Handlungsräume. Eine Interaktion mit dem Unerwarteten

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Handlungsr채ume. Eine Interaktion mit dem Unerwarteten

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Bachelorarbeit Nebenthema 1 Fachhochschule Köln Fakultät 02 Köln International School of Design Betreut von Prof.’ Dr.’ Carolin Höf ler Im Lehrgebiet Designtheorie und -forschung Anne Katharina Elisabeth Hegge Bachelorstudiengang Integrated Design März 2015

2 Handlungsräume


Handlungsr채ume. Eine Interaktion mit dem Unerwarteten

1.

Zwischen Mensch und Raum

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1.1 Interaktionsfragen 7 1.2 Ann채herungsmethoden 8

2. Prothesen sehen 12 2.1 2.2

Der Raum, die Handlung, die Prothese Die Prothesen machen Leute

12 14

3 Menschen verstehen 16 3.1 Das Wahrnehmen und das Verschmelzen 16 3.2 Die Schnittstelle und das Verh채ltnis 20 3.3 Das Wahrgenommene 31

4 Handlung erkennen 32 4.1 Bewegungen studieren 32 4.2 Experimentieren 40

5 Handlungsfelder 62 6 Quellenangaben 64

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1. Zwischen Mensch und Raum

Abb. 1 und 2: Abbildungen von (Prothesen-)H채nden

4 Handlungsr채ume


1.

Zwischen Mensch und Raum

Wird eine Annahme nicht erfüllt, passiert das Unerwartete. Die Interaktion mit dem Unerwarteten spielt sich in Räumen ab, in denen etwas passiert. Hier findet Handlung mit dem Unerwarteten statt. Der Hand kommt als oftmals erster Kontaktpunkt zwischen Mensch und Raum – sei es beim Händeschütteln, beim Streicheln über den Kopf, beim Bezahlen oder schlicht beim Öffnen einer Tür – eine herausgehobene Rolle zu. Sie ist ein zentrales Verbindungsglied zwischen Mensch und Raum. Die Hand ist das verbindende Element zur Gesellschaft; die Prothese bildet eine Brücke. Auf zwischenmenschlicher Ebene genauso wie im gesellschaftlichen Kontext wird Interaktion mit den Händen eingefordert. Dies zeigt sich im Sprachgebrauch genauso wie in Alltagshandlungen. Vom Händeschütteln bis zur Hand aufs Herz artikuliert sich das Verhalten in sozialen Systemen durch die Nutzung der Hände. Eine künstliche Hand, eine Handprothese, trifft uns unerwartet und verhält sich unerwartet. Auf einmal steht sie zwischen uns, mitten im Raum, zwischen Mensch und Raum. Was tun wir jetzt, wie handhaben wir das? Der verbliebene Stumpf nach einer Amputation, eine myoelektrische Armprothese und eine gesunde, funktionierende Hand sind Instrumente oder Akteure des Zwischenmenschlichen. Hoffnungen, Wünsche und Ängste spiegeln sich in der Prothese wieder. Zwischen der Anpassung an die Normalität der Zweihändigen und der Wahrnehmung des Ersatzteils als körpererweiterndes Element ist die Prothese ein gesellschaftlich sowie individuell hoch aufgeladenes Objekt.

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1. Zwischen Mensch und Raum. Interaktionsfragen

mit links Die Hände aufhalten Nicht mit leeren Händen ankommen Im Handumdrehen handlich Sich die Hände dreckig machen Per Handschlag Sich die Hände reiben Das geht Hand in Hand auf der Hand liegen Die Hände über den Kopf zusammen schlagen Über etwas die Hand haben Die Hände auflegen etwas handhaben handgreiflich Handy zur Hand haben Ein Händchen für etwas haben Eine Hand wäscht die andere Die Beine in die Hand nehmen Hand aufs Herz Zweiter Hand Hand und FuSS haben In die Hand beiSSen, die einen füttert In die Hände spucken die Hand herhalten in Frauenhand in Männerhand Jemandem freie Hand lassen Das geht Hand in Hand Seine Hände in Unschuld waschen Um die Hand anhalten von der Hand in den Mund leben zwei linke hÄnde die Hände gebunden haben handzahm

6 Handlungsräume


1.1 Interaktionsfragen Ziel der Arbeit ist es, herauszufinden, wie sich Interaktionen zwischen Mensch und Prothese im Raum gestalten. Dazu werden Prothesen und ProthesenträgerInnen bei Handlungen im Raum untersucht. Die Prothese als Verbindung zwischen Mensch und Raum wird im Laufe dieser Arbeit auf verschieden skalierten Betrachtungsebenen analysiert. Fragestellungen der Neurowissenschaft, der Bewegungsforschung und des Designs werden dabei berücksichtigt. Dies geschieht in der Absicht, aus den beobachteten Handlungen Handlungsfelder für die anschließende praktische Arbeit als Teil der Final Thesis im Bachelorstudiengang Integrated Design zu erschließen. Die Untersuchung geschieht aus der Sichtweise von Menschen, die mit ProthesenträgerInnen interagieren sowie aus der Sicht von ProthesenträgerInnen selbst. Ausgangspunkt der Analyse ist die Identifikation einer geeigneten Methode, um sich Menschen mit Prothese adäquat zu nähern. Kapitel 1.3 erläutert die Auswahl der genutzten Untersuchungsmethoden. Kapitel 2 ›Prothesen sehen‹ widmet sich zunächst dem Raum, der durch die/die ProthesenträgerIn erschlossen wird. Nach der Eingrenzung des Prothesenbegriffs wird ein kurzer Einblick gegeben, wie Prothesen im Raum, genauer gesagt, in der umgebenden Gesellschaft, wahrgenommen werden. Nach dieser Außensicht auf die Prothese beleuchtet Kapitel 3 ›Menschen verstehen‹ die Frage, wie die TrägerInnen von Prothesen selbst diese Verbindung in den Raum bewerten. Nach der Analyse geeigneter Darstellungsmethoden zu Handlungen im Raum werden im Kapitel 4.2 aufgedeckte ausgewählte Handlungen von Hand und Prothese im Detail portraitiert. Die Ergebnisse zur Interaktion zwischen Mensch und Prothese im Raum fasst Kapitel 5 zusammen und zeigt mögliche Handlungsfelder für den weiteren Verlauf der Arbeit auf.

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1. Zwischen Mensch und Raum. Annäherungsmethoden

1.2 Annäherungsmethoden Da sich diese Arbeit mit öffentlichen sowie privaten Handlungsräumen von Frauen und Männern, die in dieser Gesellschaft zum Teil Stigmatisierung erfahren oder als behindert bezeichnet werden, befasst, wurde besonderen Wert auf eine sensible und menschenwürdige statt entmündigende Art der Datenerhebung gelegt. Methoden aus dem Bereich des Design Thinking und aus der klassischen empirischen Sozialforschung wurden erprobt, verworfen oder angepasst. Zuvor ergab eine Recherche zu ähnlichen Forschungsversuchen Inspirationen und Aufschluss zu Möglichkeiten und Herausforderungen. Sanders und Stappers Convivial Toolbox sowie die gesammelten Design Methods von Vijay Kumar boten dabei wertvolle Grundlagen und informative Beispiele.1 Sofia Hussains Methode des Generative Design Research2 zielt darauf ab, kambodschanischen Kindern, die eine Beinprothese tragen, durch Bastel- und Malvorlagen (drawing toolkit) die Kommunikation über dieses sensible Thema zu vereinfachen. Mit Papierpuppen und Vorlagen verschiedener Bekleidungsmöglichkeiten konnten Kinder auf spielerische Art darstellen, wie sie zu verschiedenen Situationen wahrgenommen werden möchten und ihr ästhetisches Empfinden sowie Körpergefühl ausdrücken. Auch wenn diese Methode natürlich nicht mit Menschen mit eingeschränkter Fingerfertigkeit durchzuführen ist, steht sie doch als Beispiel für einen aufmerksamen Umgang mit der Untersuchungsgruppe. Um zunächst mit Menschen in Kontakt zu kommen, die an den oberen Gliedmaßen amputiert wurden, wurde im Zeitraum vom 01.–18.12.2014 die Bundesfachschule für Orthopädie-Technik in Dortmund besucht. In der Arbeitsgruppe Armprothesen erlernen die Meisterschüler-Anwärter über drei Wochen hinweg die Praxis der Prothesenfertigung. Die Gruppe der Probanden, die bei den praktischen Arbeiten Modell standen, war in Oberarm- und Unterarmamputierte unterteilt. Es wurden alle Arbeitsschritte von der Montage bis zur Abnahme an jeweils einer Person der zwei Probandengruppen geübt, sodass am Ende der dreiwöchigen Praxisphase jeder jeweils eine Unterarm- und eine Oberarmprothese zur Abnahme fertiggestellt hatte. Während der praktischen Arbeit und bei Einzelgesprächen in den Pausen ergab sich Möglichkeit, einige ProbandInnen näher kennen zu lernen. Hierbei ging es weniger um die direkte Umsetzung eines qualitativen Interviews als zunächst um ein Kennenlernen und Erzählen-Lassen. Ziel war es, ein Verständnis zu Alltagshandlungen und zum Verhältnis zur Prothese zu gewinnen um anschließend Schwierigkeiten, Emotionen und Wünsche anzusprechen. Diese Methode ist mit der klassischen teilnehmenden Beobachtung aus der empirischen Sozialforschung, mehr jedoch mit Vijay Kumars Methode des Field Visit vergleichbar. Hierbei steht das Beobachten und Nachfragen der Beobachtung im Vordergrund, welches »(...) frequently provides glimpses of nonobvious or surprising behaviours and insights about unmet needs.«3. Vorteil dieser Methode ist der Fokus auf das Verhalten und die Erfahrungen des Menschen im Detail. Sie bietet Indizien und Nachweise sowie kontextbasiertes Lernen.4 1 Neben den oben genannten Werken sind hier auch weiterführend Folgende zu nennen: S. Hussain, Empowering marginalised children through participatory design processes, CoDesign 6(2), 2010, S. 99-117. S. Hussain, M. Keitsch, Cultural Semiotics, quality and user perceptions in product development, in: S. Vihma (Hg.), Design Semiotics in Use, Helsinki 2010, S. 144-158 S. Hussain, M. Keitsch, S. Søren, The Know Your Product Method. Developing a Prosthetic Leg for for People in India, in: Proceedings of the International Association of Societies of Design Research Conference, Hong Kong 2007 2 Sanders, Stappers 2012, S. 101–103 3 Kumar 2013, S. 107 4 Vgl. ebd., S.107

8 Handlungsräume


Abb.3: Hospitanz in der BUFA Dortmund

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1. Zwischen Mensch und Raum. Annäherungsmethoden

Drei Personen, zu denen zunächst kein persönlicher Kontakt gewonnen werden konnte, erhielten ein Postpaket mit einem Toolkit bestehend aus Fragekarten und Einwegkamera. Diese Form des Toolkits ist eine Mischung aus Kumars Methode der Photo Ethnography und Cultural Artifacts. Durch die Mitgabe einer (Einweg-) Kamera zum Fotografieren relevanter Situationen wird der direkten Kommunikation mit der Forscherin aus dem Weg gegangen, die/ der Teilnehmende hat Zeit, über mehrere Tage hinweg sich mit dem Thema zu beschäftigen. Der Vorteil dieser Methode liegt in der Möglichkeit des Perspektivwechsels. Die Fotografien zeigen Situationen aus dem Blickwinkel des Betrachters und decken oftmals das Unerwartete auf. Die Entwicklung der Fragekarten erfolgte nach dem POEMS Bezugsystem5 für Beobachtungsstudien.6 Die Fragekarten wurden an kleine Utensilien des Alltags gebunden; zum einen, um Gefühle zu stimulieren oder bestimmte Handlungsmuster zu überdenken, zum anderen, um den TeilnehmerInnen der Studie mit einem kleinen Geschenk für die Zusammenarbeit zu danken. Ein Kalender für die Zukunft, ein Taschenspiegel für das Spiegelbild, eine Tube Handcreme mit einem Schraubverschluss zum Thema Nutzlosigkeit sowie die erwähnte Kamera wurden den Fragekarten hinzugefügt. Kumar beschreibt die Methoden der Photo Ethnography und Cultural Artifacts als aufschlussreich, da Empathie trotz Distanz aufgebaut werden kann. Innerhalb der untersuchten Personengruppe wurde besonderes Augenmerk auf extreme Nutzer gelegt. Die induktive Form der Untersuchung dieser extreme user cases ist dabei eine Methode im Design Thinking, um über das besondere Nutzerverhalten des Einzelfalls neue Verhaltensweisen zu gewinnen.

