Europäische perspektiven ausgabe 1

Page 1

ep1 Juli 2015

Gedenken für eine gemeinsame europäische Zukunft Eine Gedenkreise nach Trostenez zum 70. Jahrestag der Beendigung des 2. Weltkriegs vom 01. bis 05. Mai 2015 in Minsk, Belarus

Dokumentation der Redebeiträge

EUROPÄISCHE P E R S P E K T I V E N

ep1 Juli 2015

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

1


2

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


Gedenken für eine gemeinsame europäische Zukunft Eine Gedenkreise nach Trostenez zum 70. Jahrestag der Beendigung des 2. Weltkriegs vom 01. bis 05. Mai 2015 in Minsk, Belarus

Dokumentation der Redebeiträge

Die Gedenkreise wird von vielen Partnern aus den Kirchen und Verbänden in Deutschland, Belarus, Russland und der Ukraine getragen und finanziell gefördert

ep1 Juli 2015

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

3


Impressum

Herausgeber Peter Junge-Wentrup Internationales Bildungsund Begegnungswerk gemeinnützige GmbH

Redaktion Uwe Hildebrandt Anton Markschteder

Anschrift der Redaktion Internationales Bildungsund Begegnungswerk gGmbH Bornstr. 66 44145 Dortmund Telefon E-Mail Web

E-Mail

Web

4

0231 95 20 96 - 0 info@ibb-d.de www.ibb-d.de

Gestaltung Oliver Stolzenberg mit.milch designbüro info@mit-milch.de

Druck FLYERALARM www.flyeralarm

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

Schirmherrschaft Matthias Platzeck, Ministerpräsident a. D.

ep1 Juli 2015


EDITORIAL

Knapp 100 Personen aus Deutschland und 100 Personen aus Belarus nahmen an der Gedenkreise „Trostenez in der europäischen Erinnerung“ aus Anlass des 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus teil. Mit dabei waren Personen, die Angehörige in Trostenez verloren haben, Personen, die in den Kirchen und der Politik Verantwortung tragen, und Menschen, die sich seit vielen Jahren in zivilgesellschaftlichen Projekten engagieren. Das zentrale Ziel war, in der heutigen konfliktreichen Zeit nach Wegen der Verständigung und Versöhnung zu suchen. Verständigung kann nur möglich werden, wenn die Erinnerung am Anfang steht: Die Besuche in Chatyn und Bobruisk führten deshalb Dimensionen der Vernichtung vor Augen:

I

Die Zerstörung von ca. 9.000 Dörfern und die Vernichtung von 629 Dörfern mit allen Einwohnern (Beitrag von Rainer Schlief);

I

die bewusste Tötung der sowjetischen Kriegsgefangenen durch Hunger, Kälte, Krankheiten und Gewalt (Beitrag von Ingrid Damerow).

Im Mittelpunkt stand der Besuch in der Gedenkstätte Trostenez. In der Dokumentation finden Sie deshalb die Ansprache von Gabriel Heim, dessen Großmutter in Trostenez getötet wurde. Im Mittelpunkt der Gedenkreise stand die Frage, wo wir in dem Prozess der Verständigung zwischen unseren Völkern stehen. Hierzu gab es Beitrage sowohl von belarussischer wie auch deutscher Seite. Frau Pfarrerin Worms-Nigmann und Herr Wacker, Mitglieder der Kirchenleitung von Westfalen, Herr Oberkirchenrat Knoche, Zentrum für Ökumene, und Henning Scherf nahmen dazu von deutscher Seite Stellung. Von belarussischer Seite finden Sie die Beiträge von Herrn Erzbischof Kondrusiewicz, Katholische Kirche, Herrn Erzpriester Powny, Orthodoxe Kirche, und Herrn Gersten von dem Verband der jüdischen Gemeinden und Organisationen in Belarus. Über die inhaltlichen Beiträge hinaus war es für alle Beteiligten wichtig wahrzunehmen, dass die deutschen Teilnehmer in Offenheit und Herzlichkeit empfangen wurden. Wir hatten das Auswärtige Amt gebeten, zu den Verbrechen in Belarus Stellung zu nehmen. Herr Dr. Gernot Erler betonte, dass es aus der Zivilgesellschaft heraus zahlreiche Initiativen des Brückenbauens gegeben hat und erläuterte,

ep1 Juli 2015

warum heute die Erinnerung eine gemeinsame Aufgabe sei. Er entschuldigte sich dann im Namen der Bundesregierung und seinem eigenen Namen für die Verbrechen in Belarus. Gedenkstätten wie die in Trostenez seien für eine gemeinsame Erinnerung notwendig und der Bau würde vom Auswärtigen Amt unterstützt. Rafal Borkowski (Internationale Jugendbegegnungsstätte Kreisau) berichtete von den Initiativen, die den Verständigungsprozess zwischen Polen und Deutschland ermöglicht haben. Damit ist die Frage verbunden, ob es auch in der deutsch-belarussischen Kooperation in Zukunft ein Jugendwerk geben kann. Alexander Dolgowskij stellte das Online-Archiv der Zeitzeugen vor und Sabrina Bobowski das Projekt „Ausstellung Trostenez“. Die Ausstellung „Trostenez“ soll im kommenden Jahr in Belarus und Deutschland zeitgleich gezeigt werden. Die Dokumentation enthält eine Zeittafel zu den Verbrechen, die 1941-44 in Trostenez geschehen sind, Fotos zu dem 1. Bauabschnitt und Skizzen zu den Gedenkstätten in Schaschkowka und Blagowschtschina. Die Dokumentation haben wir „Europäische Perspektiven“ genannt, weil die Erinnerung und die gemeinsamen Gespräche erst Verständigungs- und Versöhnungsprozesse ermöglichen und diese Dialoge im Hinblick auf ein Vertrauen und eine europäische Friedensperspektive notwendig sind. Die Dokumentation erscheint deshalb auch in russischer Sprache. Sie enthält eine CD, die einen Eindruck von der Atmosphäre der Gedenkreise vermittelt. Im kommenden Jahr begehen wir den 75. Jahrestag des Beginns des Überfalls auf die Sowjetunion und 2017 gedenken wir zahlreicher Deportationen, die 75 Jahre zuvor nach Trostenez erfolgten. Möglicherweise wird dann die Gedenkstätte „Trostenez“ eröffnet werden können. Dies wird nur möglich sein, wenn weiterhin viele engagierte Menschen in Belarus, Deutschland, Österreich und Tschechien die Errichtung der Gedenkstätte Trostenez unterstützen. Dortmund, August 2015

Peter Junge-Wentrup, Geschäftsführer der IBB g. GmbH

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

5


Auf dem Weg zur Gedenkstätte Trostenez

März 2013 Auf der internationalen Konferenz „Der Vernichtungsort Trostenez in der europäischen Erinnerung“ sprachen sich die Teilnehmer für die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem historischen Gelände aus. Das Projekt „Weg des Todes“ von Leonid Lewin sollte dabei die städtische Planung ergänzen.

September 2013 - Februar 2014 Das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) Dortmund übernahm die Aufgabe, in Deutschland die Mittel für die künftige Gedenkstätte zu sammeln. Mit einer Delegation aus belarussischen Kirchen-Vertretern besuchte das IBB alle Städte in Deutschland, aus denen die Deportationen nach Minsk erfolgten, und bat um Unterstützung. In einer Spenden-Kampagne, die von der Bethe-Stiftung gefördert wurde, trug das IBB über 300.000 € von Städten, Stiftungen, Kirchen und zahlreichen Privatspendern zusammen.

8. Juni 2014 Bei einer Gedenkreise nach Minsk, an der ca. 130 Personen aus mehreren europäischen Ländern teilnahmen, wurde eine Absichtserklärung zwischen der Stadt Minsk und dem IBB Dortmund unterschrieben, in der die gemeinsame Errichtung der Gedenkstätte beschrieben wurde. Den Höhepunkt der Gedenkreise bildete die symbolische Anbringung einer Zeitkapsel am Ort der künftigen Gedenkstätte durch den belarussischen Präsidenten Aleksandr Lukaschenko.

Juni 2014 - Juni 2015 Der erste Bauabschnitt der Gedenkstätte, die „Pforten der Erinnerung“ wurde realisiert.

Mai 2015 Bei einer Gedenkreise nach Trostenez, an der ca. 90 Personen aus West- und Mitteleuropa anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung von Faschismus teilnahmen, entschuldigte sich Dr. Gernot Erler zum ersten Mal im Namen der Bundesrepublik Deutschland und seinem eigenen für die Gräueltaten, die in Belarus während des Zweiten Weltkrieges im deutschen Namen verübt wurden.

6

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


GruSwort von Bundespräsident Joachim Gauck In den Zeiten der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg wurden in den Ländern Osteuropas Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, deren Ausmaß und Grausamkeit unvorstellbar ist und tiefe Bestürzung in uns hervorrufen. Orte wie das Konzentrationslager Auschwitz sind heute feste Begriffe im europäischen und deutschen Diskurs und Gedenken. Darüber hinaus gibt es aber noch eine Vielzahl anderer Orte, in denen Abertausende Menschen brutal ermordet wurden. Vor über zwei Jahrzehnten ermöglichte der Fall des Eisernen Vorhangs den Austausch zwischen Deutschland und den befreiten Völkern Europas über die Geschehnisse in dieser dunklen Zeit der europäischen Geschichte. Es ist von großer Bedeutung, dass sich die Europäer gemeinsam mit den Verbrechen der Vergangenheit auseinandersetzen, um einen Weg der Versöhnung und Gemeinsamkeit in der Zukunft zu bahnen. Deswegen begrüße ich den Ansatz eines europäischen Gedenkens an die Ermordeten von Blagowschtschina und Trostenez, die ihrerseits aus verschiedenen Staaten Europas stammten. Tausende Juden - unter anderem aus Deutschland, Österreich und Weißrussland - sowie Zwangsarbeiter aus der ehemaligen Sowjetunion fanden an diesen Ort ihren Tod. Dieser Menschen wollen wir gedenken und in einem europäischen Dialog Lehren aus der Geschichte ziehen. Dazu trägt das Vorhaben zur Errichtung einer Gedenkstätte in Trostenez bei.

ep1 Juli 2015

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

7


inhalt

Samstag, 2. mai

Impressum Editorial auf dem weg zur gedenkstätte trostenez GruSwort des bundespräsidenten Inhalt chronik Die gedenkstätte trostenez Videodokumentation Die Wanderausstellung

8

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

17

Rainer Schlief, IBB

19

Ingrid Damerow, Haus der Wannsee-Konferenz / Deutsch-Russisches Museum Karlshorst

21

Pfarrerin Birgit Worms-Nigmann und Uwe Wacker, Mitglieder der Kirchenleitung der Ev. Kirche von Westfalen

4 5 6 7 8 10 14 30 56

ep1 Juli 2015


Sonntag, 3. mai

Montag, 4. mai

23 Gabriel Heim, Enkel von Marie Winter

39 dR. gERNOT eRLER, Staatsminister a. D.

25 Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz, Metropolit von Minsk und Mogiljow 27 Oberkirchenrat detlev Knoche, Leiter des Ökumene Zentrums, Ev. Kiche in Hessen-Nassau 32 Boris Gersten, Vorsitzender des Verbandes der jüdischen Gemeinden und organisationen in Belarus 34 Dr. Henning Scherf, Bürgermeister a. D. der Stadt Bremen 35 Erzpriester Fjodor Powny

ep1 Juli 2015

43 Jurij Ambrassewitsch, Leiter der Hauptverwaltung für multilaterale Diplomatie 44 Galina Pschenitschnaja, Nachkomme eines TrostenezOpfers aus Belarus 47 Petr Klenka, Sohn von Karel Klein, einem Überlebenden von Trostenez 50 Gabriel Heim, Enkel von Marie Winter 52 dr. Alexander Dolgowskij, Das Online-Archiv der Geschichtswerkstatt 54 Rafal Borkowski, Leiter der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Kreisau, Polen

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

9


Chronik

1. September 1939 November 1941 Mit dem Überfall auf Polen entfesselt Deutschland den Zweiten Weltkrieg.

22. Juni 1941 Überfall auf die Sowjetunion.

11. November 1941

28. Juni 1941

Mit dem ersten Transport kommen ca. 1.000 Hamburger Juden an.

Die Wehrmacht nimmt Minsk, die Hauptstadt der belarussischen Sowjetrepublik, ein.

15. November 1941

19. Juli 1941

Unter den ca. 1.000 Juden, die mit dem Zug aus Düsseldorf ankommen, befinden sich auch 244 Wuppertaler und 128 Essener.

Das Minsker Ghetto wird eingerichtet. Circa 60.000 Juden werden in einem zwei Quadratkilometer großen Stadtviertel konzentriert.

September 1941 Im Zuge der beschlossenen Vernichtung der europäischen Juden wird Minsk zu einem der wichtigsten Zielorte für die Deportationen der Juden aus Westeuropa bestimmt.

