welche Richtung diese Regierung möchte? Vom „Bummelstudieren“ kann bei mir jedenfalls keine Rede sein.

Felicitas Metz, 24, Ernährungswissenschaften in Wien

Meine finanzielle Situation war seit meinem Studienbeginn immer sehr knapp. Mein Vater, bei dem ich lebe verdient zu viel, weswegen ich keine Studienbeihilfe beziehen darf. Dabei wird nicht bedacht, dass er, aufgrund finanzieller Probleme, die nicht selbstverschuldet waren, einen hohen Kredit zurückzahlen muss. Mich kann er daher finanziell nicht unterstützen. Meine Mutter überweist mir geringfügig Alimente. Zusammen mit meinen Nebenjobs beträgt mein Monatsbudget nie mehr als 700 Euro. Von diesem Geld muss ich alles bestreiten, vom Lebensunterhalt bis zu den Ausgaben für die Uni. So komme ich gerade über die Runden. Eine Studienzeitverzögerung ergab sich für mich durch allseits bekannte Probleme, etwa mangelnde Prüfungs- oder Laborplätzen, Vorlesungen die nur einmal im Jahr gehalten werden. Durch mein Engagement in der Studierendenvertretung hätte ich trotz Überziehung der Mindeststudienzeit die Familienbeihilfe weiter beziehen können. Geld mit dem ich gerechnet hatte wurde mir nun gestrichen.

Angela Libal, 24, Kunstgeschichte in Uni Wien Oliver Zeindl, 27, Integriertes Sicherheitsmanagement in Wien

Studiengebühren von 416,86 Euro pro Semester, an der FH, muss man sich erst einmal leisten können. Zusätzliche Kosten entstehen für mich beim Ausdrucken von Unterlagen, für Bücher oder bei Projektearbeiten durch Materialoder Fahrtkosten. Hinzu kommen dann noch Gebühren für unterschiedliche Zertifizierungen, diese machen bis zu 650 Euro pro Jahr aus. Das pendeln kostet im Monat dann nochmal rund 164 Euro. Lebenserhaltungskosten sind da noch nicht eingerechnet. Da ich 27 bin werden mir Familien- und andere Beihilfen nicht gewährt. Zudem entfällt für mich auch eine Reihe von Vergünstigungen, etwa bei den öffentlichen Verkehrsmitteln. Zwar arbeite ich begleitend zu meinem Studium, das Einkommen daraus ist aber gering. Ohne vorherige ersparte Rücklagen und einer Reduktion des Lebensstils sowie dem Verzicht auf viele Annehmlichkeiten, wäre das Studieren für mich nicht möglich.

Ich habe mein Studium bereits ein Jahr, krankheitsbedingt, unterbrechen müssen. Der Regierung scheint das egal zu sein. Durch die Abschaffung des AlleinverdienerInnenabsetzbetrags verliert meine Mutter mehrere Tausend Euro im Jahr, weswegen sie mich in Zukunft noch weniger unterstützen kann. Mein Vater hat am Bezirksgereicht die Einstellung seiner Alimentationspflicht beantragt. Obwohl ich bereits Wohnbeihilfe bezogen habe wurde sie mir wieder gestrichen wegen angeblichen „Reichtums“ in der Familie. Die Studienbeihilfenanträge wurden mir mehrmals abgelehnt, die Schulden meiner Mutter werden hier natürlich nicht miteinberechnet. Neben dem Studium jobbe ich als Kellnerin 40 Stunden im Monat. Zu den Kosten für meine Studienunterlagen und meinen Lebensunterhalt kommen außerdem noch monatlich bis zu 300 Euro für medizinische Ausgaben dazu. Dass das nicht einfach ist liegt auf der Hand. Durch die Pläne der Regierung habe ich nun noch mehr Steine aus dem Weg zu räumen.


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Im Klub der glücklichen Spermien Soziale Selektion im Bildungswesen ist unerwünscht. Trotzdem drängen die Kürzungen bei Familienleistungen und Zugangsbeschränkungen vor allem sozial Schwache in die Defensive. Dabei könnte der Staat auch ausgleichend wirken.

Eva Maltschnig

it diesem Budget hat die Regierung eine klare Ansage gemacht: Bitte nicht studieren! Und wenn's schon sein muss, dann auf keinen Fall länger als drei Jahre! Die Verkürzung der Bezugsdauer der Familienbeihilfe und die Einführung von Zugangsbeschränkungen in so genannten „Massenfächern“ sollen das garantieren. Jemand braucht länger als bis 24? BummelstudentIn! Selbst schuld! Jemand fällt durch die Aufnahmeprüfung? Tut mir leid, einfach nicht gut genug, Chancen habe alle die gleichen! Mit diesen Argumenten rechtfertigt die Regierung ihr Sparprogramm an den Hochschulen, verkennt dabei aber die Auswirkungen der gewählten Maßnahmen. Die finanzielle Situation von vielen Studierenden ist bereits jetzt prekär. Aufgrund des Zeitdrucks, den dichte Bachelor-Studienpläne gemeinsam mit dem obligatorischen Studi-Job aufbauen, wird der psychische Druck immer größer. Vor allem bei jenen, deren Eltern nicht regelmäßig das Konto befüllen. Dabei sind Kinder von AkademikerInnen an den Hochschulen ohnehin schon überrepräsentiert. Besonders schlecht sozial durchmischt sind die Studienrichtungen Rechtswissenschaften und Medizin. Letzteres ist neben einem Eliten-Studium auch ein Männer-Studium: Beim EMS-Aufnahmetest scheitern Frauen deutlich häufiger als Männer, von 55 Prozent Bewerberinnen bleiben 43 Prozent Studentinnen übrig.

M

Ungleichheit. Die soziale Ungleichheit an den Hochschulen ist nur ein Ausdruck der ungerechten Güter- und Kapitalverteilung in unserer Gesellschaft. War noch in den 1980er Jahren vom Ende der Klassengesellschaft und von der Auflösung der Schichten die Rede, hält diese These der Realität nicht stand. Im Gegenteil: Die ökonomische Ungleichheit hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Eine der raren Studien zur Vermögensverteilung in Österreich belegt dies: Das oberste Prozent der Reichen besitzt zehn Prozent des Geldvermögens, fünfzehn Prozent der Immobilien und 91

Prozent des unternehmensbezogenen österreichischen Vermögens. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Vermögen des obersten Prozents ist fast hundert Mal höher als das von 90 Prozent der Bevölkerung. Gleichzeitig sind die Gesamtvermögen zwischen 1997 und 2002 um rund 70 Milliarden Euro gewachsen. Auch die ungleiche Verteilung von Bildung und Bildungsabschlüssen ist frappant: Während Kinder mit nicht-deutscher Erstsprache 14 Prozent der AHS-UnterstufenschülerInnen ausmachen, bilden sie 28 Prozent der SonderschülerInnen. Kinder von Eltern mit akademischen Abschluss besuchen zu 77 Prozent Gymnasien und zu 23 Prozent Haupt- und Sonderschulen. Kinder von Eltern mit Lehrabschluss besuchen zu 19 Prozent Gymnasien und zu 81 Prozent Hauptund Sonderschulen. Während mehr als die Hälfte der UniversitätsabsolventInnen Frauen sind, sinkt dieser Anteil beim wissenschaftlichen und künstlerischen Personal auf 32 Prozent, um bei 17,7 Prozent Professorinnen zu stagnieren – Männer verfügten bislang über doppelt so gute Chancen als Frauen, zu habilitieren und eine Professur zu bekommen. Außerhalb der Hochschulen zeigt sich kein anderes Bild: Der deutsche Elitenforscher Michael Hartmann stellt bei der Besetzung von Topmanagement-Posten Ungleichheit fest: Beim Weg in die Vorstände der Großkonzerne seien die Söhne des gehobenen Bürgertums doppelt, die des Großbürgertums sogar mehr als dreimal so erfolgreich wie die aus der breiten Bevölkerung. Verschiedene Bausteine sozialer Ungleichheit wie Geld, Geschlecht und Herkunft haben also bis heute deutlich höheren Einfluss auf Bildungsund Erwerbsbiografien als individuelle Leistung. Inwieweit soll der Staat das aber ausgleichen? Das gängige Argument der Konservativen lautet dabei: Manche hätten eben Talent, Fleiß und Tatendrang. Und wer reiche Eltern habe, der oder die könne doch auch nicht dafür bestraft werden. Mit ein wenig Willenskraft könnten alle Hürden in Richtung oben überwunden werden.

den Sozialwissenschaften als „funktionalistische Schichttheorie“. Soziale Ungleichheit ist hier eine logische Konsequenz von arbeitsteiligen, funktional differenzierten Gesellschaften: Bestimmte soziale Positionen seien wichtiger als andere, daher müsse ein Anreizsystem (Gehälter, Ansehen, Macht et cetera) installiert werden, um einen fairen Wettbewerb um die Positionen zu gewährleisten. Konsequenz sei zwar eine ungleiche Gesellschaft, diese führe aber zum größtmöglichen Wohlstand für alle. Das Ziel müsse daher Chancengleichheit und nicht Ergebnisgleichheit sein. Dem stehen Theorien gegenüber, die das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Gruppen betonen: Nur wenn es ein Unten gebe, gebe es auch ein Oben – Herrschaftsverhältnisse, die zu einem großen Teil in ökonomischer Macht begründet liegen würden, bestimmten die Gesellschaftsstrukturen. Welches Maß an Ungleichheit ungerecht ist und wie es ausgeglichen wird, ist somit eine höchst politische Frage.

Ausgleich? Ungleichheit ist ein sozialer Prozess – hartnäckig, aber nicht in Stein gemeißelt. Eine Politik, die sich um mehr Gleichheit bemüht, steht ein großes Instrumentarium zur Verfügung: Erfolg versprechen vor allem Maßnahmen, die sich nicht Chancengleichheit, sondern Ergebnisgleichheit zum Ziel setzen. Um die ungleiche Verteilung von Bildung auszugleichen, müssten zuallererst die strukturellen Unterschiede im Bildungssystem eingeebnet werden. Allen voran müssten Sonderschulen, die Trennung zwischen Hauptschule und Gymnasium sowie Privatschulen und -unis abgeschafft werden, da sie Katalysatoren der Ungleichheit sind. Verpflichtende ganztägige Betreuung würde die ungleichen Familiensituationen ausgleichen, die durch (fehlende) elterliche Unterstützung bei den Hausübungen oder Verfügbarkeit von NachhilfelehrerInnen Vor- und Nachteile schaffen. Die Forderung nach „Wahlfreiheit“ der Nachmittagsgestaltung muss in diesem Kontext als Versuch gewertet werden, die Überlegenheit der Bessergestellten zu sichern – die Wahlfreiheit, sein Kind Ungerecht? Die gerade beschriebene konservati- in die Privatschule zu schicken oder das Kinderve Vorstellung von sozialem Aufstieg firmiert in mädchen am Nachmittag zum Mathe-Lernen zu


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verpflichten, existiert für sozial Schwache nicht. Auch der freie und offene Zugang zu Bildung sowie eine soziale Absicherung der SchülerInnen und StudentInnen, die selbstbestimmte Bildungswegentscheidungen ermöglicht, können Ungleichheit verringern. Wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Verringerung von Ungleichheit liegen auf der Hand – die Besteuerung von Vermögen, Vermögenszuwachs und ein wirklich progressives Steuersystem wären in Österreich dringend nötig. So tragen momentan die niedrigen Einkommen durch die Mehrwertsteuer verhältnismäßig viel zu den öffentlichen Einnahmen bei, den Großteil der Einkommenssteuer zahlt die so genannte Mittelschicht, während Vermögende durch extreme Steuerbegünstigungen und die Deckelung der Sozialversicherungsbeträge im Vorteil sind. Die Wiedereinführung der Erbschafts- und Schenkungssteuer wäre auch aus liberaler Perspektive gerechtfertigt, denn zum „Klub der glücklichen Spermien“ zu gehören ist keine Leistung, wie es der amerikanische Finanz-Tycoon und Erbschaftssteuer-Befürworter Warren Buffet ausdrückt. Die heißeste Debatte zum sozialen Ausgleich findet naturgemäß in der Sozialpolitik statt. Die dabei vorgetragenen Argumente hängen eng mit den Vorstellungen von sozialer Ungleichheit zusammen. Für AnhängerInnen der funktionalistischen Schichttheorie reichen gleiche Chancen, höchstens die ärgsten Härtefälle sollen mittels Almosen ausgeglichen werden. Andere meinen: Wer krank ist, soll behandelt werden, wer alt ist, soll

Pension beziehen und gepflegt werden, wer arbeitet, soll Recht auf einen Mindestlohn haben, wer nichts hat, soll etwas bekommen. Bedingungslos, denn die (finanzielle) Ausstattung, um menschenwürdig leben zu können, steht als soziales Grundrecht jeder Person zu. Die Familienbeihilfe ist ein Beispiel dafür: Unabhängig vom eigenen Gehalt steht Familien hier Geld zur Verfügung. Reiche benötigen diesen Zuschuss vielleicht weniger, doch die Streichung betrifft arme Familien deutlich überproportional, da die Unterstützungsleistung einen größeren Teil des Einkommens ausmacht. Prekarisierung. Die Auswirkungen der Familienbeihilfen-Kürzung und der angedachten Zugangsbeschränkungen bei „Massenfächern“ sind deutlich vorherzusehen. Die Ungleichheit an den Hochschulen wird steigen, da nur jene, deren Eltern es sich leisten können, die Ausfälle kompensieren werden. Schon jetzt ist das Überleben mit dem Höchststipendium von 679 Euro nicht immer leicht. Nur 18 Prozent der Studierenden beziehen Studienbeihilfe, davon erhalten zwei Prozent den Höchstbetrag. Der Rest konnte bislang bei Einhaltung der Mindeststudiendauer bis 26 zumindest auf die Familienbeihilfe zählen. Nun fällt dieser Betrag für über-24-Jährige weg, dazu wird voraussichtlich der Zuschuss zur studentischen Selbstversicherung gestrichen – wer nicht mehr bei den Eltern mitversichert sein kann, zahlt künftig rund 50 Euro monatlich für die Krankenversicherung.

Der Druck, prekäre und schlecht bezahlte Jobs anzunehmen, steigt. Nur wer zahlungsfreudige Eltern im Rücken hat, bleibt davon verschont. Für alle anderen steigt die Wahrscheinlichkeit eines Studienabbruchs, oder aber es wird gar keine tertiäre Ausbildung mehr begonnen. Somit werden Jobs, die akademische Ausbildung verlangen, für sozial Schwache wieder unerreichbarer. Die Selektion an Hochschulen setzt sich in der Gesellschaft fort. Die geplanten Zugangsbeschränkungen werden diesen Trend verstärken, so zeigen nationale (etwa der Medizin-Aufnahmetest EMS) und internationale (zum Beispiel grandes écoles in Frankreich) Beispiele, dass Zugangsbeschränkungen sozial selektieren. Die akademische Elitenbildung, die qua Elternhaus, Herkunft und Geschlecht schon jetzt im Bildungssystem verankert ist, wird nun von staatlicher Seite beschleunigt. Natürlich ist die Familienbeihilfe in ihrer bis dato gewesenen Form kein taugliches Instrument, um selbstbestimmte Bildungsentscheidungen zu ermöglichen. Die Unterstützung allen SchülerInnen und Studierenden direkt zukommen zu lassen und sie auf akzeptable Höhe zu bringen, um Unabhängigkeit und soziale Sicherheit zu gewährleisten, hätte allerdings zu deutlichem sozialen Ausgleich führen können. Wer aber schlicht sagt: „Für diese Reformen haben wir kein Geld“ vergisst, dass Budgets keine Naturgewalten sind, sondern das Ergebnis von politischen Entscheidungen. N Die Autorin studiert Sozioökonomie in Wien.


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ÖH

Kämpfen – Diskutieren – Mobilisieren Kommentar der ÖH-Bundesvertretung in heißer Herbst wurde prophezeit, ein heißer Herbst ist es gewor- eigenen Budgets hat. Sie haben es nicht mal der Mühe wert befunden sich den. Doch niemand ahnte, wie drastisch die Auswirkungen des über die Situation der Studierenden in Österreich zu informieren. Um geSparbudgets tatsächlich sein würden, bis in Loipersdorf die Kürzung der nau diese Situation zu verdeutlichen haben wir 27.000 Handabdrücke auf Familienbeihilfe bekannt gegeben wurde. Seither heißt es kämpfen, dis- 500 Metern Stoff ums Parlament gewickelt, genau so viele Studierende wäkutieren, mobilisieren – eben alle Mittel ausschöpfen, die wir haben. ren sofort von der Kürzung mit 2.700 Euro jährlich betroffen! Was die Regierung vorDie ÖH wird momentan überrannt, von Studierenden, die aus lauter hat, wird sich zeigen. Bei Verzweiflung nicht mehr wissen, wie es weiter gehen soll. Doch es geht weiden Gesprächen am so ge- ter, nach der großen Demonstration der Plattform Zukunftsbudget, an der nannten Hochschulgipfel sich über 100 Organisationen beteiligen, folgen jetzt Mahnwachen. Ab somit Bundeskanzler und Fi- fort werden wir die Regierung jeden Dienstag bis zu den Winterferien zwinanzminister wurde uns schen 16 und 19 Uhr daran erinnern, dass ihre Sparmaßnahmen nicht nur aber mehr als verdeutlicht, sozial ungerecht sind, sondern auch Menschen einen fixen Bestandteil ihrer dass die derzeitige Regie- Lebensgrundlage rauben. rung keine Ahnung von Gemeinsam können wir etwas bewegen. In diesem Sinne: Frohe Proden Auswirkungen ihres teste. N

E

Sigrid Maurer, Thomas Wallerberger, Mirijam Müller

Kurzmeldungen

Plattform Zukunftsbudget Gemeinsam mit über 40 anderen Organisationen hat die ÖH-Bundesvertretung die Plattform Zukunftsbudget gegründet, die sich gegen die massiven Kürzungen im Bildungs-, Sozial- und Pflegebereich ausspricht. Du kannst dieses Vorhaben unterstützen und ein Zeichen setzen, indem Du zum Beispiel Fan der Homepage auf Facebook wirst oder die Petition auf der Homepage unterschreibst. Außerdem bietet Dir die Plattform Raum und Möglichkeiten des Austauschs deiner Gedanken zum Budget-Entwurf 2011.

Studieren im Ausland Mit dieser Broschüre kannst Du Dir einen Überblick darüber verschaffen, welche Möglichkeiten es gibt, im Ausland zu studieren, zu forschen oder auch ein Praktikum zu absolvieren. Auf folgende und noch viele weitere Fragen findest du informative Antworten: Welche Austauschprogramme gibt es? Worauf muss ich achten, um genügend finanzielle Mittel aufzutreiben? Wie komme ich zu meinem Auslandsstudium, wenn kein Programm in Frage kommt? Die Broschüre kannst Du auf der Homepage der ÖH-Bundesvertretung kostenlos entweder downloaden oder bestellen.

Auswirkungen der Sparmaßnahmen Die Regierung plant mit dem Budgetentwurf von Loipersdorf ab dem 1. Juli 2011 eine Senkung des Bezugsalters für die Familienbeihilfe von 26 auf 24 Jahre. Die Details zu den Auswirkungen der Kürzung der Familienbeihilfe wurden nun als PDF zusammengestellt. Für alle, die einen genauen Überblick hierzu haben wollen, steht das Dokument online bereit. Wenn Du selbst von den Kürzungen betroffen bist, steht Dir die ÖH wie immer zur Seite: Die Sozialberatung ist Dienstags von 10 - 13 Uhr, Mittwochs von 16 - 19 Uhr, sowie Donnerstags von 14 - 16 Uhr für Dich da.

http://zukunftsbudget.at/plattform/

www.oeh.ac.at

Link zum PDF unter: www.oeh.ac.at/studieren


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Welche Uni ist die beste? Hochschul-Rankings finden immer wieder ihren Weg in die Schlagzeilen: Österreich schneidet darin nie besonders gut ab. Doch beeinflussen Rankings tatsächlich bei der Studienwahl?