5 Die POEMS Matrix besteht aus People, Objects, Environment, Message, Service auf der einen, physical, cognitive, social cultural, emotional auf der anderen Achse. Diese Struktur dient zur Klassifizierung von Daten, die das Objekt beeinflussen sowie die menschliche Interaktion mit dem untersuchten Objekt. 6 Vgl. Kumar 2013, S. 113

10 Handlungsräume

Neben diesen experimentellen Untersuchungsmethoden wurden klassische qualitative Interviews mit Experten geführt. Das erste Interview fand nach einer Führung durch das Science Center Berlin mit dem leitenden Orthopädie-Techniker der OttoBock HealthCare GmbH in Berlin statt. Das zweite Experteninterview wurde mit dem Dozenten für die Prothesen der oberen Extremitäten der Bundesfachschule für Orthopädie-Technik in Dortmund durchgeführt. Ergänzend zu den Interviews wurde vor den angehenden MeisterschülerInnen Orthopädie-Technik in der Bundesfachschule für Orthopädietechnik ein Vortrag über Prothesen der oberen Gliedmaßen gehalten. Die Argumentationskette und dargestellten Prothesenkonzepte aus der Position einer/s Designerin/s mit Bezug zum Social Design besaßen bewusst wenige Übereinstimmungen zur klassischen Ausbildung der Orthopädietechnik-MeisterInnen und regte daher die Gruppendiskussion an. Neben dieser Gruppendiskussionsmethode7 ergab eine einfache Plenumsdiskussion im Anschluss an eine zweite Präsentation vor den ProbandInnen sowie MeisterschülerInnen und (Lehr-)personal der Bundesfachschule für Orthopädietechnik weitere Einsichten in die Thematik. Zusammenfassend konnten durch die Diversifizierung der Erhebungsmethoden ausreichend Daten erhoben werden. Neben klassischen Methoden der empirischen Sozialforschung gaben auch einige Methoden aus dem Bereich des Design Thinking positive Rückmeldungen. Aufgrund der Sensibilität der Thematik nahmen die Methoden und das Annähern einen großen Teil der Bearbeitungszeit in Anspruch, führten jedoch zum schrittweisen Aufdecken und Erkennen von Handlungs- und Verhaltensmustern.

7 auf Grundlage von W. Mangold, Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens, 1960


Abb.4: Toolkit-Fragekarten

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2. Prothesen sehen. Der Raum, die Handlung, die Prothese

2. Prothesen sehen 2.1 Der Raum, die Handlung, die Prothese Der Begriff des Raums

Handlungen und Handlungsräume

Der Begriff des Raums bezeichnet in der Soziologie im Allgemeinen den Kontext des Alltags von Menschen und im Speziellen deren Zuordnung von Objekten oder Akteuren aufeinander.8 Es handelt sich hierbei somit um eine individuelle Wahrnehmung von Rahmenbedingungen, wobei verschiedene Räume, verschiedene Bedeutungen und auch verschiedene Einflussfaktoren anzunehmen sind. Besondere Bedeutung erfuhr der Raum durch Martina Löw, welche diesen nicht nur im Rahmen der Soziologie einzubetten versuchte, sondern auch die Entstehung von Räumen über das von ihr favorisierte »relationale Raumkonzept«9 beschrieb. Dieses Konzept lässt die Vorstellung statischer Räume hinfällig werden und beschreibt den Raum als sich wandelndes Produkt sozialer Beziehungen.10 Diese Beziehungen schaffen, durch verschiedenste Objekte Atmosphären – das heißt, dass die vom Menschen gemachten sozialen Güter einen beträchtlichen Teil auf die Wahrnehmung eines Raums und damit die Atmosphäre zwischen den Menschen innerhalb dieses Raums ausüben.11

Handlungsräume werden hier als Kontexte verstanden, in denen soziale Interaktionen stattfinden. Eine soziale Interaktion beschreibt dabei das wechselseitige Handeln von Akteuren oder Objekten, die sich gegenseitig beeinflussen und aufeinander reagieren. In dieser Arbeit sind damit Akteure gemeint, die auf verschiedenen Betrachtungsebenen untersucht werden. Die kleinste Betrachtungsebene ist dabei die Wechselbeziehung von ProthesenträgerIn und Prothese, zusammengeführt an einer Schnittstelle. Diese noch etwas abstrakte Ebene wird sichtbar, wenn es zu einem Zusammenspiel zwischen Hand und Kunsthand, zwischen Mensch und Maschine in einem Verbund kommt. Hier ist die Handlung offensichtlich und als Bewegung von (Ersatz-)händen zu verstehen. Diese Betrachtungsebene wird in dieser Arbeit als intrapersonelle Ebene bezeichnet. Eine zielgerichtete Abfolge von Bewegungen wird dabei als Handlung verstanden. Das kann ein Ritus, eine Geste, ein Tun oder auch ein Unterlassen sein.

Gerade im Hinblick auf Prothesen, die nicht nur als soziale Güter zu werten sind, sondern das sinnliche Erleben direkt beeinflussen, zeigt sich nun, dass diese einerseits eine Wirkung auf die/den TrägerIn, etwa durch Missempfindungen oder Schmerzen, und andererseits auch auf andere Beteiligte, etwa durch die Ästhetik, haben können. Es ist somit von einer zweifachen psychologischen Bedeutung zu sprechen, die optimal durch das relationale Raumkonzept beschrieben werden kann: Eine Person mit Prothese weist eine negative sowie statusmindernde Außenwirkung auf.12 Im Verlauf dieser Arbeit wird die Verbindung zwischen Mensch und Prothese und deren Außenwirkung im sozialen Kontext berücksichtigt. Diese Beziehungen zwischen Mensch(en) und Prothese werden durch Handlungen im Raum sichtbar.

8 9 10 11 12

Vgl. Schäfers 2013, S. 69 Franke 2008, S. 170 Vgl. Löw 2001, S. 292 Vgl. ebd., S. 205 Vgl. Maschke 2007, S. 299

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Auf einer höheren Maßstabsebene treten nun Aktionen und Reaktionen zwischen Menschen mit und ohne Prothese auf. Auf dieser Betrachtungsebene wird der Raum aus sozialen Beziehungen zwischen Menschen besonders sichtbar. Interaktionen dieser Art werden in dieser Arbeit unter dem Begriff der interpersonellen Ebene geführt.


Die Prothesen

Der aus dem Griechischen stammende Begriff ›Prothese‹ verweist auf eine Zugabe an den Körper, das heißt die Ausbesserung von fehlenden Körperteilen mit neuen.13 Jede Prothese muss für die weitere Betrachtung zunächst klar umschrieben und abgegrenzt werden. Das Spektrum der Ausbesserung ist groß: So können Organe, Organteile oder auch ganze Gliedmaße durch entsprechende Zugabe ersetzt, oder bestehende Strukturen gestärkt werden. Im Rahmen dieser Arbeit erfolgt eine Einschränkung des Betrachtungsspektrums in Mehrfacher Hinsicht: Zum Ersten kann auf Übergangsprothesen nicht eingegangen werden. Dabei handelt es sich um provisorische Zugaben an einen Körper, bis der Körper sich selbst geheilt hat oder eine adäquate Prothese verfügbar ist. Beispiele hierfür finden sich etwa in der Zahnmedizin, wo ein solcher Übergang beim Warten auf die Herstellung und Eingliederung eines vollständigen Zahnersatzes nötig wird.14 Zum Zweiten sind Organprothesen in der Art nicht von Bedeutung, als dass sie kaum das soziale Miteinander betreffen und somit keine Auswirkungen auf Räume haben.

Die Analyse fokussiert sich auf Prothesen, die eine obere Gliedmaße ersetzen. TrägerInnen von zwei Armprothesen wurden nicht einbezogen. Unter Prothesen der oberen Gliedmaße werden Prothesen verstanden, die vom Ersatz eines verlorenen Fingers bis hin zu kompletten Oberarmprothesen für transhumeral amputierte Menschen reichen. Unabhängig von der Amputationshöhe ist der Blick auf die Prothesenhand und weniger auf Unter- und Oberarm gerichtet. Beobachtungsgegenstand sind also die Hände von Armprothesen, welche im Alltag von Menschen, die in Deutschland leben und dort ärztlich behandelt werden, häufig verwendet werden. Diese sind für die TrägerInnen zum Teil »wirkungsvolles Hilfsmittel, ein andermal [...] unerträgliches Zwangsinstrument«15, was zeigt, dass die Wirkung einer Prothese weit über ihre funktionale Wirkkraft als ausbessernde Zugabe an den Körper hinausgeht. 15

Jödecke 2006, S.85

Somit beschränkt sich die Analyse auf Prothesen, die den Anspruch haben, Körperteile zu ersetzen. Als körperliche Optimierungsversuche oder enhancement deklarierte technische Teile aus der Welt von Cyborgs, Transhumanisten und Maschinenmännern werden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt. Es bleibt somit die Betrachtung der äußeren Prothesen der heutigen Orthopädietechnik. 13 14

Vgl. Rang, Thompson 1985, S 9 Vgl. Lehmann, Caesar 1993, S.142

13


2. Prothesen sehen. Prothesen machen Leute

2.2

Prothesen machen Leute

Von Behinderung und Anpassung

Ob eine Armprothese von der/dem TrägerIn als Zwangsinstrument oder Hilfsmittel aufgefasst wird, ist nicht nur eine Frage des individuellen Empfindens (Kapitel 3) sondern auch abhängig von der gesellschaftlichen Reaktion auf ebendiese. Die gesellschaftliche Reaktion auf die/den einzelne/n TrägerIn ist Ausdruck des gelernten Umgangs mit körperlicher Behinderung. Eine Körperbehinderung ist ein physiologisches Defizit, durch das der Mensch in seinen Verhaltensmöglichkeiten beeinträchtigt wird und welches die Selbstverwirklichung in sozialen Interaktionen erschwert.16 Gesellschaften formierten sich durch soziale Interaktionen. In der heutigen Gesellschaft gibt es deutliche Bestrebungen, gesellschaftliche Verhältnisse, die Menschen exkludieren, zu überwinden. In der Politik wird dies unter dem Begriff Inklusion diskutiert, der als soziale Inklusion verstanden wird. Der Inklusionsbegriff aus der Soziologie differenziert sich vom Begriff der Integration. Integration geht von einer Gesellschaft aus, in die integriert werden könne. Durch Inklusion soll, komplementär zur Exklusion, zunächst gesellschaftliche Teilhabe in einer funktional differenzierten Gesellschaft geschaffen werden. Die Partizipation an einem Teil dieser differenzierten Gesellschaft ist die Inklusion im Sinne der soziologischen Systemtheorie nach Gesellschaftstheoretiker und Soziologe Niklas Luhmann.17 Nach Luhmann definiert sich Inklusion über die Exklusion aus anderen Systemen. Der einzelne Mensch ist inkludiert, wenn er an den Leistungen eines (oder mehrerer) Systemen partizipativ teilhaben kann. Die deutsche Sozialorganisation Aktion Mensch definiert diese Teilhabe sehr pragmatisch:

»Wenn jeder Mensch – mit oder ohne Behinderung - überall dabei sein kann, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Wohnviertel, in der Freizeit, dann ist das gelungene Inklusion. In der inklusiven Gesellschaft ist es normal, verschieden 18 zu sein.« Es wird also davon ausgegangen, dass in dieser hoch differenzierten Gesellschaft für jede Person ein System besteht, an dem sie teilhaben will. Die Möglichkeiten innerhalb verschiedener Teilsysteme variieren natürlich. Trotzdem wird auch bei einem eingeschränkten gesellschaftlichen Spielraum, die Teilhabe und Partizipation erwartet. Innerhalb der Möglichkeiten des Systems gilt es, die Optionen auszuwählen, die zur Akzeptanz und zur Anpassung der Person in das System führt, sodass die Person sich dem System entsprechend optimal entwickele. 16 17 18

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Vgl. Leydendecker 2005, S.21 Vgl. Luhamnn 1997, S. 618–633 Aktion Mensch 2015


»Poor people are Bonsai people, there is nothing wrong with their seed. Society never allowed them the space to grow as tall as everybody else.« Muhammad Yunus19

Bestimmte Personengruppen werden demnach klein gehalten, indem sie nicht die gleichen Chancen wie alle anderen erhalten. In der Schale (bon) des gesellschaftlichen Teilsystems, wie etwa einer Favela, wächst die Pflanze (sai) auf. Sie wird gezogen, beschnitten und kultiviert um zu einem Kunstwerk, zu einem künstlichen Werk, zu werden. Der Bonsai ist ein Sinnbild für Harmonie zwischen Mensch und Natur. Die Person passt sich ihren vorgegebenen, gesellschaftlichen Möglichkeiten an. Was aber, wenn der Mensch nicht zu einem Kunstwerk werden will oder kann? Die vorangegangen Thesen könnten zu dem Gedanken führen, dass jede Person dabei sein will, dass sie partizipieren will. Dabeisein ist alles. Wer nicht dabei ist, gilt als nicht normal. Nur der Mensch, der sich seinen Möglichkeiten angepasst verhält, wird gesellschaftlich akzeptiert. Wer seine Möglichkeiten in seinem Bezugsrahmen nicht ausschöpft oder zu selektieren weiß, wird auffällig. Die/der Behinderte ist also kein/e AußenseiterIn solange sie oder er sich in ihrer Subkultur oder ihrem/seinem Teilsystem eingefunden hat. Transgender-Personen tragen so in glamourösen Kleidern der Unterhaltungsindustrie bei, Querschnittsgelähmte beweisen ihre überdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten durch Schach spielen oder schreiben Romane, Amputierte werden in Paralympioniken als Helden gefeiert. Wird ein solches Verhalten durch Inklusion eingefordert, wird Normalität zu einem Zwang. Karin Harrasser beschreibt diese Normalisierung als Werkzeug des Ausschlussverfahrens: »Wer in keinerlei Leistungsschema (das sich auf physische, kognitive oder kreative Vermögen beziehen kann) inkludiert sein kann (oder möchte) wer partout keine Leistung bringen kann (oder möchte), der kann nicht mehr darauf hoffen, versorgt zu werden. Er wird schon selber laufen müssen, soweit er eben kann.«20 Menschen mit Behinderung sind somit normal, solange sie Leitung bringen. Ihre Normalität beweisen sie in den paralympischen Spielen.21 Dementsprechend muss, ja darf die Gesellschaft behinderte Menschen auch nicht mehr als bemitleidenswerte Opfer sehen sondern als selbstbewusste Akteure. Wie sieht jedoch die konkrete Lebensrealität einer Person aus, die mit einer Armprothese lebt? Wie verläuft soziale Interaktion und Partizipation innerhalb ihres gesellschaftlichen Teilsystems, wie verläuft die direkte Interaktion mit dem Gegenüber? Was ist die Prothese für Ihre/e TrägerIn? Was sind Prothesen für Menschen in ihren Handlungsräumen? Bleiben Bewegungen, Handlungen und Räume genauso ›normal‹? 19 20 21

Yunus 2011 Harrasser 2013, S. 56 Vgl. Harrasser 2013, S. 56

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3. Menschen verstehen. Das Wahrnehmen und das Verschmelzen

3. Menschen verstehen Nach der vorangegangenen Darstellung der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Prothesen und deren TrägerInnen soll sich die Betrachtung im Folgenden auf einzelne individuelle Verbindungen zwischen Mensch und Prothese auf der intrapersonellen Ebene fokussieren. Analysierend konzentriert sich dieses Kapitel auf die Prothese als ein von Menschenhand konstruiertes Objekt, geschaffen zur Anbindung an den Menschen. Neben dieser rein körperlichen Verbindung wird die emotionale Beziehung der assemblage Mensch und Prothese genauer betrachtet. Hierbei soll aufgezeigt werden, dass das menschliche Gehirn nicht nur in der Lage ist, ein unbeseeltes Objekt als körpereigene Gliedmaße zu akzeptieren, sondern dass das haptische Gefühl der körperlichen Ausdehnung keine räumlichen Grenzen kennt. Nach der Klärung des Raumverständnisses des Menschen mit Prothese verengt sich der Fokus auf die Kontaktstelle des fleischlichen Stumpfes mit dem anorganischen Schaft bei herkömmlichen orthopädischen Prothesen. Aus der Vielfalt an Prothesen werden exemplarisch zwei Modelle untersucht. Erfahrungen beim Tragen des Ersatzteils sowie Interaktionsmöglichkeiten zwischen TrägerIn und Prothese zeigen Alltagshandlungen sowie Bedarfe auf und bilden die Grundlage für die darauf folgenden Experimente. Im Folgenden werden auftretende Phänomene neurowissenschaftlich erklärt und mit Beispielen aus der Architektur und Medienkunst erläutert.

3.1 Das Wahrnehmen und das Verschmelzen Würde das Gehirn ein Abbild von sich zeichnen, so wäre es ein zwergenhafter menschlicher Körper, untersetzt, mit schmalem Rumpf und dürren Gliedmaßen. Hervorstechen würden die leicht vergrößerten Füße, die mächtigen Geschlechtsteile, der riesige Kopf mit einem ausgedehnten Gesichtsfeld und vollen Lippen die versuchen, die heraustretende Zunge zu umschließen. Der Rest des Gesichtsfeldes würde von Augen, Nase und Mund völlig eingenommen. Besonders beeindruckend wäre die übermächtige Größe, Masse und gleichzeitige Detailliertheit der Hände, die jeweils schulterbreit, einer Rumpfhöhe entsprechend, Kraft und Feingefühl demonstrieren. Dieses Abbild unseres Gehirns, in der Neurowissenschaft auch Homunkulus genannt, stellt dar, wie die Wahrnehmung der Umwelt verarbeitet wird. Die sensiblen Bereiche des Körpers nehmen mehr Raum im Gehirn ein, die weniger sensiblen entsprechend weniger. Jede Körperipherie hat demnach eine Punkt-zu-Punkt-Projektion auf dem Gehirn, genauer gesagt sind alle Körperregionen auf den primären Rindenfeldern im Bereich der Zentralfurche repräsentiert und werden als sensorischer oder motorischer Homunkulus verstanden. Die Finger – als ein Beispiel für besonders feinmotorische und feinsensible Körperbereiche – belegen auf der Hirnrinde somit deutlich größere Bereiche als etwa der grobmotorischere und schmerzunempfindlichere Rücken.22 23

22 23

16 Handlungsräume

vgl. Von Der Malsburg 1994 vgl. Dannet 1994


Abb. 5: Homunkulus, Science Center Berlin

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3. Menschen verstehen. Das Wahrnehmen und das Verschmelzen

Diese Verteilung ist bei allen Menschen sehr ähnlich. Was passiert nun wenn sich der physische Körper verändert? Was passiert wenn beispielsweise ein Unterarm aufgrund eines Minenoder Arbeitsunfalls amputiert werden muss? Wie reagiert unser Gehirn, wenn ein Körperteil durch eine Prothese ersetzt wird? Oftmals treten merkwürdige Phänomene nach Amputationen auf. WissenschaftlerInnen sind erst im Beginn, Körperillusionen dieser Art zu verstehen. Auch wenn der physische Körperteil plötzlich fehlt, bleibt eine wirklichkeitsgetreue Vorstellung oder eine sehr lebhafte Erinnerung an ihn noch Monate bis Jahre nach dem Verlust bestehen. Dieses Phänomen bezeichnet die Neurologie als Phantom. Es gibt verschiedene Arten von Phantomen, der Neurologe Weir Mitchell24 entdeckt und beschreibt nach dem amerikanischen Bürgerkrieg auch negative Phantome oder Fehl-Phantome. Diese Störungen des Körperbildes können entweder zentral durch Zerstörung des sensorischen Hirnrindenfeldes oder eben durch periphere Faktoren wie z.B. Zerstörung, Blockierung oder Reizung des Nervs oder Nervenendes entstehen.25 Der populärwissenschaftliche Autor und Neurologe Oliver Sacks, der sich neben anderen kuriosen Krankheiten mit diesen peripheren Faktoren beschäftigt, beschreibt unter anderem einen alten Seemann, der sich vor 40 Jahren versehentlich den rechten Zeigefinger abschnitt und seitdem die überwältigend reale Vorstellung des Fingers in genau dieser letzten Position mit sich trug. Dies führte zur ständig quälenden Angst, sich mit eben diesem Finger ins Auge zu stechen, sobald er seine Hand seinem Gesicht näherte.26 Wird jedoch eine Prothese angelegt, so kann sich der Schmerz, das schlechte Phantom, in ein gutes Phantom verwandeln. Die fehlenden Gliedmaße werden zwar noch gespürt, lassen aber die Prothese lebendig erscheinen, sobald durch Bewegung die Verbindung Mensch-Prothese aktiviert wird. 24 vgl. Sachs 1987, S. 97 25 Vgl. 3sat.online 2012 26 Diese und mehr neurologische Anekdoten sind ohne medizinisches Fachwissen verständlich und feinfühlig beschrieben in: Oliver Sacks. Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. 1987

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Durch Handlung nimmt der Körper demnach eine neue Form an. Das Phantom ist also für die Akzeptanz und den Gebrauch einer Prothese von großer Bedeutung. Nur wenn das Körperschema, also die Vorstellung des Phantomglieds, mit der eigentlichen Prothese verschmolzen ist, kann die Prothese »zufriedenstellend« 27 eingesetzt werden.28 Wie kann die Vorstellung des Körperschemas stimuliert werden? Dr. Jens Foell vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim experimentierte daran, künstliche Körperteile in das Körperschema oder besser Körperbild des Patienten einzubauen.29 Dazu werden die Bewegungen zum Beispiel der linken Hand von Sensoren abgenommen, um daraus ein computergeneriertes Bild der rechten, amputierten Hand zu erzeugen. Sieht nun die PatientIn wieder beide Hände in Bewegung, wird die Erinnerung an die fehlende Hand aufgerufen. Im Gehirnscan ist das sichtbar. Obwohl nur eine Hand bewegt wird, ist auch das Hirnareal der fehlenden Hand aktiv. Wie gut aber kann das Gehirn künstliche Körperteile adoptieren? Das versucht Dr. Jens Foell mit dem Rubberhand-Experiment zu klären. Im Sichtfeld des Probanden, dem keine Gliedmaße fehlen, liegt nur der kosmetische Handschuh einer Prothese, der wiederkehrend berührt wird. Gleichzeitig wird aber auch die echte Hand stimuliert. So entsteht nach einiger Zeit ein trügerischer Eindruck: Diese Gummihand gehört zu mir! Die/der ProbandIn reagiert und zuckt zusammen, obwohl lediglich der leblose Handschuh berührt wurde. Da dieser Prozess auch bei der Benutzung einer Prothese stattfindet, wird daran geforscht, Prothesen mit Drucksensoren auszustatten. Sie vermitteln durch Vibration einen Tasteindruck an den Stumpf. Diese Rückmeldung soll sie besser in das Körperschema einbinden. Auch möglichst natürliches Aussehen und Beweglichkeit helfen bei der Adoption durch das Gehirn, dessen Körperwahrnehmung extrem flexibel ist. Durch diese Eigenschaft ist es möglich, eine Prothese mit der Zeit als körpereigen wahrzunehmen. 27 28 29