10

Während der sogenannten „Judenaktionen“ im Ghetto Minsk erschießen die Sicherheitspolizei (SiPo) und Ordnungspolizei (OrPo) zwischen 12.000 und 14.000 Menschen, um Platz für die ersten Deportierten zu schaffen.

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

17. November 1941 Mit dem größten Transport kommen ca. 1.050 Juden aus Frankfurt am Main nach Minsk.

18. November 1941 Ein Zug aus Berlin bringt ca. 1.000 Berliner Juden.

ep1 Juli 2015


20. November 1941 März 1942 Aus Brünn (Protektorat Böhmen und Mähren) kommen ca. 1.000 tschechische Juden in Minsk an.

22. November 1941 Mit einem weiteren Sammeltransport kommen 500 Juden aus Hamburg, 440 – aus Bremen und 130 – aus Stade an.

5. Dezember 1941 Ein Zug aus Wien bringt die ersten ca. 1.000 österreichische Juden ins Minsker Ghetto. Wegen schlechter Transportlage und winterlichen Verhältnissen werden die Deportationen vorübergehend eingestellt.

20. Januar 1942 Auf der Wannsee-Konferenz stellt Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), sein Programm für die „Endlösung“ vor, das den Tod und die Deportation von 11 Mio. Juden vorsieht.

ep1 Juli 2015

Adolf Eichmann, Referent für Judenangelegenheiten im RSHA, Reinhard Heydrich und Heinrich Himmler, Reichsführer-SS, besuchen nacheinander Minsk. Die Details des Mordprogramms werden festgelegt.

April 1942 In der ehemaligen Kolchose Malyj Trostenez, etwa 12 km südöstlich von Minsk gelegen, richtet die Sicherheitspolizei ein Lager zur Eigenbewirtschaftung ein, in dem Häftlinge Zwangsarbeit verrichten müssen. Blagowschtschina, eine Waldlichtung in der Nähe von Trostenez, wird als Exekutionsstätte für die Ermordung der Juden ausgewählt.

Mai - Oktober 1942 Weitere ca. 16.000 Juden werden aus dem „Reich“ nach Minsk/Malyj Trostenez deportiert. Ankömmlinge werden entkleidet und direkt zum weiträumig abgesperrten Exekutionsplatz im Wald geführt. Am Rande einer großen Grube werden sie durch Genickschüsse aus Pistolen erschossen.

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

11


11. Mai 1942

Juli 1942

Die ca. 1.000 Juden, die mit dem zweiten Transport aus Wien deportierten werden, kommen am Minsker Güterbahnhof an. 81 von ihnen werden auf dem Gut Malyj Trostenez als Zwangsarbeiter eingesetzt und überleben deshalb zunächst. Die restlichen ca. 900 Menschen werden sofort in Blagowschtschina erschossen.

Die ersten drei Transporte aus Theresienstadt kommen in Minsk/Malyj Trostenez an. Bis September 1942 folgen zwei weitere. In einer viertägigen Aktion werden ca. 10.000 Ghetto-Insassen, die als „arbeitsunfähig“ eingestuft wurden, nach Blagowschtschina gebracht. Die Mehrheit von ihnen stirbt bereits in den Gaswagen.

Juni 1942

10. August 1942

Spätestens seit Juni 1942 ist der Einsatz von mehreren „Sonderwagen“ (Gaswagen) dokumentiert. Die Ladeflächen dieser LKWs wurden mit luftdichten Kabinen ausgestattet, in die in Abhängigkeit vom Modell bis zu 50 bzw. 100 Menschen eingepfercht werden konnten. Durch die Leitung der Abgase ins Innere wurden die Häftlinge auf der Fahrt zur Blagowschtschina vergast.

In Malyj Trostenez wird eine provisorische Eisenbahn-Haltestelle in Betrieb genommen. Die Züge mit den „Reichsjuden“ kommen nun direkt am Erschießungsort an.

26. Juni 1942 Der erste Transport aus Königsberg trifft in Minsk/Malyj Trostenez ein. Unter den 770 Deportierten befinden sich auch 202 Häftlinge aus Berlin.

12

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

9. Oktober 1942 In Malyj Trostenez kommt der inzwischen zehnte Transport aus Wien mit 547 Juden an.

Winter 1942 / 1943 In der Schlacht von Stalingrad (September 1942 - Februar 1943) wendet sich der Kriegsverlauf an der deutschen Ostfront.

ep1 Juli 2015


Juli 1943

Ende Oktober 1943

Die verlorene Schlacht am Kursker Bogen, bei der die Wehrmacht eine letzte große Offensive gegen die Rote Armee startete, bestätigt die Unvermeidbarkeit der militärischen Niederlage. Der Rückzug der deutschen Armee zwingt auch die Zivilverwaltung im Hinterland, die Räumung der besetzten Gebiete vorzubereiten.

Als Ersatz für Blagowschtschina wird in wenigen Hundert Metern vom Gut Malyj Trostenez, im Wald von Schaschkowka, eine Verbrennungsgrube angelegt. Nach Schätzungen werden in der Anlage bis Juli 1944 ungefähr 50.000 weitere Menschen verbrannt. Seit März 1944 diente die Anlage auch als Erschießungsstätte.

September 1943

21. Oktober 1943

Die Auflösung des Minsker Ghettos wird eingeleitet. In einer „Judenaktion“ werden 6.500 Häftlinge erschossen.

Das Minsker Ghetto wird endgültig aufgelöst.

Oktober 1943 Ein geheimes Spezialkommando (Aktion 1005) wird eingesetzt, um die NS-Kriegsverbrechen vor der sich nähernden Roten Armee zu vertuschen. Aus den inzwischen 34 Gruben im Wald von Blagowschtschina werden die Leichname der Opfer exhumiert („enterdet“), auf großen Holzstößen gestapelt, mit Benzin übergossen und verbrannt. Die Aktion, die sich in Sachen Vertuschung als sinnlos erweist, dauert bis Dezember an.

28. Juni 1944 Unmittelbar vor dem Einmarsch der Roten Armee in Minsk beschließt der Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) Heinrich Seetzen im Zusammenhang mit der Auflösung eines SS-Sammellagers die darin noch befindlichen „arbeitsfähigen“ Juden und die Insassen der SS-Gefängnisse in einer Großaktion zu liquidieren. Weil das Krematorium in Schaschkowka dafür zu klein ist, werden die Menschen in eine Scheune auf dem Gut Malyj Trostenez, die zuvor als „Asservatenkammer“ für die Sachen der Ermordeten diente, mit LKWs hineingefahren und dort erschossen. Anschließend wird die Scheune niedergebrannt. Nach Schätzungen sterben dort zwischen 2.000 und 6.500 Menschen.

3. Juli 1944 Minsk wird von der Roten Armee befreit.

ep1 Juli 2015

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

13


Die Gedenkstätte

Die Gedenkstätte Trostenez Am 22. Juni 2015, dem 74. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion, wurde in Trostenez feierlich der erste Teil der künftigen Gedenkstätte eröffnet – die Komposition des belarussischen Bildhauers Konstantin Kostjutschenko „Pforten der Erinnerung“. Die 10 m hohe Komposition steht auf dem Territorium des ehemaligen Lagers Trostenez, in dem in den letzten Tagen der Okkupation in einer Scheune nach Schätzungen zwischen 2.000 und 6.500 Menschen von den Nazis erschossen und verbrannt wurden.

Feierliche eröffnung des ersten Teils der künftigen

Als Nächstes wird eine Gedenk-Komposition in Schaschkowka entstehen. Dort, unweit des Lagers, richteten die NS-Schergen 1943 ein provisorisches Krematorium ein, in dem im Späteren auch Erschießungen stattfanden. Diese Vernichtungsanlage wurde als Ersatz für Blagowschtschina angelegt, als dort im Rahmen einer Vertuschungsaktion („Aktion 1005“) die Überreste der Opfer exhumiert und verbrannt wurden.

Gedenkstätte Foto: president.gov.by

Zum Gedenken an die Opfer in Schaschkowka soll dort eine stilisierte Verbrennungsgrube entstehen.

Leonid Lewin

Das Mahnmal „Weg des Todes“ von Leonid Lewin Als letztes Element der künftigen Gedenkstätte Trostenez soll der „Weg des Todes“ vom belarussischen Architekten Leonid Lewin gebaut werden. Der am 1. März 2014 verstorbene Künstler entwarf ein Monument für den Vernichtungsort in Blagowschtschina, einer Waldlichtung unweit des ehemaligen Lagers, in der die meisten Opfer ermordet wurden. In 34 Gruben liegen dort die Überreste von den meisten der über 22.000 deportierten Juden aus West- und Mitteleuropa, sowie von unzähligen Opfern aus Belarus.

14

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


In seinem letzten großen Projekt widmete sich Lewin den Widersprüchen des Krieges:

Wir betrachten diese Ereignisse als ein Paradox des 20. Jahrhunderts - einer Zeit, in der alles in den Leben von Millionen unschuldiger Menschen ins Gegenteil verkehrt wurde. Männer töteten nach dem Wunsch eines Fanatikers Frauen, Kinder und alte Menschen. Die Opfer wurden nach Minsk und Trostenez fast unaufhörlich transportiert. Wir dürfen diese Ereignisse auf keinen Fall vergessen. […] Gleich nach dem Parkplatz sollen die Besucher den „Weg des Todes“ betreten. Die rote Farbe soll die Weggestaltung dominieren. […] Die Besucher der Gedenkstätte sollen stilisierte Eisenbahnwagons passieren, an deren Wänden Gedenktafeln mit Namen der Opfer angebracht werden.

Die gesamte Komposition bestimmen in erster Linie zwei freie runde Plätze. Den ersten weißen Platz haben die Häftlinge bei ihrer Ankunft ins Lager betreten, als sie noch Hoffnung auf Überleben hatten. Auf dem zweiten schwarz gestalteten Platz wurde ihr Leben tragisch abgebrochen.

ep1 Juli 2015

Im Wegeverlauf ist eine Reihe von kleineren Skulpturen geplant, die das Paradoxe des Krieges verdeutlichen sollen:

. zerstörte Häuser, . eine umgekippte und zerbrochene Menora, . mit den Wurzeln nach oben gedrehte Bäume u.a. Der symbolische „Weg des Todes“ endet auf dem schwarzen Platz - einem leeren Ort, um den herum das Leben weitergeht. An diesem Ort können die Besucher verweilen und innehalten. Hinter dem schwarzen Platz liegen die Massengräber, über die inzwischen ein Wald gewachsen ist.“ Für die Errichtung des „Wegs des Todes“ hat sich die deutsche Seite verpflichtet, einen Beitrag von 1 Mio. Euro zu leisten.

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

15


Samstag, 2. Mai 2015 Exkursion zur Gedenkstätte Chatyn Exkursion nach Bobruisk und besuch des deutschen Soldatenfriedhofs Schatkowo Abend der Begegnungen in der Katholischen Kirche des heiligen Simeon und der heiligen Helene

16

EUROPĂ„ISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


„Das belarussische volk erinnert sich und wird sich auch immer erinnern.“ Wir sind heute hier um zu Gedenken. Vor zwei Generationen wurden an dieser Stelle, und im ganzen Land, brutale Verbrechen von Nazideutschland begangen. Ich stehe hier als Nachfahre eines Staates, der Menschen ihr Menschsein absprach. Ich empfinde tiefe Scham und ich empfinde tiefes Mitgefühl mit jenen, die unter den deutschen Faschisten gelitten haben. Ich bitte hier als Deutscher um Vergebung. Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren. Das belarussische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern. Wir suchen als Menschen Versöhnung. 70 Jahre nach Kriegsende und dem Sieg über dem Faschismus ist eine Zeit zu Gedenken. Deshalb brauchen wir einen aufrechten Umgang mit der Vergangenheit, der nichts verschweigt und nichts beschönigt und den Opfern Anerkennung zuteilwerden lässt.

Das Vergessen wollen verlängert das Exil und das Geheimnis der Erlösung heiSt Erinnerung. alte jüdische Weisheit

Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergisst, verliert den Glauben. Für uns kommt es auf ein Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Inneren an. Wir

ep1 Juli 2015

geben dem Ausdruck nach Außen durch die bestehende Gedenkstätte hier in Chatyn und die neu entstehende Gedenkstätte Malyj Trostenez. Für mich, für uns, für alle Nachgeborenen in Deutschland erwächst aus der Schuld von gestern eine besondere Verantwortung für heute und morgen. Daher braucht es Menschen in West und Ost mit politischer Vernunft und einen starken Willen, um ein friedliches Europa zu festigen und Konflikte zu vermeiden und friedvolle Lösungen zu finden. Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen. Diesen Schritt gehen wir heute hier gemeinsam.