Michaela Wein

itte November wurde das Shanghai-Universitäts-Ranking veröffentlicht: Einmal mehr werden darin amerikanische Hochschulen wie Harvard und Stanford zu den besten Unis der Welt gekürt; europäische Hochschulen sind kaum unter den Spitzenplätzen zu finden. Die Universität Wien liegt zwischen Platz 151 und 200, weit entfernt von den Top-Unis der Welt. Der Umstand, dass die heimischen Hochschulen derart abgeschlagen sind, bietet jede Menge Stoff für Schlagzeilen samt Kritik am vorherrschenden Bildungssystem. Doch sind derartige Rankings für heimische Studierende überhaupt relevant? Beeinflussen sie die Studienwahl tatsächlich in einem derartigen Ausmaß?

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Rankings sind relativ. „Nicht in erster Linie“, meint Richard (26), der an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert hat und seinen PhD am Institut für Höhere Studien macht. „Für mich sind Rankings eine Orientierungshilfe. Die Kriterien der

Rankings sind manchmal fraglich.“ Eine Meinung, die auch Theresa Oberauer teilt: Sie hat für das Buch Bologna – What’s next? einen Beitrag zum Thema Uni-Rankings verfasst. „Es muss natürlich hinterfragt werden, auf Basis welcher Daten gerankt wird“, erklärt sie. Im Falle des kürzlich veröffentlichen Shanghai-Rankings wird beispielsweise die Anzahl der Nobelpreisträger, die die jeweilige Hochschule hervorgebracht hat, in die Wertung mit einbezogen. „Das ist eine Zahl, die sich im Laufe der Jahre nicht stark verändern wird – ich und viele Autoren bezweifeln die Aussagekraft dieses Indikators“, meint Oberauer. Kaum vergleichbar. Doch wie könnten Rankings zu einer höheren Aussagekraft kommen? „Wenn man sich auf eine einheitliche Messmethode zur Evaluierung einigen könnte, würde ein Uni-Ranking sicher als Orientierungshilfe dienen“, ist Theresa Oberauer überzeugt. Doch die derzeitigen Evaluationen wie das Times Higher Education Ranking oder das Shanghai-Ranking arbeiten mit unterschiedlichen Indikatoren, die Vorgehensweisen blei-

ben intransparent. Dazu kommt, dass Hochschulen auf der ganzen Welt kaum miteinander vergleichbar sind. „Größere Universitäten schneiden bei Rankings immer besser ab, weil mehr Absolventen positive Angaben zur Hochschule machen können als in Kleinen“, erklärt Oberauer. „Dabei ist gerade in kleineren Universitäten das Betreuungsverhältnis meist besser.“ Relevant sind Uni-Rankings in jenen Ländern, in denen sie durchgeführt werden, wie beispielsweise in den USA. „In europäischen Breitengraden werden Rankings eher noch als Zusatzinformation beachtet“, meint Stefan Hopmann. In Österreich scheinen die Hochschul-Tests bei der Wahl von Auslandssemestern eine Rolle zu spielen: In Fächern wie Internationale Betriebswirtschaft, die das Absolvieren eines Auslandssemesters erfordern, werden Rankings doch zur Entscheidungshilfe herangezogen. Die 27-jährige Christine hat sich vor ihrem Auslandssemester in Lyon sehr wohl das Ranking der dortigen Uni näher angeschaut. Und trotz des guten Rankings waren „die Klassen nicht unbedingt kleiner, und die

Lehre nicht besser“ im Vergleich zur WU. Ein Aspekt, der eine viel größere Rolle spielen dürfte, ist das Prestige einer Hochschule. Heimische Tests. Rankings, die sehr wohl die Meinung von (Neo-) Studierenden bei der Wahl der Hochschule beeinflussen könnten, sind jene, die von heimischen Magazinen durchgeführt werden. „Es ist zu hinterfragen, wie qualitativ hochwertig diese Rankings sind“, gibt Oberauer zu bedenken. Letztendlich vertrauen (Neo-) Studierende dann doch am liebsten Referenzen von Bekannten und FreundInnen: Mundpropaganda und Sympathie für eine Hochschule sind die Indikatoren, die die Entscheidung für eine Universität maßgeblich beeinflussen. Auch Student Richard meint: „Es kommt darauf an was die langfristigen Ziele sind: Wie wichtig einem das Leben und die Stadt sind und Aspekte wie Freizeit, Sprache und Kultur.“ Indikatoren, die ein Ranking nur schwer messen kann. N Die Autorin studiert Publizistik und Musikwissenschaft in Wien.

Uni-Rankings – wichtig oder nicht? Das PROGRESS hat Studierende gefragt, ob sie sich in ihrer Studienwahl durch Unirankings beeinflussen ließen und welchen Wert sie solchen Bewertungen beimessen.

Kerstin, BOKU, Kulturtechnik und Wasserwirtschaft

renden hat.“

„Mich interessieren Rankings gar nicht, weil sie ohnehin kaum Aussagekraft haben. Es geht mir eher darum, welchen Ruf eine Uni bei den Studie-

Richard, WU Wien, Volkswirtschaft

Sarah, Uni Innsbruck, Translationswissenschaft

„Ich habe mich damit eigentlich „Mir persönlich ist das Ranking überhaupt erst befasst, als ich mir eigentlich schon wichtig. An die Frage stellte, ob ich Richtung der Uni Innsbruck haben sich PhD gehe. Meine Kriterien wa– zumindest was ich mitbekomren eher: Möchte ich dort fünf men habe – alle sehr gefreut, Jahre studieren? Ist mir die Uni sympathisch? „ die Uni Wien überholt zu haben.“


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Bonjour tristesse? In Paris herrscht ein ungehobeltes Durcheinander.

Foto: Ellmer

Paris, eine geteilte Stadt Wohnen am Rand und Studieren im Zentrum von Paris kann einen Ersamusaufenthalt zur Gelegenheit machen, soziale Ungleichheit im urbanen Raum zu erkunden

Anna Ellmer

on der Métro-Station Saint-Germain-des-Prés über den Place Sartre-Beauvoir vorbei an den berühmten Literatencafés Deux Magots und Café Flore. Wer einmal rechts abbiegt, steht vor einer Fakultät für Sozialwissenschaften (Paris V), die sich mit dem Siegel der Sorbonne schmückt. Das hört sich nach dem Stoff an, aus dem Intellektuellenträume gemacht sind. Aber nicht nur die beeindruckende Schäbig- und Hässlichkeit des Gebäudes der Fakultät, sondern auch der sich darin abspielende Unibetrieb stehen im krassen Kontrast zu solch romantischen Ideen: Und das ruft unter Austauschstudierenden dann auch häufig kollektive Enttäuschung hervor. Im Unialltag überwiegt Frontalunterricht – ProfessorInnen tragen vor, die Studierenden schreiben im Eiltempo mit. Das sorgt für Adrenalinkicks solange die eigenen Französischkenntnisse schlecht genug sind. Danach wird das schlicht öde. Und die Tatsache, dass sich die hochangesehene und -selektive Science Po, in der sich die Wirtschaftselite Frankreichs reproduziert, gleich gegenüber befindet und einem täglich die Segregation im französischen Hochschulsystem vor Augen führt, rundet die Erfahrung der kollektiven Desillusion schließlich gebührend ab. Ein Hauch von Existentialismus und Revolution poliert in Saint-Germain-des-Prés mittlerweile vor allem Images auf. Bis in die 1970er war hier das Zentrum des kulturellen und intellektuellen Lebens von Paris. Heute sprießen die Namen luxuriöser Modehäuser wie Armani, Dior und Cartier. In ihren Boutiquen wird Jazz gespielt und ein Esprit SaintGermain vermarktet. Junge KünstlerInnen und Studierende strömen nach wie vor täglich in die dort ansässigen Hochschulen. Ihr Leben aber spielt sich mittlerweile anderswo ab. Denn Saint-Germain-desPrés ist heute das teuerste Viertel der französischen Hauptstadt geworden.

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Transformation. Dass es schwer ist, in Paris ohne dicke Geldtasche überhaupt eine annehmbare Bleibe zu finden, ist nichts Neues. Seit Jahren ist von einer Wohnungskrise die Rede, von der vor allem Studierende massiv betroffen sind. Zwölf-m²-„Wohnungen“

werden um bis zu 670 Euro vermietet. Aber noch ist es in Paris doch nicht unmöglich, zu halbwegs leistbaren Preisen ein Zimmer mit zumutbaren räumlichen Dimensionen zu finden. Und zwar meist in den quartiers populaires im Osten, wo Paris anders funktioniert als in seinem weltberühmten Zentrum. So beispielsweise im 20. Arrondissement, dem zweitbilligsten der Stadt. Dort schlängelt sich das Viertel Ménilmontant einen steilen Hügel hinauf. Historisch stark durch eine proletarische Kultur und Lebensweise und die politischen Kämpfe der Pariser ArbeiterInnenklasse sowie einer Vielzahl von Migrationsströmen geprägt, findet sich hier mit einem Drittel heute die größte Dichte des sozialen Wohnbaus in Paris. Elsa, die in Ménilmontant aufgewachsen ist, erklärt, hier sei es nicht wie in anderen Teilen der Stadt. „Hier gibt es ein echtes Grätzelleben. Das ist fast wie in einem Dorf, weißt du? Nach einer gewissen Zeit, kennen dich die Leute und man redet miteinander“, stellt sie fest. Aber auch in Ménilmontant entwickelt sich der private Immobilienmarkt rasant. Die vergleichsweise niedrigen Preise, aber nicht zuletzt auch dieser „dörfliche Charakter“, ziehen eine neue Bevölkerung an. Eine große Dichte von Ateliers – früher von HandwerkerInnen und ArbeiterInnen belebt, heute vor allem von KünstlerInnen, DesignerInnen und ArchitektInnen – kennzeichnet das Viertel. Eine junge, intellektuelle Mittelschicht zieht hierher. „Die Immobilienbüros wachsen in den letzten Jahren wie Champignons aus dem Boden“, so Luis, der seit 15 Jahren hier wohnt. Die Wohnungspreise sind zwischen 1991 und 2007 um circa 120 Pozent gestiegen. Auch meine Studienkollegin Anna, Tochter eines Elektrikers und einer Sekräterin, ist in Ménilmontant aufgewachsen und wohnt dort nach wie vor bei ihren Eltern. Gern hätte sie eine eigene kleine Wohnung hier im Viertel. Aber das sei zu teuer solange sie studiere. Ihr bleibe nur die Wahl: „Kinderzimmer oder Banlieue“. In Paris intra-muros zu wohnen, wird zunehmend zum Privileg. Aber ein zweites Saint-Germain kann Ménilmontant nicht so rasch werden, denn dazu ist der soziale Wohnbau hier zu präsent. Folglich charakterisiert diesen urbanen Raum heute das Nebeneinander sehr verschiedener Welten auf dichtem Raum: Idyllische Gassen und Passagen, atemberaubende Ausblicke auf Paris und

kleine Häuschen mit Garten finden sich hier in unmittelbarer Nähe großer Cités, die als soziale Brennpunkte gelten. Und nur hundert Meter weiter eine neue Sushi-Bar. Eine lebendige Zivilgesellschaft, gelebte Multikulturalität und die Vermischung sozialer Schichten gehören hier ebenso zum Alltagsleben wie Rassismus und radikale Manifestationen sozialer Ungerechtigkeit und Armut. Durcheinander. Von einem „ungehobelten Durcheinander“, sprechen die SoziologInnen Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot in Bezug auf diesen Stadtteil. Während die von den involvierten AkteurInnen selbst häufig als „Boboisierung“ bezeichneten Veränderungen von manchen als Aufwertung des Bezirkes und als Mittel gegen eine drohende Ghettoisierung gelobt werden, sehen andere darin vor allem einen Prozess der physischen, ökonomischen aber auch kulturellen Verdrängung auf Kosten unterprivilegierter Schichten. Denn diese sind nicht nur mit steigenden Preisen, sondern auch mit der symbolischen und kulturellen Transformation des öffentlichen Raumes konfrontiert. Auch die zunehmende Dichte von Studierenden, die aus finanziellen Gründen hierher ziehen, spielt dabei eine Rolle: Ihr ökonomisches Kapital mag gering sein; mit ihrem kulturellen Kapital tragen sie aber durchaus dazu bei, dass Ménilmontant zunehmend als „hip“ gilt. In jedem Fall handelt es sich um Veränderungsprozesse, im Rahmen welcher sich gesellschaftliche Machtverhältnisse manifestieren. Und auf symbolischer Ebene lässt sich dann doch die eine oder andere Parallele zu Saint-Germain-des-Prés aufstöbern: Denn auch hier werden die proletarische Geschichte, das Erbe der Pariser Kommune und der Mythos vom roten Hügel zur Ware. So war die Bellevilloise in der Rue Boyer von der zweiten Hälfte des 19. bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts eine autonome ArbeiterInnenkooperative, der Paris sein einziges offensichtlich marxistisches Gebäude verdankt. Seit 2005 ist sie ein Kultur-und Veranstaltungszentrum, das sich auf dieses proletarische Erbe bezieht und gleichzeitig jeden Sonntag Bio-Brunch um 29 Euro anbietet. N

Die Autorin studiert Kultur-und Sozialanthropologie in Wien.


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Service, das hilft! Musikwissenschaft

Themen wie Studiengebühren, Familien- und Studienbeihilfe, verschiedenste Stipendien und Förderungen, Infos rund ums Wohnen und Arbeiten, sowie Karenz & Kinder, behandelt. Darüber hinaus soll diese interaktive Plattform allen Studierenden die Möglichkeit einräumen selbst Beiträge beziehungsweise Ergänzungen zu Einträgen vorzunehmen. Damit soll in kurzer Zeit eine breite Vernetzung von Studierenden stattfinden. Neben den zentralsten allgemeinen Fragestellungen sollen so auch die Bereitstellung und der Austausch über spezifische Probleme im Studien- und Sozialrechtsbereich möglich gemacht werden. Bereits jetzt nützen die meisten StudentInnen Wikipedia zur raschen Informationsbeschaffung. Das Studien- und SozialrechtsWIKI der ÖH-BV ist ebenso aufgebaut und damit relativ einfach zu handhaben. Nütze auch du das WIKI um alle Informationen schnell und unkompliziert recherchieren zu können. Gibt es zu einem wichtigen Thema noch keinen Beitrag, dann schreib einfach mit! jus N

nd welches Instrument spielst du da?“ Dies ist der wohl am häufigsten mit dem Musikwissenschaftsstudium in Verbindung gebrachte Irrtum. Viele Außenstehende assoziieren mit diesem Studium zunächst die praktische Anwendung der Kunst – völlig falsch. Denn nicht umsonst lautet der zweite Teil der Studienbezeichnung Wissenschaft. Wer also glaubt, er oder sie verschaffe sich einen Vorsprung im Studium dadurch, schon ganz passabel Noten lesen oder vielleicht sogar schon etwas über die eine oder andere Oper sagen zu können, wird rasch eines besseren belehrt. Spätestens dann, wenn es schon in den ersten Wochen des Studiums in der Übung „Hören von Strukturen“ darum geht, minutiös musikalische Stücke zu analysieren. Wem solche Anforderungen vom Interesse her allerdings liegen, ist am Wiener Institut für Musikwissenschaft gut aufgehoben. Zu den zwei großen Teilbereichen des Studiums gehören die Musikgeschichte einerseits und die Musiktheorie andererseits. Zu Ersterem gehört zunächst das Modul Tonsatz: Hier werden die abendländische Harmonielehre und Kontrapunkt vermittelt, aber auch das Transkribieren von Musik gehört dazu. Nicht weniger herausfordernd ist das Modul Systematische Musikwissenschaft, welches sich unter anderem mit Raum- und Psychoakustik, Klang- und Tonanalyse auseinandersetzt. Im Bereich Musikgeschichte dürfte für jeden Geschmack etwas dabei sein: Von Musik des Mittelalters über die Barock- und Klassikmusik bis hin zur Popularmusik sind alle Bereiche vertreten. Das Modul Ethnomusikologie behandelt unter anderem auch Musikstile aus Afrika und Lateinamerika. In der Quellenkunde wird der Umgang mit Archivmaterial, Kritiken und Bibliothekswesen gelernt. Neben dieser Fülle an theoretischem Input bietet das Institut allerdings auch genügend Möglichkeiten, ein wenig aus dem wissenschaftlichen Alltag heraus zu treten und an den selbst organisierten Konzerten, Chören und anderen Aktivitäten teilzunehmen. N

www.wiki.oeh.ac.at

Nora Reichart studiert in Wien.

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Studien- und SozialrechtsWIKI EU: Über die Plattform des Studien- und SozialrechtsWIKIs der ÖH-Bundesvertretung findest du seit Kurzem die wichtigsten Informationen um deine Rechte im Studium, sowie eine Behandlung der zentralsten sozialrechtlichen Fragestellungen. Parallel zur studien- und sozialrechtlichen Beratung der Referate für Bildungs- und Sozialpolitik bietet das WIKI die Möglichkeit alle wichtigen Informationen rund ums Studium rasch und unkompliziert nachzuschlagen. Aktuell besteht eine ganze Fülle an Broschüren und Informationsmaterialien. Diese Informationen sollen nun gesammelt und in möglichst kompakter Form auf der Homepage des Studien- und SozialrechtsWIKIs angeboten werden. Zwei Portale – Studienrecht und Sozialrecht – eröffnen dir eine Reihe von Themenbereichen. Dort findest du Informationen zu beispielsweise Studienzulassung, Prüfungsrecht, Studienarchitektur, aber auch den einzelnen Hochschultypen (Universität, Fachhochschule, Pädagogische Hochschule) selbst. Unter der Rubrik Sozialrecht werden

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referate der österreichischen hochschülerinnenschaft Referat für pädagogische Angelegenheiten Tel: +43 (0) 1/ 310 88 80 - 38, Fax: - 36 paedref@oeh.ac.at Referat für Fachhochschul-Angelegenheiten (bzw. Referat für Bildungspolitik) Beratung: Dienstag 10 – 13 Uhr, Donnerstag 13 – 16 Uhr Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 38, Fax: - 36 FH@oeh.ac.at, bipol@oeh.ac.at Referat für Sozialpolitik Sozialberatung: Dienstag 10 - 13 Uhr, Mittwoch von 16 - 19 Uhr, sowie Donnerstag 14 - 16 Uhr Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 43 sozial@oeh.ac.at Wohnrechtsberatung: Dienstag 9 - 12 Uhr und Donnerstag 13 - 16 Uhr Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 41 wohnrecht@oeh.ac.at Sozialfonds: Dienstag und Donnerstag 10 - 12 Uhr Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 22 sozialfonds@oeh.ac.at

Studien- und MaturantInnenberatung Montag, Mittwoch: 13-16 Uhr Dienstag, Freitag: 09-12 Uhr, Donnerstag: 18-20 Uhr (Mit Schwerpunkt auf Studienberechtigungsprüfung und Berufsreifeprüfung) Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 24 bzw. - 25 studienberatung@oeh.ac.at Skype: OEH-Beratung Burgenland und in Niederösterreich Martin Olesch: +43 (0) 676/888 522 73 Martin.Olesch@oeh.ac.at Stände bei Berufs- und Studieninformationsmessen und Koordination der Maturantinnen- und Maturantenberatung in Wien Agnes Wühr: +43 (0) 676/888 522 92 Agnes.Wuehr@oeh.ac.at Referat für internationale Angelegenheiten Donnerstag: 10-13 Uhr Tel: +43 (0) 1/310 888 0 - 95 Fax: +43 (0) 1/310 888 0 - 36 internationales@oeh.ac.at Skype: internats_bv