Sacks 1987, S.98. Vgl. Ebd. Vgl. 3sat.online 2012


Diese Wahrnehmung von Körperbewegung und Lage im Raum oder Lage einzelner Körperteile zueinander, wird in der Neurologie Propriozeption genannt. Solange etwas in das unbewusste, bewegliche Körpermodell passt, wird es als Teil des Körpers akzeptiert. Durch diese Verlagerung jeder Aktion in das Innere des Körpers, spielt es nun keine Rolle mehr ob der Arm aus Polyethylen oder Fleisch und Blut besteht. Wenn jedoch alle Handlungen vom Innern des Körpers ausgehen, so verändert sich durch Propriozeption auch die gesamte Raumvorstellung. Der Raum entsteht nun erst durch den Menschen als ein ständig fließendes Medium. Dies widerspricht der immer noch allgemeinverständlichen, aristotelischen Vorstellung des endlichen, durch Fixsterne begrenzten Raumes, der von Einstein treffend als Container bezeichnet wurde. Anstatt eines Behälterraumes, der unabhängig von körperlichen Bewegungen und somit auch leer existiert, ist in der Raumvorstellung, in der der Mensch der einzig feste Punkt ist, jede Prothese raumzeichnend. Diese Water-drop Perspektive wird besonders gut durch Tamás Waliczkys Computeranimation The Garden verdeutlicht. Hier ist der Kopf des Kindes im Zentrum des Bildes. Durch die Bewegungen der Gliedmaßen verzerren sich die Kraftlinien aus Baumstämmen, Wiesen und Rutschen. Die Welt formt und aktualisiert sich durch die Handlungen des Kindes.30

Diese Raumvorstellung spielt auch im Spitzensport eine wichtige Rolle. Propriozeptives Training ist besonders bei AthletInnen und TurnerInnen, die mit Geräten arbeiten, unabdingbar. Nur durch das emotionale Verschmelzen mit dem Sportgerät wird der Sportler mit diesem eins und kann es beherrschen, anstatt mit großer Energie gegen es anzukämpfen.32 Auch im Alltag entsteht die Erfahrung, mit Instrumenten oder Gegenständen zu verschmelzen: Das Auto um die FahrerIn herum wird nur noch unbewusst gelenkt, die Karosserie wird zur zweiten Haut. Diese Möglichkeit der grenzenlosen Ausdehnung des Körpers über das Innere hinaus in die Unendlichkeit muss für jeden Menschen, egal ob mit oder fehlenden Gliedmaßen, eine sehr befreiende Vorstellung sein. Wenn nun das Gehirn durch die vorher beschriebenen Experimente so leicht zu überlisten ist, wenn allein durch die Aktivierung des Phantoms und letztendlich nur durch Propriozeption oder Aktion aus dem Körperinnern eine grenzenlose Körpererweiterung möglich ist, wieso werden dann Prothesen nicht mit Begeisterung getragen? Wie konnte dann die Orthopädie entstehen, die sich vornehmlich mit der Problematik des Anpassens von Prothesen an den versehrten Körper beschäftigt? Oder, wie lassen sich dann, nach hundertjähriger Schuhmeisterei, noch drückende Schuhe erklären? 32

Vgl. Häfelinger, Schuba 2013

Der Architekt Lars Spuybroek nennt dieses Beispiel , um jegliche Handlung als prothetisch zu bezeichnen. Jede Prothese, also jedes technologische, unbeseelte Gerät, werde somit zu einem Vektor-Objekt, sodass es im haptischen Sinne keinen Unterschied zwischen Körper und Umwelt, zwischen innen und außen gibt. So macht auch der Schlittschuh die Haut lediglich zu einer Schnittstelle, die Empfindungsfähigkeit der Haut wird erweitert und verleiht dem Körper ein neues Handlungsrepertoire beim Gleiten über das Eis. 31

30 31

Vgl. Waliczky 1996 Vgl. Spuybroek 1997, S.74

Abb. 6: Ausschnitt aus T. Waliczky, The Garden

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3. Menschen verstehen. Die Schnittstelle und das Verhältnis

3.2 Die Schnittstelle und das Verhältnis Um den aufgekommenen Fragen nachzugehen, soll nun das Gefüge Mensch und Prothese aus der Sicht der ProthesenträgerInnen und amputierten Menschen dargestellt und den vorhergegangenen Thesen von Neurologen, Medienkünstlern, Architekten oder Philosophen entgegengesetzt werden. Dazu werden zwei verschiedene Assemblagen aus Mensch und Prothese im Detail vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Verbindung dieser beiden zu einer Einheit, auf den Schnittstellen und Kommunikationssystemen zwischen Schaft und Stumpf oder Mensch und Maschine auf der intrapersonellen Ebene. Danach wird die Betrachtungsebene wieder auf die Interaktion und Wahrnehmung der Einheit, auf das persönliche Umfeld und den gesellschaftlichen Kontext, der interpersonellen Ebene, vergrößert werden.

20 Handlungsräume


Abb. 7: Arbeiten an der Schnittstelle

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3. Menschen verstehen. Die Schnittstelle und das Verhältnis

Aktive Prothesen

Myoelektrisch gesteuerte Armprothesen sind Fremdkraftprothesen. Diese aktiven Prothesen sind nicht von Muskelkraft betriebene, jedoch durch Muskelspannung gesteuerte, aktive Prothesen. Myo ist aus dem griechischen Wort »mys« abgeleitet, was übersetzt »Muskel« heißt. Bei jeder Kontraktion eines Muskels entsteht aufgrund eines biochemischen Vorgangs eine elektrische Spannung, die auf der Haut gemessen werden kann. Diese Signale werden zum Steuern elektrisch angetriebener Prothesenkomponenten genutzt. Die elektrischen Spannungen liegen dabei im Mikro-Volt-Bereich. Sie werden von Elektroden auf der Haut abgenommen, verstärkt und zur Steuerung der beweglichen Komponenten genutzt. Diese ermöglichen dann, je nach Modell, Bewegungen: vom einfachen Öffnen und Schließen der Hand, über komplexere Griffe wie etwa den ›Scheckkartengriff‹ bis hin zu 360-Grad-Rotationen des Handgelenks.33 In den letzten Jahren hat sich die Technik der myoelektrischen Prothesen schnell weiter entwickelt. Leistungsstärkere, kleinere und leichtere Akkus und neue Steuerungsmöglichkeiten in der Elektronik ermöglichen mehr Funktionen, also meistens mehr Griffe, sowie ein natürlicheres Aussehen der Prothesen. Vor der Versorgung mit einer myoelektrischen Prothese müssen jedoch ausreichende elektrische Spannungen auf der Haut des Armstumpfes geortet und analysiert werden. Wichtig hierbei ist aber nicht nur die korrekte, technische Einstellung der Elektroden, sondern vielmehr, ob und wie es dem Patienten gelingt, diese Technologie zu beherrschen und die Prothese in sein persönliches Körperschema zu integrieren. Durch morseartige, verschieden starke Kontraktionen der vorhandenen Muskelstränge wird mit der Prothese kommuniziert. Die Prothese antwortet mit dem entsprechenden, angefragten Griff und verharrt in eben dieser Position; solange, bis ein neuer Befehl gesendet wird oder aber die Batterie erschöpft ist. Die einzige aktive Rückmeldung der Prothese an den Träger ist das Aufleuchten der Akkuanzeige. 33

22 Handlungsräume

Engelhardt 2014


Abb. 8: Den Myopunkt finden und am Rechner einstellen

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3. Menschen verstehen. Die Schnittstelle und das Verhältnis

Michael und Michelangelo

Bei einem Treffen mit Michael34 vor der Bundesfachschule für Orthopädietechnik in Dortmund ist sein Akku leer. Er reicht die linke Hand zum Gruß. Das würde er auch tun, wenn seine myoelektrische Hand funktionsbereit wäre, sowieso »seien Prothesen mehr zum Fassen als zum Anfassen geeignet«, meint Michael und schließt sein Motorrad ab. Michaels rechter Ersatzarm ist ca. 56.000Euro wert. Es ist die Michelangelo Hand, das neuste Modell des deutschen marktführenden Prothesenherstellers Otto Bock aus Duderstadt. Dieser bewirbt die SystemElektrohand mit faszinierenden Nutzererfahrungen und Bewegungsfreiheiten als Lifestyle-Produkt zum »Gipfelstürmen und gewinnen« auf der Webseite www.Leben-mit-Michelangelo.de Obwohl Michael sich mit seiner Michelangelo-Hand die Schnürsenkel zubinden kann und somit zum Vorzeigeprothesenträger wurde und gerne für Präsentationen gebucht wird, nutzt er seine myoelektrische Prothese kaum. Am liebsten lässt er seiner Frau die HighTec-Hand zurück, falls sie ein, so er »fleißiges Händchen« für die Hausarbeit brauche. Da die Prothese eintragungspflichtig ist, muss er sie zum Auto- und Motorradfahren anlegen, obwohl er einarmig den Führerschein gemacht hat. Nachdem die Prothese eingehakt und angeschaltet wurde, bewegt Michael durch Muskelspannung und mithilfe seiner Vorstellung, das Handgelenk rechtwinkelig zur Körpermitte hin einzuklappen, die Prothese in die neutrale Position. Dies ist die meistgenutzte der acht möglichen Handgriffe der Michelangelo Hand. Michael beherrscht zwei Griffe. Bei angewinkeltem Unterarm könnte nun auch die Prothese manuell am Schultergurt befestigt werden, um Ermüdungserscheinungen vorzubeugen. Per Knopf34 Dieser, sowie der folgende Personenname wurde geändert.

24 Handlungsräume

druck wird jedoch der Arm ausgestreckt. Bei der Vorstellung alle Finger impulsartig kurz und stark auseinander zu spreizen und gleichzeitiger Muskelkontraktion des Bizeps öffnet sich die Hand, sodass sie nun um den Lenker passt. Die elektrischen Bewegungen der Prothesenkomponenten sind deutlich hörbar, ein Bewegungsfluss zwischen den einzelnen Griffen besteht nicht. Durch den nächsten myoelektrischen Impuls schließt sich die Hand leicht und Marco ist fahrbereit. Alle Schalthebel des Fahrzeugs wurden auf die linke Seite des Fahrers verlegt, sodass der Prothesenarm ohne weitere Manöver mitfahren kann. Ob privat oder auf der Arbeit, nach dem Einsatz am Lenker verschwindet die Prothese in der Ecke, obwohl der Bezug der Oberarmprothese seinem Kleidungsstil entspricht. Die äußere Hohlform des Ober- und Unterarms wurde mit bedruckten T-Shirts seines Lieblingshobbys und mithilfe von Kunstharz ummantelt und harmoniert mit seinem äußeren Auftreten, sie verschmilzt mit seinem Erscheinungsbild. Michaels Amputation verlief gut. Es gibt keine fleischigen Weichteile, keine schmerzenden Narben oder empfindliche, verbrannte Hautbereiche, keine plötzlich aus der Prothese sickernden Blutungen. Statt einer verschriebenen sechswöchigen Rehabilitationsmaßnahme zur Gewöhnung an das neue Körperteil konnte Michael nach fünf Tagen therapeutischer Arbeit in der Fachklinik diese verlasen. Er kann den weichen Silikonschaft tragen, der sich um den verbliebenen Stumpf saugt. Am Metallfuß des Schafts wird die Prothese eingehakt. »Zieh mal dran! Das Gerät hat richtig Kraft«. Die Beschreibung Gerät ist bezeichnend für die Einheit Michael und Michelangelo.