Rainer Schlief, IBB Ansprache bei der Gedenkfeier der Exkursion zur Gedenkstätte Chatyn

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

17


„alle nicht für uns arbeitende Kriegsgefangene haben zu verhungern.“ Beginn und Ende des Krieges gegen die Sowjetunion, also der 22. Juni 1941 wie der 8. Mai 1945, sind inzwischen zu historischem Allgemeinwissen geworden. Auch der von Deutschland ausgehende Völkermord an den europäischen Juden ist eine allseits bekannte und anerkannte Tatsache. Wie aber steht es um das Wissen über das Schicksal der sowjetischen Soldaten, die in deutschen Gewahrsam gerieten und dabei umkamen? Immer wieder stößt man auf völliges Erstaunen und geradezu Fassungslosigkeit, wenn darauf hingewiesen wird, dass von den drei Millionen sowjetischen Soldaten, die im ersten Kriegshalbjahr, also von Juni bis Dezember 1941, in deutschen Gewahrsam gerieten, zwei Millionen nicht überlebt haben. Historiker gehen davon aus, dass die Gesamtzahl aller Opfer bei 60 % liegt. Diese unglaubliche Zahl steht der Zahl der ermordeten sowjetischen Juden in nichts nach. Während beim Holocaust die Täter überwiegend in den SS- und Polizei-Formationen zu suchen sind, geht der Massenmord an den sowjetischen Soldaten dagegen in erster Linie auf das Konto der Wehrmachtsführung. Man war sich von Beginn der Kriegsplanungen an bewußt, dass die Transportmöglichkeiten für die zu erwartenden Massen an Gefangenen überhaupt nicht ausreichen würden und die Ernährung der Gefangenen nur auf niedrigstem Niveau stattfinden konnte. Bei der Jagd nach Nahrungsmitteln durch die Wehrmachtsund deutschen Zivilbehörden kam der Versorgung der sowjetischen Soldaten die geringste Rolle zu – wie auch den sowjetischen Juden in den Ghettos und Lagern. Der Befehl des Generalquartiermeisters Eduard Wagner vom 13. November 1941 „alle nicht für uns arbeitende Kriegsgefangene haben zu verhungern“ zeigt die unglaubliche Hybris nicht nur Wagners sondern der Wehrmachtsführung schlechthin. Die sowjetischen Soldaten wurden im besten Falle als hilfreiche Arbeitskräfte angesehen, denen höchstens eine notdürftige Ernährung zugestanden werden sollte.

18

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

Eine Konstante in diesem Krieg war die „Nahrungsfreiheit Europas“, wie es der Ernährungsminister Backe ausdrückte, ihr hatte sich alles unterzuordnen. Man kann es so ausdrücken, dass ohne eine Nichtversorgung der sowjetischen Gefangenen der Krieg nicht zu gewinnen war. Da alles rollende Material für die Bedürfnisse der Truppe gebraucht wurde, war ein Abtransport der Gefangenen in vielen Fällen ausgeschlossen, was dazu führte, dass sie oft unter schärfster Bewachung auf freiem Feld unter katastrophalen Bedingungen dahinvegetierten. Besonders gefährdet waren jüdische wie auch Gefangene aus den asiatischen Sowjetrepubliken, denen man von Wehrmachtsseite eine besonders „brutrale asiatische“ Kampfesweise nachsagte. Aufgrund ihres Beschnittenseins wurden auch viele muslimische Gefangene als Juden ermordet. Als sich die deutsche Haltung den Gefangenen gegenüber aufgrund von Arbeitskräftemangel im Reich änderte, hörte das Massensterben auf. Im Dezember 1941 erging der Befehl Hitlers, sowjetische Gefangene als Arbeitskräfte ins Reich zu holen. Der massenhafte Tod in dieser Dimension hörte auf, doch gingen noch Tausende durch Unterversorgung, brutale Behandlung und Ermordung zugrunde. Meine Vorrederin Galina Lewina ist in ihrem Vortrag auf das Schicksal der Juden im Ghetto von Bobrujsk eingegangen. Für die männlichen Juden in der besetzten Sowjetunion gab es fast immer nur eine Möglichkeit, dem Massenmorden zu entgehen: in der Roten Armee zu kämpfen oder sich zu den Partisaneneinheiten durchzuschlagen. Ihre Familien fielen den Massenexekutionen zum Opfer. Auch in Bobrujsk wüteten die Einsatzgruppen, wie Leonid Rubinstein uns berichtet hat. Nicht nur in Minsk, wo es das größte Ghetto in der besetzten Sowjetunion gab, sondern auch in vielen kleineren Orten wurden sofort nach dem deutschen Einmarsch sog. Wohngebiete für die Juden errichtet. Das Massenmorden begann jedoch vielerorts schon vor der GhettoEinrichtung, so auch im Dorf Kamenka nahe Bobrujsk im Juli 1941.

ep1 Juli 2015


Nicht nur Juden, denen in solchen Fällen antideutsche Agitation und Verbreitung von Gerüchten vorgewurfen wurde, wurden sofort erschossen, sondern auch sowjetischen Soldaten, denen es gelungen war, der Gefangenschaft zu entkommen oder die den Kontakt zu ihren Einheiten verloren hatten und von den Deutschen aufgegriffen wurden, drohte als Spionen oder Saboteuren die sofortige Erschießung. Den Verbrechen auch noch beim Rückzug der Wehrmacht fielen neben großen Teilen der Zivilbevölkerung unzählige Rotarmisten zum Opfer und das auch hier im Raum von Bobrujsk. Heute, 70 Jahre danach, müssen auch die deutschen Soldaten erwähnt werden, die in der letzten großen Schlacht auf sowjetischem Boden im Juni 1944 im Raum Bobrujsk zu Tausenden gefallen sind und von denen ein großer Teil auf dem Soldatenfriedhof in Schatkovo bestattet werden konnte. Ingrid Damerow, Haus der Wannsee-Konferenz / Deutsch-Russisches Museum Karlshorst Ansprache bei der Exkursion nach Bobruisk zum Mahnmal der Holocaust-Opfer, zur Gedenkstätte für die ermordeten sowjetischen Soldaten und zum Besuch des deutschen Soldatenfriedhofs Schatkowo

ep1 Juli 2015

„Das Massenmorden begann jedoch vielerorts schon vor der GhettoEinrichtung, sO auch im Dorf Kamenka nahe Bobrujsk im Juli 1941.“

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

19


„Der Opfer zu gedenken ist daher eine bleibende Aufgabe für uns und alle nachfolgenden Generationen.“ „Gedenken für eine gemeinsame europäische Zukunft“ so lautet das Motto unserer Zusammenkunft hier in Belarus. Ein erster ereignisreicher Tag mit vielen Eindrücken liegt hinter uns. Vielleicht geht es manchen von Ihnen wie mir: Ich bin seit gestern in einem Land, das ich eben erst kennenlernen darf. Es hat mich gastfreundlich aufgenommen und ich freue mich, mehr zu sehen und zu erfahren. Zugleich bin ich mir als Deutsche bewusst, welch großes Leid Weißrussland während des zweiten Weltkriegs durch die deutsche Wehrmacht erleben musste. Die Gedenkstätte in Chatyn macht das Unvorstellbare in ganz besonderer Weise sichtbar – über 600 Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht, unzählige unschuldige Weißrussen ermordet. Die Politik von Rache, Vergeltung und verbrannter Erde durch die Wehrmacht, das waren Taten des Hasses und der Unmenschlichkeit. Der Opfer zu gedenken, ist daher eine bleibende Aufgabe für uns und alle nachfolgenden Generationen – und das ist ja auch ein Grund, warum wir hier sind – 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. An unserem Treffen nehmen rund 90 engagierte Menschen aus Deutschland teil. Wir kommen aus mehreren Bundesländern, aus Kirchen, Versöhnungsinitiativen, aus Politik und Kultur, Hochschule und Zivilgesellschaft. Wir sind junge und alte Menschen: Einige von ihnen haben den Zweiten Weltkrieg noch selbst miterlebt. Wir freuen uns auf die Begegnung und den Austausch mit Ihnen aus Weißrussland, Tschechien, England, Österreich und der Schweiz.

Uns alle verbindet unsere gemeinsame Geschichte. Aber wir tragen als Deutsche Verantwortung für das, was unsere Väter und Großväter und die deutsche Politik angerichtet haben. Darum ist es uns gerade heute, 70 Jahre nach dem Ende des Krieges so wichtig, zu erinnern und zu gedenken – damit das, was an Unmenschlichkeit hier in Weißrussland geschehen ist, nie wieder passiert. Heute – im Jahre 2015 können wir uns der Vergangenheit stellen und dabei drei wichtige Schritte gehen:

1

Erinnern - an das, was war, - und das muss heute in ausführlicher und differenzierter Weise geschehen. 70 Jahre Abstand ermöglichen uns jetzt auf alle unterschiedlichen Facetten der Greueltaten des Zweiten Weltkriegs zu schauen. Da ist es an der Zeit, auch der weniger bekannten Orte des Grauens zu gedenken. Auschwitz, Majdanek, Sobibor und Malyj Trostenez sollten als Namen in Zukunft bekannt und in Erinnerung sein, wenn wir eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur an die NS-Zeit pflegen. Die von Historikern so bezeichnete „Ära der Zeugen“* geht allmählich zu Ende. Umso wichtiger ist es, deren Zeugnisse als Teil unserer gemeinsamen Erinnerungskultur zu bewahren und an die nächste Generation weiter zu geben.

2

Gedenken, das ist der zweite Schritt – Gedenken der Opfer in Griechenland, Polen, Ungarn, Russland, aber ebenso der Opfer in den Niederlanden und in Weißrussland und an all den anderen Orten des Schreckens. Gedenken, das tun wir ja gerade auch hier gemeinsam, zusammen und immer wieder neu. Dieses sind wir den Opfern schuldig, aber auch den uns nachfolgenden Generationen.

* So die Historikerin Annette Wieviorka; WIEVIORKA, Annette: L´Ere du témoin, Paris, 1998.

20

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


„Uns alle verbindet unsere gemeinsame Geschichte. Aber wir tragen als deutsche verantwortung...“

3

Und der dritte Schritt, den wir gemeinsam tun können: das ist Versöhnung leben. Dies kann gelingen, indem wir nach vorne schauen und in kleinen Schritten geduldig, mit Mut und Zuversicht am konkreten Beispiel unsere Menschlichkeit leben in der Begegnung mit anderen.

Wenn also wie hier in Minsk am Ort des ehemaligen KZs eine Gedenkstätte entsteht, dann kann ich mir für die Zukunft ganz konkret vorstellen, wie Versöhnungsarbeit aussehen könnte: in Seminaren in der Gedenkstätte, in der Gedenkstättenarbeit, wo beispielsweise europäische Freiwillige Besuchern Geschichte erklären und näher bringen. Ich komme aus Westfalen und habe ein paar Einblicke in die westfälisch geprägte Zusammenarbeit mit Weißrussland gewinnen können.

Ich nenne hier beispielhaft:

I

Ulrike Jäger, Jugendarbeiterin aus dem ostwestfälischen Bünde. Sie ist so eine Promotorin, die Jugendliche mit weißrussischen, älteren Frauen zusammengebracht hat. In den sommerlichen work-camps geschehen Begegnung und Erinnern und Versöhnung zugleich.

I

Und die westfälische Männerarbeit, die das Kindererholungszentrum Nadeshda seit vielen Jahren solidarisch unterstützt.

Sicher wären hier noch weitere Gruppen aus Westfalen zu nennen. Aber auch wenn ich über den westfälischen Tellerrand hinaus schaue, gibt es natürlich ebenso in anderen Landeskirchen und Bundesländern viele engagierte Gruppen, Gemeinden, Vereine und Kreise, die sich für die praktische Versöhnung einsetzen. Viele von ihnen sind heute hier unter uns. Lassen Sie uns also auch den heutigen Abend nutzen, um untereinander ins Gespräch zu kommen und wahrzunehmen, wie und mit wem wir gemeinsam unterwegs sind in unserem Gedenken für eine gemeinsame europäische Zukunft.