Referat für ausländische Studierende Tel: +43 (0) 1/310 88 80 - 65, Fax: +43 (0) 1/310 88 80 - 36 auslaenderInnenreferat@oeh.ac.at Montag 9-12 Uhr (persisch, englisch, deutsch Dienstag: 10-12 Uhr (englisch, türkisch, deutsch) Donnerstag: 15-18 Uhr (englisch, spanisch, deutsch) Freitag: 9-12 Uhr (englisch, spanisch, deutsch) Referat für feministische Politik Donnerstag 12-14 Uhr, sowie nach Terminvereinbarung Tel: +43 (0) 676/ 888 522 74 Fax: +43 (0) 1/310 88 80 - 36 frauenreferat@oeh.ac.at Referat für Menschenrechte und Gesellschaftspolitik Maria Clar: +43 (0) 1/ 310 88 80 - 46 oder +43 (0) 676/ 888 522 52 Mittwoch: 11-14 Uhr oder nach Vereinbarung maria.clar@oeh.ac.at Julia Hofmann: +43 (0) 1/ 310 88 80 - 46 julia.hofmann@oeh.ac.at PA alle Referate: Taubstummengasse 7-9, 1040 Wien


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Politik

Die Jungen wählen links Kommentar von Julian Schmid

er österreichische Medien konsumiert, muss den Eindruck gewinnen, dass die Jugend mehrheitlich rechts wählt. „Jugend am rechten Rand“ schrieb das Profil, im Club 2 wurde die Frage gestellt: „Wandert Österreichs Jugend immer mehr nach rechts?“. Diese Schlagzeilen entwickelten bald ein Eigenleben und wurden in der Öffentlichkeit zusehends zu einer „gefühlten Tatsache“ – ohne Fragezeichen. Alle starrten vor den Wahlen – wie das Kaninchen vor der Schlange – auf die Raps, Comics und angeblichen „Discotouren“ von Heinz-Christian Strache. Die FPÖ, als ewiggestrige Partei, will sich seit Jahren ein jugendliches Image aufbauen. Um die Bilder zu produzieren, die diesen Schein erzeugen sollen, karrt sie für Wahlkampfauftakte schon mal aus ganz Österreich junge FPÖ-AktivistInnen mit Bussen an. Und fast alle Medien fallen auf dieses Spiel rein. Nichtsdestotrotz haben bei der Wien-Wahl laut dem SORA-Institut 46 Prozent der 16- bis 20-Jährigen die SPÖ gewählt und 21 Prozent die Grünen. Die FPÖ kömmt nur auf 20 Prozent. Das Institut für Jugendkulturforschung sieht die Grünen bei 23 Prozent und die FPÖ nur bei 19 Prozent. Junge Frauen (SPÖ: 46 Prozent, Grüne: 30 Prozent) haben übrigens so mehrheitlich die beiden linken Parteien gewählt, dass FPÖ und ÖVP zusammen nur auf eine verschwindende Minderheit kommen. Natürlich sind auch 19 Prozent junge FPÖ-WählerInnen noch zu viel, aber verglichen mit dem Gesamtergebnis der FPÖ von 25,8 Prozent ist das

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ziemlich schwach. Es gilt: Je älter, desto eher wird die FPÖ gewählt – je jünger, desto eher die Linke. Während die SPÖ in allen sozialen Schichten recht ähnlich abschnitt, wurden die Grünen besonders stark von SchülerInnen und StudentInnen gewählt. Die FPÖ schnitt einzig bei Lehrlingen überdurchschnittlich ab. Das gute Abschneiden der linken Parteien bei der Jugend hat auch damit zu tun, dass, während Strache seine PR-Luftblasen produziert hat, SPÖ und Grüne groß angelegte Jugendwahlkämpfe organisiert haben. Während die SPÖ mit der „Käfig-Fußball-WM“, Konzerten und dem Rapper Nazar die WählerInnen mobilisierte, haben die Grünen alles getan, um unter SchülerInnen für sich zu werben und haben außerdem monatelang jeden Abend Lokale in ganz Wien besucht, um ihre Botschaft unter die Menschen zu bringen. Mit einem weiteren Vorurteil hat die Wiener Wahl ebenfalls aufgeräumt: Die Wahlbeteiligung war unter Jungen mit 80 Prozent (allgemein: 67,6 Prozent) überdurchschnittlich hoch. Für die interessierte Öffentlichkeit wäre es also wichtig, „liebgewordene“ Urteile über Bord zu werfen und Dinge beim Namen zu nennen: Die Jungen wählen mehrheitlich links. N

Der Autor studiert Politikwissenschaft in Wien.

Kurzmeldungen

Strategie gegen Staatsstreiche Südamerikas Staaten planen vereint gegen Umsturzversuche vorzugehen. Sollte es künftig zu einem Staatsstreich kommen, sollen sofort die Grenzen zum betreffenden Staat geschlossen und Wirtschaftssanktionen verhängt werden. Das vereinbarten die zwölf Mitglieder der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) am Freitag bei einem Gipfeltreffen in Guyanas Hauptstadt Georgetown. Sie einigten sich außerdem darauf, die Mitgliedschaft des betreffenden Landes in der Organisation auszusetzen. Auf einen Nachfolger des im Oktober vertorbenen UNASUR-Generalsekretärs und früheren argentinischen Präsidenten, Néstor Kirchner, konnten sie sich jedoch nicht einigen.

Ägypten: Protest vor Wahlen Anlässlich der Parlamentswahlen in Ägypten haben AktivistInnen im ganzen Land gegen Übergriffe der Polizei gegen die Opposition protestiert. Die Aufrufe zum „Tag des Zorns“ wurden über Facebook und Twitter verbreitet, die Orte der Kundgebungen wurden bis zur letzten Minute geheim gehalten. Bei einem der Proteste versammelten sich in einem Armenviertel der Hauptstadt Kairo rund 200 Menschen, zogen durch die Straßen klopften dabei Töpfe und Pfannen aufeinander und bliesen in Trillerpfeifen. Bevor die Polizei eintraf, zerstreute sich die Menge wieder. Einer der Organisatoren sagte, ähnliche Proteste habe es auch in mindestens zehn anderen Verwaltungsbezirken gegeben.

Studierende besetzen Basilika Bei Protesten gegen höhere Studiengebühren und die geplante Universitätsreform haben italienische Studierende die Markusbasilika in Venedig besetzt. Einige erklommen den Balkon der Hauptfassade der Basilika und skandierten lauthals Slogans gegen die Universitätsreform. Zuvor hatten Studierende bereits aus Protest das Kolosseum in Rom und den Schiefen Turm von Pisa besetzt. Die gespaltene Regierungskoalition um Ministerpräsident Silvio Berlusconi stößt im Parlament auf zunehmende Probleme mit der Reform. Die Reform sieht beträchtliche Einsparungen im Universitätsbereich vor. Es heißt, dass fünf ProfessorInnen, die pensioniert werden, jeweils nur durch eine Person ersetzt werden sollen.


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Russland ist eine sanfte Diktatur Sergej Mitrochin, Vorsitzender der liberalen russischen Oppositionspartei „Yabloko“, spricht über organisierte Korruption in Russland, wie der Westen mit Putin und Medwedew umgehen soll und warum er bereit ist, ins Gefängnis zu gehen. Foto: Prantl

PROGRESS: Wir haben Ihren Namen gegoogelt und fanden fast ausschließlich Fotos, auf denen Sie gerade verhaftet werden. Wie schwer ist das Leben eines russischen Oppositionellen? Mitrochin: (lacht) Es ist hart, weil es so viele Einschränkungen gibt. Es ist fast unmöglich, etwa mit einer Demonstration nicht gegen ein Gesetz zu verstoßen, weil den Behörden jede öffentliche Versammlung verdächtig erscheint. Die Polizei reagiert häufig mit Gewalt, viele Aktivisten werden für einige Tage weggesperrt. Wir leben in einem autoritären Staat, das wissen wir. Deshalb müssen wir für Demokratie kämpfen.

Würden Sie Russland als Diktatur bezeichnen? Russland ist im Moment eine sanfte Diktatur. Es ist nicht vergleichbar mit dem Stalin-Regime, aber es ist eine Diktatur, die vorgibt, eine Demokratie zu sein, um vom Westen akzeptiert zu werden. Wird die Opposition von russischen Medien überhaupt wahrgenommen? Putin und Medwedew kontrollieren und zensurieren die Medien. Für Putin ist es eines der wichtigsten Instrumente, um an der Macht zu bleiben. Das macht die Oppositionsarbeit noch viel schwieriger.

Hat die russische Bevölkerung Vertrauen in ihre Regierung? Sie vertrauen Putin und vielleicht noch Medwedew, weil sie die beiden ständig im Fernsehen sehen. Sie sind Symbole für Hoffnung. Aber sie vertrauen weder der Regierung, noch den Gouverneuren, der Polizei oder sonst einer staatlichen Institution. Wie soll der Westen mit Putin und Medwedew umgehen? Er sollte Russland in seine Politik und gemeinsame Projekte einbinden. Die Menschenrechte müssen angesprochen werden, aber es wäre dumm, wäre dies das einzige Thema, das der Westen anspricht. Könnte eine verstärkte Integration Russlands früher oder später zu einem EU-Beitritt führen? Das halte ich für wenig realistisch. Es gibt andere Möglichkeiten, Russland einzubinden. Der Beitritt zur EU kann höchstens ein weit entferntes Ziel sein.

Wie wichtig ist diese Anbindung an Europa für einen politischen Wandel in Russland? Es ist ein wichtiger Faktor von vielen, wie etwa die Einhaltung der Menschenrechte, der Aufbau einer Zivilgesellschaft oder eine wirkliche Gewaltenteilung. Es ist die Aufgabe der Wie sieht es mit dem Internet aus? russischen Bürger und Bürgerinnen, Wir haben uns über die Zensur der rus- für diese Sachen zu kämpfen. Aber sischen Fernsehstationen beschwert. es wäre einfacher, hätte die EU ein Medwedew teilte uns daraufhin mit, Konzept, um Russland einzubinden. wir sollen doch einfach ins Internet gehen. Aber man kann die Effektivität Arbeitet Ihre Partei mit anderen Opder beiden Medien nicht vergleichen. positionskräften zusammen? In einzelnen Fällen, ja. Aber oft ist In Westeuropa heißt es: Unter Jel- es aus historischen Gründen unzin gab es Chaos, Putin hat Ordnung möglich: Wir können uns ganz einnach Russland gebracht. Deshalb ver- fach nicht mit Extremisten wie etwa trauen ihm die Leute. den Nationalbolschewisten zusamDas ist ein Mythos. Putin machte dort menschließen. weiter, wo Jelzin aufgehört hatte. Unter Jelzin war alles und jeder korrupt, Hat sich Russlands Politik unter Medaber das ganze geschah ungeordnet. wedew verändert? Unter Putin ist die Korruption nicht Medwedew hat so getan, als würde weniger, sie ist nur besser organisiert. er etwas ändern. Aber er hat nicht

Wer Sergej Mitrochin googelt, sieht, wie er verhaftet wird.

gehalten, was er versprochen hat. Es und sich vor der Weltöffentlichkeit ist vollkommen klar, dass er nichts rechtfertigen. gemacht hat und er wird auch im letzten Jahr seiner Präsidentschaft Es kam auch zu gewalttätigen Übernichts mehr machen. griffen durch maskierte Männer. Waren Sie davon auch betroffen? Gibt es einen Machtkampf zwischen So geht man mit Demonstrationen in Putin und Medwedew? Russland immer um, es ist das übliche Medwedew hat nicht die Unterstüt- Prozedere. Man versucht, die Teilnehzung der russischen Eliten und der mer einzuschüchtern. Regierung. Putin kontrolliert alles – inklusive Medwedew, der einfach Wer steckt hinter diesen maskierten eine Erfindung Putins ist. Schlägern? Jene Unternehmen, die ein Interesse Glauben Sie, dass Medwedew seinem am Bau dieses Projektes haben. Erfinder bei der nächsten Wahl wieder Platz machen wird? Immer wieder hört man von AktiviDas ist möglich, aber ich schließe stInnen, die wegen Widerstands gegen die auch nicht aus, dass Putin einfach Staatsgewalt eingesperrt werden. Wie uneinen weiteren Präsidenten erfindet. abhängig sind Russlands RichterInnen? Es gibt kein einziges unabhängiges Kann Putin die Macht in Russland Gericht in Russland. Besonders nicht, überhaupt noch verlieren? wenn es sich um einen politischen Derzeit nicht. Das wäre nur bei ei- Prozess handelt. ner zweiten Wirtschaftskrise möglich, aber Russland ist aufgrund der Wie oft waren Sie schon im Gefängnis? Gewinne im Öl- und Gassektor weit (lacht) Unzählige Male. Aber nie für von einer ernsten Krise entfernt. Ich lange. glaube nicht, dass Putin die Kontrolle in den nächsten Jahren verlieren Haben Sie manchmal Angst? könnte. Ich fürchte mich davor, dass meinen Kollegen etwas passiert. Es ist gefährIm Sommer kam es zu Demonstrati- lich, in Russland politisch aktiv zu sein. onen gegen den Bau eines Highways durch den Chimki-Wald. Schließlich Aber Sie selbst haben keine Angst? gab Medwedew nach und ließ den Bau Im Gefängnis zu sein, ist… unangestoppen. Hört Medwedew doch mehr nehm. Aber als russischer Opposiauf das Volk, als ihm zugetraut wird? tionspolitiker muss man bereit sein, Nein, zum Baustopp kam es erst, eingesperrt zu werden. nachdem das Thema auch international für Schlagzeilen sorgte. Putin Das Interview führten Markus Kiesenhofer und Medwedew mussten reagieren und Andreas Rossmeissl.


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Foto: Novotny

Österreichs Behörden wissen sich gegen Transparenz zu schützen.

Die Angst vor dem Demos Eine Demokratie lebt von informierten BürgerInnen. Aber in Österreichs Amtsstuben herrscht Verschwiegenheit. Ein Bericht.

Stefan Hayden

er ehemalige Präsident der USA, George W. Bush, schreibt in seiner Autobiografie, dass die mit Abstand schwierigste Aufgabe eines Gouverneurs oder einer Gouverneurin das Prüfen von Todesurteilen ist – die Entscheidung also, ob ein Todesurteil vollstreckt, aufgeschoben oder nicht durchgeführt wird. Dabei würde er alle Fakten nachdenklich und sorgfältig abwägen, und erst dann entscheiden, schreibt Bush. Ein Reporter der New York Times hat allerdings nachgewiesen, dass Bush sich für diese Frage von Leben und Tod in der Regel nur 15 Minuten Zeit genommen hat. Diese Konfrontation mit der tatsächlichen Vorgehensweise war nur aufgrund eines Informationsfreiheitsgesetzes im Bundesstaat Texas möglich. Nicholas D. Kristof von der Times stellte einen Antrag und bekam Einblick in den Terminkalender von Bush. Eine Demokratie lebt von Informationen über die Tätigkeit des Staates und seines Personals. Nur ausreichend informierte BürgerInnen können an demokratischen Prozessen teilnehmen. Da kann es auch hilfreich sein, den Tagesablauf eines Amtsträgers oder einer Amtsträgerin zu kennen. Aus gutem Grund sind daher in Österreich Parlamentssitzungen und Verhandlungen vor Gericht öffentlich zugänglich. Aber das ist nicht genug: In selbstbewussten Demokratien braucht es auch den geregelten Zugang zu Dokumenten von Behörden und Ämtern. Erst das ermöglicht Medien, NGOs und einzelnen BürgerInnen, ihre Regierung zu kontrollieren und ihre Rechte zu schützen. Die Einsicht in Originaldokumente und Akten ist ein wichtiges Instrument gegen Korruption und Amtsmissbrauch. Der freie Zugang soll Offenheit und Transparenz fördern. Als Folge kann sich auch die Akzeptanz für die Arbeit der Behörden verbessern. Soweit die Theorie. Die Praxis sieht in Österreich freilich anders aus: Nach wie vor bestimmen Geheimniskrämerei und zugeknöpfte BeamtInnen das politische Geschehen und die Verwaltung. Ihre Verschwiegenheit wird durch die Verfassung geschützt. Franz C. Bauer, JournalistInnengewerkschafter und Präsident des

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Presserats, kritisiert die österreichische Situation: „Die Mächtigen haben kein Interesse an informierten Bürgern.“ Freedominfo.org, ein Netzwerk von Initiativen für Informationsfreiheit aus verschiedenen Ländern, stellt in einem Report von 2006 fest, dass es derzeit in 70 Ländern Informationsfreiheitsgesetze gibt; in 50 weiteren sind Gesetze in Arbeit. Allerdings, schränkt der Report ein, sind die Gesetze in vielen Ländern längst nicht ausreichend. Durch zahlreiche Ausnahmeregelungen und hohe Gebühren, die für Auskünfte zu bezahlen sind, halten die Gesetze oft nicht, was ihr Name verspricht. Weiters beobachten die Initiativen im Zuge des „Kampfs gegen den Terror“ seit einigen Jahren den Trend, bestehende Gesetze durch neue Bestimmungen wieder einzuschränken. Geist der Gegenaufklärung. Dennoch gibt es Staaten mit fest verankerten und schlagkräftigen Zugangsregeln zu Informationen. In Skandinavien ist die Behördentransparenz seit langem geregelt, Schweden hat das älteste derartige Gesetz. Es wurde vor 244 Jahren beschlossen. In den USA existiert der Freedom of Information Act seit 1966. Nicht nur der Terminkalender von George W. Bush wurde mit Hilfe von Gesetzen zu Tage gefördert, sondern auch viele Nachrichten über den Irak-Krieg. Der jüngste spektakuläre Fall: Ein Bericht des US-Justizministeriums, der jahrelang der Öffentlichkeit vorenthalten wurde. Er zeigt, wie Naziverbrecher nach dem Kriegsende vom Geheimdienst CIA geschützt wurden. In Österreich hingegen weht noch immer der Geist der Gegenaufklärung und des staatlichen Absolutismus durch die Ämter. Nicht der freie Zugang zu Informationen ist in der Verfassung festgeschrieben, sondern deren Geheimhaltung. Sämtliche Organe der Bundes-, Landes- und Gemeindeverwaltung sind dazu angehalten, Tatsachen zu verschweigen, „deren Geheimhaltung im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit, der umfassenden Landesverteidigung, der auswärtigen Beziehungen, im wirtschaftlichen Interesse einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, zur Vorbereitung einer Entscheidung oder im überwiegenden Interesse der Parteien geboten ist“. Das macht

Kontrolle unmöglich. Recherchieren JournalistInnen heikle Themen, stoßen sie früher oder später auf eine Mauer des Schweigens – oder genauer: auf StaatsdienerInnen, die sich dahinter verschanzen. Recht auf Information. Trotz dieser staatlich verordneten Geheimniskrämerei wird Österreich von dem Netzwerk Freedominfo.org zu den Ländern gezählt, die ein Informationsfreiheitsgesetz haben. Hier wird das zahnlose Auskunftspflichtgesetz von 1987 angeführt, das schlicht erklärt: „Die Organe des Bundes (...) haben über Angelegenheiten ihres Wirkungsbereiches Auskünfte zu erteilen, soweit eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht dem nicht entgegensteht.“ Der JournalistInnengewerkschafter Franz C. Bauer sagt, das Gesetz „wird in keiner Form wahrgenommen, ganz zu schweigen von ernst genommen.“ Manfred Redelfs, Leiter der Recherche-Abteilung von Greenpeace Deutschland und Fürsprecher von Informationsfreiheitsgesetzen, vertritt die Meinung, es seien Gesetze notwendig, die „Amtsverschwiegenheit von der Regel zur begründungsbedürftigen Ausnahme machen und damit zu einem Klima der Offenheit beitragen“. „Was in Österreich ganz einfach fehlt“, sagt Bauer, „ist das Recht jedes Staatsbürgers auf Information.“ Bei einer entsprechenden gesetzlichen Regelung sollten nur Themen der öffentlichen Sicherheit von der Akteneinsicht ausgenommen sein und der Schutz der Privatsphäre müsse gewahrt bleiben. Auch der Presseclub Concordia und der Verband der Österreichischen Zeitungen verlangen von der Regierung ein solches Gesetz, damit der Zugang zu Informationen garantiert sei und Medien ihre Kontrollfunktion erfüllen könnten. Mit derartigen Vorschlägen, die es JournalistInnen erleichtern würden, ihrer „Watchdog“-Aufgabe nachzukommen, stieße er bei PolitkerInnen seit Jahren auf taube Ohren, erzählt Bauer. „Politiker haben immer nur Angst, dass wir sie nur durch den Kakao ziehen wollen.“ N Der Autor studiert Journalismus in Wien.