Abb. 9: Michael mit Michelangelo

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3. Menschen verstehen. Die Schnittstelle und das Verhältnis

Passive Prothesen

Michael trägt eine Funktionshand, Klaudia eine Kosmetikhand. Sogenannte Schmuckhände oder Kosmetikhände sind Teil passiver Prothesen. Diese Prothesen können gar nicht oder nur mithilfe der verbliebenen Hand bewegt werden. So kann die verbliebene Hand die passive Armprothese in eine Position bringen, um beispielsweise Gegenstände festzuhalten. Anstatt aktiver Funktion steht bei passiven Prothesen im Wesentlichen das Erscheinungsbild des Menschen im Vordergrund. Es wird meistens aus Silikon ein Duplikat der gesunden kontralateralen Hand angefertigt und individuell angepasst. Des Weiteren dient der kosmetische Ersatz als therapeutische Prophylaxe, um Haltungsschäden bzw. Verschiebungen der Wirbelsäule vorzubeugen. Kosmetikarme werden den aktiven Armprothesen vorgezogen, wenn keine Myopunkte gefunden werden konnten, die Nerven also nicht in der Lage sind, eine aktive Prothese zu steuern oder wenn die physiologischen Voraussetzungen für das Tragen einer kraftzuggesteuerten, mechanischen Prothese nicht vorhanden sind.35 35

26 Handlungsräume

Vgl. Ottobock 2015


Abb. 10: Passive Prothese vorn, aktive Prothese dahinter

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3. Menschen verstehen. Die Schnittstelle und das Verhältnis

Klaudia und die Kosmetikhand

Die folgende Darstellung zu Klaudia und der Kosmetikhand entstanden aus der Analyse ihrer Notizen zu den Cultural Artifacts, der Bildanalyse zur Ethno Photography sowie den anschließenden Gesprächen. Als Klaudia achtzehn Jahre alt wurde, bekam sie ihre erste Prothese und war seitdem Testträgerin bei der Entwicklung von Prothesen für transhumeral Amputierte. Heute ist ihr erster Tag in Rente und sie ist froh darüber, keine funktionale Prothese mit einem Akkugürtel, der sie heute an Tomb Raider erinnert, tragen zu müssen. Die aktive Prothese war schwer zu steuern. Wenn die Prothese sich unkontrolliert bewegte, erschreckten sich die Menschen in ihrem Umfeld. Das Gewicht der Prothese führte zu einer Fehlstellung der Wirbelsäule. Auch mit der deutlich leichteren kosmetischen Prothese hat sie oft Schmerzen, der künstliche Arm ist schwer, die Haut brennt, wird schwitzig und entzündet sich. Aufgrund ihrer Empfindlichkeit bei Wärme sowie Temperaturunterschieden fällt es ihr schwer, aus der Kälte heraus beheizte Räume zu betreten. In ihrem ehemaligen Beruf war sie im Kundenkontakt und oft unterwegs, sie fährt mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Das Gleichgewicht zum Fahrrad fahren findet sie nicht. Im Vergleich zu den früheren aus der Kindheit gibt ihr die Prothese heute mehr Selbstvertrauen und Sicherheit, da sich Menschen weniger schnell erschrecken. »Filz fühlte sich besonders ekelhaft an! Mit PVC und Silikon wurde es etwas besser« sagt Klaudia. Aus etwa zwei Metern Entfernung hat der Silikonhandschuh ein sehr natürliches Aussehen. Der Hautton ist etwas dunkler als der der linken Hand. Es ist Winter. Standardmäßig wird vom Sanitätshaus oder Hersteller ein neuer Handschuh in der einmal ermittelten Hautfarbe geliefert. Alle drei Monate ist ein Silikonhandschuh so dreckig, dass er ausgewechselt werden muss. Der Handschuh ist schlecht zu reinigen. An einem Arbeitstag an der BUFA kommt Klaudia vom Einkaufen. Der schwarze Samtstoff ist nicht nur in

28 Handlungsräume

der Einkaufstüte, sondern hat sich in feinen Partikeln auf dem Silikonhandschuh festgesetzt und schwarzgraue Schlieren über den Silikonhandschuh verteilt. Klaudia ist eine gut gekleidete Frau. Sie trägt Schmuck und liebt die Handarbeit. Ihr Traum, einmal wieder eine Nähmaschine nutzen zu können, bleibt ihr verwehrt. Im Alltag behindert sie die Prothese mehr als das sie unterstützt. In den weiten Taschen ihrer Kleider und Hosen lässt sich die Kosmetikhand verstecken. In einer normalen Jeans wäre das nicht möglich. Klaudia findet selbst beim Sport keine Verwendung für die Prothese. Obwohl die Kosmetikhand auf ästhetischen Einsatz konzipiert wurde, fühlt sie sich unangenehm hart an. Zuhause trägt Klaudia die Prothese nicht. Gerade die Alltagshandlungen wie die Hausarbeit fallen schwer. Ihre Fotos beschreiben die Herausforderungen des Alltags. Verschlüsse und Verschließen könnte der Titel der Fotostrecke sein. Neben dem BH-Verschluss auf dem Rücken sind es besonders Reißverschlüsse, die einhändig nicht zu schließen sind. Anstatt die Schnürsenkel ihrer Winterschuhe mit einer Schleife zu schließen, nimmt Klaudia die dünnen Ballerina-Schuhe, in die sie hineinschlüpfen kann. Das Öffnen und Verschließen ihrer Halskette zeigt, dass es nicht darum geht, nur das Notwendigste zu erledigen, sondern um ein würdevolles Leben, in dem es Raum gibt, sich selbst zu entfalten und die eigene Identität zu leben. Dazu gehört auch das Tragen von Schmuck oder das Kochen selbst zubereiteter Speisen anstatt eine Basisversorgung durch ›Essen auf Rädern‹ in Erwägung zu ziehen. Angewiesen auf die Hilfe anderer ist Klaudia bei vielen Kleinigkeiten des Alltags: etwas aufhängen oder eine Birne wechseln, eine Flasche mit einem Kronkorken öffnen oder eine Kiste Wasser tragen sind schwer zu bewältigende Herausforderungen. Klaudia hat eine Liste an nutzlosen Geräten und schwierig zu bedienenden Dingen auf einer der Toolkit-Karten eingetragen.


Abb. 11: Klaudias Toolkit-Fotografie

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3. Menschen verstehen. Die Schnittstelle und das Verh채ltnis

Abb.12 : Kosmetikhand mit Farbf채cher

30 Handlungsr채ume


3.3 Das Wahrgenommene

Die Darstellung von Michael und Michelangelo sowie Klaudia und Kosmetikhand geben einen Einblick in das Wahrnehmungsspektrum und Nutzungsverhalten von ProthesenträgerInnen. Klaudia und Michel haben eine differenzierte Beziehung zu ihrem Ersatzarm. Auf Grundlage der bisherigen Analyse lässt sich die Vielfältigkeit der Prothese und ihrer Wirkung auf Mensch und Raum darstellen: Eine Prothese kann mobilisieren oder beengen. Als Werkzeug ist sie eine Verlängerung des Lenkers von Kraftfahrzeugen, als unheimliches Anhängsel kann sie TrägerInnen stigmatisieren und zum sozialen Rückzug bringen. Klaudia erfuhr gerade in ihrer Kindheit eine Stigmatisierung, das Tragen einer Prothese macht sie anders. Gerade diese Andersartigkeit bestärkt Michaels Identität. Durch die Personalisierung des Prothesenarms erfährt Michael eine Erweiterung seines Körperbildes. Er schmückt seine Funktionshand. Klaudia trägt selber Schmuck, ihre Schmuckhand passt jedoch nicht zu ihren ästhetischen Vorstellungen. Ein humorvoller, spielerischer Umgang mit der Prothese verdeutlicht die Distanz der/s TrägerIn zum Objekt. Für den individuellen Einsatz findet die Prothese wenig Verwendung. Ist der Mensch allein, wird keine Prothese getragen, da sie keinen funktionalen Mehrwert im Vergleich zur körperlichen Belastung beim Tragen der Prothese gibt. Insbesondere Fingerfertigkeit und Feinmotorik sind defizitär. Durch die Prothese werden dennoch Räume erschlossen. Durch sie wird der Zugang zu sozialen Systemen ermöglicht. Prothesen können die Teilnahme und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen: Michael partizipiert im sozialen Subsystem eines Motorradklubs, Klaudia erfährt durch das Tragen der Kosmetikhand soziale Akzeptanz und geht einer Arbeit mit Kundenkontakt nach. Der Mensch erfährt durch das Tragen der Prothese ein social passing. Mit social passing, einem Begriff der aus den Gender studies, der von den Disability studies übernommen wurde, ist der Anpassungsprozeß gemeint, durch den Menschen unauffällig in der Masse untergehen können ohne aufzufallen.36 Bei Interaktionen von Mensch-zu-Mensch funktioniert das social passing jedoch nur noch eingeschränkt. Was aus der Ferne unauffällig wirkt und von der Umwelt als normal aufgenommen wird, verhält sich aus der Nähe anders. Die Prothese verhält sich im zwischenmenschlichen Kontext atypisch, unerwartet, zur Hand 36

Vgl. Linton 1997

31


4. Handlung erkennen. Bewegungen studieren

4. Handlung erkennen 4.1 Bewegungen studieren Die Feinheiten zwischen einer echten Hand und der Prothese zeigen sich aus der Nähe. Ob die Hand nun aktiv gestikuliert oder passiv auf dem Tisch liegt beim Gespräch – der Raum wird schnell anhand der Handlungen erkennen, ob es sich um eine echte Hand handelt, oder nicht. Kern der weiteren Betrachtungen ist somit die Bewegung der Hand. Wo unterscheiden sich die Bewegungsabläufe einer Prothese von denen einer menschlichen Hand? Was geschieht, wenn Hand und Prothese interagieren? Wie geschmeidig verläuft die technische oder menschliche Motorik? Wo sind Störbilder sozialer Interaktion zu erkennen? Um komplizierte Zusammenhänge zu erfassen, sollen zunächst Bewegungsverläufe und -f lüsse als Ausgangspunkt einer Handlung zeichenhaft festgehalten werden. Handlungsabfolgen oder allgemein Reihenfolgen werden auf klassische Weise in Notationen festgelegt. Die Notation eines Musikstückes ist dabei zum grafischen Festhalten von Tonhöhe, Tondauer und Lautstärke konzipiert. Durch grafische Notation in Form von Symbolen und Zeichen in der Kartografie kann der Betrachter z.B. die topografische Beschaffenheit eines Landstriches interpretieren. Durch die Notenschrift kann ein Musikstück wiederholt oder interpretiert werden. Eine Notation trägt also dazu bei, die zeitliche Form eines Stückes, eines Vorgangs, eines Versuchs oder einer Aufführung mit Parametern zu versehen. Notationen, fotografische Serien, Partituren und filmische Experimente können das Verborgene, Flüchtige oder Schwindende festhalten. Dadurch entstehen ungeahnte Einblicke in offene, abstrakte Strukturen wie etwa Klang, Rauch, Licht, Zeit oder Bewegung.37 Der Begriff der Notation findet sich schon in Werken von ÉtienneJules Marey (1830–1904). Der Erfinder der Chronofotografie war fasziniert davon, subtile dynamische Erscheinungen sichtbar zu machen. Dabei wurden die »Bewegten Motoren«38, also Menschen und Lebewesen mithilfe von verschiedenen Registriergeräten seines Erfindungsreichtums aufgezeichnet.39 37 38 39