Pfarrerin Birgit Worms-Nigmann und Uwe Wacker, Mitglieder der Kirchenleitung der Ev. Kirche in Westfalen GruSwort im Namen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland am Abend der Begegnungen in der Katholischen Kirche des heiligen Simeon und der heiligen Helene

ep1 Juli 2015

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

21


Sonntag, 3. Mai 2015 Gedenken an die Opfer von Blagowschtschina Wege der Verständigung zwischen Menschen in Deutschland und Belarus

22

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


„Marie ist Deutsche, eine deutsche jüdin von geburt.“ Gabriel Heim Ansprache bei der Gedenkfeier zu Ehren der Opfer von Blagowschtschina

„Nun hat uns der alte, gute Gott wohl verlassen“, schreibt meine Großmutter Marie Winter wenige Wochen vor ihrer Deportation aus Berlin an ihre Tochter ins Exil. Marie ist Deutsche, eine deutsche Jüdin von Geburt. Sie hat ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht. Was ihr Schicksal sein sollte, war für sie unausdenkbar. Selbst noch an jenem 24. Juni 1942, als sie sich am Sammelplatz in der ehemaligen Synagoge in der Berliner Lewetzowstraße einzufinden hatte. Es war der 16. Transport „nach dem Osten“. Ihre Reise führt im Personenwaggon nach Wolkowysk und von dort aus im Viehwagen zum Güterbahnhof von Minsk. Am Freitag, den 26. Juni 1942, so vermerkt es das Transportbuch, werden 770 Juden entladen. In einer Lagerhalle am Bahngleis werden sie ihrer letzten Habe beraubt und dann aus der Stadt gefahren. An der Rampe stehen auch zu Mordfahrzeugen umgebauten Lastwagen. Von der Minsker Bevölkerung

ep1 Juli 2015

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

23


„Die 63-jährige Marie Winter aus Berlin-Wilmersdorf können wir benennen, viele aber bleiben namenlos.“ „Seelenersticker“ genannt. Ihr Fahrtziel sind auch die Gruben im Wald von Blagowschtschina. Dieser Freitag war wohl ein Sommertag mit einem blauen Himmel über Minsk und der die Stadt umgebenden Landschaft: hell und klar. Es war der letzte Tag im Leben meiner Großmutter und der vielen Passagiere des 16. Osttransports mit Jüdinnen und Juden aus Berlin und Königsberg. Hier, wo wir heute im Gedenken beisammen stehen – still und gefasst – stürzten die Maschinengewehrsalven der Täter in den Jahren 1941 und 1942 ungezählte Menschen in die Gruben: Morde auf Befehl! Die 63-jährige Marie Winter aus Berlin-Wilmersdorf können wir benennen, viele aber bleiben namenlos. Halten Sie inne mit mir, im Namen aller, die hier, und anderswo auf Grund ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer Veranlagung oder wegen ihrer Gesinnung in den Tod getrieben worden sind. Dass wir heute gemeinsam hier stehen und trauern, ist mir Beweis, dass Maries alter, guter Gott uns nicht verlassen hat. Gabriel Heim

24

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


„Gott, wo warst Du damals? Warum hast Du nicht die Hand zurückgehalten, die Unschuldige gemordet hat?“ Belarus feiert ebenso wie die ganze Welt den 70. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg. Heute gedenken wir derer, die ihr Leben für die Befreiung von der faschistischen Pest geopfert haben. Wir gedenken auch der Opfer jenes schrecklichen Krieges. Wir gedenken und verneigen uns vor jenen, die ihr Leben an den Fronten verloren haben, bei Bombardierungen, Vernichtungsaktionen und an solchen Orten wie Trostenez, Chatyn, der traurig bekannten „Jama“ in Minsk und vielen anderen Stätten des Genozids am belarussischen und anderen Völkern ermordet worden sind. In Trostenez sind über 200.000 Menschen ums Leben gekommen, meistens Juden, viele von denen aus Deutschland, Tschechien, Österreich, Polen und anderen Ländern dahin gebracht wurden. In diesem Todeslager wurden auch Menschen anderer Nationen und Glaubensbekenntnisse vernichtet, unter anderen Katholiken und Orthodoxe. In Trostenez ruhen die sterblichen Überreste des katholischen Priesters Wincent Hadleuski, der von Nationalsozialisten am Vorabend der Geburt des Herrn, am 24. Dezember 1942, ermordet worden ist. Viele können wohl fragen:

Gott, wo warst Du damals? Warum hast Du nicht die Hand zurückgehalten, die Unschuldige gemordet hat? Auf solche Frage gibt uns Gott zur Antwort:

Ich war an meiner Stelle. Ich habe dir, Mensch, mein Gebot gegeben, deinen Nächsten wie dich selbst zu lieben. Aber wo bist du gewesen? Warum hast du dich meinem Gebot widersetzt?

In der Antwort auf diese Frage liegt das Problem von Trostenez, Chatyn, Kuropaty und vieler anderer Orte von Massenrepressionen.

ep1 Juli 2015

Wir haben uns hier in der orthodoxen Gedenkkirche „Aller Heiligen“ zu Minsk im Rahmen einer deutsch-belarussischen Reise nach Trostenez versammelt, um uns der faschistischen Verbrechen erinnernd die Wunden der Vergangenheit nicht neu zu zerkratzen und Salz darin zu streuen. Wir erinnern uns an jene tragischen Ereignisse, damit neue Generationen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und sie nicht wiederholen, sodass diese nur auf den Seiten der Geschichte erhalten bleiben. Wir, Vertreter von Belarus, ein Drittel dessen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen ist, und von Deutschland, haben uns hier versammelt, um als Europäer, als Bewohner eines und desselben Kontinents, im Andenken an die Gefallenen zu beten, unsere Erinnerung zu läutern und um der Zukunft von Europa willen einander die Hand zu reichen.

Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz, Metropolit von Minsk und Mogiljow Ansprache beim Votum der Vertreter der verschiedenen christlichen Kirchen und jüdischen Gemeinden in der orthodoxen Gedenkkirche „Aller Heiligen“

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

25


„Nie wieder Krieg, nie wieder Menschenmord, nie wieder Gewalt.“ Die Mahn- und Gedenkstätte Trostenez als ehemalige Vernichtungsstätte muss zum Ort der Einigung und zur Brücke für den weiteren Ausbau der Beziehungen zwischen Belarus und Deutschland werden, damit ein neues Europa auf dem Fundament der geistigen Werte, Nächstenliebe und gegenseitiger Verständigung errichtet werde. Und das fehlt uns so sehr. Man braucht nicht in der Ferne zu suchen. Unser Nachbar im Süden, die Ukraine mit ihrer mehr als tausendjährigen Geschichte des Christentums und des friedlichen Miteinanders von Menschen verschiedener Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse, ist heute zum Schauplatz einer bewaffneten Auseinandersetzung geworden, wenn ein Bruder die Hand gegen den anderen erhebt, wenn die Gläubigen eines und desselben Bekenntnisses gegeneinander antreten, wenn in der Mitte Europas wieder Blut vergossen wird, Städte und Dörfer zerstört werden, friedliche Menschen ums Leben kommen und etwa anderthalb Millionen Flüchtlinge Zuflucht in anderen Regionen der Ukraine und anderen Ländern suchen müssen. Dies ist nichts anderes als eine Tragödie, die sich vor unseren Augen ereignet. Minsk wurde zu einer Plattform für die friedliche Lösung dieses Konflikts. Dank diesem sind massive kriegerische Auseinandersetzungen eingestellt worden, aber für die vollständige Lösung des Konflikts sind noch weitere Bemühungen internationaler Organisationen sowie der Konfliktparteien erforderlich. Heute wird von Minsk aus eine neue Botschaft an die Völker Europas und der ganzen Welt gesendet: Nie wieder Krieg, nie wieder Menschenmord, nie wieder Gewalt. Es herrsche stattdessen Frieden, Nächstenliebe und Respekt voreinander.

Es gilt auch, die gehörige Bildung der Jugend als Zukunft Europas ins Auge zu fassen. In diesem Sinne kann die Umsetzung der Idee eines gemeinsamen deutsch-belarussischen Projekts zur Erziehung der Jugend, die die Geschichte kennen und daraus lernen muss, sehr wichtig sein. Solches Projekt muss auch einen Austausch belarussischer und deutscher Jugendlicher umfassen, um ihr Potential und ihre Offenheit für Dialog zum Ausbau der Beziehungen zwischen unseren Völkern besser zu nutzen. Die Mahn- und Gedenkstätte in Trostenez muss auch eine geistliche Dimension enthalten, und zwar Gebetshäuser für verschiedene Glaubensbekenntnisse, in denen Menschen für die Gefallenen beten und Gott bitten könnten, dass sich solche Tragödien nie wiederholen. Ich bete für die Opfer des Zweiten Weltkriegs und von Trostenez und äußere meine Hoffnung, dass mit der heutigen Veranstaltung die internationale Gemeinschaft noch stärker auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht wird, Brücken zwischen Menschen verschiedener Glaubensbekenntnisse, Nationen, sozialer und politischer Gesinnungen zu bauen. Ich bin sicher, dass sie auch der Entwicklung der Beziehungen zwischen Belarus und Deutschland einen neuen Impuls gibt, damit wir nicht nur durch die Zugehörigkeit zu europäischen Völkern, sondern auch und vor allem immer durch die aktuellen geistigen Werte vereinigt werden, die für friedliches Miteinander und konstruktive Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Völkern Gewähr bieten.

Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz, Metropolit von Minsk und Mogiljow

Die Erinnerung an Trostenez und viele andere Orte der Massenvernichtung fordert uns auf, aus der Geschichte zu lernen, die unsere lehrende Mutter ist, und Friedensbauer zu sein, und dafür wären fachgeschichtliche Forschungen am Ort der Tragödie förderlich.

26

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


„Erschreckend und kaum in Worte zu fassen ist die Bilanz des deutschen Vernichtungsfeldzuges im Osten...“ Noch stehe ich unter dem Eindruck des gestrigen Besuches in der Nationalen Gedenkstätte Chatyn. Die Erinnerungen an das Grauen in den Konzentrationslagern – an die zerstörten Dörfer – die Scheune, in der die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner von Chatyn lebendig verbrannt wurden – der regelmäßige Glockenschlag aus den angedeuteten Grundrissen der zerstörten Häuser die mahnen, nicht zu vergessen. Diese Eindrücke vermischen sich mit den bewegenden Bildern von den Gedenk- und Erinnerungsfeiern der vergangenen Wochen zum 70. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Auschwitz – Buchenwald – Bergen-Belsen – Sachsenhausen – Dachau und all der anderen Stätten des Grauens und der Befreiung vom Faschismus. Erschreckend und kaum in Worte zu fassen ist die Bilanz des deutschen Vernichtungsfeldzuges im Osten, der deutschen Besatzungszeit und des Holocausts. Ich habe es hier für Belarus in der Denkschrift 20 Jahre IBB Minsk noch mal nachgelesen:

Jeder vierte Belarusse hat den Krieg nicht überlebt, mehr als eine halbe Million belarussische und europäische Juden wurden in Ghettos getrieben und an verschiedenen Orten vernichtet. … 628 Dörfer wurden bis auf wenige Überlebende einfach ausgelöscht. Von den 400.000 nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen kehrte ein Drittel nicht mehr in die Heimat zurück.

Im vergangenen Jahr am Pfingstsonntag waren einigen von Ihnen mit dabei, als hier in Trostenez und Blagowschtschina im Rahmen einer Ge-

ep1 Juli 2015

denkfeier der Grundstein für eine Gedenkstätte gelegt wurde – heute Vormittag haben wir diesen Ort besuchen können. Auch in diesem Jahr gedenken wir der schätzungsweise über 200.000 Menschen jüdischer Abstammung, Kriegsgefangene und Partisanen, die an diesen Orten während der nationalsozialistischen Besatzungszeit ermordet wurden. Für mich ein sehr bewegender Moment als ich im vergangenen Jahr im Rahmen dieser Gedenkfeier eine Liste mit 1.007 namentlich bekannten Menschen jüdischer Abstammung die in den Jahren 1941 und 1942 von Frankfurt nach Minsk deportiert wurden, übergeben konnte. Im Minsker Ghetto und dem Vernichtungsort Trostenez / Blagowschtschina sind über 22.000 Jüdinnen und Juden ermordet worden, die aus Deutschland, Österreich und Tschechien kamen.

Oberkirchenrat Detlev Knoche, Leiter des Ökumene Zentrums, Ev. Kiche in Hessen-Nassau Ansprache beim Votum der Vertreter der verschiedenen christlichen Kirchen und jüdischen Gemeinden in der orthodoxen Gedenkkirche „Aller Heiligen“

Ich spreche hier und heute zu Ihnen als Vertreter einer evangelischen Kirche in Deutsch-

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

27


„Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ land. Für Christinnen und Christen ist das Motiv der Erinnerung eines der zentralen theologischen Motive: wir sind der Überzeugung, dass nur aus der Erinnerung eine Versöhnung wachsen kann. Versöhnung beginnt mit Erinnerung; aus der Erinnerung kann das Bekenntnis von Schuld erwachsen – Grundlage für die Übernahme von Verantwortung. Johannes Rau hat das mit folgenden Worten einmal prägnant zusammengefasst:

Um eine gute Zukunft zu schaffen, bedarf es des Erinnerns an die Vergangenheit.“ Ein altes Wort aus der jüdischen Tradition formuliert das so: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heiSt Erinnerung.