16 | PROGRESS 06/10 | N Politik n

Achtung: Ein Praktikum bei den Vereinten Nationen kann arm machen.

Foto: Kurz

Von der UN ausgebeutet Der Einstieg in eine Karriere bei der UN ist teuer. Die Weltorganisation ist bei den Bedingungen für Praktika alles andere als fair.

Alexander Fanta

ie UN ist kein Ponyhof. Wer in der Weltorganisation arbeiten will, hat besser das nötige Startkapital zur Hand. Ein Polster von ein paar tausend Euro öffnet einem die Eingangstür. Wer weiter hinauf will, sollte schon den Gegenwert einer Luxuslimousine in die Hand nehmen. Viele versuchen den Weg in die UN über ein Praktikum. Diese sind in der Regel unbezahlt. Die drei Hauptsitze der Organisation sind in Wien, Genf und New York. Die Lebenskosten in New York liegen laut Schätzungen des UN-Personalbüros bei rund 2.000 Euro im Monat. Ein Praktikum dauert in der Regel sechs Monate. Neben Wohnung, Essen und UBahntickets sind auch Flugreise und Unfallversicherung selbst zu bezahlen. Ein Praktikum ist eine schwere finanzielle Belastung. Alles in allem kostet ein Aufenthalt am Hauptsitz der UN so viel wie ein neuer Kleinwagen. Wien ist zwar günstiger als New York, aber auch hier kostet das Leben zumindest ein paar hundert Euro im Monat; Genf gilt sogar als eine der teuersten Städte der Welt. Ein fertiges Studium ist Grundvoraussetzung. Für die Bewerbung werden ein Bachelor-Abschluss und ausgezeichnetes Englisch gefordert, weitere Sprachen und Berufserfahrung gelten als unerlässlich. Qualifikationen, mit denen man gutes Geld verdient werden kann. Er hat Gerichtsurteile studiert, übersetzt und zusammengefasst, sagt Peter, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Der 27-Jährige studierte in Deutschland Jus und machte in einem Wiener UN-Office sein Praktikum. PraktikantInnen sind billige Arbeitskräfte. Die Betreuung sei in Ordnung gewesen, hätte aber individueller sein können, sagt Peter. Ein

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anonymer UN-Mitarbeiter wird in einem Online-Forum expliziter: „Die Praktikanten seien meist reine Lückenbüßer für Aufgaben, für die es an bezahlten Mitarbeitern fehlt. Ehemalige PraktikantInnen bei mehreren UN-Organisationen berichten PROGRESS von ähnlichen Verhältnissen. Zu Lernen gibt es bei den Praktika oft recht wenig. Bei der UN gebe es zwei Arten von ChefInnen, sagt Filip Aggestam, Sprecher des PraktikantInnen-Netzwerks UNIIN: „Die einen erlauben ihren Praktikanten nicht, substanzielle Arbeit zu übernehmen, und setzen sie für SekretärsAufgaben ein.“ Andere bürdeten den Jungen ihre eigenen Aufgaben auf. Nur in seltenen Fällen erlaubten die ChefInnen echte Mitarbeit. Bessere Bedingungen für Praktika könnten die UN stärken. „Um beruflich tatsächlich zu wachsen, sollte die Arbeit von PraktikantInnen viel genauer definiert werden“, sagt Aggestam. Das stärke die Fähigkeiten späterer Arbeitskräfte. Bezahlung für Praktika würde zudem mehr Menschen den Zugang zur UN ermögliche. Das ermögliche der UN, von einer breiteren Basis an möglichen MitarbeiterInnen zu rekrutieren, sagt der Sprecher des PraktikantInnenNetzwerks. Die Menschenrechtscharta der UN verbietet die Ausbeutung von Arbeitskräften. JedeR, der oder die arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz für sich selbst und die eigene Familie sichert, heißt es in Artikel 23. Offiziell argumentiert die UN, dass ein Praktikum eine Ausbildung sei, und darum nicht bezahlt wird. Innerhalb der UN gibt es positive Ausnahmen. Einige kleinere UN-Unterorganisationen wie die Atomenergiebehörde in Wien und die Internationale Arbeitsorganisation in Genf

zahlen PraktikantInnen eine Aufwandsentschädigung, decken aber damit aber oft bei weitem nicht alle Kosten ab. Intern gelten die diplomatischen VertreterInnen der Nationalstaaten als GegnerInnen einer Praktika-Entlohnung; diese seien Geldverschwendung, heißt es aus UN-Kreisen. Durch die unbezahlte Arbeit öffnet sich eine soziale Schere, die von Stipendien kaum ausgeglichen wird. Staatliche Förderungen für UN-Praktika gibt es vor allem in großen Ländern wie Deutschland und den USA, die einen umfangreichen diplomatischen Stab unterhalten, und für dessen Nachwuchs sorgen müssen. Die große Mehrheit der PraktikantInnen bei der UN stammen ohnehin aus Europa und den USA, zeigt eine Studie von UNIIN. Österreich bietet keine Förderung. Es existieren weder öffentliche noch private Stipendien für UN-Praktika, berichtet der Österreichische Austauschdienst. Im Ausland fördern private Stiftungen Aufenthalte bei der UN. Diese sind aber oft an spezielle Vorgaben gebunden, etwa eine bestimmten StaatsbürgerInnenschaft oder religiöse Zugehörigkeit. The kids don’t stand a chance. Für eine Karriere reicht ein Praktikum meist ohnehin nicht. Kaderschmiede für die UN ist ein Zirkel von Elite-Universitäten mit speziellen Masterstudien. Die renommierteste Adresse ist das Graduate Institute, das direkt am UN-Sitz in Genf liegt. Zu den Lehrenden zählen Koryphäen aus den Vereinten Nationen und der Weltbank. „Wenn die UN Praktikanten braucht, kommt sie zu uns“, sagt die Sprecherin des Instituts. Neben fixen Praktikaplätzen bietet die Schule persönliche Beratung für Karriereplanung und Bewerbungen.

Die Studierenden profitieren dabei vom Netzwerk ihrer ProfessorInnen. „Wir verschaffen ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit ihren Traumjob“, sagt die Sprecherin. Ein Viertel der Studierenden finde später eine Stelle bei der UN, der Rest komme bei anderen internationalen Organisationen unter. Die Universitäten suchen sich ihre Studierenden genau aus. Weltweit gibt es ein Netzwerk von 33 solcher „Professional Schools“ für Internationale Beziehungen, neben dem Graduate Institute sind darunter auch bekannte Namen wie die Columbia in New York und Sciences Po in Paris. Nur ein paar Personen erhalten jedes Jahr einen Platz in deren Masterprogrammen. Geld und Vorbildung entscheiden über die Studienplätze. Das Genfer Institut kostet zwar mit 3.700 Euro Studiengebühren für zwei Jahre im internationalen Vergleich wenig, für ein Jahr in der Schweiz brauche man aber rund 12.000 Euro zum Leben, rechnet das Institut vor. Ein zweijähriger Master kostet damit ähnlich viel wie ein Mercedes der C-Klasse. Bevorzugt werden BewerberInnen, die vorher an einer teuren Universität den Bachelor gemacht haben. Ein Oxford-Abschluss schade nicht, sagt die Pressereferentin. Die Vereinten Nationen schließt damit die Mittelklasse nahezu aus, von finanz schwächeren Menschen nicht zu sprechen. Eine DiplomatInnenkarriere bei der UN kostet mehr Geld, als die meisten Studierenden aufbringen können. Der Weg steht damit für jene offen, denen die Höhe der anfänglichen „Investition“ egal sein kann. Die Weltorganisation hilft das zu schaffen, was ihre Gründerväter im Geiste von Demokratie und Aufklärung zu verhindern suchten – eine Weltaristokratie. N Der Autor studiert Politikwissenschaft in Wien.


MAGAZIN

DER

ÖSTERREICHISCHEN

HOCHSCHÜLERiNNENSCHAFT

4/08

Quo Vadis Marktwirtschaft?

Jetzt folgt die Interpretation der Krise


18 | PROGRESS 06/10 PROGRESS 01/09 | N Dossier Cover n

Sie werden keine Adresse von uns finden

ur Vorgeschichte: Im November erschien in der Financial Times Deutschland ein viel beachteter Artikel. Das Ende unseres Währungssystems stehe bevor, der Währungskrieg sei bereits ausgebrochen, insinuierte der Text mit dem Titel „Die Geldrevolutionäre“. Für die Zeit nach dem Währungs-Supergau wird die Einführung des „freien Marktgeldes“ als Alternative präsentiert. Somit stehe es allen Menschen frei, ihr Geld selbst zu wählen, jederzeit Banken zu gründen und neue Währungen zu schaffen. Solche Meinungen werden nicht etwa von unbedeutenden Spinnern vertreten, sondern von Chefökonomen in Frankfurts Bankenfestungen. Die Ideen sind nicht neu, sie fußen auf der „Österreichischen Schule der Nationalökonomie“. Ein kleines, elitäres Netzwerk hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie weltweit zu verbreiten: Die Mont Pelerin Society (MPS), laut Sunday Times die einflussreichste Denkfabrik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1947 wurde die „Denkerfamilie“, wie sich ihre Mitglieder nennen, vom Österreicher August von Hayek auf den Anhöhen um den Genfersee gegründet. Nach den staatlichen Interventionen während der Wirtschaftskrise schien die Lehre der MPS vollkommen diskreditiert, doch nun gewinnt sie wieder an Gewicht. Geht es doch jetzt um nichts weniger als um die Deutung der größten Finanzkrise der vergangenen Dekaden.

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Herr Salin, glauben Sie, dass die Ökonomie eine wirkliche Wissenschaft ist? Ja. Es gibt zwei Denkschulen: Die eine sind die Keynesianer. Sie gehen von unrealistischen Annahmen aus. Die andere ist die Österreichische Schule der Nationalökonomie, die auf die Österreicher Karl Menger, Ludwig Mises und Friedrich

Foto: Prantl

Der neoliberale Ökonom Pascal Salin war Präsident der so mächtigen wie klandestinen Mont Pelerin Society und spricht normalerweise nicht mit Medien. Das PROGRESS hat die Gelegenheit erhalten, eine der seltenen Ausnahmen abzudrucken. Salin spricht Tacheles. Das Gespräch mit ihm wird ergänzt durch Dieter Plehwe, der sich am Wissenschaftszentrum Berlin mit der Mont Pelerin Society beschäftigt.

Pascal Salin wettert gegen den Staat

Hayek zurückgeht. Ich fühle mich dieser zweiten Schule zugehörig. Wir gehen von realistischen Annahmen aus und sehen den Menschen als rational handelndes Individuum. Herr Plehwe, Pascal Salin unterteilt die Ökonomen in zwei Denkschulen, was sagen Sie dazu? Es wurde immer versucht, die Ökonomie in die Nähe der harten Naturwissenschaften zu rücken, auch die Schaffung des quasi Nobelpreises für Ökonomie* der Schwedischen Reichsbank ist ein

kommentar der redaktion

Die Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen drei Jahre scheint nach intensiven Staatsinterventionen überstanden. Noch sind nicht alle großen Volkswirtschaften wieder angesprungen, aber Entspannung zeichnet sich ab. Zumindest behaupten das diejenigen, die nun so weiter wirtschaften wollen wie vor der Krise. Wohin würde uns das aber führen? Dieses Dossier ist der Frage gewidmet, wie die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Dekaden interpretiert werden kann. red N

Schritt in diese Richtung. Wird die Ökonomie in nur zwei Denkrichtungen unterteilt, werden damit alle anderen wirtschaftspolitischen Sichtweisen ignoriert. Denken Sie etwa nur an die Marxisten oder die Institutionalisten. Herr Salin, interpretieren Sie denn die Krise als Markt- oder als Staatsversagen? Viele Leute behaupten, die Krise sei ein Beweis dafür, dass der Markt schlecht funktioniere und der Kapitalismus einen instabilen Charakter habe. Deshalb soll der Staat intervenieren. Ich sage das Gegenteil: Alle Ursachen der Krise resultieren immer aus staatlichen Interventionsversuchen. Märkte können nur ins Gleichgewicht kommen, wenn sich Staaten und Politiker raushalten. Dennoch wurde überall in die Wirtschaft eingegriffen. Das widerspricht sämtlichen Prin* Der Wirtschaftnobelpreis wurde nicht von Alfred Nobel gestiftet, sondern wird erst seit dem Jahr 1969 von der schwedischen Reichsbank vergeben.

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N Dossier Covernn| | PROGRESS 06/10 PROGRESS 01/09 | | 1919

Der Politikwissenschafter Dieter Plehwe beschäftigt sich seit Jahren mit der Mont Pelerin Society

Herr Plehwe, Pascal Salin sagt, dass durch die Interventionspolitik der Staaten mehr Inflation entstehe und somit die nächste Krise bereits vor der Tür steht. Was sagen Sie dazu? Die Österreichische Schule der Nationalökonomie sagt: Der Staat kann nur zum Preis einer anderen Krise einen Transfer von fiktivem Geld machen. Deswegen argumentieren sie, dass man dann im konkreten Fall die irische oder die griechische Wirtschaft einfach zusammenbrechen lassen muss. Geldwertstabilität ist das höchste Primat der Österreichischen Schule. Jede Politik produziert Gewinner und Verlierer. Es gibt keine neutrale Politik. Die Geldwertstabilität nützt natürlich den Vermögensbesitzern. Die Logik der Österreichischen Geldtheorie ist somit eine Logik der Vermögensbesitzer. Zentralbanken sind politische Instrumente, die Einfluss auf die Geldwertstabilität haben. Deswegen spricht sich Salin genauso wie Hayek für die Abschaffung der Zentralbanken aus. Hayek hat zwei große Ideen propagiert: Eine beschränkte Demokratie à la Ständestaat und die Privatisierung der Zentralbanken. Herr Salin, Sie haben viel über „Freie Banken“ geschrieben, ein Ideal von Banken fernab von staatlicher Regulation. Sind Sie immer noch Verfechter dieses Ideals? Unsere Epoche ist von der Illusion geprägt, Geld produzieren zu können. Es ist nicht notwendig, ja es ist sogar gefährlich, mehr Geld zu schaffen. Banken sollten doch nur als Intermediäre im Wachstum der Wirtschaft existieren. Das Übel liegt nicht in den Aktienmärkten, sondern den Zentralbanken. Nur sie haben die Funktion, Geld zu schaffen. Wir leben in einer total unverantwortlichen Finanzwelt und zwar nicht weil die Banker und Manager unverantwortlich sind, sonder weil ihnen die Staaten dieses Verhalten suggerieren. Sollte Geld wieder durch einen realen Wert gedeckt sein, wie früher zu Zeiten des Goldstandards? Mit monetären Problemen wie diesen haben sich die Mitglieder der MPS sehr oft auseinandergesetzt. Dabei gab es immer einen gemeinsamen Nenner: wir sind gegen Inflation und gegen unlimitierte Macht der Zentralbanken. So war Milton Friedmann nicht prinzipiell gegen Zentralbanken, aber er wollte ihre Macht deutlich einschränken. Ökonomen um Hayek waren von der Idee freier Banken überzeugt und wollten die

Foto: Novotny

zipien der Österreichischen Schule. Alle Staaten haben Geld aufgenommen. Das ist der große Fehler der Keynesianer. Sie denken, der Staat muss in Zeiten der Krise die Wirtschaft ankurbeln. Damit provozieren wir doch nur die nächste Krise!

Zentralbanken abschaffen. Andere wünschen sich den Goldstandard zurück. Herr Plehwe, Pascal Salin schlägt als Alternative zu Zentralbanken, „Freie Banken mit echten Kapitalisten“ vor. Ein wichtiger Bankier ging in einem Artikel in der Financial Times Deutschland sogar so weit, völlig beliebige Währungen zu propagieren: Gold, Silber, Kupfer und vielleicht ein paar Muscheln könnten unser Papiergeldsystem ersetzen? Das sind Gedankenspielereien, mit denen sich Teile des neoliberalen Lagers beschäftigen. Die Angst der Vermögensbesitzer ist immer die gleiche: Ihr Vermögen nicht ausreichend sichern zu können. Das ist natürlich eine sehr beschränkte und naive Sicht. Eine Art Dagobert Duck-Perspektive? Genau, die wirtschaftspolitische Vorstellung der MPS ist eine Art Konflikt zwischen Dagobert Duck und den Panzerknackern. Herr Salin, nun zu Europa: Wäre Griechenland pleite gegangen, wenn die europäischen Staaten nicht reagiert hätten? Ein Staat kann nicht Pleite gehen. Auch hier wäre es wichtig zu sagen, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Aber es gibt eine Art Komplizenschaft unter den europäischen Regierenden. Die europäischen Länder haben beschlossen, die Verrücktheit von Staaten und Regierenden nicht durch Märkte kontrollieren zu lassen. Deshalb haben sie Griechenland aufgefangen, mit Geld, das jetzt in Ländern wie Deutschland, Frankreich und England für Investitionen fehlt. Das finde ich skandalös! Aber Europa hängt doch monetär eng zusammen. Ja, aber auch als es noch Nationalwährungen gegeben hat, wurde eine Art Plünderung betrieben.

Zuerst wurden Budgetdefizite gemacht, dann wurde Geld geschaffen, um die Defizite abzudecken, danach hatten die Staaten Schwierigkeiten, die Schulden zurückzuzahlen. Deswegen werde Währung abgewertet. Das ist eine Beraubung an allen Individuen, die Geld besitzen. Ihr Geld verliert an Wert! Ein paar Fragen zur MPS. Sie waren während der neunziger Jahre Präsident dieser Vereinigung. Die Sunday Times hat einen Artikel veröffentlicht, in dem sie die MPS als den einflussreichsten Think Tank der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt. Das ist doch sehr erstaunlich, weil man kaum etwas davon hört. Von uns werden Sie nirgends auf der Welt ein Büro oder eine Adresse finden. Sie können sich die MPS wie eine Denkerfamilie vorstellen. Hayek wollte ein Netzwerk von Wissenschaftlern und Politikern gründen. Unter uns finden sich viele Direktoren von Think Tanks, auch sieben Nobelpreisträger zählen zu unserem Kreis. Wir sind das Herz des weltweiten Liberalismus. Kennen Sie Assar Lindbeck**? Ja, Assar Lindbeck ist ein guter Freund von mir. Herr Plehwe, gibt es denn einen Zusammenhang zwischen den vielen Nobelpreisträgern der MPS und der eventuellen Ausrichtung dieses Wissenschaftspreises? Inzwischen gibt es mit Vernon L. Smith acht Nobelpreisträger aus den Reihen der MPS. Die Aus** Lindbeck ist ein schwedischer Wirtschaftswissenschaftler und war von 1980 bis 1994 Vorsitzender des Entscheidungskomitees zur Vergabe des Preises für Wirtschaftswissenschaften der schwedischen Reichsbank?