Vgl. Triebus 2014, S. 59–61 Frizot 2008, S.55 Vgl. Frizot, 2008, S. 55

32 Handlungsräume

Auf Grundlage von Michel Frizots Essay Notation als graphische Darstellung und ästhetischer Ursprung40 soll überlegt werden, inwieweit Mareys Methoden für die Aufzeichnung von Handlungen mit und ohne Prothese geeignet sein könnte. Nach der Darstellung der Aufzeichnungstechniken und Arbeitsweise Étienne-Jules Mareys wird anhand eines Beispiels Frank B. Gilbreths Arbeitsweise und Methode zur Ermittlung von Bewegungsabläufen innerhalb der wissenschaftlichen Betriebsführung dargestellt. Der Franzose Étienne-Jules Marey (1830–1904) war Physiologe und Professor der Naturgeschichte. Als Wissenschaft der Naturgeschichte wurde zur Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts das bezeichnet, was sich nicht mit der politischen oder kirchlichen Geschichte beschäftigt. Während die Naturphilosophie versucht, Phänomene der Natur zu erklären, ist die Naturgeschichte darauf bedacht, Phänomene zu beschreiben. Die Physiologie beschäftigt sich mit Prozessen bei biologischen Vorgängen. Ein Ziel der Physiologie ist die Analyse von kausalen Zusammenhängen. Dies geschieht durch Messverfahren und Versuchsanordnungen. Die Dynamik eines Vorgangs soll dabei erfasst werden. Diese Wissenschaften bilden den methodologischen und inhaltlichen Hintergrund Mareys Arbeiten und erklären auch gleich seine Intention: Es geht um die Erfassung und das Beschreiben von dynamischen Vorgängen in der Natur. 40 in: Dieter Appelt, Hubertus von Amelunxen und Peter Weibel (Hg.), Notation. Kalkül und Form in den Künsten, Berlin 2008


Die Dynamik und die Natur Étienne-Jules Mareys erfasste Vorgänge in der Natur, die durch Bewegung gekennzeichnet sind. Sein Interesse lag in der Aufzeichnung von Phänomenen, die mit dem bloßen Auge nicht sichtbar sind oder nicht sprachlich beschrieben werden können. Diese dynamischen Vorgänge definieren sich durch Intervalle, Perioden, Rhythmus oder Takt. Das Betrachtungsspektrum reichte vom Flügelschlag eines Insekts zu der Bewegungsabfolge der Gliedmaße eines Menschen beim Hinuntersteigen einer Treppe. Das erklärte Ziel war dabei, das darzustellen, was den Sinnen verschlossen bleibt um das nicht Wahrnehmbare greifbar zu machen.41

Mareys experimenteller Ansatz und Erfindergeist mit dem Mut zum Unbekannten und zum Experiment bei ungebrochenem Ideenreichtum zeigt, dass Notationen den nötigen Freiraum für »Kreativität, Interpretation und Improvisation«44 bieten. Obwohl die Notation durch objektive, mathematisch festgesetzte Parameter wie Raum oder Zeit definiert ist, kann durch das Lesen dieser eine Wiedererzeugung entstehen. Dabei handelt es sich nicht um eine Wiederholung, sondern um eine Wiederherstellung eines unsichtbaren Moments. Das was in der Flüchtigkeit der Bewegung nicht existieren konnte, wird durch die Notation begreifbar gemacht.45

Das Erfassen und Beschreiben

Die Zeit und die Magie

Étienne-Jules Marey war ein heuristischer Erfinder. Um dynamische physiologische Erscheinungen zu erfassen, entwickelte er verschiedenste Registriergeräte oder adaptierte bestehende Instrumente. Diese Geräte zeichneten stets Veränderungen im zeitlichen Kontext auf. So wurden z.B. mit Hilfe des Sphygmografen zum ersten Mal Pulskurven aufgezeichnet. Jedes entwickelte Gerät (Myograf, Pneumograf, Chronograf und weitere) erfasste ein spezifisches physiologisches Phänomen, alle Geräte wiederum zeichneten Kurven und Graphen. Durch diese méthode graphique42 entstanden Aufzeichnungen, die wie eine Schrift gelesen werden konnten (Abb. 13).43 Die grafische Methode entwickelte Marey weiter zur foto-grafischen Methode. Anstatt weißer Kurven auf geschwärztem Papier entstanden Aufzeichnungen auf photobsensiblem Papier. Durch das periodische Abrollen dieser flexiblen lichtempfindlichen Oberfläche war die chronofotografische Methode auf heuristische Weise geboren worden. Sie war die technische Grundlage der Kinematografie. Durch die Entwicklung der chronofotografischen Flinte konnten sich im Raum bewegende Objekte reihenfotografisch erfasst werden. So entstand 1886 eine Chronofotografie zum Flug einer Seemöwe. Bei einer Überlagerung von 50 Bildern pro Sekunde wird die Abduktion und Adduktion des Flügels, also ein Flügelschlag, zweimal innerhalb einer Fotografie aufgezeichnet (Vgl. Abb. 16).

Körper verändern sich über die Zeit. Durch die Bewegung der Gliedmaßen oder des Körpers im Raum konnte Marey Veränderungen über die Zeit darstellen. Marey abstrahierte dabei Bewegungsabläufe zunehmend bis hin zur Darstellung von Lichtpunkten vor schwarzem Hintergrund. So entwickelte er zusammen mit Georges Demeny um 1889 das erste Light-Painting. Durch die Befestigung von Glühlampen an den Gelenken einer Person wurde die Pathologie des Gehens von vorne sichtbar gemacht (Abb. 14). Mareys formalisierte Form des Festhaltens flüchtiger Momente ist eine Inspirationsquelle für zahlreiche nachfolgende Künstler gewesen. Die Chronofotografien Mareys übten nicht nur auf seine Mitmenschen eine fast magische Anziehungskraft aus. Seine Werke beeinflussten die italienische Futuristen wie etwa Bragaglia, Ballo, Boccioni und Russolo und fanden sich auch in der abstrakten Malerei Ballas, Kupkas und Duchamps wieder. Mareys Aufzeichnungen sind stets abhängig vom Parameter Zeit. Im Laufe seiner Schaffenszeit veränderte sich der Fokus seiner Aufzeichnungen. Es geht nicht mehr primär um die Darstellung des Phänomens, der bewegten Natur, sondern um die Darstellung der Zeit. Dies erklärt auch den Wechsel des terminologischen Begriffs von Photochronographie (foto-grafische Aufzeichnung) zu Chronophotographie (Aufzeichnung der Zeit).46

41 42 43

44 45 46

Frizot 2008, S 59 Étienne-Jules Marey, La méthode graphique, Paris 1878 Frizot 2008, S. 56f

Frizot 2008, S. 66 Vgl. Frizot 2008, S 66 Frizot 2008, S 61

33


4. Handlung erkennen. Bewegungen studieren

Abb. 13:

Types de la contraction de muscles pectoraux chez differentes oiseaux. É.-J. Marey 1890, S.98

Abb.14:

Pathological walk from in front, È.-J. Marey, G. Demeny, 1889

Abb. 15: Marche de l´homme portant l‘habit noir avec lignes blances. É-J. Marey, geometrische Chronophotografie, 1882

Abb. 16: Vol descendant du pélican. É-J. Marey, Chronophotografie, um 1887

34 Handlungsräume


Abb. 17: Flug der Seemove, 1887, Nachbau aus einanandergefĂźgten Schwingfiguren, Bronze, MusĂŠe Marey, Beaune

35


4. Handlung erkennen. Bewegungen studieren

Abb. 18: Chronophotographies, E.-J. Marey, 1914

36 Handlungsr채ume


Time-Motion-Studies

Die Krüppel und die Magie

Fernab der Malerei oder Fotokunst setzte Frank Bunker Gilbreth (1868–1924) die Chronofotografie und ab 1914 auch das Light-Painting ein. Auch die Zeit spielte für den Amerikaner Gilbreth eine bedeutende Rolle. Jedoch ging es ihm nicht wie Marey darum, die Zeit lediglich erfahrbar und lesbar zu machen. Durch die Darstellung von Bewegungsabläufen unter dem Aspekt der Zeit sollten Arbeitsabläufe effizienter gestaltet werden, um Ermüdungserscheinungen der/des ArbeiterIn zu verhindern und somit die Produktivität des Unternehmens zu steigern. Er untersuchte handwerkliche sowie industrielle Arbeitsabläufe stets unter dem Aspekt, unnützen Aufwand zu vermeiden. Mit Frederick Winslow Taylor steht der Name Gilbreth für das Programm der wissenschaftlichen Betriebsführung (Scientific Management), welches von Kritikern als Taylorismus bezeichnet wird. Das Sinnbild des Taylorismus ist die Stoppuhr zur Erfassung der Arbeitszeit. Gilbreths Uhr spiegelt die Genauigkeit seiner Arbeitsweise wieder. Die Gilbreth-Stopppuhr (»micro-chronometer«47) misst auf eine Millionste einer Stunde genau.48 Seit Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Gilbreth, ein gelernter Maurer, mit seiner Frau Lilian Moller Gilbreth, eine promovierte Organisations-Psychologin, eine Vielzahl an Geräten, die alle dazu dienten, die Bewegungen des Körpers am Arbeitsplatz möglichst genau zu registrieren. Gilbreth war fasziniert von der Kamera als Medium zur Aufzeichnung von Distanz und Zeit.49 Die Untersuchung der Bewegungsabläufe bezeichneten die Gilbreths als Time-Motion-Study. Erklärtes Ziel war, den einzigen und besten Arbeitsablauf herauszufinden und diesen genauestens den ArbeiterInnen vorzugeben (One Best Way). Teil einer solchen Time-Motion-Study war die Aufnahme der zurückgelegten Distanz innerhalb einer Bewegung, die vornehmlich mit den Händen verrichtet wurde und der dabei vergangenen Zeit. Die Kamera zeichnete beides simultan auf, da eine Uhr an die Kamera gekoppelt war. Da der dunkle Hintergrund der Bewegungsstudie stets mit einem weißen Gitternetz in Höhe, Tiefe und Breite markiert war, war es möglich, Bewegungsabläufe sichtbar zu machen und zu wiederholen. Durch die Markierung der Bewegungsabfolge anhand von Glühlampen, die an den Handgelenken befestigt wurden, konnte aus dem entstandenen Light-Painting der zurückgelegte Weg gelesen werden und in einem dreidimensionalen maßstabsgetreuem Drahtmodell wiederhergestellt, also notiert werden.50

Nachdem sich die Gilbreths intensiv mit dem Verhindern von Ermüdungserscheinungen in Fatigue Study und der Anwendung der Erkenntnisse ihrer Bewegungsstudien in Applied Motion beschäftigt hatten, schien »motion study […] as an adequate and universally applicable method for solving the problems of the handicapped.«51 Zwei Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs erschien das Werk Motion Study for the Handicapped. Frank und Lilian Gilbreth sahen hierbei jeden Menschen in der Gesellschaft als Krüppel; entweder ist er ein Krüppel gewesen, ist zur Zeit ein Krüppel oder ist ein potenzieller Krüppel.52 Vor dem Hintergrund des Drangs nach der Optimierung des Menschen erklärt sich, warum jede/r Mensch als ein mangelhafter Krüppel eingestuft wurde. Es ging nicht um die Unterscheidung zwischen arbeitsfähigen Nicht-Behinderten und arbeitsunfähigen Behinderten, sondern um die Frage der richtigen Anpassung an den Arbeitsplatz. Die Ergonomie am Arbeitsplatz war geboren. Anstatt die Person mit Prothesen zu verbessern, wurden Geräte entwickelt, die an die Konditionen der/s Arbeitenden angepasst waren. So konnte beispielsweise ein Mensch ohne Beine in einer Sitzschale, welche auf einer Schiene befestigt war, zwischen den Arbeitsschritten hin- und herrollen.53

47 48 49 50

Vgl. Perkins, Gilbreth o.J. (1) Vgl. Gilbreth, Gilbreth 1920, S.6 Vgl. Perkins, Gilbreth o.J. (1) Vgl. Perkins, Gilbreth o.J. (2)

Abb. 19: Versuchsaufbau zur Bewegungsstudie. Perkins, Gilbreth o.J. (2)

51 52 53

Gilbreth, Gilbreth 1920, S.xii Vgl. Harrasser S.69 Vgl. Gilbreth, Gilbreth 1920, S.26