Diese Einsicht führte in den evangelischen Kirchen unmittelbar noch im Oktober 1945 zur Formulierung des sogenannten „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ mit dem die neugebildete Evangelische Kirche in Deutschland sich erstmals zu einer Mitschuld evangelischer Christen an den Verbrechen des Nationalsozialismus bekannte. Einer der drei Autoren war Martin Niemöller, der erste Kirchenpräsident meiner Kirche, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Martin Niemöller stand zunächst dem Nationalsozialismus positiv gegenüber, entwickelte sich aber während des Kirchenkampfes und seit 1937 als Häftling im Konzentrationslager Sachenhausen mehr und mehr zum Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und war Hitlers „persönlicher Gefangener“. Nach 1945 engagierte er sich für eine Neuordnung der Evangelischen Kirche und trat an die Seite der Friedensbewegung. Die zentralen Sätze im Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945 lauten:

So ist Erinnerung zuallererst Offenbarung der vergangenen Taten und damit zugleich Selbsterkenntnis, also Einsicht in den, der so und nicht anders gehandelt hat. Diese Erinnerung verlangt vom Menschen eine Stellungnahme, in der er sich als Urheber der Tat bekennt, sich von sich selbst distanziert und die Verantwortung für das Vergangene und seine geschichtswirksamen Folgen übernimmt. Erinnerung, Anerkennung von Geschehenem als unwiderruflich geschehen und Abkehr von der angerichteten Zerstörung und von sich selbst, der solches tun konnte, helfen dem Menschen, zu einer je größeren Freiheit gegenüber dem Widerfahrnis der Geschichte zu gelangen und dadurch „zum Subjekt seiner eigenen Geschichte im Angesichte seines Gottes“ zu werden.

28

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.

ep1 Juli 2015


„Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Niemöller hat diese Schuld für sich sehr persönlich zum Ausdruck gebracht als er sagte:

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Die Veröffentlichung des Textes löste damals heftige Kontroversen in der Evangelischen Kirche in Deutschland und in der deutschen Bevölkerung aus, bildete langfristig aber den Ausgangspunkt für eine Neubesinnung des deutschen Protestantismus. Martin Niemöller und andere kirchliche Repräsentanten – darunter auch Ernst Wilm, 1948 bis 1969 Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, einer Kirche die auch heute mit einer Delegation hier vertreten ist – haben sehr früh den Kontakt nach Osteuropa gesucht, die Menschen in Polen und in der Sowjetunion besucht und Zeichen der Versöhnung gesetzt. Sie haben Brandts Ostpolitik vorbereitet und vor 50 Jahren mit der sogenannten Ostdenkschrift der EKD 1965 ein weiteres Zeichen der Versöhnung gesetzt. Daraus sind Beziehungen erwachsen in denen es uns bis heute wichtig ist, dass es partnerschaftliche Beziehungen sind, auf Augenhöhe und von gegenseitigem Respekt getragen. Daran wollen wir als Evangelische Kirche festhalten und dies kann ich auch im Namen aller hier vertretenen Evangelischen Kirchen aus Deutschland sagen.

ep1 Juli 2015

Jedes Jahr im November feiern wir in unseren Kirchen die Friedensdekade. Damit erinnern wir daran, dass Gottes Willen für diese Welt der Frieden ist und dass Gewalt und Kriege überwunden werden können; dazu gehört Erinnerung aus der Versöhnung wachsen kann. Als ein Zeichen dafür wandern in jedem Jahr zwischen dem 1. September – dem Gedenktag des Beginns des Zweiten Weltkrieges – und dem Buß- und Bettag – dem Ende der Friedensdekade – in meiner Kirche fünf Kerzen von Gemeinde zu Gemeinde. Die Kerzen laden ein zum Innehalten, zum Gebet, zur Information und zur Erinnerung an Menschen, die Opfer von Gewalt, Krieg oder Terror wurden und bis heute werden. Am Ende wandern die Friedenskerzen als Geschenk in die weite Welt – heute nach Minsk hier in die Gedächtniskirche aller Heiligen. Wenn ich nun diese Kerze anzünde, geschieht dies im Gedenken und in Erinnerung an die Menschen jüdischer Abstammung, an die Kriegsgefangenen und Partisanen, die an diesen Orten während der nationalsozialistischen Besatzungszeit ermordet wurden. Ich entzünde sie auch an in der Hoffnung, dass sich solche Gräuel nicht wiederholen. Dafür treten Christinnen und Christen in unseren Kirchen ein.

Oberkirchenrat Detlev Knoche, Leiter des Ökumene Zentrums, Ev. Kiche in Hessen-Nassau

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

29


Gedenken für eine gemeinsame europäische Zukunft

Die Gedenkreise des Internationalen Bildungsund Begegnungswerks Dortmund vom 1. bis zum 5. Mai 2015 wurde vom Filmemacher Pavel Kaleda begleitet. Im Auftrag der Medianakademie der IBB „Johannes Rau“ Minsk entstand so ein Kurzfilm über die Gedenkreise. In dem Film kommen zahlreiche Vertreter der Zivilgesellschaft und der Politik aus mehreren Ländern zu Wort. Ein besonderer Dank gilt den Angehörigen von Opfern, die bei dieser, für sie besonders schwierigen Reise einen Einblick in ihre Gedanken und Erinnerungen gewährten.

Ein Film der Medienakademie an der IBB Minsk Idee und Afnahme Pavel Kaleda Sabrina Bobowski Laufzeit ca. 16 Minuten

30

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


Doku

ep1 Juli 2015

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

31


„Sie, Gefallene und Überlebende, sind es, die jedem Juden geholfen haben, seine Menschenwürde zu bewahren.“ Boris Gersten, Vorsitzender des Verbandes der jüdischen Gemeinden und Organisationen

Das Thema, um das es beim heutigen Treffen geht, ist außerordentlich wichtig. Es wirft Probleme von Verständigung, Toleranz und gegenseitigem Respekt gleich auf drei Ebenen auf: zwischen den Nationen, den Konfessionen und den Staaten. Für mich als Sprecher des Verbandes der jüdischen Gemeinden und Organisationen in Belarus ist die Teilnahme an dieser Versammlung eine sehr große Ehre.

in Belarus Ansprache beim Votum der Vertreter der verschiedenen christlichen Kirchen und jüdischen Gemeinden in der orthodoxen Gedenkkirche „Aller Heiligen“

Es gibt eine jüdische Geschichte: In alten Zeiten bestanden zwei Denk-Schulen. Der einen stand Rabbi Hillel, der zweiten Rabbi Schammai vor. Die erste behauptete, der Schöpfer habe recht gehandelt, als er den Menschen geschaffen hat. Die zweite zweifelte an der Richtigkeit dieser Tat des Schöpfers. Zuweilen kam es sogar zu Handgreiflichkeiten zwischen den Vertretern der beiden Richtungen. Und dann setzten sie sich an den Verhandlungstisch und kamen gemeinsam

zum Schluss: Der Schöpfer hatte recht getan. Aber nachdem der Mensch geschaffen worden ist, muss er, der Mensch, leben lernen, wie es sich dem Menschen gebührt. Wenn zwei fast unversöhnliche Schulen im Altertum mit Hilfe des Dialogs doch zur Verständigung gelangen konnten, was stört uns dann, Berührungspunkte zu finden? Zumal dass man auch heute noch lernen muss, menschenwürdig zu leben. Im Jahre 2015 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal. Eines Kriegs, dass zur Tragödie für Millionen von Bürgern verschiedener Länder, vieler Völker wurde. Darunter für sechs Millionen Juden, die nur deswegen ermordet wurden, weil sie von einer jüdischen Mutter stammten. Ich will heute nicht nur ihrer, sondern auch jener meiner Stammesbrüder gedenken, die in Armeen verschiedener Staaten, in Partisaneneinheiten, in Widerstandsorganisationen in besetzten Städten und sogar in Gettos gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben. Sie, Gefallene und Überlebende, sind es, die jedem Juden geholfen haben, seine Menschenwürde zu bewahren. Auch darf ich heute diejenigen nicht vergessen, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens und der Leben ihrer Nächsten jüdischen Kindern, jüdischen Familien zur Rettung verhalfen, diejenigen also, die heute mit dem biblischen Wort Gerechter bezeichnet werden. In Belarus hat es ungefähr achthundert von ihnen gegeben, Orthodoxe und Atheisten, Katholiken und Muslime, Stadt- und Landbewohner. Ich will, dass alle Einwohner unseres Landes davon wissen. Gerade der Dialog zwischen den Nationen und Konfessionen bringt uns auf dem Weg zu solchem Ziel nach vorne: wir haben eine gemeinsame Geschichte. Deswegen halte ich es für notwendig, nicht nur die Idee dieses Dialogs als solche aufrechtzuerhalten, sondern ihn auch auszubauen, vielleicht dadurch, dass Begegnungen nicht nur in der belarussischen Hauptstadt, sondern auch in anderen Städten oder auch Ländern unter Einbeziehung lokaler Gemeinden, religiöser und wissenschaftlicher Kreise stattfinden könnten.

32

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


„ich will, dass alle einwohner unseres landes davon wissen.“ Aus unserer Sicht ist es äußerst wichtig, dass in unserem Dialog auf lebendige, überzeugende Beispiele von Verständigung und Toleranz, die in den Jahren der schweren Erprobung an den Tag gelegt wurden, zurückgegriffen wird. Unsere Kinder, unsere Enkel, aber auch wir selbst müssen es uns bewusst machen, worin die moralische Heldentat des Gerechten und die moralische Heldentat des Kriegers bestehen. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die zur einen oder zur anderen Kategorie gehören. Und erst vor kurzem bin ich zur Erkenntnis gekommen, dass die Tat eines Menschen, der einen anderen rettet, der Heldentat eines Soldaten in nichts nachsteht. Wenn ein Mensch Sturm läuft, leistet er einem Befehl Folge, neben sich hat er seine Kameraden laufen. Ein Gerechter befehligt sich selbst, er kann seine Angst und seine Bedenken mit keinem teilen, er riskiert nicht nur sein Leben. Es ist sehr wichtig, dass bei unseren Treffen und Diskussionen auch dieses Thema, moralische Entscheidung, aufgeworfen wird.

Denke nicht zu viel an den morgigen Tag, man weiS ja nie, was heute passiert.

am schärfsten getroffen fühlen. Ganz einfach, weil sie selbst jeden ihrer Züge verantworten. Das Verantwortungsgefühl ist bei ihnen sehr stark ausgeprägt. Ich glaube, heute sitzt jeder von uns vor dem Schachbrett und jeder verantwortet den Zug, den er im nächsten Augenblick macht. Jede Entscheidung ist eine Art persönliche Verkündigung urbi et orbi, an die kleine „Stadt“ seiner Familie und an die kleine „Welt“, zu der Freunde, Nachbarn, Kollegen gehören. Gerade hier, in der kleinen Stadt und in der kleinen Welt, entstehen Gutherzigkeit, Mitleid und Verständnis füreinander. Jeder Fehler, jedes falsche Wort führen zum verlorenen Endspiel. Im belarussisch-deutschen Dialog, im interkonfessionellen Dialog, der von der „IBB Johannes Rau“ veranstaltet und von konfessionellen Führungsgremien unterstützt wird, lehrt uns, aus meiner Sicht den richtigen Zug, das richtige Thema für eine solche persönliche Botschaft auszuwählen. Herzlichen Dank dafür.

Boris Gersten, Vorsitzender des Verbandes der jüdischen Gemeinden und Organisationen in Belarus

altes jüdisches Sprichwort

Noch gestern hätten wir uns nicht vorstellen können, dass bei unseren Nachbarn ein Bürgerkrieg ausbricht, dass Religionskriege in der Welt entbrennen, dass es durch Unterschiede in der Auslegung der heiligen Bücher zur totalen Vernichtung von Städten, Dörfern und Gemeinden kommen kann… Gerade heute sind die Bemühungen, einander kennen und verstehen zu lernen, so wichtig. Mir scheint, unser heutiges Treffen ist ein gutes Beispiel solcher Bemühungen. In meinem Arbeitsleben war ich ziemlich lange als Sportjournalist tätig. Dabei konnte ich feststellen, dass sich Schachspieler von einer Niederlage

ep1 Juli 2015

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

33


„Wenn wir das europäische Haus bauen, müssen wir wissen, woher wir kommen.“ Über die Erinnerung zur Versöhnung

1 2

Es sollen alle Kirchen und Religionsgemeinschaften beteiligt sein. Wenn wir das europäische Haus bauen, müssen wir wissen, woher wir kommen.

Dr. Henning Scherf, Bürgermeister a. D. der Stadt Bremen Ansprache beim

Mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945 hat die Ev. Kirche in Deutschland wieder Zugang zur internationalen ökumenischen Gemeinschaft gefunden.

Votum der Vertreter der verschiedenen christlichen Kirchen und jüdischen Gemeinden in der orthodoxen Gedenkkirche „Aller Heiligen“

1965 gelang es mit der „Ostdenkschrift“, die Teilung zu überwinden. Nur in einem innerlich gewollten bilateralen Prozess der Annäherung und Verständigung gelang ein dichtes Geflecht von Begegnungen, Besuchs- und Austauschprogrammen, kulturellen Projekten und sozialen Diensten.