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20 | PROGRESS 06/10 PROGRESS 01/09 | N Dossier Cover n

Salin traut den PolitikerInnen nicht

Foto: Prantl

Der Begriff wurde während des Kolloquiums zu Lippmanns Ehren, dem Vorläufer der MPS, geprägt. Dort wurde der Neoliberalismus zum ersten Mal in Abgrenzung zum traditionellen Liberalismus definiert.

richtung des Preises und seine sehr starke Orientierung hin zu US-amerikanischen Preisträgern ist im Endeffekt ein wissenschaftspolitisches Instrument. Man kann dieses Nobelpreiskomitee nicht als neutrale Bewertungseinrichtung wissenschaftlicher Forschung sehen. Das Faszinierende am Nobelpreis der Ökonomie ist, dass sehr triviale Erkenntnisse mit einem Nobelpreis ausgezeichnet werden. Herr Salin, wie viele Mitglieder hat die MPS eigentlich? Wir haben 500 Mitglieder. Weltweit gibt es hunderte liberale Think Tanks, die von MPS-Mitgliedern gegründet wurden. Sie müssen verstehen, dass dies kein sichtbarer Einfluss ist. Diskretion ist uns sehr wichtig. Deshalb publizieren die Mitglieder der Gesellschaft niemals im Namen der Gesellschaft. Wir sind nur unseren Ideen treu, bezeichnen uns aber als unpolitisch. Unsere Epoche ist sehr politisch, aber wir trauen den Politikern nicht. Von Medien halten wir uns strikt fern. Es gibt also hunderte Think Tanks, die entweder von Mitgliedern der MPS oder von Personen, die ihr nahestehen, gegründet wurden. Ja, sicher. Ich denke dabei an das Institute of Economic Affairs in London. Dessen Gründer hat Hayek gefragt, wie er den Zustand seines Landes durch ein politisches Institut verbessern könne. Hayek hat ihm geraten, im Bereich der Konzepte und Ideen zu arbeiten, um politisches Terrain zu gewinnen. Dieses Institut hat die Politik von Margaret Thatcher maßgeblich beeinflusst. Der amtierende MPS-Präsident Deepak Lal hat letztes Jahr in New York Keynesianer zu einem Treffen geladen. Intern soll das Treffen für Unstimmigkeiten gesorgt haben, waren Sie dabei? Keynesianer? Sind Sie sich sicher, dass Sie von einem Treffen der MPS sprechen? Ach ja, ich

erinnere mich, ich war auch in New York und wollte teilnehmen. Unglücklicherweise ist meine Mutter gerade am Tag davor verstorben. Herr Plehwe, wie kann es dazu kommen, dass Keynesianer zu einem MPS-Treffen geladen werden. Der aktuelle Präsident Deepak Lal wollte, ähnlich wie Hayek seinerzeit, in der großen Krise als Gemäßigter auftreten. MPS-intern gab es eine Auseinandersetzung zwischen gemäßigten Neoliberalen und Betonköpfen. Lal wurde auf dieser Konferenz von seinen Reihen als Keynesianer beschimpft, weil er bereit ist, an manchen Stellen intellektuell Zusammenhänge zu sehen, die viele seiner Leute nicht wahrhaben wollen. Ich denke, nach dem doppelten Scheitern der Hauptlehren der jüngsten Kapitalismusgeschichte – des Neoliberalismus und des Keynesianismus – gibt es einen dringenden Bedarf, die Karten offen auf den Tisch zu legen und neu zu mischen. Ich würde mir wünschen, dass Intellektuelle verschiedener Lager offener diskutieren würden. Herr Salin, noch bevor die MPS gegründet wurde, gab es 1938 in Paris ein Kolloquium zu Ehren des Ökonomen Walter Lippmann. Fast alle der damals anwesenden Ökonomen waren auch 1947 bei der Gründung der MPS dabei. Stimmt es, dass von den Anwesenden des Kolloquiums der Terminus „Neoliberalismus“ geprägt wurde? Über das Kolloquium reden wir viel, aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob wir damals schon von Neoliberalismus gesprochen haben. Vielleicht schon, weil der Liberalismus durch die Krise von 1929 attackiert wurde. Auch diese Krise wurde schlecht interpretiert. Die dominierende Interpretation war, dass es sich um eine Krise des Kapitalismus handelt. Herr Plehwe, hat die MPS den Begriff Neoliberalismus geschaffen?

Sehen sie die MPS wie Salin als „Herz des weltweiten Liberalismus“? Dem würde ich zustimmen und hinzufügen, dass sie vor allem das Herz des weltweiten Neoliberalismus sind. Warum betont Salin, dass sich die MPS stets im Hintergrund hält und dass ihnen Diskretion sehr wichtig ist? Wissenschaftler der MPS wie Salin werden als Wissenschaftler gewissermaßen entwertet, wenn ihre Leistung in der Öffentlichkeit nicht als individuelle, sondern nur als Kollektivleistung eines Kampfverbandes für Intellektuelle und Think Tanks diskutiert wird. Pascal Salin sagt, die MPS sei unpolitisch. Was sagen Sie dazu? Die moderne westliche Demokratie geht seit USPräsident Theodor Roosevelt davon aus, dass sich öffentliche Interessen am besten auf expertenbasierte, neutrale wissenschaftliche Beratung stützen sollen. Geht es nach dieser Theorie, leidet die Qualität der Politik, wenn Partikular-Interessen und Ideologien in die Politik kommen. Wenn sich nun ein großer Kreis von Neoliberalen zusammenschließt, um Wirtschafts-, Wissenschaftsund Gesellschaftspolitik zu machen, und sich dann hinstellt und erklärt: Wir machen doch keine Politik. Also das spricht wirklich für sich. Herr Salin, können Sie mir ein paar Namen von MPS-Mitgliedern in Österreich nennen? Mir fallen die Namen gerade nicht ein. Herr Plehwe, fallen Ihnen ein paar österreichische Mitglieder der MPS ein? Da gibt es eine Menge: Erich Streissler vom Institut für Volkswirtschaft an der Universität Wien, die Generalsekretärin des Hayek-Instituts, Barbara Kolm-Lamprechter, Christoph Kraus von der Constantia Privatbank, Wilhelm Taucher und Heinrich Treichl vom International Institute of Austrian Economics, Albert H. Zlabinger, der Präsident des Carl Menger Instituts. Sie alle sind als Mitglieder der MPS bekannt. Beide Gespräche führte Martina Burtscher.


N Dossier Cover n | n | PROGRESS 06/10 PROGRESS 01/09 | | 2121

Zurück in die keynesianische Zukunft? Die größte Wirtschaftskrise seit 1929 hat zu umfangreichen Debatten über Macht und Ohnmacht des staatlichen Handelns geführt. Wie sind die Taten, die aus diesen abgeleitet wurden, zu bewerten?

NATASCHA STROBL

eynes! Regulierung! Deficit Spending! Moral! Systemerhaltend! Gier! Viele Schlagworte bestimmen den Diskurs um die Wirtschaftskrise. Während die Ursachenforschung oft sehr oberflächlich passierte, waren sich im öffentlichen Diskurs schnell viele KommentatorInnen und PolitikerInnen einig: Regulation der (Finanz-)Märkte. In Europa geben sich hier vor allem PolitikerInnen wie Sarkozy, Merkel und Zapatero als WortführerInnen. Der „unmenschliche Raubtierkapitalismus“ muss in seine Schranken verwiesen werden. Die ManagerInnen seien Schuld, weil sie weder Moral noch Schamgefühl kennen würden. Anstatt sich mit dem Wirtschaftsystem tiefgehend auseinander zu setzen, haben sich also individualisierende Interpretationen hervor getan. ZeitungskommentatorInnen konstantierten gerne ein moralisches Wir-Gefühl. Wir Anständigen gegen die amoralischen ManagerInnen, die gierig Kapital raffen.

K

Debattenkonjunktur. Diese verkürzte Krisenanalyse zeigt sich auch in den Bewältigungsstrategien. Hier ist zwischen kurz- bis mittelfristigen Sofortmaßnahmen und langfristigen Strukturmaßnahmen zu unterscheiden. Kurzfristig agierten viele Länder ähnlich mit einer, fast biederen, keynesianischen Wirtschaftspolitik. Die Staaten schnürten Rettungspakete, um die ‚systemerhaltenden‘ Banken zu stabilisieren und somit die soziale Ordnung zu gewährleisten. Bald darauf folgten die ersten Konjunkturpakete, mit dem Ziel die erlahmte Realwirtschaft wieder in Gang zu bringen. Bei diesen ließen sich die wenigsten Staaten auf Experimente ein: Stärkung der Eigenkapitalbasis von Unternehmen, günstige Kredite, Steuererleichterungen sowie Investitionen, vor allem in die Bau-

branche, wurden zu den beliebtesten Rezepten. Die Kontingente fielen allerdings sehr unterschiedlich aus. Während Länder wie die Schweiz nur sehr kleine Gesamtpakete (0,5 Prozent des BIP) schnürten, investierten die großen, stark betroffenen Volkswirtschaften sehr viel mehr. An der Spitze steht hier die USA mit Konjunkturpaketen, die 26 Prozent des BIP ausmachen, das sind 789 Milliarden Dollar. Über Bargeldgutschreibungen für jede Bürgerin und jeden Bürger, Subventionierungen beim Auto- und Häuserkauf sowie Investitionen in die Gesundheitsvorsorge wird auch heute noch versucht, die Kaufkraft zu stabilisieren, mit dem eisernen Ziel zurück zu einem Wirtschaftswachstum zu gelangen. Während aber die Konjunktur in den USA noch nicht anspringen will, prognostizieren WirtschaftsforscherInnen einiger EU-Länder wieder Wachstum. In Folge wird derzeit eine zweite Welle von (Spar-)Paketen geschnürt. Obwohl bei ihrer Ausgestaltung ein einheitlicher europäischer Trend auszumachen ist, stechen Griechenland und Großbritannien mit ihren Sparpaketen hier besonders hervor. In beiden Ländern wird immens an den Sozialausgaben gespart. In beiden Ländern gibt es zum Teil massiven Widerstand gegen diese Pläne. Strukturelle Maßnahmen. Der Zielrichtung der Debatten um die richtigen Lösungskonzepte stehen eklatante Brüche zwischen Reden und Handeln gegenüber. In gewissen Abständen kommt etwa die „Tobin Tax“ auf das Tapet. Diese Steuer soll kurzfristige Spekulationen auf Devisengeschäfte unterbinden. Eingeführt wurde sie bis heute, trotz breiter und gewichtiger Unterstützung, nicht. Zwei Maßnahmen wurden aber in den meisten Ländern der EU durchgesetzt: Zum einen die Begrenzung der Boni für BankerInnen, diese werden künftig auch gedeckelt

und dürfen somit nur mehr in einer gewissen Höhe ausbezahlt werden. In Österreich tritt das diesbezügliche Gesetz am 1. Jänner 2011 in Kraft. Außerdem stellt die EU aktuell ein Spekulations-Gütesiegel vor. Dieses Gütesiegel soll Hedgefonds und ähnliche Unternehmungen bald in seriöse und unseriöse einteilen. So werden dann eben die „guten“ von den „bösen“ SpekulantInnen unterschieden. Diese lässt sich wiederum gut mit der verkürzten Krisenanalyse assoziieren. In der öffentlichen Debatte werden diese Maßnahmen durchwegs als positiv bewertet. Dass diese aber kaum an der Oberfläche der Krisenursachen kratzen, geht oft unter. Dieses Manko führt zu einer diffusen Vorstellung über die strukturellen Ursachen der Krise und wird, wiedereinmal, mit einem MoralDiskurs überdeckt. Bei der Bewertung der Lösungsansätze stellt sich schließlich ein weiteres Problem: Die Regierungen scheinen sich im Unklaren darüber zu befinden, wohin diese führen sollen. Ist das Ziel eine umfassende Regulation der Finanzmärkte oder begnügen sich die Regierungen mit Einzelmaßnahmen?

Guter und böser Kapitalismus. Die Hilflosigkeit des staatlichen Handelns ist klar erkennbar. Während er einerseits in kurz- und mittelfristigen Stabilisierungsmaßnahmen viel an Macht und Einfluss gewonnen hat, so agieren die meisten Staaten bei Strukturmaßnahmen zögerlich bis hilflos. So erscheint der Staat als Retter in der Not – eine heroische Rolle, die ihm im medialen Diskurs zukommt. Staatliche Handlungsspielräume wurden hingegen kaum geschaffen. Der Diskurs um Moral, Werte und Gier bestimmte die Krisenanalyse und wälzt die Schuld auf einzelne Menschen ab. Eine klassisch neoliberale Strategie. Nicht das System hat versagt, sondern einzelne Menschen. Handlungsspielräume werden nicht allgemein strukturell sondern über den Willen des Einzelnen oder der Einzelnen erklärt. Appelliert wird an das Gute oder das Diabolische. Die soziale Marktwirtschaft übernahm lange Zeit die Rolle des „guten“ Kapitalismus. Dieser Traum vom guten Kapitalismus scheint ausgeträumt, jetzt wird auf den ein-bisschen-besseren Kapitalismus gepocht. N Die Autorin studiert Politikwisschenschaft.


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Gutes Leben statt Wachstumswahn Von der Wachstumskritik zur solidarischen Postwachstumsökonomie. Ein Kommentar von Matthias Schmelzer und Alexis J. Passadakis.

Matthias Schmelzer & Alexis J. Passadakis

ie Weltwirtschaftskrise verläuft wie ein Schwelbrand, flackert erst hier und dann dort auf. Ein Ende ist nicht in Sicht. Das ist kein Wunder, denn Krisen gehören zur Normalität der kapitalistischen Ökonomie, wie ein Blick in die Geschichtsbücher schnell verrät. Und bis sich eine Krise vom Kaliber der Großen Depression der 1930er Jahre voll entfaltet hat, dauert es seine Zeit. Schließlich liegt der Kollaps der Lehmann Bank erst zwei Jahre zurück. Gleichzeitig wirft die Doppelkrise des fossilistischen Weltenergiesystems ihre verheerenden Schatten voraus. Die Fluten im Sommer dieses Jahres in Pakistan demonstrierten dramatisch die Folgen der Klimaerwärmung. Und Ressourcenkriege wie im Irak oder die Straßenproteste in Mosambique gegen hohe Lebensmittel- und Energiepreise Anfang September deuten an, wie sich Energie- und Rohstoffverknappung und das baldige Erreichen des Fördermaximums von Öl (Peak Oil) auswirken könnten. Angesichts der Desaster, die das derzeitige Akkumulationsmodell (accumulare, lat.: anhäufen) des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus mit sich bringt, hat gegenwärtig eine Renaissance des Nachdenkens über andere ökonomische Systeme, über Leben und Wirtschaften ohne Wachstum, begonnen. Trotz der multiplen Krise sitzen allerdings die neoliberalen PropagandistInnen von „rationalen“ und „effizienten“ (Finanz-) Märkten weiterhin fest im Sattel. Lernkurve = sehr flach. Dementsprechend ist „mehr Wachstum“ die Parole aller Regierungen, um aus der Krise herauszukommen und insbesondere die Banken zu retten. Und welche Relevanz eine tatsächliche Bearbeitung der Klimakrise für die meisten Regierungen hat, ist an dem Kollaps der Klimaverhandlungen im vergangenen Dezember in Kopenhagen

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abzulesen: Keine Große. Dass ein auf Wachstum basiertes Wirtschaftssystem an ökologische Grenzen stoßen wird, ist allerdings spätestens seit Anfang der 1970er Jahre ein Allgemeinplatz. „Jeder, der glaubt, dass exponentielles Wachstum auf einem begrenzten Planeten unendlich weitergehen kann, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom“, sagte in diesem Kontext Kenneth Boulding (1910–1993), selbst Mitglied der Ökonomenzunft und ehemals Präsident der einflussreichen American Economic Association. Trotzdem greifen viele als Alternativmodell zum Casino-Kapitalismus auf die bis Ende der 1970er Jahre vorherrschenden so genannten keynesianischen Politikrezepte zurück. Der britische Ökonom John M. Keynes hatte in den 1930er Jahren eine ökonomische Entwicklungsweise skizziert, die auf hohen Löhnen, stabilen sozialen Sicherungsystemen und massiven öffentlichen Investitionen beruhte, um so die Basis für eine breite Massennachfrage zu schaffen. Ganz im Gegensatz also zum neoliberalen Modell, welches Niedrigstlöhne, Prekarisierung und mit Hilfe von Steuersenkungen für die Reichen nur ausgetrocknete öffentliche Haushalte im Angebot hat. Unbestritten boten keynesianische Strategien für viele Bevölkerungsgruppen einen Ausweg aus der Armut und einen angenehmen Lebensstandard – zumindest wenn man im Norden des Globus lebte und nicht im Süden, der schlicht billige Rohstoffe zu liefern hatte. Der Journalist Gerald Fricke fragt noch einen Schritt weiter: „War eigentlich früher, als der goldene Keynesianismus noch funktionierte, alles besser? Als man noch für sein Auto arbeitete, mit dem man dann zur Arbeit fuhr, um für sein Auto zu arbeiten, mit dem man dann wieder zur Arbeit fuhr, auf Straßen, die Papa Staat fleißig baute und Scheiß auf die Umwelt? Natürlich nicht, aber manchmal glaubt man‘s irgendwie fast.“

Einen ansatzweise kohärenten Versuch einer korrigierenden Weiterentwicklung bemühen sich (öko-) keynesianische Ansätze zu skizzieren – mit Hilfe von Regulierungskonzepten und Investitionen in zum Beispiel erneuerbare Energien und Bildung. Angesichts der Dimension der Verwerfungen der Weltwirtschaft und der Zerstörungen der Biosphäre greifen sie jedoch zu kurz. Ein Abschied vom Wachstumswahn wird nicht gewagt. Im Gegenteil: es geht gerade um die Dynamik eines neuen, „grünen“ oder „nachhaltigen“ Wachstumszyklus. Eine solidarische Gesellschaft, die ohne die Nutzung eines imperialen UmweltraumS (Öl aus Kuwait, Kohle aus Kolumbien, Soja aus Brasilien etc.) auskommt und darauf zielt, Bedingungen zu schaffen, die allen weltweit die Verwirklichung sozialer Rechte ermöglicht, wird es allerdings ohne den Schritt in eine Postwachstumsökonomie kaum geben können. Denn die imperiale Lebensweise, das fossilistische Produktionsund Konsummodell, das sich in den entwickelten Ökonomien des globalen Nordens durchgesetzt hat, ist nicht verallgemeinerbar, auch nicht durch technischen Fortschritt. Zum Beispiel lassen sich die im Norden notwendigen CO2-Reduktionen um 95 Prozent bis 2050 nicht bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum erreichen. Die technischen (Effizienz-) Innovationen, die den notwendigen Grad von absoluter Entkopplung von BIP-Steigerung bei gleichzeitigem massivem Sinken des Naturverbrauchs ermöglichen, sind nicht möglich. Der Ausweg: Eine zunächst deutlich schrumpfende und sich dann auf einem ökologisch tragfähigen Niveau stabilisierende Ökonomie. Inzwischen gibt es eine Reihe wissenschaftlicher Tagungen, es werden laufend neue Artikel und Bücher veröffentlicht und die Diskussion wird von aktivistischen Klima-Aktionscamps bis in Parteien geführt. Dabei besteht zum einen die

Gefahr, dass zwar die richtigen Fragen gestellt, die daraus folgenden weit reichenden Antworten aber gescheut werden. Schließlich würde der ernsthafte Versuch eine Postwachstumsökonomie zu denken und durchzusetzen, grundsätzliche Prinzipien von Wirtschaft und Gesellschaft umstoßen, insbesondere das Profitprinzip. Zum anderen besteht die Gefahr falscher, unsolidarischer Antworten: Einige Neoliberale – in Deutschland zum Beispiel Meinhard Miegel – sind inzwischen zu Wachstumskritikern geworden. Ihre Formel ist simpel: Wegen ökologischer Grenzen muss die Ökonomie schrumpfen, und auf diesem Wege kann man praktischerweise den Sozialstaat auch schrumpfen und das Rentenalter erhöhen. So kann Wachstumskritik zur Legitimaton von Armut benutzt werden, statt Umverteilung und soziale Gleichheit als Bedingung für eine schwierige Transformation zu fordern. Besonders in Südeuropa gibt es seit einigen Jahren eine sehr lebendige Diskussion, die sowohl lokal in Netzwerken solidarischer Ökonomie verankert ist, als auch transnational vernetzt über die internationalen Degrowth Konferenzen (Paris 2008, Barcelona 2010) stattfindet. In Frankreich gibt sich diese Bewegung das Label décroissance – frei übersetzt „Ent-Wachstum“ (engl. degrowth), als der aktive Prozess der Rücknahme von Wachstum und Schrumpfung hin zu einer solidarischen Postwachstumsökonomie. Nur in einer solchen ist die Zukunft, die Verwirklichung sozialer Rechte und ein gutes Leben weltweit für alle möglich. Es geht daher darum, grundlegende Alternativen zu denken und diese in konkreten Kämpfen zuzuspitzen. N