37


4. Handlung erkennen. Bewegungen studieren

Experimente planen Gilbreths Time-Motion-Study und Mareys Chronofotografien verfolgen das gleiche Ziel. Unscheinbare, flüchtige Bewegungen sollen sichtbar gemacht werden. Während Marey auf der Sicht eines Naturkundlers Phänomene erkennen will, will Gilbreth die Erkenntnis zur Veränderung Richtung Effizienz nutzen. Mareys Betrachtungsgegenstand sind abstrakte, nicht zielgerichtete Bewegungen, Gilbreth registriert konkrete Handlungen, die sich aus einzelnen Arbeitsschritten zusammensetzen. Beide bedienen sich des Mediums der Fotografie, um Bewegungsabfolgen zu beschreiben. Mareys grafische und chronofotografische Methode zeigen die Kraft der Notation als experimentellen Versuch, etwas nicht Sichtbares erfassbar zu machen. Gilbreth erfasst durch Detailgenauigkeit, Marey durch Zweckentfremdung, Ideenreichtum und Heuristik. Mareys und Gilbreth Arbeitsweisen sollen als Vorlage dienen, Handlungsräume einerseits unter bestimmten formalen Parametern zu erfassen, dennoch aber experimentelle Verfahren zuzulassen und Ideen auszuprobieren. Auch wenn keine neuen Instrumente erfunden werden, sollen verschiedene Zeichen- und Registriergeräte für verschiedene Betrachtungsebenen eingesetzt werden. So wird bei einem Experiment ein Computerprogramm sowie das Eingabegerät Computermaus zweckentfremdet. Die Interpretation der Daten in eine fremde Umgebung ist der Versuch, unbekannte, experimentelle Wege zu testen. Ein anderes Experiment nimmt Mareys und Demenys Idee der partiellen Beleuchtung bestimmter Körperteile auf. Durch Light-Painting werden Informationen gefiltert und der Betrachtungsgegenstand aus dem Kontext herausgenommen. Marey Notationsfarben Weiß auf Schwarz oder Schwarz auf Weiß werden hier aufgenommen. Der Blick des Betrachters kann sich auf das Wesentliche, die Bewegung, konzentrieren und wird nicht von zusätzlichen Informationen (wie z.B. Form, Farbe) abgelenkt. Das dritte Experiment ist in Anlehnung an Mareys Intention der Chronofotografien. Flüchtige Bewegungsabläufe werden durch die reihenfotografische Aufnahme festgehalten. Die Zeit wird erfasst und festgehalten. Der Fokus liegt hierbei weniger auf der Herausarbeitung des Intervalls und Wiederkehr, sondern der Verbesserung der Lesbarkeit von Bewegungen und Handlungen des Alltags. Die Technik der analogen Mehrfachbelichtung wird dabei nicht übernommen. Im digitalen Zeitalter wurden die Einzelaufnahmen einer Reihe durch digitale Fotobearbeitungsprogramme übereinandergelegt.

»Zusammen mit Marey erfahren wir, dass sämtliche Phänomene oder auch zeitliche, unsichtbare, den Sinnen fremde Erscheinung zum linearen Zeichen, Raum-Maß, Intervall wird und dabei Diskontinuität, Wiederholung von Gleichen oder Ähnlichen erzeugt.« 54 54

38 Handlungsräume

Frizot 2008, S. 65


Abb.20-23: Vorversuche zum Experiment No 1

Abb.24: Homme vĂŞtu de noir, Marey, 1894, S.60

Abb.25-29: Vorbereitungen zu Experiment No 3

Abb.28

Abb.29

Abb.30: Storyboard zu Experiment No 1

39


4. Handlung erkennen. Experimentieren

4.2 Experimentieren

Zunächst wurde nach einer Methode gesucht, um Bewegungen abstrahiert und ohne Bezug zum Kontext darzustellen. Durch eine computergestützte Visualisierungstechnik soll die Beziehung der Bewegung zu Mensch, Prothese und Raum zunächst aufgebrochen werden. Ziel dieses Aufbrechens ist es, ungeahnte Abläufe oder Muster zu erkennen, die durch die reine Abbildungen des Sichtbaren im Verborgenen geblieben wären. Ebenso dient die Abstraktion dazu, sich von vorhandenen Denk- und Lösungsansätzen freizumachen.

Experiment No 1 In diesem Experiment werden typische Bewegungen des Alltags visualisiert. Um komplexe Bewegungsabläufe im dreidimensionalen Raum reduziert darzustellen, wurde zunächst nur die Bewegung des Handgelenks aufgenommen. Erst im folgenden Experiment soll die Hand(-prothese) mit den Fingern dargestellt werden. Dabei wurde zuerst ein analoger Vorversuch gestartet. Die Aufzeichnung einer komplexen Bewegung (in diesem Fall das Zubinden eines Turnschuhs) soll durch das Zeichnen eines Filzstiftes erfolgen, der am Handgelenk der ProbandInnen befestigt ist (Abb. 20-23). Die Kartierung des Bewegungsablaufs mit starrer Prothese unterscheidet sich deutlich von der Kartierung des Bewegungsablaufs des Probanden mit

40 Handlungsräume

zwei gesunden Händen. Die Konstruktion zur Bewegungsübertragung mit dem Filzstift ist störungsanfällig. Durch die digitale Übertragung mittels eines Geräts, welches zur Aufnahme von Bewegungsveränderungen konzipiert wurde, könnte die Genauigkeit verbessert werden. Die Wahl fiel auf die drahtlose Magic Mouse der Firma Apple.

Versuchsaufbau: 2 Computer mit gleicher Bildschirmauflösung 2 baugleiche Computermäuse 2 ProbandInnen, davon einer mit Armprothese, eine mit zwei gesunden Händen Aufgabe:

A) Zuschnüren eines Schuhs mit Schleife B) Auspacken eines Bonbons aus dem Papier Beide Handgelenke bzw. Handgelenk und Prothesengelenk liegen ruhig und fixiert auf einem Schaumstoffkissen, welche auf zwei Eingabegeräten (drahtlose Computermaus) befestigt wurden. Durch Druck auf das Kissen wird die Maus aktiviert. Diese zeichnet die Bewegung des Handgelenks in zwei parallel laufenden Processing-Programmen auf. Das Processing-Programm basiert auf einem frei verfügbaren Code auf www.generative-gestaltung.de, der Zeichnen mit einem elastischen Pinsel ermöglicht.


Die Grafik verdeutlicht die Geschwindigkeit der Bewegungsabläufe durch ein Zeichenelement, welches gedehnt wird, je schneller die Bewegung abläuft. Ist das Ausgangselement bei Stillstand ein Kreis, so wird dieser bei Bewegung zu einer Ellipse gedehnt. Das Kreiselement wird von der Mausbewegung von einem Punkt gezogen. Das gegenüberliegende Ende des Kreises folgt zeitlich versetzt. Somit wird die Zeichengeschwindigkeit verdeutlicht. Die Breite des Kreises bleibt dabei fest definiert. Diese Elemente aus Kreisen und Ellipsen werden der Bewegung der Maus folgend, hintereinander wie Perlen auf einer Perlenkette aufgereiht. Um diese Reihenaufnahme im Detail sichtbar zu machen, sind die »Perlen« durchsichtig, also nur die Konturen sichtbar. Die Kartierung des Bewegungsablaufs zeigt deutliche Unterschiede zwischen den Bewegungsabläufen des starren Gelenks der Prothesenhand und des menschlichen Handgelenks. Bei der Person mit zwei gesunden Händen läuft der Vorgang gleichmäßig ab. Bei der ersten Aufgabe zeigt die Hand rechts eine höhere Bewegungsintensität. Das deutet darauf hin, dass es sich bei der Person um eine Rechtshänderin handelt. Der Bewegungsablauf des Menschen mit Armprothese verläuft weniger symmetrisch. Die Bewegungen der Prothese (links) sind stockend, der Bewegungsraum begrenzt. Dafür sind die Bewegungen der rechten Hand deutlich schneller und intensiver. Die rechte

Hand übernimmt die Arbeit der linken. Durch die Abstraktion wird deutlich, dass bei einem Menschen mit Prothese ein völlig anderer Handlungsablauf stattfindet, als bei einem Menschen mit zwei gesunden Händen. Um das gleiche Ziel zu erreichen, werden unterschiedliche Wege gewählt. Es wurde bei diesem Experiment darauf geachtet, nur Bewegungsabläufe darzustellen, die auf einer Ebene, wie etwa auf einem Tisch oder in Bodennähe ablaufen. Bei diesem Experiment wurden Handlungen im Raum zweidimensional abgebildet. Das Aufnahmegerät, die Computermaus, nimmt nur Bewegungsveränderungen in der x und y-Achse auf. Dadurch wurde die z-Ausrichtung der Bewegung nicht verdeutlicht. In weiterführenden Experimenten kann die Bewegung in der z-Achse bei geringer Ausdehnung durch einen digitalen Zeichenstift auf einem Grafiktablett aufgenommen werden. Diese Zeichenstifte nehmen den Druck auf das Tablett wahr und setzten diesen digital um. Eine andere Methode, um Bewegungen im dreidimensionalen Raum aufzunehmen ist die Nutzung von Motion-Capture Geräten. Im Maßstab der Hand kann das 3D-Steuerungsgerät Leap Motion Controller verwertbare Rohdaten liefern, auf der Betrachtungsebene ganzer Körper ist der Kinect Bewegungserkenner ein denkbares Eingabegerät. Fraglich ist, ob durch die Fülle der damit erfassten Daten das Ziel der Reduzierung und Abstraktion einzelner Bewegungsabläufe noch verfolgt wird.

41


4. Handlung erkennen. Experimentieren

42 Handlungsr채ume


Abb. 31: einen Schuh mit zwei H채nden zuschn체ren

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4. Handlung erkennen. Experimentieren

44 Handlungsr채ume


Abb. 32: einen Schuh mit einer gesunden Hand zuschn端ren

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4. Handlung erkennen. Experimentieren

46 Handlungsr채ume


Abb. 33: ein Bonbon mit zwei gesunden H채nden auspacken

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4. Handlung erkennen. Experimentieren

48 Handlungsr채ume


Abb. 34: ein Bonbon mit einer gesunden Hand auspacken

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4. Handlung erkennen. Experimentieren

Experiment No 2 Nach der Reduktion und Abstraktion der Bewegung wird im folgenden Experiment die Hand im Detail betrachtet. Die Betrachtungsebene ist auf die Hände oder die Prothesenhand vom Handgelenk ausgehend bis zu den Fingerspitzen hin reduziert. Damit die Interaktionen der Fotomodelle nicht durch äußere Faktoren beeinflusst werden, wurde ein Fotostudio als Aufnahmeort genutzt. Durch diese isolierten Aufnahmen vor schwarzem Hintergrund wurde der Blick für Bewegungsdetails sowie Auffälligkeiten der Interaktion geöffnet. Es wurde die Perspektive der Draufsicht gewählt, um dem Betrachter Distanz und Objektivität anstatt Teilnahme am Geschehen zu vermitteln. Eine Bewegungsabfolge wurde durch Mehrfachbelichtung festgehalten. Neben der Darstellung der Mehrfachbelichtungen in ihrer zeitlichen Abfolge wurden Aufnahmen, die markante Momente zeigen, in einer Fotomontage übereinandergelegt. Ausgewählte Bewegungsabläufe werden im Folgendnen beschrieben: Das Hand geben. Die Dexiosis Die zentrale Handlung auf der interpersonellen Ebene: Zur Begrüßung wird die rechte Hand gereicht. Dadurch kommt es zur Verbindung zweier Menschen. Die Hand der Frau auf der linken Seite der Aufnahme ist zunächst geschlossen, öffnet, hebt und dreht sich, um die Prothesenhand zu umfassen. Der Daumen schiebt sich über den Handrücken, die Hand sitzt tief in der Handinnenfläche der Prothese. Druck entsteht. Die Prothesenhand bewegt sich in geöffneter Form gradlinig auf die Hand zu und umfasst sie sanft. Dabei ist ein leises Rauschen der elektronisch beweglichen Teile zu hören. Das Klatschen. Interaktion zwischen den eigenen Händen Auf der intrapersonellen Ebene wird das Verhalten der Hände oder der Hand und Prothese zueinander beobachtet. Die zuvor angedachte symmetrische Bewegung zu einer zum Gebet gefalteten Hand war nicht möglich, da der Abstand zwischen den Prothesenfingern zu gering ist, um eine Fingerbreite hindurchzulassen. Als Alternative wurde das Klatschen als Interaktion zwischen den eigenen Händen gewählt. Die zwei gesunden Hände der klatschenden Frau zeigen eine ausufernde Bewegung, die Hände wölben sich zueinander. Das Ausholen der Hände wird bei jedem Klatschvor-