3

Heute, 50 Jahre nach der Ostdenkschrift, können wir die positiven Erfahrungen, die zwischen Polen und Deutschland gesammelt worden sind, auf Belarus übertragen. Helfen kann der Polnische Ökumenische Rat mit Erzbischof Jeremiasz und die EKD (OKR Michael Hübner) Vier Baustellen

1

Die neu gewonnene Freiheit der Kirchen in der postsowjetischen Gesellschaft enthält aber auch die Möglichkeit zu starrem Festhalten an alten Machtstrukturen und Abhängigkeiten, mit der Kirchen sich politisch instrumentalisieren lassen und damit die gewonnen Freiheit wieder verlieren.

2 3 4

Es kristallisieren sich wieder die Ost-WestFeindbilder heraus. Pluralität und Säkularisierung schüren Ängste und aggressive Feindseligkeit. Die Osterweiterung der EU als Friedenswelt – ab 1989 begonnen – hat wieder mit jedem neuen Beitritt auch neue Ausgrenzungen geschaffen.

Die kritische Situation der Kirchen bei interkonfessionellen Beziehungen bedingt, dass die Menschen in Osteuropa in ihrer Identitätsfindung eng an die jeweils eigene Kirche gebunden sind. Zukunft – Vorschläge

1 2

Langjährige Vorarbeit des PÖR/EKD nutzen. Einladung durch orth. Kirche, kath. Kirche nach Minsk

Parallel dazu: Runder Tisch im IBB Minsk mit allen Kirchen und Religionsgemeinschaften. Thema unter anderem – Erinnerung durch Versöhnung. Dr. Henning Scherf, Bürgermeister a. D. der Stadt Bremen

34

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


„Neben dem Schmerz über den Verlust belastet die ganze Schwere der Morde das Gewissen Deutschlands.“ Trostenez – bei diesem Wort erschaudern die Herzen der Belarussen vor Grauen. Diese Hölle hat sich auf belarussischem Boden befunden. Aber ebenso schmerzhaft hallt es in zahlreichen Familien, unter denen viele jüdisch sind, in Österreich, Tschechien, Frankreich und Deutschland wider. Mit tiefem Gram erfüllt es die Seele des deutschen Volkes. Zehntausende deutsche Juden wurden in diesem Lager ermordet. Neben dem Schmerz über den Verlust belastet die ganze Schwere der Morde das Gewissen Deutschlands. Auch noch nach siebzig Jahren verspürt das Land die bittere Pflicht zur Reue und Buße. Das ist eine gewaltige, nicht heilen wollende Wunde im Herzen des Volkes. Denn, so ist das Seelengesetz, der Verzeihende hat es immer leichter, er vergisst Unglück und Leiden, aber derjenige, der Übel getan hat, ist schlimm dran und muss sich quälen. Aber wie mächtig wirkt diese Buße! Sie hat eine umfassende soziale, wohltätige und wissenschaftliche Hilfe an Belarussen ergeben. Diese Hilfe kommt regelmäßig seit mehreren Jahrzehnten. Das verdient Respekt und Dank. Mit Dankbarkeit werden die Bemühungen um die Teilnahme an der Errichtung einer Gedenkstätte in Malyj Trostenez und Blagowschtschina aufgenommen. Trostenez war das viertgrößte Todeslager im besetzten Osten. Eine logisch durchdachte und kalkulierte Todesmaschine. Heute ist es ein Symbol für alle Konzentrationslager, das alle Praktiken für die Vernichtung eines ganzen Volkes in sich verbindet. Gerade in den östlichen Gebieten hat das Deutsche Reich unter der Deckung von Kriegshandlungen sein Vernichtungsprogramm umgesetzt Die Hitlerfaschisten schufen die höhere arische blutsreine Rasse auf den Knochen von Kriegsgefangenen, von Zivilisten, auf dem Vermögen

ep1 Juli 2015

deportierter Juden und scheuten nicht einmal vor der Ausplünderung von Leichen zurück. Die Nazis schändeten alles, was von Juden geschaffen war, sogar die Bibel. Und gerade in Europa befand sich ja die Diaspora als Träger der nationalen Tradition und Kultur.

Erzpriester Fjodor Powny Ansprache beim Votum der Vertreter der verschiedenen christlichen Kirchen

Die Belarussen konnten immer mit Juden auskommen, das war historisch bedingt. Wir lebten miteinander auf einem Boden, wir waren Nachbarn. Im Krieg konnten sich viele Juden dank Gutherzigkeit und Mut belarussischer Frauen retten. Meine Großmutter hat bei sich fünf jüdische Familien vor dem deutschen Ghetto geborgen. Solche Teilhabe an den Schicksalen ist fast in jeder belarussischen Familie vorgekommen.

und jüdischen Gemeinden in der orthodoxen Gedenkkirche „Aller Heiligen“

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

35


„Dort, in diesem Lager, wurden drei Tage vor der Befreiung von Minsk meine Tante und ihr Mann, mein Onkel, verbrannt.“ In Trostenez kamen sowjetische Kriegsgefangene, belarussische Partisanen, friedliche Einwohner von Städten und Dörfern ums Leben. Dort, in diesem Lager, wurden drei Tage vor der Befreiung von Minsk meine Tante und ihr Mann, mein Onkel, verbrannt. Sie alle sind Opfer, Opfer des Nationalsozialismus, des Kriegs und des menschlichen Wahnsinns. Nur durch Wahnsinn und gefühllose Verhärtung konnten die schrecklichen Worte der Ermunterung entstehen, die Himmler in seiner Lobrede 1943 in Poznan, damals Posen genannt, an SS-Kommandeure gerichtet hat:

Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit […] ein ganz schweres Kapitel erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden. […] Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. […] Von Euch werden die meisten wissen, was es heiSt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei […] anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte […] Schreckliche Worte …

Damit die Menschheit künftig nie solche Aufrufe und Ermunterungen hört, die das Herz erstarren lassen, sollen wir aller Kriegsopfer gedenken, von menschlichen Tragödien spre-

36

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

chen und erzählen, damit man sich fürchtet, sie zu wiederholen. Heute werden überall in der Welt historische Museen eröffnet, in denen Gegenstände, die an Genozid und Repressionen erinnern, aufbewahrt werden, gesellschaftliche Bewegungen entstehen, Aktionen werden veranstaltet. Belarus macht nicht einfach mit, Belarus ist bei allen diesen Erinnerungsthemen führend. Die Gedenkkirche, in der wir uns befinden, die Gedenkkirche allen Heiligen zu Ehren und den Opfern, die zur Rettung unseres Vaterlandes beigetragen haben, zum Gedenken, erinnert sich und lehrt alle sich an die ruhmreichen Helden erinnern, die ihr Leben für die Heimat eingesetzt haben, trauert aber auch um diejenigen Schuldlosen, die in den Zeiten der Not ihr Leben eingebüßt haben. In dieser Kirche wird um sie gebetet und um Frieden für die ganze Welt gebeten. Die Kirche ist ein Zusammenhalt, der eine Vertauschung von Begriffen nicht zulässt und Bestialität mit Standhaftigkeit des Geistes nie verwechselt Mir scheint, dass die Buße des deutschen Volkes nicht ewig dauern soll, seine Reue ist von den slawischen Völkern bereits angenommen worden. Ein Beispiel dafür sind die Lager-Überlebenden. Sie, ich kann ohne Bedenken behaupten, haben kein Hassgefühl verspürt, sie waren über menschlichen Hass und Erbitterung erhoben. Buße muss sich in eine feste Zusammenarbeit bei der Stärkung des Friedens auf Erden verwandeln. Wir müssen gemeinsam Alarm schlagen, wenn wir in einem Land die Gefahr heranrücken sehen, dass Faschismus, Völkermord und Krieg wieder Wirklichkeit werden können. Wir müssen Alarm schlagen nicht unter der heuchlerischen Larve der Friedenssicherung oder der Doppelstandards, sondern auf den Ruf unseres Gewissens hin.

ep1 Juli 2015


Wir müssen einen Weg finden, wie wir die Herzen der Menschen bewegen können, um die Alpträume des vorigen Jahrhunderts zu verhindern. Wir müssen handeln, um der gemeinsamen europäischen Zukunft und man kann es auch weiter fassen: um der Zukunft der ganzen Welt willen. Der Mensch ist Gottes Geschöpf, er leidet immer noch unter der Sünde, die er tut, aber Christus hat den Tod und die ihn gebärende Sünde besiegt und flößt uns in diesen Tagen, die noch Ostertage, Tage des großen Sieges Gottes sind, die Sicherheit ein, dass unsere Zusammenarbeit in Sachen Erinnerung und Friedenserhaltung richtig und notwendig ist.

Erzpriester Fjodor Powny

ep1 Juli 2015

„Wir müssen einen Weg finden, wie wir die Herzen der Menschen bewegen können...“ EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

37


Montag, 4. Mai 2015 Trostenez in der gemeinsamen europäischen Erinnerung Erinnerungen an Trostenez von Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern Das Online-Archiv der Geschichtswerkstatt Arbeitsgruppe - Meilensteine der deutsch-polnischen Versöhnung

38

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


„Verständigung und Dialog, das sind auch die zwei zentralen Begriffe für die heutige Gedenkfeier...“ Dem Veranstalter möchte ich ganz herzlich für die Einladung danken, hier zu dem Thema Trostenez in der europäischen Erinnerungskultur zu sprechen. Ich habe diese Einladung gerne angenommen, auch im Namen des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, und der hat mich gebeten, Sie alle hier recht herzlich zu begrüßen [...] . Das erste Stichwort heiSt Zivilgesellschaft baut Brücken Das die heutige Gedenkfeier in der IBB „Johannes Rau“ stattfindet ist ein gutes Zeichen, denn die IBB ist in den vergangenen Jahren zum unverzichtbaren Ort der Begegnung zwischen Deutschen und Belarussen geworden und das gerade auch in den schwierigen Zeiten und mit schwierigen Themen. Die IBB ist ein ganz außergewöhnliches deutsch-belarussisches Gemeinschaftsprojekt und steht seit 20 Jahren engagiert für den Aufbau von der deutsch-belarussischen Partnerschaften ein. Mit der Durchführung des Förderprogramms Belarus der Bundesregierung spielt die IBB dabei neben der Botschaft, sowie dem Goethe-Institut, DAAD und ZFA auch eine zentrale Rolle bei der Umsetzung der deutschen Zusammenarbeit mit Belarus. Zudem steht der ehemalige deutsche Bundespräsident Johannes Rau, dessen Namen die IBB Minsk seit 2006 trägt, wie wenige andere für das Bemühen um Verständnis, Verständigung und Dialog. Verständigung und Dialog, das sind auch die zwei zentralen Begriffe für die heutige Gedenkfeier zu Trostenez anlässlich des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs. Dass ein derartiger Dialog zwischen Belarus und Deutschland möglich wurde, ist im Wesentlichen ein Verdienst der hier anwesenden Zivilgesellschaftlichen Organisation. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist ein echtes Beziehungsgeflecht zwischen unseren Bürgerinnen und Bürgern entstanden. Die Breite des zivilgesellschaftlichen Austausches zwischen Deutschland und Belarus ist immer wieder aufs Neue beeindruckend. Bis heute engagieren

ep1 Juli 2015

sich viele Menschen aus Deutschland und Belarus in gemeinsamen Hilfsprojekten zugunsten der Opfer der Tschernobyl-Katastrophe für den Bau von Schulen und Jugendzentren, beim Umweltschutz und den Städtepartnerschaften. Die Zusammenarbeit zwischen unseren Bürgerinnen und Bürgern ist eine wesentliche Säule der Beziehung zwischen unseren Ländern geworden und hat Brücken gebaut. Ich freue mich sehr hier so viele Gäste aus den verschiedensten Initiativen begrüßen zu können. Dies zeigt eindrucksvoll wie aktiv und lebendig der deutsch-belarussische Dialog ist. Unsere Beziehungen hätten bei weitem nicht die heutige Breite und Vielzahl ohne das ehrenamtliche Engagement von vielen Menschen in Deutschland und Belarus, für das auch sie alle hier stehen und das ich ausdrücklich würdigen möchte.