Matthias Schmelzer ist Politikwissenschafter und Historiker. Alexis J. Passadakis ist Politikwissenschafter, beide sind aktiv bei ATTAC-Deutschland. Blog: www.postwachstum.net


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Feuilleton

Der Tod ist ein Klagenfurter Ein Kommentar von Alexander Fanta

ien ist eine Weltstadt. Oder zumindest so ähnlich. Immerhin: In Wien leben mehr Junge, mehr Fremde, mehr Aufrüher und Exoten als sonst wo in unserem kleinen Land. In Wien trifft sich alles, fließen Bosporus und Balkan zusammen. Auch ein Herr Strache kann nicht behaupten, Wien sei ein ödes Kuhdorf, eine reine Verwaltungshauptstadt, ein BeamtInnenest. Ironischerweise war genau das die Befürchtung unserer Landsleute in den 1960er Jahren. In den Gründungsjahren der Zweiten Republik waren jene am Ruder, die noch das alte Österreich kannten, die Habsburger-Monarchie. Damals hatte Wien zwei Millionen EinwohnerInnen, und war die Hauptstadt für über 50 Millionen Menschen. Nach dem Krieg entleerte sich die Stadt, viele flohen aus der nunmehrigen sowjetischen Besatzungszone. Wien drohte zu überaltern, es war nicht mehr attraktiv für ZuwandererInnen. Diese Malaise beklagte der konservative Publizist Alexander Vodopivec im Jahr 1966 in einem Buch, das lustigerweise den Titel Die Balkanisierung Österreichs trägt. Für Vodopivec war „Balkan“ ein Synonym für Korruption und Misswirtschaft. Verantwortlich dafür machte er die große Koalition, die er – Überraschung! – für ein Grundübel Österreichs hielt. Die BalkanesInnen und SlawInnen, die BosnierInnen und BöhmInnen, die beklagte er nur in

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ihrer Abwesenheit. Denn eine Stadt sei kaputt und nekrotisch, wenn keiner dort leben wolle, wenn alles wegwandere und wegsterbe, schrieb Vodopivec. Das schlaue Argument von damals offenbart eine Wahrheit über das Heute. Wien ist eine Stadt der Fremden, ja wurde gar von Fremden gegründet – den Römern. Die Stadt lebte darauf vom Handel, später von der Industrie, immer brauchte sie ZuwandererInnen als Arbeitskräfte. Sie verliehen der Stadt ihren Charakter. Schon allein die Speisen, für die sich Wien feiern lässt, sind ausgeliehen: Das Wienerschnitzel aus dem Italienischen, das Gulasch von den UngarInnen, das meiste andere von den BöhmInnen. Was also wollen die rechten Hetzer, wenn sie gegen Zuwanderung anschreien? Sie wollen den nekrophilen Mief vergangener Tage schnuppern. Wer zurückgeht hinter die Geschichte, wünscht sich keine wirkliche Weltstadt Wien. Der wünscht sich eine fade Provinzmetropole ohne urbanen Charakter, wo DorfgesellInnen und Döblinger SpießbürgerInnen das große Wort führen. Mit einem Wort: Die HetzerInnen wünschen sich, dass aus Wien Klagenfurt werde. Nur zu, liebe HetzerInnen!, geht doch einfach nach Kärnten, dort droht ohnehin EinwohnerInnenschwund. N Der Autor studiert Politikwissenschaft in Wien. Kurzmeldungen

Jenseits des Wachstums. Die deutsche Attac-Sektion veranstaltet in Kooperation mit anderen Organisationen vom 20.22. Mai 2011 in Berlin den Kongress Jenseits des Wachstums?!. Mit zahlreichen KooperationspartnerInnen und VertreterInnen sozialer Bewegungen aus Nord und Süd wird kontrovers über die verschiedenen Wachstumsparadigmen gestritten. In den über 70 einzelnen Veranstaltungen sollen vor allem links-/öko-keynesianischen Postitionen und wachstumskritischen Konzepte dikutiert werden. Gemeinsam sollen Perspektiven einer solidarischen Postwachstumsökonomie gefunden werden.

Post-Weihnacht Prä-Silvester Slam. Noch einmal bevor sich das Jahr 2010 dem Ende neigt, lädt textstrom zum Poetry Slam ins Wiener rhiz. Am 29.12. sind TexterInnen und DichterInnen angehalten, ihre Werke in zwei Runden vorzutragen. Dabei gibt es nur zwei Regeln: Selbstverfasst muss es sein, und nicht länger als fünf Minuten dauern. Das Publikum ist dabei nicht nur ZuhörerIn: Pro Beitrag werden sechs Leute ausgwählt, die die Texte mit Schautafeln von eins bis sechs bewerten können. Für musikalische Untermalung wird diesmal mieze medusa sorgen, der Eintritt ist wie immer frei, Spenden erwünscht.

Revolution am Bankomaten. Eric Contana, ehemaliger Fußballprofi, hat per youtube-Video zu einer weltweiten Aktion gegen die Macht der Banken aufgerufen: Am 7. Dezember sollen möglichst viele Menschen gleichzeitig ihr gesamtes Geld von den Banken nehmen, um diese in die Knie zu zwingen. Der Termin ist nicht zufällig gewählt, denn die Miete sollte schon bezahlt und Arbeitslosengeld oder Gehalt eingegangen sein. Laut Contana bräuchte es 20 Mio. Menschen, um das System zusammenbrechen zu lassen. Alle, die gerne ein Teil davon sein möchten, sollten am 7. Dezember ihre Ersparnisse von der Bank holen.

Kongress: www.jenseits-des-wachstums.de

Alle Infos und Anmeldung: www.textstrom.at

Infos unter: bankrun2010.com


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Der kommende Aufstand Die Linke hat eine neue Bibel: Ein anarchistisches Manifest geht um die Welt, während der Staat seine AutorInnen jagt.

Wolfgang Zwander

s gibt Texte, die Geschichte schreiben. Durchaus im wörtlichen Sinn: Sie verbreiten Ideen, die noch nicht an der Macht sind, aber bereits in den Köpfen. Sie geben dem Unbehagen, das allenthalben gespürt wird, eine Form und einen Ausdruck. Zur Zeit geht so eine Schrift auf der ganzen Welt um: Der kommende Aufstand ist ein Manifest, das Staat und Kapitalismus den Krieg erklärt. Es erschien vor drei Jahren in Frankreich im Anschluss der Krawalle in den Banlieues, als Verfasser zeichnet das Unsichtbare Komitee. Die französische Sonderpolizei stürmte eine Kommune auf dem Land, um einen mutmaßlichen Autor, den Philosophen Julien Coupat, festzunehmen, was das Ansehen des Textes nur noch steigerte und ihn international bekannt machte. Der reaktionäre US-Fernsehstar Glenn Beck hielt die englische Übersetzung des Buches in die Kamera und nannte es „möglicherweise das Böseste, was ich jemals gelesen habe“. Die Linken riefen zur Bewaffnung auf, warnte er seine ZuseherInnen. Seit Sommer dieses Jahres ist der Text auch auf Deutsch erhältlich, woraufhin er die deutschen Zeitungen eroberte. Die wichtigsten FeuilletonistInnen widmeten dem Pamphlet ihre Gedanken und versetzten es in den Rang einer neuen „Bibel der Linken“.

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Attac wird verspottet. Was hat dieser Text zu bieten, dass er in versifften Studierendenheimen gleichermaßen fasziniert gelesen und diskutiert wird

wie in den Glaspalästen der großen Redaktionen? Zuallererst stimmt, dass er wirklich gut geschrieben ist, darüber herrscht Einigkeit. Aber die Essenz des kommenden Aufstands ist etwas anderes. Was das Werk so faszinierend macht, ist die so simple wie radikale Feststellung, dass sich der real existierende Kapitalismus nicht zähmen lässt. Dass es den Reichen immer gelingen wird, den Netzen des Steuerstaats zu entwischen. Attac, Grüne, Gewerkschaften, SozialdemokratInnen: Das Unsichtbare Komitee verhöhnt und verspottet sie alle. Sie trügen nur dazu bei, den verhassten Staat und seine bewaffneten Arme, die das Kapital schützen, am Leben zu halten. Aber müsste nicht zumindest der Wohlfahrtsstaat verteidigt werden? „Der Behinderte ist das Vorbild der kommenden Bürgerlichkeit. Es ist nicht ohne jede Vorahnung, dass die Vereine, die ihn ausbeuten, ein existenzsicherndes Grundeinkommen für ihn fordern“, antwortet das Unsichtbare Komitee. Aber sollte nicht zumindest versucht werden, das System von innen zu verändern? „Es gibt keinen Grund, sich in diesem oder jenem Bürgerkollektiv zu engagieren, in dieser oder jenen Sackgasse der radikalen Linken, in der letzten vereinten Hochstapelei“, schreiben die unsichtbaren KommunardInnen. Ihre Haltung ist nicht ganz neu, KommunistInnen verfochten im 20. Jahrhundert eine ähnliche Sicht. Neu sind aber die Antworten, die Der kommende Aufstand bietet, um den Besitzenden die Macht zu entreißen. Nicht mehr Einparteien-Diktatur und Verstaatlichung der Produktionsmittel sollen der Linken den Sieg bringen, sondern Sabotage, Rückzug, Anonymität und „Partisanenkampf“.

Wenn der Staat begraben ist, was folgt ihm nach?

Der Partisan im Wald. Wie das Erfolg bringen soll? „Georges Guingouin, der ‚erste Partisan in Frankreich‘, hatte als Ausgangspunkt 1940 nur die Sicherheit seiner Ablehnung der Besatzung“, schreiben die AutorInnen. Damals sei er für die Kommunistische Partei „nur so ein Spinner, der im Wald lebt“ gewesen; bis es „zwanzigtausend Spinner waren, die im Wald lebten“ und die eine Stadt von den Nazis befreit hätten. Der Partisan im Wald zeigt vor, wie die Logik des Kapitals überwunden werden soll. Es gehe darum, Gruppen zu bilden und sich selbst zu organisieren, um der Hybris des Staates, der alles kontrollieren will, zu entkommen. Hier wird klar, warum Der kommende Aufstand so vielen und gerade auch konservativen FeuilletonistInnen leise zuspricht: Die extreme Linke stimmt ein in das konservative Unbehagen am Staat, der einer Krake gleich mit seinen Tentakeln immer tiefer in unser Leben eindringt, um die „öffentliche Sicherheit“ und letztlich sich selbst zu erhalten. Er operiert mit Videoüberwachung, Rasterfahndung und unscharf formulierten „Mafiaparagraphen“, die jeden Kegelverein ins Gefängnis bringen können. Wobei Repression aber nur einer der beiden Janusköpfe der Staatlichkeit ist: Der Ausweitung der Überwachung auf der einen Seite entspricht der Ausbau des Wohlfahrtsstaates auf der anderen. Der Sozialstaat trat in der Geschichte immer als Alter Ego des Kontrollstaates auf. Wer gibt, macht das nicht ohne Preis – der Staat tauscht seit jeher Freiheit gegen die Sicherheit seiner BürgerInnen. So muss es nicht wundern, dass die linksliberale Berliner tageszeitung weit hysterischer als die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung ( FAZ ) auf ein Manifest reagiert, das den Staat vernichten soll. Schwarze Geländewägen. Wie würde aber die Welt aussehen, wenn Der kommende Aufstand gelänge? Die AutorInnen schreiben, „eine aufständische Erhebung ist vielleicht nichts anderes als eine Vervielfachung der Kommunen, ihrer Verbindungen und ihres Zusammenspiels“ und jegliche Kommune könne „nur zwangsläufig nach Selbstversorgung streben und in ihrem Innern Geld als etwas Lächerliches und genau gesagt Deplaziertes empfinden“. Der FAZ schwebt für den Fall eines Sieges des Unsichtbaren Komitees etwas anderes vor: „Die unsichtbaren linken Militanten überschätzen ihre Kraft: Eine kollabierende öffentliche Ordnung würde (…) durch eine Mafia regiert. Wenn die Züge nicht mehr fahren, folgt nichts Besseres. Nach dem kommenden Aufstand kommen die schwarzen Geländewagen.“ N Der Autor studiert Journalismus in Wien.

Foto: Hamann


Foto: Kurz

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Zeit statt Zasta Tauschkreisexperimente verstehen sich als Alternative zum geldbestimmten Wirtschaftssystem und als eine Form von Solidarischer Ökonomie. Es gibt sie auch in Österreich.

Lukas Ellmer

ie Idee der Solidarischen Ökonomie hat viele Projekte mit sehr unterschiedlichen Ansätzen hervorgebracht. In der Praxis werden unter diesem weitgefassten Begriff Initiativen wie Kost-Nix-Läden, Faire Gemeinden, ReproduktionsgenossInnenschaften, solidarische Mikrokredite und viele andere zusammengefasst. Ihr Ziel ist es eine Ökonomie zu schaffen, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht umgekehrt. Erreicht werden soll dies unter anderem über regionale Projekte, die sich aber durchaus interregional vernetzen. Ein Teil davon bilden Tauschkreise, auch Zeittauschbörsen genannt, bei denen geldloses Tauschen von Dienstleistungen und Waren auf regionaler Ebene ermöglicht wird.

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Zeit ist Geld? Die ersten Tauschkreis-Projekte starteten in den 1990ern und konnten sich seither einer stetigen Verbreitung erfreuen. Vor allem in den letzten Jahren bildeten sich viele neue Zeittauschbörsen, nicht nur in Österreich. Die Idee leitet sich von einer grundsätzlichen Kritik am vom Geld gesteuerten Wirtschaftssystem ab. Vor allem Zins und Zinseszins werden dabei stark abgelehnt. Als Alternative wird bei Tauschkreisen die Zeit als „Währungseinheit“ begriffen. Eine Stunde bleibt immer gleich viel wert, egal ob es dabei ums Abwaschen oder Computer-Programmieren geht. Bei dieser Form von Tausch entsteht we-

der Zins noch Wertverlust. Dabei muss es sich nicht um einen direkten Tausch zwischen zwei Personen handeln, es kann jede Leistung aus dem Pool an Angeboten ausgewählt werden. Ein einfaches Beispiel: Mirijam hilft Thomas eine Stunde lang bei der Gartenarbeit und lässt sich dafür zwei Wochen später beim Ausmalen von Nadin unterstützen. Auf diese Weise kann jede Person für eine erbrachte Leistung das Angebot von anderen Mitgliedern des Tauschkreises in Anspruch nehmen. Es können auch Schulden gemacht werden, die am Stunden-Konto der Person verbleiben. In Niederösterreich beteiligen sich momentan etwa 300 Menschen am Talente-Tauschkreis, der in sieben Regionalgruppen unterteilt ist. Neben einer Online-Datenbank, die Übersicht für alle Mitglieder garantiert werden auch monatliche Koordinationstreffen veranstaltet. Die aktive Teilnahme an dieser Form der Nachbarschaftshilfe ist für Menschen mit wenig Geld natürlich besonders interessant. So sind es hauptsächlich PensionistInnen, Arbeitslose und „Hausfrauen“, die das Angebot nutzen. Jugendliche und Erwerbstätige beteiligen sich nur in Ausnahmefällen am Projekt. Für Arbeitslose etwa kann ein Tauschkreis eine wichtige Organisation sein. Ob die Teilnahme daran einen Arbeitsplatz ersetzen kann, dürfte aber von Fall zu Fall unterschiedlich zu bewerten sein. So können Zeit-Gutscheine, sofern diese in Anspruch genommen werden, nur zu einem gewissen Ausmaß ein-

gesetzt werden, da das Finanzamt auch diese als Einkommen verrechnet und die Grenze von knapp 4000 Euro pro Jahr (1h = 10 Euro) nicht überschritten werden darf. Vergessen werden darf auch nicht, dass ein Tauschkreis nur Teilweise ein Ersatz für ein monetäres Einkommen ist. Die Miete für eine Wohnung etwa kann über dieses Tauschsystem nicht beglichen werden. Barter-Ring. Auch für kleine und mittlere Unternehmen besteht die Möglichkeit, sich am Niederösterreichischen Tauschkreis zu beteiligen. Dieses System wird als BarterRing bezeichnet und bietet lokalen Unternehmen die Möglichkeit beim Tauschsystem mitzumachen. Dieser funktioniert in den Grundzügen gleich wie das Zeit-Tauschen zwischen Privatpersonen. Unternehmen, die Zeit-Gutscheine von Mitgliedern annehmen, können diese gleichwertig weiterverwenden. Entweder sie nehmen das Angebot einzelner Personen in Anspruch oder sie tauschen wiederum mit anderen Unternehmen in der Umgebung. Will ein Unternehmen aus den eingenommenen Zeit-Gutscheinen aber Geld machen, muss eine Abgabe entrichtet werden. Das soll dazu animieren, vermehrt Geschäfte mit andern regionalen Betrieben zu machen, als mit großen internationalen Billiganbietern. Auf diese Weise bekommt der Tauschkreis eine größere wirtschaftliche Bedeutung, indem lokale Unternehmen und ProduzentInnen gefördert werden. Die teilnehmenden Unternehmen sind auch dazu ver-

pflichtet, die Leistungen, die mit Zeit-Gutscheinen beglichen werden, zu versteuern, denn ob in Zeit oder Geld bezahlt wird, ändert nichts an der Steuerpflicht. Tauschkreise werden von Franz Holzer, Obmann des TalenteTauschkreis Niederösterreich, aber nicht als Alternative zum bestehenden Wirtschaftssystem gesehen, sondern nur als Ergänzung dessen. Gezielt wird sowohl auf den lokalen Einfluss als auch in die Hoffnung, über kleine Veränderungen in der Gemeinde schließlich auch größere Prozesse anstoßen zu können. Der Tauschkreis ist gänzlich von der Motivation und Beteiligung der Mitglieder abhängig und kann auch in diesem Sinne mit anderen Projekten der Solidarischen Ökonomie verglichen werden. Im Unterschied zu Kost-Nix-Läden oder Volksküchen werden durch den Barter-Ring auch UnternehmerInnen in das Projekt einbezogen. Franz Holzer sieht im Tauschkreisexperiment durchaus auch eine Perspektive für die Zukunft. Er geht davon aus, dass die regionalen Gruppen weiterhin an Zulauf gewinnen werden. Denn das Vertrauen in das gegenwärtige Wirtschaftssystem werde weiter sinken. Schließlich ist es schwer, Vorhersagen über die Entwicklung von Wert und Bedeutung des Geldes zu treffen. Eine Stunde, die ich heute tausche, bleibt aber voraussichtlich auch in 20 Jahren noch eine Stunde. N Der Autor studiert Soziologie in Wien.


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Foto: Almasy

Reise zu einem alten Nachbarn Die Autorin des vorliegenden Artikels entdeckte bei ihrer Reise in die Vojvodina erstaunliche Parallelen zwischen ihrer Kärntner Heimat und Serbien. Ein Essay.

Karin Almasy

er die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte“, sagte einst Kurt Tucholsky. Diesen Sommer verschlug es mich nach Serbien, nach Novi Sad, in die Hauptstadt der Vojvodina, um Serbisch zu lernen und das nächste Sommersemester werde ich dort verbringen. In Österreich gehen diesbezüglich außer in slawophilen Kreisen die allgemeinen Reaktionen in Richtung „Aha, Serbien, wieso machst du denn das?“, was mich aber nicht nachhaltig erschüttert, weil die Reaktionen ähnlich waren, als ich mit dem Slowenischstudium begann. Diesen, im Allgemeinen diffusen „antislawischen Reflex“, um mit den Worten eines Freundes zu sprechen, kannte ich schon: Schließlich gelten etwa slawische Sprachen immer noch als ExotInnenstudien, der Balkan und Südosteuropa immer noch als stiefmütterliche Gebiete der Geschichtswissenschaften und als terra incognita der DurchschnittsösterreicherInnen, wenn man von der kroatischen Küste mal absieht. Noch einmal schlimmer und eigentlich genauso diffus wütet dieser antislawische, hier antislowenische Reflex in meinem Heimatbundesland Kärnten. Gerade als Kärntnerin zeigten sich mir erstaunliche Parallelen, als ich nun Serbien ein bisschen kennen lernte: Die Vojvodina bzw. ganz Serbien und Kärnten sind aus ähnlichen Gründen wunderschön, wie sie auch an denselben Problemen und Krankheiten laborieren.