50 Handlungsräume

gang weiter. Die Hände erröten und schwellen an. Beim Klatschen mit einer Prothesenhand entsteht kein klatschendes Geräusch. Es strengt an, die Prothesenhand über längere Zeit offen zu halten. Die gesunde Hand passt sich im Bewegungsablauf der Prothesenhand an. Die Handfläche ist gerade, nur mit den Fingerspitzen wird die Prothesenhand berührt. Der Bewegungsablauf hat mechanische Züge. Das Armdrücken. Ein Spiel für zwei Das Fingerhakeln war als Bewegungsablauf gewählt worden, um eine spielerische Interaktion zu untersuchen. Aufgrund der Starrheit der Prothesenfinger, die keinen Freiraum boten, um einen Finger zwischen den Prothesenfingern durchzuhaken, wurde aus dem Fingerhakeln ein Armdrücken. Bei diesem Spiel werden die Handflächen der sich an einem Tisch gegenübersitzenden Personen gegeneinander gedrückt während das Ellenbogengelenk auf dem Tisch aufliegt. Ziel ist es, den gegnerischen Handrücken auf die Tischplatte zu drücken. Wer das erreicht hat, ist der Gewinner des Spiels. Beim Armdrücken ist deutlich die Muskelanspannung des Oberund Unterarms der Frau auf der rechten Seite der Aufnahme zu erkennen. Eine blaue Ader tritt hervor. Die Fingerknöchel färben sich weiß. Der Träger der Oberamprothese drückt die Hand der Frau auf den Tisch. Er gewinnt mit Leichtigkeit. Das Gespräch. Handlungsfreiheit. Bei dieser Übung wird die Gestik eines Menschen beim Zuhören oder Erzählen portraitiert. In diesem Fall erzählt die Frau auf der rechten Seite. Der Mann links hört zu. Es fällt auf, dass zu Beginn des Gesprächs sich alle vier Daumen in Opposition zueinander befinden. Während des Zuhörens öffnet sich die Prothesenhand ungewollt. Der Mann umfasst diese mit seiner anderen Hand und drückt sie mechanisch - nicht myoelektrisch - wieder zu, um sie wieder in die neutrale Ausgangsposition zu bringen. Bei der Erzählerin ist eine starke Extension und Flexion der Hände zu erkennen. Diese verlaufen dazu noch symmetrisch. Die linke Hand ist langsamer als die rechte. Die Frau ist Rechtshänderin. Ihre Hände berühren sich beim Erzählen.


Abb. 35: Das Greifen I Abb. 36–43: Das Greifen II Abb. 44–51: Das Öffnen II Abb. 52–59: Das Erzählen II Abb. 60: Das Öffnen I Abb. 61: Das Erzählen I Abb. 62: Das Handgeben I Abbb. 63: Das Armdrücken I Abb. 64–71: Das Handgeben II Abb. 72–79: Das Armdrücken II Abb. 80–87: Das Klatschen II Abb. 88: Das Klatschen I

Abb. 35: Das Greifen I

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4. Handlung erkennen. Experimentieren

52 Handlungsr채ume


53


4. Handlung erkennen. Experimentieren

Abb. 60: Das Öffnen I

54 Handlungsräume

Abb. 61: Das Erzählen I


Abb. 62: Das Handgeben I

Abb. 63: Das Armdr端cken I

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4. Handlung erkennen. Experimentieren

56 Handlungsr채ume


57


Abb. 88: Klatschen I

58 Handlungsr채ume


Experiment No 3 Das dritte Experiment baut auf den vorhergegangenen auf. Der Fokus liegt hierbei nicht mehr auf der Hand und Handprothese in ihrer körperlichen Form. Die Fingerspitzen als verbindendes Element zum Raum sind nun Gegenstand der Betrachtung. Um die Bewegungen der Fingerspitzen im Raum besonders herauszustellen wurde eine Konstruktion aus LED-Lampen entwickelt wodurch Light-Painting Aufnahmen möglich wurden. Innerhalb einer Langzeitbelichtung wurde ein Bewegungsablauf durchgeführt. Hierbei wurde der gesamte Körper frontal aufgenommen. Die Frau rechts im Bild bewegt ihre gesunden Hände, der Mann links in Bild trägt eine myoelektrische Oberarmprothese. Es wurden die gleichen Handlungen des Experiments 2 durchgeführt. Die Aufnahmen geben nur eingeschränkt neue Erkenntnisse Auch wenn Maßstab, Bildausschnitt, Perspektive sowie Auswahl der Bewegung überdacht werden müssen, so eröffnet der Umgang mit dem Medium Light-Painting neue Möglichkeiten. Die Fotomodelle reagierten sehr aufgeschlossen auf das Tragen der LED-Marker und begannen von selbst, im Raum zu zeichnen. In der Dunkelheit des Raumes bewegten sich die Personen lockerer und freier als in den vorangegangen Experimenten. Die LED-Konstruktion kann auch im öffentlichen Raum verwandt werden. Somit hat sich eine neue Möglichkeit zur Aufzeichnung des zwischenmenschlichen Zusammenspiels für den weiteren Verlauf der Arbeit ergeben. Das Unerwartete auswerten

Auf verschiedene Weise wurde versucht, sich Bewegungsabläufen von Prothesen und Händen zu nähern. Dabei wurde zunächst die Bewegung abstrahiert und aus dem Kontext genommen. Die Kartierung verdeutlicht, dass bei gleicher Handlungsanweisung verschiedene Bewegungsabläufe zum Erreichen des Ziels stattfinden. Die darauffolgenden fotografischen Aufnahmen nehmen die Hand und die Prothese in Aussehen und Motorik in den Fokus. Bei der Interaktion zwischen Menschen sowie auf intrapersoneller Ebene geschehen unerwartete Aktionen und Reaktionen. Diese wurden als Störbilder erfasst.

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4. Handlung erkennen. Experimentieren

Abb. 89: Das Gehen

Abb. 90: Das Laufen

Abb. 91: Das Winken

60 Handlungsr채ume


Abb. 92: Das Klatschen (1)

Abb. 93: Das Klatschen (2)

Abb. 94: Das Klatschen (3)

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5. Handlungsfelder

5. Handlungsfelder Traditionell sind Prothesen auf die Wiederherstellung der Funktion der fehlenden Hand ausgerichtet. Primäres Ziel ist es dabei, das Greifen zu ermöglichen. Neueste Produkte auf dem Markt zeichnen sich durch eine Erweiterung der Greifarten aus. Dadurch sollen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben genauso wie Alltagshandlungen ermöglicht werden. Die Motorik der Hand zu kopieren ist der Fokus der Wissenschaft in Orthopädie und Medizin, Elektrotechnik und Ingenieurswesen. Die Hand hat jedoch weitaus mehr Bedeutung, als lediglich zu greifen – die Hand hat eine soziale Bedeutung. Sie ist eine Schnittstelle, um Raum zu schaffen, zu erfahren und zu erweitern. Dies geschieht ebenso bei Handlungen mit Prothesen oder prothetischen Handlungen sofern ein Verschmelzen zwischen Prothese und Körper stattfindet. Im Beispiel Michaels erweiterte sich die Mobilität und Individualität seiner Person. Im Fall Klaudias beengt die Prothese das direkte Handlungsfeld, ermöglicht jedoch durch das soziale passing den Freiraum, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Hierbei ist das Erscheinungsbild der Prothese entscheidend. Die Funktionalität spielt gegenüber dem social passings eine untergeordnete Rolle. Aufgrund des Aussehens und Funktionsweise, die einer Hand nachgeahmt ist, wird von der Prothese erwartet, dass sie sich wie eine Hand verhält. Die fotografischen Experimente der Bewegungsanalysehaben aufgezeigt, dass die Prothese sich in sozialen Interaktionen nicht wie eine Hand verhält. Auch auf intrapersoneller Ebene ist die Kommunikation der menschlichen Hand mit der Prothesenhand gestört. Die Prothese agiert aber reagiert nicht. Auch wenn durch Propriozeption eine Verschmelzung mit der Prothese möglich ist, gibt sie keine Rückmeldung, da die Prothese nicht fühlt. Die Hand ist Ausdruck und Symbol der Emotion. Aggression wird in der Faust symbolisiert, klatschende Hände sind Symbol der Freude. Die Prothese ist emotionslos, statt Feingefühl oder Zärtlichkeit verharrt sie in einem starren Bewegungsrepertoire. Diese Arbeit stellte heraus, dass eine Prothese nur einen geringen Teil des Spielraums einer Hand abdeckt, jedoch die Verhaltensweise einer Hand erwartet wird.

62 Handlungsräume


Das menschenähnliche aber nicht menschliche Aussehen und Verhalten ist unerwartet. Dieses unerwartete Verhalten wirkt sich auf soziale Interaktion aus. Daraus ergeben sich die folgenden Ansätze, die zur weiteren Bearbeitung in Betracht gezogen werden:

Die Prothese als sensibler Körperteil Prothesen schränken emotionale Handlungen ein. Es sollen Funktionen untersucht werden, die soziale Interaktion ermöglichen. Wie kann eine Prothese agieren und reagieren? Welche Sensoren und Faktoren sind zur Erfassung und Äußerung von Emotion notwendig? Kann und darf ein Objekt überhaupt feinfühlig beseelt handeln, streicheln oder schwitzen? Die Prothese wird als poetisches Konzept zum Mittler von Emotion in der Interaktion und aktives Verbindungsglied zwischen Mensch und Raum.

Die Prothese als Erweiterung Da die Prothese als Darstellung der Hand Befremdlichkeiten hervorruft, sollen alternative Gestaltungsansätze aufgedeckt werden. Wo liegt das Unheimliche begründet und wie äußert sich dies in Form, Farbe oder Materialität? Welche Gestaltungselemente führen zur persönlichen und sozialen Akzeptanz der Prothese, was trägt der Mensch? Löst man sich von der Vorstellung der Prothese als Ersatz der menschlichen Hand, erweitert sich der Gestaltungsspielraum. Die Prothese kann nun als Ornament, Spielzeug oder Roboter aufgefasst werden. Als ehemalige Metapher für Krankheit, Außenseitertum und Unvollständigkeit wird die Prothese zum Symbol der persönlichen Entfaltung und Erweiterung. Aus diesen Ansätzen ergeben sich zahlreiche Pfade für alternative Gestaltungsmöglichkeiten von Prothesen. Der praktische Teil der Arbeit wird einige dieser Möglichkeiten beleuchten und konkrete Vorschläge zur Weiterentwicklung von Prothesen aufzeigen. Konzepte zur Interaktion mit dem Unerwarteten führen so zur Erschließung neuer Handlungsräume.

63


6. Quellenangaben. Literaturverzeichnis

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1894, S.60

Ist keine andere Quelle angegeben, so handelt es sich um eigene Aufnahmen. Die Fotografien zu den Experimenten entstanden mit Michaela und Anja im Fotostudio der KISD. Die Abbildungen 9 und 11 sind anonyme Einsendungen.

Versicherung Hiermit versichere ich, Anne K. E. Hegge, dass ich die Arbeit selbstständig angefertigt habe und keine anderen als die angegebenen und bei Zitaten kenntlich gemachten Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.

Anne K. E. Hegge Köln, im März 2015

66 Handlungsräume


67


Handlungsr채ume. Eine Interaktion mit dem Unerwarteten

68 Handlungsr채ume


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