Dr. Gernot Erler, Staatsminister a. D. und Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

39


„Damit wird auch ein wichtiger Schritt auf dem Langen Weg zu einer Europäischen Erinnerungskultur [...] getan.“ Zweites Stichwort: Erinnerung als gemeinsame Aufgabe Sehr geehrte Damen und Herren, ein ganz besonderes Feld der Zusammenarbeit ist die Erinnerungsarbeit. Das gemeinsame Gedenken an die Opfer der Verbrechen des Nationalsozialismus und eines verbrecherisch geführten Krieges, unter dem Belarus wie kaum ein anderes Land zu leiden hatte. Das diese Erinnerungsarbeit möglich ist, haben wir besonders dem mutigen Engagement von Vertretern der Zivilgesellschaft zu verdanken. Dazu zählen unter anderem die Kirchen in unseren beiden Ländern, die sich seit dem Ende des Kalten Krieges in dem neu entstandenen europäischen Raum für Dialog, Verständigung und Versöhnung einsetzen. Dazu zählen die zahlreichen Zivilgesellschaftlichen Initiativen, die Begegnungen und Gesprächskreise zu diesen schwierigen Themen organisieren und dazu zählt hier in Belarus insbesondere die Geschichtswerkstatt der IBB auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos in Minsk. Die Geschichtswerkstatt bietet seit 2003 einen Ort für die Aufarbeitung der Geschichte, der gemeinsamen Erörterung vom Dialog. Zudem ist sie eine Stätte für die historische Bildung, die Forschung und die Arbeit gegen das Vergessen. Sie bietet darin auch einen Raum für Überlebende des NS-Terrors, die viele Jahre keinen Ort und keine Möglichkeit für einen derartigen Austausch hatten. Denn in der Sowjetischen Geschichtsschreibung, die den unter größten Opfern erstrittenen Sieg im Kampf gegen Nazi-Deutschland nach dem Überfall auf die Sowjetunion in den Vordergrund stellte, war für die Leiderfahrungen dieser Menschen lange Zeit kein angemessener Platz. Die Geschichtswerkstatt trägt damit auch zu gemeinsamer Auseinandersetzung mit der Geschichte bei. Damit wird auch ein wichtiger Schritt auf dem langen Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust In Europa getan. Ich möchte neben der Geschichtswerkstatt und dem zivilgesellschaftlichen Initiativen auch das Wirken des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge,

40

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

des VDK, hier würdigen. Der VDK ist seit vielen Jahren in Belarus aktiv, er macht unter anderem durch die Pflege der Gräber deutscher Kriegstoten diesen tragischen Teil unserer gemeinsamen Geschichte sichtbar. Er leistet damit einen wichtigen Beitrag zu Erinnerungskultur und dieser hat sich zuletzt an den Erinnerungsveranstaltungen für 100 Jahre erste Weltkrieg orientiert. Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung einer Statue „die trauernden Eltern“ von Käthe Kollwitz in Minsk. Mit gutem Grund konzipiert als Wanderausstellung, die neben den großen Schlachtfeldern in Belgien, auch in Deutschland, Polen und Russland Station machen wird. Der Bundesregierung war es dabei ein wichtiges Anliegen, diese Ausstellung der Statue in Belarus zu unterstützen, um deutlich zu machen, dass auch Belarus Schauplatz dieser europäischen Urkatastrophe, wie der erste Weltkrieg deutlich genannt wird, war und damit auch seinen Platz im gemeinsamen europäischen Erinnerungsraum einnehmen soll. Im September dieses Jahres plant der VDK weitere größere Feiern, etwa mit einer Einbettung auf dem Soldatenfriedhof Berjoza aus Anlass seines 10-jährigen Bestehens. Auch in unserem unmittelbaren Austausch mit der belarussischen Regierung gab es zuletzt eine Intensivierung der Kontakte zu diesem schwierigen Thema. Dazu zählt zum Beispiel die Teilnahme belarussischer Regierungsvertreter an der Kranzniederlegung auf dem Soldatenfriedhof Tarassowo durch die Botschaft Minsk anlässlich des deutschen Posttrauertags im November 2014. Insgesamt kann man sagen, beide Gesellschaften werden sich der Herausforderung „Erinnern als gemeinsame Aufgabe zu organisieren“ immer besser bewusst. Drittes Stichwort: Trostenez und seine Dimension Es ist, meine Damen und Herren, keine Selbstverständlichkeit, dass die belarussische Bevölkerung, Zivilgesellschaft und Regierung heute zu diesem Dialog und zum gemeinsamen Gedenken bereit sind. Denn die Schreckensherr-

ep1 Juli 2015


„Neben Soldaten war aber von Anfang an auch die Zivilbevölkerung Opfer von Gewalt und Terror des NS-Regimes...“ schaft der deutschen Besatzer hat auf dem Gebiet des heutigen Belarus besonders furchtbar gewütet. Der von der NS-Diktatur entfesselte und am 22. Juni 1941 begonnene Angriffskrieg traf die sogenannte Westgrenze der damaligen Sowjetunion mit voller Härte. Dafür steht die Kesselschlacht von Bia�ystok im heutigen Polen und Minsk von 22. Juni bis 9. Juli 1941, in deren Folge Hundertausende sowjetische Soldatinnen und Soldaten ums Leben kamen oder in Kriegsgefangenschaft gerieten. Neben Soldaten war aber von Anfang an auch die Zivilbevölkerung Opfer von Gewalt und Terror des NS-Regimes, das in Belarus Krieg als rassenideologischen Vernichtungsfeldzug, so der deutsche Historiker Andreas Hillgruber, gegen die Zivilbevölkerung führte, bei dem bis zu 9.000 Städte und Dörfer zerstört und ihre Bewohner auf brutale Weise umgebracht wurden. So geschehen etwa 1943 beim Massaker der NS im Dorf Chatyn unweit der Stadt Minsk. Dort wurden 152 Menschen, darunter 76 Kinder in eine Scheune zusammengetrieben, die dann von der SS in Brand gesteckt wurde, sodass die Eingeschlossenen den grausamen Tod in Flamen fanden. Insgesamt nach Schätzung von Historikern fielen 2,5 Millionen, also mehr als ein Viertel der Bevölkerung den Gräueltaten der Besatzer zum Opfer. Dabei erfolgte wie anderswo in ganz Europa eine gezielte Verfolgung und Auslöschung der jüdischen Bevölkerung. Auch Belarus wurde Schauplatz der Shoah, des millionenfachen Mords an den Juden Europas. Bereits im Juli 1941 errichteten die deutschen Besatzer das Ghetto Minsk, eines der Größten in der besetzten Sowjetunion errichteten Ghettos. Ca. 60.000 Menschen wurden hier auf engsten Raum eingesperrt, zur Zwangsarbeit ausgebeutet und in sogenannten Aktionen massenhaft erschossen. In der Jama, in der Grube, in der die Ghettobewohner zur Erschießungen zusammengetrieben wurden, wurden an einem einzigen Tags über 4.000 Juden brutal ermordet. Auch in anderen Städten und Orten in Belarus wurden die jüdischen Gemeinden vernichtet. So wurden in Witebsk, einem Zentrum der europäischen Kultur und

ep1 Juli 2015

einer großen jüdischen Bevölkerung, die jüdischen Gemeinden mit Dutzenden von Synagogen und anderen jüdischen Kultureinrichtungen schlicht ausgelöscht. Meine Damen und Herren, der Vernichtungsort Trostenez steht stellvertretend für die deutschen Verbrechen in Belarus. Hier im Trostenez fielen während der deutschen Besatzungszeit Angehörige der belarussischen Zivilbevölkerung, Häftlinge der belarussischen Partisanen, sowie sowjetischen Kriegsgefangenen dem deutschen Kriegsverbrechen zum Opfer. Belarussische und auch westeuropäische Juden wurden zum Opfern des NS-Rassenwahns. Die Opfer von Trostenez wurden erschossen, mit Gaswagen ermordet und verbrannt. Ein großer Teil der Opfer wurde direkt nach ihrer Ankunft umgebracht, die genaue Zahl der Opfer ist schwer zu ermitteln, die Angaben schwanken zwischen 60.000 und über 200.000, auf jeden Fall wurden sehr sehr viele Menschen in den Jahren 1942-1944 hier getötet. Damit ist Trostenez einer der größten Vernichtungsorte im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Und Trostenez hatte eine traurige Besonderheit, neben Betroffenen aus Belarus kamen die Opfer hier, wie auch im Minsker Ghetto, auch aus West- und Mitteleuropa. Mehr als 22.000 Menschen mit jüdischen Wurzeln aus den Städten Berlin, Bremen, Düsseldorf, Frankfurt, Köln und Hamburg, sowie aus Theresienstadt und Wien wurden nach Trostenez von Minsk deportiert. Trostenez wurde damit auch Teil der europäischen Vernichtungsmaschinerie des Holocausts. Meine Damen und Herren, die von Deutschen und im deutschen Namen verübten Verbrechen sind, ich glaube, man spürt es, in Worte kaum zu fassen. Ich empfinde daher Wehmut und zugleich Dankbarkeit, dass heute die Überlebenden des Minsker Ghettos, sowie der Konzentrationslager Majdanek und Auschwitz hier gemeinsam mit uns gedenken. Sie haben die unvorstellbaren Grauen am eigenen Leib erleben müssen, den Hunger, die Entwürdigung und die Todesangst und auch die hier anwesenden Nachbarn der Opfer von Trostenez, des Minsker Ghettos und anderer Mordstätten tragen den Verlust und die Trauer

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

41


„Im Namen der Bundesregierung [...] bitte ich um Vergebung für die von Deutschen in Belarus begangenen Verbrechen...“ unauslöschlich in sich. Trostenez, das Minsker Ghetto, Chatyn und die anderen Mordstätten stehen für das unsagbare Leid, das die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg über Belarus gebracht hat. Verbrechen, die wir nicht vergessen können, nicht vergessen dürfen und nicht vergessen werden. Verbrechen, die ohne gleichen sind und die auch 70 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs ihre Wirkungen zeigen. Verbrechen, die auch heute noch einen dunklen Schatten auf die Beziehungen zwischen unseren Ländern werfen. Und: Verbrechen, die wir nicht ungeschehen machen können, aber mit deren Opfern wir gemeinsam gedenken können. Meine Damen und Herren, mein Land ist sich der geschichtlichen Verantwortung für das, was geschehen ist, bewusst. Im Namen der Bundesregierung und auch persönlich von meiner Person bitte ich um Vergebung für die von Deutschen in Belarus begangenen Verbrechen und ich verneige mich vor den Opfern. Mein viertes Stichwort: ohne Gedenkstätten keine Versöhnung Meine Damen und Herren, nach dem Massenmord in Trostenez versuchten die Täter die Gruben zu beseitigen. Nicht nur die Menschen auch die Erinnerung an ihre Ermordung sollte ausgelöscht werden. Umso wichtiger ist es, dem Vergessen entgegenzutreten und die Erinnerung zu wahren. Dies sind wir den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft schuldig. Darüber hinaus verbinden wir mit der Aufarbeitung der Geschichte den Dialog über die Vergangenheit auch die Hoffnung, dass dies die Verständigung und Versöhnung zwischen unseren Ländern, sowie unseren Bürgerinnen und Bürgern vorangeht. Ich möchte daher noch einmal ausdrücklich das Engagement der anwesenden Vertreter zivilgesellschaftlicher Initiativen, der Kirchen, der wissenschaftlichen Gruppen und der Mitwirkenden der Geschichtswerkstatt Minsk würdigen, die sich für die gemeinsame Erinnerungsarbeit und das Gedenken einsetzen. Sie alle leisten damit einen zentralen Beitrag zu

42

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

unseren Beziehungen. Sie eröffnen damit Perspektiven, dass dieses furchtbarste Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte nicht unüberwindbar zwischen uns steht, sondern wir uns durch das gemeinsame Gedenken einander annähern. Für diesen Dialog sind Orte der Begegnung ebenso wichtig wie die Möglichkeit, Orte der Verbrechen persönlich zu besuchen. Daher leisten Gedenkstätten einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungsarbeit. Sie machen das furchtbare Geschehen für uns heute präsent, ziehen uns zur Auseinandersetzung und Würdigen zugleich das Gedenken der Opfer. Die Bundesregierung hat daher das Vorhaben der Errichtung der Gedenkstätte in Trostenez begrüßt. Die erste Bauphase ist bereits abgeschlossen. Wir würdigen das langjährige Engagement des IBB und der mit ihm verbundenen Initiativen der Stiftungen und Kirchen für die Errichtung des Gedenkstättenkomplexes in Trostenez. Und das besonders deswegen, weil Trostenez anders als der Vernichtungslager in Auschwitz, Majdanek oder Sobibor bisher nicht fest im Europäischen Gedächtnis als Ort des Massenmordes und des Holocaust verankert ist. In der Erinnerungskultur in Deutschland wird das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, inklusive Belarus vorwiegend als Schauplatz des Krieges im Osten und der damit verbundenen Kriegsverbrechen wahrgenommen, als Ort der Vernichtungsmaschinerie des Holocausts dagegen haben sich vorwiegend die Vernichtungsstätten im heutigen Polen und Deutschland in unsere Erinnerung eingegraben. Aber auch Trostenez darf als Ort der organisierten Vernichtung im europäischen Gedächtnis nicht in Vergessenheit geraten. Die Bundesregierung wird daher das Engagement für den Gedenkstättenkomplex in Trostenez weiterhin unterstützend begleiten. (…)

Dr. Gernot Erler, Staatsminister a. D.