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In Geiselhaft. Zunächst vielleicht eine kurze Vorstellung: Die Vojvodina, einst „Kornkammer Serbiens“ genannt, ist der nördlichste Teil des Landes und unterschiedet sich

vom restlichen Serbien. Die Vojvodina ist bunt in vielerlei Hinsicht, war sie etwa immer schon Heimat vieler verschiedener Volksgruppen, Religionen und Sprachen. Neben SerbInnen, die mittlerweile die Mehrheit stellen, leben hier UngarInnen, SlowakInnen, Roma und Sinthi, KroatInnen, BulgarInnen, RumänInnen, BunjewatzInnen, GoranInnen, RussInnen und viele mehr. Die Provinz kann als ein vorbildliches Beispiel für Mehrsprachigkeit, Minderheitenschutz und politischer Partizipation der Volksgruppen gelten – also etwas, was man sich für Kärnten nur wünschen kann. Als Folge dessen sind offizielle Aufschriften und Anschriften sehr lang: Der Stempel der Universität etwa ist handtellergroß, um dem Namen der Universität in allen Amtssprachen Platz zu bieten. Bunt ist die Vojvodina auch landschaftlich, durchzogen von Donau, Theiß, Save und ihren unzähligen Nebenarmen, und sehr fruchtbar: Pannonisch flach sieht man oft nicht, wo die riesengroßen Sonnenblumenoder Weizenfelder enden. In Serbien gibt es wie in vielen anderen Staaten ein Nord-Südgefälle. Die Vojvodina gilt als reicher, relativ gut entwickelter Norden mit (für serbische Verhältnisse) viel Wohlstand und Stabilität und wenig Arbeitslosigkeit und Nationalismus. Nicht so zufällig also, dass das größte Musikfestival Südosteuropas Exit in Novi Sad stattfindet, wo es vor elf Jahren von einer studentischen Bewegung gegen das Milošević-Regime gegründet worden ist. Was wir in den letzten 20 Jahren über die Medien von Serbien gehört haben lässt sich leicht unter ein paar Schlagwörtern zusammenfassen: Nationalismus, Milošević, Kriegsverbrechen. Serbien ist medi-

al (aus gutem Grund) schlecht weggekommen. Aber: Es gibt auch ein anderes Serbien. So wie ich oft betonen muss, dass es auch ein anderes Kärnten gibt, fern von dem Haidergeprägten. Es gibt junge Menschen, denen bei diesen Parolen schlecht wird, die sich nicht damit identifizieren und versuchen, es besser zu machen. Und solche gibt es eben auch in Serbien. Erzählt von uns! Ein Anliegen kam auf der Sommerschule der Universität, die wir besuchten, öfter auf: Ihr, die ihr hier wart, habt nun gesehen, dass Serbien sehr schön und lebenswert sein kann – wenn ihr wieder nach Hause geht, dann erzählt dort davon. Jenen, die in Serbien die Stellung halten, ist also glasklar, wie Serbien in den letzten Jahren medial im Ausland rezipiert wurde. Ich tue es hiermit sehr gerne, weil ich noch nie gastfreundlichere Menschen getroffen habe als dort. An dieses Ausmaß an Gastfreundschaft muss man sich erst mal gewöhnen: Manches Mal war es uns schon unangenehm, weil wir das Gefühl hatten, nicht genügend zurückzugegeben. Aber das war eine falsche Denkweise. Mittlerweise habe ich ihre Art von Gastfreundschaft verstanden: Sie ist kategorischer Imperativ und hat nichts mit Berechnung oder Reichtum zu tun. Ja, wir sind „dem Balkan“ in vielerlei Hinsicht voraus (demokratiepolitisch, wirtschaftlich, in der Bekämpfung von Korruption und Arbeitslosigkeit), aber in mancherlei Hinsicht sollten wir uns was von ihm abschauen. Es gibt noch eine andere traurige Parallele zwischen Serbien und Kärnten: Der Exodus der jungen, unternehmungslustigen, gebildeten Elite. Kärnten entschwinden pro Tag vier KärntnerInnen und neben der geringen Zuwanderung

und der niedrigen Geburtenrate ist das Auswandern der Bildungselite der Hauptgrund dafür. Serbien leidet im Vergleich noch viel stärker an diesem Brain-drain: In den Neunzigern verließen fast eine halbe Million junge, gut ausgebildete SerbInnen ihr Land (darunter 33 Prozent der 20- bis 30-Jährigen) – und dieser Trend hält an. In einer Umfrage gaben 20 Prozent der hochqualifizierten SerbInnen an, sie seien fest entschlossen auszuwandern, und immerhin 54 Prozent waren der Idee nicht abgeneigt. Zurück bleiben vielfach die Unterprivilegierten und die schlecht Gebildeten, denen die korrupten PolitikerInnen auf der Nase herumtanzen können. Es liegt mir fern, ein romantisch-verklärtes Bild von Serbien zu zeichnen. Klar liegt dort vieles im Argen. Jahrzehnte nationalistischer Manipulation haben ihre Spuren hinterlassen. Allerdings sind wir sehr schnell mit einem Urteil bei der Hand, wenn es um ein Land geht, das nur die wenigsten von uns selbst bereist haben. Ganz klar, in unserem GastarbeiterInnenbus, der einmal die Woche die Route von Bregenz nach Požarevac abfährt, waren wir auf weiter Flur die einzigen NichtserbInnen. Klar, das Tourismusziel Nummer Eins ist es nicht, wie etwa Kroatien, das übrigens mit ähnlichen Übeln zu kämpfen hat. Der Unterschied ist nur: Kroatien sehen wir es eher nach, „weil dahin fahren wir ja so gern auf Urlaub“. Es ist viel leichter, unbekanntes Land und Leute zu verdammen. Insofern ist es uns nur zu wünschen, in der Zukunft noch stärker zusammenzuwachsen und unsere Nachbarländer überhaupt erst mal kennen zu lernen. N Die Autorin studiert Geschichte des Südöstlichen Europa in Graz.


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„I’m an F-A-G-E-T-T-E!” Hip Hop wird gerne herangezogen, um Sexismus und Männlichkeit zu thematisieren. Was dabei selten in den Blick genommen wird, sind queere Alternativen, wie sie gerade in diesem Bereich immer häufiger ausformuliert und praktiziert werden. Ein Essay mit Blick auf die spannendsten Entwicklungen.

Abseits des Mainstreams. Diese Art Hip Hop, wie ich sie kennen gelernt habe, war die, die den Mainstream bis heute geprägt hat. Hier ist es wichtig, darauf hinzuweisen – wie bell hooks das getan hat – dass genau diese sexistischen und rassisierten Bilder bewusst eingesetzt worden sind, um die kolonial geprägten Fantasien weißer Mittelschichtskinder zu bedienen, die schließlich den größten Markt bilde(te)n. Hip Hop ist aber wesentlich variationsreicher. Seit den Anfängen des Genres in den 1970ern wurde dieser musikalische Ansatz auf Beats zu reimen gerade von Afro-AmerikanerInnen dafür verwendet, klar Stellung zu beziehen. Oft waren Erfahrungen von Unterdrückung und die Wut über gesellschaftliche Umstände der Antrieb, um die eigene Lebensrealität in den Mittelpunkt zu stellen und durch die Benennung aktiv zu einer Veränderung beizutragen. Gerade über die Einbettung dieser Kritik im Kontext von Musik konnten

Homo Hop. Auf diese altbewährten Möglichkeiten griff zur Jahrtausendwende auch das Deep Dickollective zurück. Die in Kalifornien ansässige Formation thematisierte in ihren Songs als eine der ersten explizit schwulen Hip Hop-Gruppen homosexuelles Begehren, und brachte so das heteronormative Grundsetting ins Wanken. Zeitgleich unterwanderten sie die von Konkurrenz und Rivalität geprägte Hip Hop-Kultur auch durch gezielte Vernetzungsarbeit unter queeren RapperInnen. Juba Kalamka, Mitbegründer des Deep Dickollective, initiierte so etwa 2001 das PeaceOUT World Homo Hop Festival, das zur Inspiration vieler weiterer queerer Hip Hop- und Spoken Word-Veranstaltungen in den USA und Großbritannien wurde. Darüber hinaus setzte er sich auch durch die Veröffentlichungen seines Labels Sugartruck Recordings für die Verbreitung queerer Inhalte im Hip Hop ein. Die traditionellen Männlichkeitsvorstellungen im Hip Hop wurden bereits durch das vermehrte Aufkommen rappender Frauen angekratzt, das klare Artikulieren von schwuler Homosexualität setzte dieses Konstrukt aber einem ganz anderen Angriff aus. Denn hier ist es vor allem die Angst, selbst Objekt der Begierde von Männern zu werden, die zur großen Verunsicherung wird. Schwule Präsenz bringt in diesem Denken die Gefahr von Entmännlichung mit sich. „There’s this notion that if you allow a gay presence to enter a battle situation and someone who’s gay out-rhymes you, you have to deal with being de-masculinized“, so Tim’m West von Deep Dickollective. Cuz for real-do, I got a dildo! Neben als schwul gelabelten Männlichkeiten lassen sich gerade im Hip Hop auch andere Alternativen zur Norm finden. So setzt sich etwa Katastrophe in seinen Spoken Word-Performances mit queeren Geschlechtlichkeiten abseits des Bio-Mann-Seins auseinander und thematisiert dabei besonders eloquent sein Leben als Transmann. Auch Athens Boys Choir aka Harvey Katz, der sich selbst in seinem Song Fagette als pansexuell – also eine vorgegebene Einschränkung des eigenen Begehrens in Kategorien wie Mann und Frau verweigernd – definiert, sagt in seinen Lyrics den herkömmlichen Definitionen den Kampf an. Er kombiniert Queer-Aktivismus mit Selbstreflexivität und

Angela Tiefenthaler studiert Geschichte und Technisches Werken auf Lehramt in Wien.

Foto: Katastrophe

ls eine in den 1990ern sozialisierte Teenagerin war lange Zeit alles, was mir aus dem Hip Hop-Genre begegnet ist, geprägt von extrem übersteigerter Männlichkeit. Muskelbepackte, große, breite Körper, deren Voluminösität noch durch möglichst weite Kleidung unterstrichen wurde, wippten da in zahllosen Musikvideos unmotiviert, dafür außerordentlich raumnehmend durch die verschiedensten Partysettings. Ausgestattet mit prestigeträchtigen Statussymbolen inszenierten sich die damaligen Chartstürmer als furchtlose Oberchecker, deren gewaltbereites Gangster-Dasein vor allem auf textlicher Ebene zelebriert und zum identätsstiftenden Charakteristikum wurde. Essentieller Bestandteil dieses Konstrukts war auch die Rolle, die Frauen hier zugeschrieben wurde. Außerordentlich spärlich bekleidet tauchten sie stets als übersexualisierte, stumme, den (einen) Mann anhimmelnde Gruppe auf. Diese Auslegung idealer Männlichkeit, die heterosexuell, stark, erfolgreich, dominant und alles andere als konfliktscheu zu sein hatte, versetzte mich ob ihrer realitätsfernen, übersteigerten Inszenierung meist in gähnende Langeweile. Zeitgleich entzündete sich an den Anteilen innerhalb dieses Bildes, die ich durchaus auch aus meinem Alltag kannte, aber Wut. All das Bling Bling täuschte so nicht über das sexistische Grundsetting hinweg, das auch der in meiner Umgebung zelebrierten hegemonialen Männlichkeit bis heute zu Grunde liegt.

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bricht so mit viel Style aber auch Humor die alten Strukturen unhinterfragter Selbstbeweihräucherung. Amy Ray, bei deren Konzerten die Band Indigo Girls Katz als Vorgruppe auftrat, meint: „With the inclusion of class, culture, and race dynamics in transgender politics, Katz makes room for the evolution of a movement.“ Diese Bewegung will ich berühmt werden sehen! N

Foto: Athens Boys Choir

Angela Tiefenthaler

Anliegen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden, was auch dazu beitrug, ein positives Selbstbild der ständigen Abwertung und Diskriminerungserfahrung entgegen zu setzen.


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Worte verändern Die argentinische Autorin Luisa Valenzuela schreibt bekannte Märchen um und zeigt, wie sehr Sprache unser Denken beeinflusst.

Verena Ehrnberger

in Schiff segelt sanft auf ruhigem Meer. An Bord befinden sich achtzehn Frauen, achtzehn Schriftstellerinnen, die nach den hitzigen Diskussionen eines fünftägigen Autorinnen-Seminars ausgelassen feiern und tanzen. Plötzlich stürmen schwarz gekleidete Männer das Schiff, nehmen alle gefangen und stellen die Frauen bis auf weiteres unter Arrest. „Achtzehn argentinische Schriftstellerinnen, die mit einem Federstrich von der literarischen Landkarte gefegt werden.“ Mit dieser Szene beginnt El Mañana, der neue Roman der argentinischen Autorin Luisa Valenzuela. In ihren Werken beschäftigt sie sich vor allem mit Machtstrukturen in der Beziehung zwischen Männern und Frauen. Valenzuela, die als Tochter einer berühmten argentinischen Schriftstellerin in einer literarischen Atmosphäre aufwuchs, konzentriert sich dabei insbesondere auf das Verhältnis von Sprache und Macht, und wie Mann und Frau mit diesen beiden Komponenten umgehen. Mit der Umarbeitung von verschiedenen Märchenstoffen, unter anderem den berühmten Märchen Rotkäppchen und Blaubart, hat Valenzuela bereits in der Vergangenheit gezeigt, wie die Sprache, die wir verwenden, unser Denken beeinflusst.

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Neugier. „Ich habe der Geschichte nichts hinzugefügt, ich habe sie abgebaut und wieder aufgebaut, ausgehend von den grundlegenden Elementen.“ Valenzuelas Rotkäppchen etwa ist sich der Gefahr, die vom Wolf ausgeht, bewusst und – auch wenn es am Ende gefressen (und nicht vom Jäger gerettet) wird – trifft es seine Entscheidungen doch selbstverantwortlich und trägt die Konsequenz. „Ich dachte mir, dass diese beispielhaften Geschichten vielleicht anfangs anders erzählt wurden“, sagt Valenzuela: „Es war Charles Perrault, der sie im Jahr 1670 als erster

niederschrieb und dabei restriktive Moralvorstellungen verfasste und die Frau berichtigte. Es sollte uns nicht überraschen, dass jemand, der so sehr in den Autoritarismus verliebt war, den Mädchen empfahl, artig zu sein, so lange zu schlafen bis der Prinz kommt und nicht vom rechten Weg abzukommen.“ Das Märchen Blaubart liest sich in Valenzuelas Version ebenfalls etwas anders als das Original. Auch bei Valenzuela öffnet Blaubarts Gattin mit dem kleinen Schlüssel das verbotene Zimmer im Schloss ihres Mannes. Sie findet darin die von Blaubart ermordeten früheren Ehefrauen. Der Schlüssel fällt ihr in die Blutlache und sie versucht vergebens den Blutfleck, der sie verrät, abzuwaschen. Soweit gleichen sich die Neubearbeitung des Märchenstoffes und das Original. Valenzuela setzt mit ihrer Version jedoch Jahrhunderte nach der Befreiung von Blaubarts Gattin an. Diese hält in der Gegenwart Seminare, in denen sie den Teilnehmerinnen schildert, wie ihr ihre Neugier das Leben gerettet hat. Nach Märchenautor Charles Perrault ist die Neugier, „wenn es den Frauen auch gefällt, ein ziemlich flüchtiges Vergnügen; sobald man ihm nachgibt, schwindet es schon und immer kostet es zu viel“. Luisa Valenzuela sieht in Blaubart hingegen eine andere Moral. „Wenn die Prinzessin, die Gattin von Blaubart, weiterhin in dem Schloss bleiben würde, ohne in dieses Zimmer zu sehen, wo sich die enthaupteten Frauen befinden, und mit diesem makaberen Geheimnis zusammenleben würde, auch wenn sie es nicht als solches erkennt, wäre ihr Leben durchgehend in Gefahr. Deswegen ist es notwendig nachzusehen und das Leben für die Erkenntnis zu riskieren, für das Wissen.“ Umkehr. In Der Schlüssel, wie Valenzuelas Version von Blaubart heißt, zeigt die Autorin darüber hinaus, wie negativ belastete Wörter und Eigenschaften in positive umge-

wandelt werden können. Ausgangspunkt ist dabei die Wertung der weiblichen Neugier als „Fehler“. Valenzuela führt die LeserInnen durch den Abbau dieser negativen Konnotation, indem sie den Begriff „demontiert“ und ihn mit positiven Assoziationen auffüllt. Am Ende ihrer Kurzgeschichte wird die weibliche Neugier (und damit auch die weibliche Unabhängigkeit) nicht mehr als „Fehler“, sondern als „Tugend“ verstanden. Mit der Änderung dieser Wertungen ändert Valenzuela

hat. Die Märchen aus einer weiblichen, manchmal aktuellen, ironischen, politisierten Perspektive zu erzählen, das heißt sie wiederherzustellen – in ihrer grundlegenden Bedeutung.“ Auch die Schriftstellerin Elisa stellt sich in Valenzuelas neuem Roman El Mañana die Frage nach der Macht der Sprache. Alles, was sie im Arrest schreibt, wird von den Ordnungswächtern sofort wieder gelöscht. Im Laufe des Romans versucht Elisa der Frage auf den Grund Foto: Hamann

Wie Sprache zwischen uns gesponnen wird, beeinflusst unser Denken.

gleichzeitig auch das gesellschaftliche Bewusstsein hinsichtlich der Rolle der Frau. Ihre Bearbeitung des Märchenstoffes kann somit auch als Anleitung zum Abbau und Wiederaufbau von Konnotationen gelesen werden. Durch die Umkehr der Wertung, die dem Begriff „Neugier“ anhaftet, zeigt Valenzuela, was mit der Macht der Sprache erreicht werden kann. „Das war es, was mich dazu angeregt hat, die berühmtesten Märchen von Perrault zu erzählen, wie ich glaube: Sie sollten so erzählt werden, wie in der Zeit bevor die patriarchalische Moral sie verfälscht

zu gehen, wodurch sich die Machthaber eigentlich bedroht fühlen: Allgemein durch die Macht der Worte oder durch eine eigene Sprache der Frauen? Luisa Valenzuela glaubt an die Existenz einer spezifischen weiblichen Schreibweise: „Die Herangehensweise an das Schreiben ist je nach Geschlecht unterschiedlich. Für die Frau ist es wichtig, ihre Anliegen zu erforschen, weil sie immer von den Anliegen des Mannes geprägt waren.“ N Die Autorin studiert Jus und Vergleichende Literaturwissenschaft.


N Feuilleton | PROGRESS 06/10 | 29

Buch-Rezension

Vom Wesen Europas as verbindet den Wiener Stadtteil Ottakring mit dem Balkan? In Karl-Markus Gauß’ Erzählung Im Wald der Metropolen ist die Antwort weniger offensichtlich, als man vermuten würde. Bei ihm ist Ottakring Schauplatz vom Leben desjenigen Schriftstellers, bei dem „so viel gestorben wie in keinem anderen Werk der Weltliteratur“ wird, dem Slowenen Ivan Cankar nämlich, der über zehn Jahre in einem düsteren Kabinett bei einer Ottakringer Näherin zur Untermiete lebte, und welchem die Ottakringer Straße als Vorlage für seinen Roman Die Gasse der Sterbenden diente. Erkundungen wie diese, die an 13 Stationen und noch mehr Schauplätzen innehalten, machen die ineinander verwebten Reportagen zu einer großen Erzählung. Kleine Hinweise, aufgelesen an Gedenktafeln oder Grabsteinen, verweisen dabei zu immer neuen Orten, Personen und Ereignissen: So war das Ottakring von 1911, damals innerhalb weniger Jahre zur Vorstadt der Fabriken und Zinskasernen gewachsenen, auch Schauplatz von ArbeiterInnenaufständen, die von habsburgischen Soldatentruppen aus Bosnien und Herzegovina niedergeschlagen wurden. Für die unangenehmen Aufträge wie Verprügeln und

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Niederschießen rekrutierte die Monarchie lieber Soldaten vom Balkan als aus Wien. Gauß führt die LeserInnen vom Burgund bis zum Belvedere, von Brünn nach Bukarest, von den künstlich gotischen Plätzen des schlesischen Oppeln bis zur neapolitanischen Piazza San Francesco, hält inne in der trägen Hitze griechischer Inseln, um endlich in die europäische Hauptstadt Brüssel zu kommen. Richtungsweisend für die Wege, die Gauß im Laufe des Erzählens einschlägt, sind die Lebens- und Arbeitsstationen zahlreicher SchriftstellerInnen, die auf jeden Fall die ProtagonistInnen in Gauß´ Werk darstellen. Gauß ist Herausgeber der Literaturzeitschrift Literatur und Kritik, die Erforschung von Biographien Schreibender sind nicht zum ersten Mal Teil seiner Arbeit. Insofern ist Im Wald der Metropolen nicht nur im Bezug auf persönliche Bemerkungen im Verlauf des Buches, wie der wiederkehrenden Angst vor dem drohenden Herzinfarkt, autobiographisch. Eine Vielzahl von Anekdoten aus dem Leben des Begründers der modernen serbischen Schriftsprache, Vuk Karadžić, des kroatischen Nationaldichters Petar Preradović oder des Brünner Dichters Ivan Blatný, um nur einige zu nennen, machen das Buch auch zu einer Zusammenschau des intellektuellen Lebens in Europa.

Ist Im Wald der Metropolen über weite Strecken von der Vergangenheit inner-europäischer Verstrickungen geprägt, thematisiert Gauß an mehreren Stellen auch Europas Randgruppen als zweite Protagonisten: Einerseits die Roma als Beispiel für die größte innereuropäische Randgruppe. Andererseits zeigt Gauß am Beispiel der überwiegend afrikanischen EinwohnerInnen des Brüsseler Stadtviertels Marollen auf, dass Europa die neue Randgruppe der von außen nach Europa dringenden ZuwanderInnen nicht mehr länger aufhalten wird können. Die vielleicht am schönsten beschriebenen ProtagonistInnen in Im Wald der Metropolen sind aber diejenigen, die von der Geschichte und ihren Verstrickungen völlig ungerührt scheinen: Die Alten und Greise der Städte und Inseln Südeuropas, die, in der Mittagshitze in Straßen schlurfend und auf Mauern sitzend, Sinnbild für die Ewigkeit sind. Cornelia Girardi N

Karl-Markus Gauß: Im Wald der Metropolen, Paul Zsolnay Verlag Wien, 304 Seiten, 19,90 Euro.

zweimal hingehört

Adam Haworth Stephens | We Live On Cliffs Nikolaus: Der Name Adam Stephens ist synonym mit grundehrlichem, virtuos-dreckigem Blues-Punk, und formte in Verbindung mit Tyson Vogel über drei Alben lang die unvergleichlichen Two Gallants. Heute wird der Name um ein Wort erweitert und Adam Haworth Stephens präsentiert mit We Live On Cliffs sein erstes Soloalbum. Im allgemeinen Vergleich ist Stephens jedem normalsterblichen Songwriter noch immer Marathonlängen voraus, doch seine rostige, zerschossene Stimme wirkt auf den nun poppig-arrangierten Folk-Balladen wie die eines quengelnden Kindes und die früher so tiefschürfenden Texte klingen heute oft nach einer sich langweilig reimenden Bauernregel. Seine schlechteste Veröffentlichung – trotzdem eines der besten Alben 2010.

Lukas: Nachdem in letzter Zeit einige Soloausflüge von

Sängern guter Bands schiefgegangen waren, überrascht Adam Haworth Stephens mit einem durchaus gelungenen Werk. Anders als bei Julian Casablancas bei dem man sich gewünscht hätte, die anderen Mitglieder der Strokes wären auch dabei gewesen, oder bei Paul Banks (alias Julian Plenti), bei welchem man gewusst hat, warum der Rest von Interpol nicht mitmachen wollte, versteht man hier, warum das kein Two Gallants Album werden konnte. Dafür steckt zu wenig Wut und zu viel Schönheit darin. Von dieser Thematik abgesehen ist es ein sehr ausgewogenes und doch vielschichtiges Album, irgendwo zwischen Country, Folk und Pop geworden.

Francis International Airport | In the Woods Nikolaus: Schnell werden bei diesem österreichischen Rohdiamanten international anerkannte Vergleiche bedient – The Arcade Fire hört man da, Cold War Kids, Animal Collective, Radiohead im Hintergrund … und trotzdem unterliegt man nach diesen Referenzen der Ratlosigkeit. FIA sind einfach eine einzige, stetige Überraschung. In the Woods ist schlicht und einfach der helle Wahnsinn, die moderne Manifestation von innovativem, atmosphärischem, österreichischem Indie-Rock, der doch bitte überall so klingen möge. Unbedingt reinhören und sich im Wald verlieren!

Lukas: Es ist schwer bei einem Album nicht in Superla-

Nikolaus Hofmüller ist 24 und studiert Germanistik & Anglistik in Wien.

Lukas Eichberger ist 25 und studiert Ernährungswissenschaften in Wien.

tiven zu verfallen, an dem man nicht einmal die Produktion kritisieren kann. Ein Hit jagt den nächsten, jedes weitere Lied umarmt einen noch eine Spur wärmer. Immer wieder ertappt man sich dabei zu denken, dass In the Woods so klingt, wie man es sich von seiner Lieblingsband immer gewünscht, aber nie bekommen hat. Was bleibt als Resümee? Bestes Indie Album seit langem? Beste österreichische Band überhaupt? Auf jeden Fall Album des Jahres 2010.


30 | PROGRESS 06/10 PROGRESS 01/09 | Kommentar N Kultur

Foto: Bauer

Warum wir Medien brauchen Ein Auszug der Rede Uwe Kammanns beim Dialogforum „Orientierung“ im ORF-RadioKulturhaus. erade erleben wir in Deutschland, was das heißt, wenn viele Menschen einen Sachverhalt, der sie alle betrifft, anders wahrnehmen und verstehen als die Fachleute und repräsentativen Entscheidungsgremien. Ich spreche vom Widerstand und vom Protest gegen Stuttgart 21, ein Umgestaltungsprojekt der Bahn, das sieben, vielleicht zehn Milliarden Euro kosten soll und sicher für zehn Jahre die Stuttgarter Innenstadt in eine lästige Baustelle verwandelt. Schon hier, bei einem doch regional begrenzten Projekt mit einer vergleichsweise klassischen Technik und einem überschaubarem Instrumentarium, wird deutlich: Direkt kommunizieren lassen sich Für und Wider nur schwer, viele Sektoren des heftigen Austausches berühren Bauchgefühle, stehen für Annahmen, mutieren zu Glaubensfragen. Solche Vorbehalte, was Verstehen betrifft, gelten natürlich erst recht für andere Groß-Fragen: Von der Atomkraft über den Klimawandel und die GenTechnologie bis hin zur Konflikt-Aufrüstung der Welt, zu Kriegsschauplätzen und Terrorismus. Doch gleichwohl, wie komplex die Sachstände auch sein mögen, wie fremd uns Entwicklungen sind, wie weit entfernt sie zu sein scheinen von unserer Lebenspraxis und unseren Handlungsoptionen: Ohne mediale Vermittlung wären wir noch viel stärker nichts als potentielle passive Zuschauer, erduldende Objekte, bloße Zufallsgeneratoren. Das hat sich eindrucksvoll bestätigt während der Finanzkrise, einer Krise, die sicher auch deshalb so über alle Maßen dimensioniert war, weil zuvor die kritische Wachsamkeit und die finanzwirtschaftliche Vorstellungskraft der Medien nicht einmal im Ansatz taugte, um zumindest als Frühwarnsystem zu wirken. Wir sahen: Komplizenschaft statt nüchterne Analyse, opportune Bewunderung von scheinbar erfolgreichen Akteuren statt kritischer Distanz, eingebundene Nähe statt kühler Einordnung und unerschrockener Kommentierung. Doch gibt es natürlich auch eine andere Seite der Münze. Und auch das gehört zu den Grundmustern der Moderne, ist eingefangen beispielsweise im berühmten Schlussvers eines Gedichtes von Charles Baudelaire. Der Dichter, Zauberer des Medialen, spricht dort mit dem Leser. Und was ist danach ihr gemeinsamer Spiegel, in brüderlicher Erkenntnis? Nichts Schrecklicheres als der ennui – Langeweile, Überdruss! Was nichts anderes heißt, als dass der Kern des ewigen Spiels ausgehöhlt wird. Auf einmal schauen immer mehr Menschen nur noch angewidert dem Treiben und den Erscheinungen zu, ekeln sich vor dem inszenatorischen Charakter, auf welcher Ebene auch immer – vom Schaugeschäft bis zur Politik – und wollen die politische wie die mediale Bühne am liebsten abschaffen.

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Was sie dabei übersehen: Natürlich gibt es Unterschiede in den medialen Leistungen, sehr große sogar. Da gibt es die großen Presse-Publikationen, überregional, die investieren in redaktionelle Ressourcen, in Recherche, in Dokumentationsgenauigkeit und in Darstellungsvielfalt. Da gibt es die Fachpresse, da gibt es Bücher, Foren, Symposien. Und da gibt es auch Fernseh- und Radiosendungen, in gar nicht geringer Zahl, welche genaue und weiterführende Anschauung bieten, welche audiovisuelle Bereicherung bieten, ihre Möglichkeiten ausreizend. Und natürlich ist eine ganz neue Informationswelt entstanden. Das Netz ist in seinem Grundcharakter anarchisch, chaotisch, unübersichtlich. Was auch heißt: Die Genauigkeit und die Seriosität der Informationen (um es neutral zu sagen) ist erst einmal nichts als eine Wunschvorstellung der Nutzer. Und doch: In diesem Netzprinzip steckt auch eine ungeheure Stärke: Nämlich ohne innere Restriktionen, ohne falsche Rücksichtnahmen, ohne institutionelle Einengungen publizieren zu können. Wer hatte früher Zugang zu Bibliotheken, zu Filmen, zu Akten, zu Verwaltungsdokumenten? Hier, wie an vielen anderen Punkten tut sich mit dem Netz tatsächlich eine Welt des Info-Mehrwerts auf, auch der Demokratisierung von Wissen, der Förderung des politischen, des wirtschaftlichen Handelns und der eigenen Kultivierung. Aber zugleich wird etwas anderes produziert und transportiert: Nämlich die rasante Entgrenzung. Denn mit jedem Klick tun sich potentiell Milliarden von Infowelten auf – was dann wieder die Unübersichtlichkeit steigert. In der Inflationierung verliert die vielfach gerühmte Schwarmintelligenz ganz schnell jegliche Richtung und jeglichen Bezugspunkt: Mit der logischen Folge für die Akteure auf allen Ebenen, ohne Orientierung zu sein, hilflos zu wirken. Aber einsichtig ist auch: Ein anderes, ein verordnetes Grundmuster kann es nicht geben – denn die sinngebenden Großordnungen sind nicht mehr zu haben. Deshalb müssen wir uns im System einrichten, müssen es herrichten als Erkenntnisinstrument. Genau hierin liegt eine große Chance: Es braucht offen sichtbare Umschlagpunkte, es braucht noch nicht festgelegte Baustellen von neuen Plattformen, um sich neu zu vergewissern, was die Ziele des eigenen medialen Handelns – im Herstellen, im Verbreiten, im Wahrnehmen – ausmacht und bestimmt. Ohne ein weitergehendes Bild von sich und der Welt (und allen vielfältigen Beziehungen dazwischen) würde unsere eigene menschliche und mitmenschliche Dimensionalität verflachen – zusammengeschrumpft auf den alleinigen Mechanismus von Angebot und Nachfrage, von Stärke und Schwäche. Eine dagegen sich aufbäumende Leistung ist unter Kultivierung zu verstehen, individuell und gesell-

schaftlich. Und hiervon dürfen die Medien – auch jene, welche sich den schlichten Verkaufsgesetzen verdanken – nicht dispensiert werden. Dies wiederum setzt voraus, dass es noch eine Vorstellung von Allgemeinheit, von Gesellschaft, von Öffentlichkeit gibt – schlicht: Von den res publica. Und zur Vorstellung muss der politische Wille gehören, diesen öffentlichen Raum zu gestalten und auch gegen einengende und widrige Umstände zu bewahren, wenn es denn notwendig ist. Christina Weiss, Ex-Medien- und Kulturbeauftragte des Bundes, hatte dies in ihrer schönen SchillerRede 2004 klar formuliert. Danach ist eben die Vorstellung der ästhetischen Erziehung keine leere Formel, sondern ein ganz und gar lebendiger Auftrag. Schiller selbst war dabei nicht blauäugig, sondern hat den unauflöslichen, zirkelhaften Zusammenhang zwischen Idee und Praxis klar benannt, indem er die Frage stellte: „Die theoretische Kultur soll die praktische herbeiführen und die praktische doch die Bedingung der theoretischen sein?“ Und weiterfragte: „Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln?“ Die Antwort war für ihn einfach: Die Kunst sollte das ausdrücken und hervorbringen, als Werkzeug mit unsterblichen Mustern, um schöne und lebbare Konventionen vorzuzeigen, welche der Willkür einen zivilisierenden Entwurf des eigenen Ich und der Gesellschaft entgegensetzen. Wenn man Kunst unter den heutigen Möglichkeiten weiter übersetzt, dann gehören die Medien in allen ihren Ausprägungen unbedingt dazu. Und dann darf ganz einfach gefordert werden, dass die Medienmacher den Zirkel von theoretischer und praktischer Kultur nicht vergessen machen wollen, sondern dass sie auf dessen reflektiertem Vorschein bestehen – und damit auf einem Bild des reflektierenden Menschen. Es muss gelingen, diesen Prozess dauerhaft und gesellschaftlich gut verankert zu etablieren. Denn er ist notwendige Voraussetzung einer Bürgergesellschaft, die sich nicht vom ökonomischen Egoismus, sondern von der steten Verantwortung für das Allgemeine leiten lässt. Einer Bürgergesellschaft, die auf einem selbst bestimmten und selbst bestimmenden Menschen besteht. Eines Menschen, der immer und notwendigerweise auf Medien angewiesen ist, weil eine Welt ohne Vermittlung schlichtweg nicht denkbar ist. N Uwe Kammann ist Direktor des Adolf-Grimme-Instituts. Die ungekürzte Rede wird in der Jänner-Ausgabe der ORF-Schrift „Texte“ abgedruckt.


Nachrichten aus Kultur Europa n | PROGRESS 01/09 | PROGRESS 06/10 | |31 31

Die Europäische Agentur für Hochschulnachrichten EU: AUSBAU DER BILDUNGSAUSSENPOLITIK

FRANKREICH: MEHR CHINESEN, ABER NUR GUTE

DÄNEMARK VERBARRIKADIERT SICH

KROATIEN: MEHR STAATLICHE HOCHSCHULKONTROLLE

Mitte November hat die Europäische Kommission das Interregionale Aktionsprogramm ENPI für 2011 beschlossen, das sich vorwiegend dem Auf- und Ausbau von Hochschulkooperationen mit den Nachbarländern in Osteuropa und Nordafrika widmet. Von den insgesamt 52 Mio. Euro sollen 36 Mio. in den Ausbau des Mobilitätsprogrammes Erasmus Mundus für Studenten und Akademiker fließen. Der Rest ist der Annäherung nationaler Gesetze an die der EU-Länder und der Unterstützung von Fortschritten bei Regierungsreformen in den Partnerländern zugedacht. Für den EU-Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik Štefan Füle ist die „Entwicklung des Humankapitals eine unserer Prioritäten in der Zusammenarbeit mit den Nachbarländern.“ Seit 2007 haben fast 4000 Studierende aller Stufen aus EUNachbarländern und Russland am Erasmus-Mundus-Programm teilgenommen.

Nach den Skandalen um Titelhandel und ungerechtfertigte Hochschulzulassungen asiatischer Studenten will das Wissenschaftsministerium das Aufnahmeverfahren reformieren. Doch es sollen „noch mehr chinesische Studenten werden, hauptsächlich in Master- und PhDProgrammen“, bekräftigte Valérie Pécresse gegenüber Le Figaro. Allerdings, so die Ministerin, müsse sichergestellt werden, dass diese Studenten auch notwendige sprachliche und fachliche Kenntnisse mitbringen, um ihr Studium erfolgreich zu beenden. Als Mittel zum Zweck sieht Pécresse neben der verbesserten Steuerung und Selektion der Studenten im Land den Ausbau bilateraler Bildungskooperationen, zweisprachiger Abschlüsse mit Sprachkursen und der Hochschulpartnerschaften. Diese sollen künftig als Filter für qualifizierte Auslandsstudenten fungieren. Mit mehr als 27.000 Eingeschriebenen stellen Chinesen nach den Marokkanern die zweitgrößte Gruppe an französischen Hochschulen.

Die dänische Mitte-Rechts-Regierung macht das Land zunehmend unattraktiv für ausländische Akademiker. Mit einem in Europa einmaligen Punktesystem, das mehrheitliche Zustimmung im Parlament gefunden hat, soll in Zukunft die „Brauchbarkeit“ von Ehepartnern einreisewilliger Forschern und Fachkräften festgestellt werden. Der Abschluss an einer amerikanischen Eliteuniversität etwa wird als Garant für eine Aufenthaltsgenehmigung gehandelt. Doch die Reformpläne der Regierungskoalition halten ein ganzes Instrumentarium der Ausschlussmechanismen für nicht europäische Akademiker (2008 waren es rund 15.000) bereit: Außer der Benotung von Familienangehörigen soll die Vermögensuntergrenze von 50.000 auf 100.000 Kronen angehoben, die Zugang zu Studienkrediten und -zuschüssen erschwert, die Überschreitung von Visafristen mit Ausweisung geahndet und eine neue Gebühren für Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen eingeführt werden.

Pressemitteilung der Europäischen Kommission, 17.11.2010; www.europa.eu

Interview mit Valérie Pécresse, 12.11.2010 (auf Französisch); www.discours.vie-publique.fr

Überblick über die neuen Vorschläge, UniversityPost, 19.11.2010 (auf Englisch); www.universitypost.dk/

Nach Protesten gegen die geplante Hochschulreform verlängert das Bildungsministerium den öffentlichen Anhörungszeitraum bis ins kommende Jahr. Am 12. Oktober wurde der Entwurf präsentiert, der das Hochschul- und Forschungsgesetz von 2003 ersetzen soll. Besonders steht das Vorhaben unter Beschuss, dass der bisher von Hochschulvertretern gewählte Wissenschaftsrat und der Hochschulrat zu einem einzigen Gremium verschmolzen und dessen Mitglieder nicht mehr gewählt, sondern von der Regierung ernannt werden sollen. Dadurch, so Kritiker, erhalte die Politik zu viel Einfluss, die Hochschulen verlören an Autonomie und die Wissenschaft an Freiheit. Neben der Akademie für Künste und Wissenschaften äußerten sich auch die Jungen Doktoranden und zahlreiche NGOs kritisch zu den Reformvorschlägen und nannten sie „inkoherent“ und „mangelhaft“. Innerhalb von nur 13 Tagen, berichtet ScienceMag, in denen alle Beteiligten die Reform öffentlich bewerten konnten, empfing das Ministerium über 1000 Antworten.

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