ep1 Juli 2015


„Viele belarussische Städte wurden so gut wie völlig zerstört.“ Es ist eine sehr große Ehre für mich, an dieser wichtigen Veranstaltung teilnehmen zu dürfen und ein Grußwort im Namen des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten zu sprechen. Gestatten Sie mir vor allem den Vertretern des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks Dortmund und der Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte Minsk für ihre Initiative zur Organisation der heutigen Veranstaltung Dank zu sagen. Wir sind am Vorabend des 70. Jahrestages des Großen Sieges über den Faschismus zusammengekommen. Für die Republik Belarus ist es ein durchaus bedeutsames und symbolträchtiges Ereignis. Wir haben ein Drittel unserer Bevölkerung im Großen Vaterländischen Krieg verloren. Viele belarussische Städte wurden so gut wie völlig zerstört. Eine riesige Zahl unserer Dörfer wurde niedergebrannt. Wir haben einen sehr hohen Preis für den Sieg gezahlt. Wir sind dankbar, dass unser Beitrag zum Sieg von der internationalen Gemeinschaft historisch anerkannt wurde. Gerade die Tatsache, dass die Belorussische SSR unter den Gründern der Vereinten Nationen sein durfte, ist solche Anerkennung. Am Vorabend der Feierlichkeiten anlässlich des Großen Sieges können wir nicht umhin, an die riesigen Opfer jenes Krieges zu denken. Neben vielen anderen Orten in Europa steht Trostenez für diese Opfer. Hier, in der Umgebung von Minsk, haben die Nationalsozialisten über 200.000 unschuldige Menschen getötet. In Trostenez wurden Bürger vieler europäischer Staaten sowie Zehntausende sowjetische Kriegsgefangene, Widerstandskämpfer und Partisanen grausam ermordet. Leider sind auch heute noch längst nicht alle Namen der Opfer dieses Todeslagers bekannt. Es besteht kein Zweifel, dass sich Wissenschaft-

ep1 Juli 2015

ler und Geschichtsforscher nach wie vor mit der Aufgabe der Wiederherstellung der historischen Wahrheit und der Feststellung der Namen aller unschuldigen Opfer beschäftigen müssen. In diesem Zusammenhang legt die Republik Belarus sehr viel Wert auf die Errichtung einer Gedenkstätte in Trostenez. Dieses Denkmal ist für die Toten wie für die Lebenden notwendig. Nach Trostenez gekommen, werden Menschen trauern und nachdenken: um die unschuldigen Opfer trauern und darüber nachdenken, wie man ähnliche Tragödien für die Zukunft verhindern könnte. Wie Sie wissen, hat im vorigen Jahr die praktische Phase in der Errichtung der Gedenkstätte begonnen. Für den nächsten Monat ist die Einweihung des ersten Bauabschnitts angesetzt. Wir sind sicher, dass in nächster Zeit, wie der Beschluss des Präsidenten der Republik Belarus bestimmt, auch der ganze Komplex fertig gestellt wird. Jeder Beitrag zu dieser heiligen Sache wird vom Ministerium für auswärtige Angelegenheiten der Republik Belarus begrüßt. Wir sind allen, belarussischen und ausländischen Bürgern, Organisationen und staatlichen Institutionen, für jede praktische Unterstützung dankbar. Das Gedenken an die Opfer von Trostenez kennt keine Grenzen und Standesunterschiede. Zum Schluss gestatten Sie mir, allen Teilnehmern der Begegnung zum kommenden 70. Jahrestag des Großen Sieges zu gratulieren und Ihnen eine offene und interessante Diskussion zu dem von Ihnen behandelten wichtigen Thema zu wünschen. Jurij Ambrassewitsch, Leiter der Hauptverwaltung für multilaterale Diplomatie

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

43


erinnerungen

Erinnerungen an Trostenez von Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern

Danke für die mir gebotene Möglichkeit, über meinen Vater, einen Häftling des Todeslagers Trostenez, zu erzählen. Ich bin stark aufgeregt, das müssen Sie mir verzeihen. Vor dem Krieg lebten wir an der Bahnstation des Orts Negoreloje. Bis 1939 herrschte dort reges Leben, weil die Grenze zu Polen nicht weit entfernt war. Mein Vater war Eisenbahner, meine Mutter Lehrerin. Eine Zeit lang nachdem die Besatzung begonnen hatte, arbeitete der Vater nicht, weil die Deutschen da waren, die Besatzer, und die Mutter auch nicht. Und dann erschienen bei uns schon Partisaneneinheiten, die Partisanen nahmen Kontakt zum Vater auf und schlugen ihm quasi vor… sie schlugen nicht vor, sie ließen ihn, sich wieder an der Bahnstation anstellen lassen, um ihnen mit Mitteilungen zum Zugverkehr zu helfen. Und da er davor bei der Eisenbahn gearbeitet hatte und sich auskannte, setzten ihn die Deutschen als Fahrdienstleiter ein, sodass er alle Informationen zum Zugverkehr hatte. Diese Informationen begann er an die Partisaneneinheit weiterzuleiten und half damit ihnen zu kämpfen. Er bekam Informationen und leitete sie nach Möglichkeit sofort weiter. Und neben unserem Haus in Negoreloje, wirklich ganz daneben, befand sich ein Lager für unsere sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Kriegsgefangenen übermittelten gewisse Nachrichten und die Verbindung funktionierte so: da war ihr Zaun und hier unser Zaun, sie schrieben einen Zettel und warfen ihn mit einem Stein zu uns in den Garten, wir lasen diese Nachrichten und gaben sie an Partisaneneinheiten weiter. Und stets waren es Mitteilungen über den Zugverkehr und so dauerte es bis 1944.

Galina Pschenitschnaja

44

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

Als unsere Truppen bei Minsk anrückten, verriet ein Verräter den Vater an die Deutschen und die Deutschen verhafteten den Vater. Einen Tag blieb er dort im Keller des Zollamtes und am zweiten Tag wurde er abgeholt; solange er im Zollamt eingesperrt war, besuchten wir ihn, die Mutter und

ep1 Juli 2015


ich. Und am nächsten Tag war er nicht mehr da: man brachte ihn nach Minsk und lieferte ihn ins Gefängnis in der Wolodarskogo-Straße ein. Von seinem weiteren Schicksal wussten wir nichts: wo ist er und was ist ihm passiert? Später, als er schon wieder zuhause war, erzählte er, dass man ihn hinüber gebracht hatte und die Deutschen ihn gefoltert hatten, um den Standort der Partisaneneinheit zu erfahren, aber der Vater hatte natürlich nichts preisgegeben. Und sie nahmen ihn, zumal dass die Unsrigen bereits anrückten und sie mit ihren Machenschaften aufräumen mussten, sie pferchten alle Übriggebliebenen in einen Wagen ein und brachten sie nach Trostenez. Unterwegs … nicht ganz unterwegs, sondern noch davor im Gefängnis begegnete der Vater seinem Vater, meinem Großvater, und es waren noch zwei Jungen da. Und nach Möglichkeit sprachen sie miteinander, na, während er vorbeiging. Später wurden der Großvater und diese kleinen Kinder in Trostenez erschossen.

ep1 Juli 2015

fernen musste. Er regte sich, um zu prüfen, wie die Wache reagiert, und wenn diese beiseitetraten, kroch er ein Stück weg. Er kroch unter diesen Leichen hervor und an das Tor heran, blieb kurz dort; hinter dem Tor wuchs Roggen und er kroch in diesen Roggen und verstand, dass er weg musste. Aber er konnte nicht gehen, weil da nur Roggen war, und so kroch er und kroch, bis er auf ein Dorf stieß. Er kroch an das Haus am Rande heran und der Hausherr war da; er kam, schaute auf den Vater, zeigte so mit der Hand auf Trostenez und fragte: „Kommst du von da?“ Er sagte: „Ja.“ Nein, der Vater sagte nicht ja, der verstand alles selbst. Er holte ihn ins Haus, wusch ihn, gab ihm eine Tasse Milch zu trinken, verband ihm den Kopf und sagte: „Du musst weg, weil Polizisten und Deutsche jetzt immer wieder hier vorbeikommen.“ Und der Vater schlug den Weg nach Negoreloje ein, um nach Hause zu kommen.

Als die Unsrigen und der Vater nach Trostenez gebracht wurden, fuhr der Wagen sie an eine Scheune, große Scheune und sie wurden zu fünft hinausgeführt, mussten sich abdrehen und man schoss auf sie. Und sind die fünf tot, so kommen die nächsten fünf, dann die nächsten. Und die Scheune war mit den getöteten Menschen, mit ihren Leichen voll. Als man auf den Vater schoss, fiel er und wurde ohnmächtig, weil die Kugel ihn am Hals traf und durch ein Auge nach draußen drang. Das war aber sein Glück, dass er für einen Augenblick das Bewusstsein verlor und hinfiel. Dann wurden weitere fünf Menschen aufgestellt und erschossen. Dann kam er zu sich und spürte etwas über seine Schläfen fließen und realisierte gleich, dass es Blut war, Blut der Leichen, die nun über ihm lagen.

Unterwegs aber änderten sich seine Pläne ein wenig, da war das Dorf, wo ein Verbindungsmann von der Partisaneneinheit wohnte, also wollte der Vater dahin und den Mann aufsuchen. Aber gleich auf der Straße wurde er von zwei Deutschen angehalten, einem Offizier und einem Soldaten; der Soldat sagte dem Vater sofort, dass er den Verband, den ihm jener Mann aus dem Dorf angelegt hatte, abnehmen soll, der Offizier aber entgegnete: was machen wir dann mit ihm, wenn er zu bluten beginnt? Dann fragte der Offizier den Vater: „Wie ist der Krieg?“ Na, der Vater antwortete ihm auf Deutsch: „Schlecht.“ Auch der erwiderte: „Schlecht. Und wohin gehst du?“ – „Ich gehe ins Dorf, meine Frau arbeitet als Dolmetscherin, sie hat mir mitgeteilt, ich solle schnellstens nach Hause kommen und wir fahren dann mit den Deutschen zusammen.“ Und dann ließen sie ihn laufen.

Der Vater arbeitete ja bei der Bahn und verstand gewisse Wörter auf Deutsch, er hörte einen Posten von der Wache, die am Zaun stand, sagen, dass sie alle diese Menschen verbrennen würden; der Vater begriff, dass er sich also irgendwie ent-

Er kam ins Dorf, wo der Verbindungsmann wohnte, und sagte dem Verbindungsmann, dass er auch nichts weiß. Inzwischen gab es im Ort Usda keine Deutschen mehr und dort war eine Art Kriegshospital aufgebaut, der Verbindungsmann

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

45


brachte ihn in dieses Spital, dort wurde er verbunden und untersucht und der Vater ließ gleich meiner Mutter ausrichten, dass er da und da sei. Als Mama diese Nachricht bekam, sagte sie, man soll ein Pferd besorgen und sie nimmt mich mit nach Usda in dieses Spital. Im Spital wollte ich nicht einmal zum Vater gehen, weil ich Angst hatte, so sah er aus: der ganze Kopf verbunden, das Auge eiternd, Mama wurde traurig, na, ich war sehr erschrocken und so. Er blieb in diesem Spital, dann bekam er Wundbrand und man musste ihn dringend nach Minsk bringen. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, in dem Professorin Biritsch, sie dürfte wohl für Sie alle ein Begriff sein, arbeitete. So fügte es das Schicksal, dass er unter diesen Leichen hervorkriechen konnte, und nun kam es, dass sich so eine Ärztin um ihn kümmerte. Sie behandelte ihn nach der Operation. Erstens musste das Auge dringend entfernt werden, alles um das Auge herum war bereits so stark betroffen, dass keine Stelle heil blieb. Sie konnte es wieder gestalten, dass es sich sehen lassen konnte, schnitt diese Haut weg und pflanzte ein Stück Haut von einer anderen Stelle ein, bereitete also die Einsetzung eines Glasauges vor. Und das gelang ihr sehr gut. Der Vater, solange er noch lebte, blieb mit ihr die ganze Zeit im Kontakt und dankte ihr und war dem Schicksal dankbar, dass er mit so einer wunderbaren Ärztin zu tun hatte. Dann ließ er sich nach Möglichkeit in Minsk behandeln, sie schickte ihm zeitweilig nach Hause, bereitete selbst alles vor, in jener Zeit musste man ja dieses Glasauge bestellen, sie bestellte es selbst, nahm es heraus. Man schickte ihn nach Hause und dann war er zu Hause und das war alles. Der Vater ging wieder bei der Bahn arbeiten, jetzt wurde er für unterschiedliche Aufgaben angesetzt. Aber wir hatten ja nicht gewusst, dass er in Trostenez gewesen war; erst als er im Spital war, sagte es uns der Verbindungsmann, wir erfuhren es, erst als er uns das alles erzählte.

46

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

Na, der Vater war von so einem Schlag, dass er mit anderen kommunizieren musste. Er sprach mit Jugendlichen, alle im Ort wussten, wo er gewesen war und was er hatte erleben müssen. Und alle hatten Verständnis für ihn und alle halfen nach Möglichkeit, wenn es nötig war. Und er bemühte sich, alles an junge Menschen weiterzugeben. Er kam nicht einfach so in die Schule, sondern erzählte das die ganze Zeit, er sprach immer wieder von Trostenez. Und als ich schon so etwa zehn Jahre alt war, sagte er: „So, fahren wir nach Trostenez, ich zeige dir, was ich erleben musste.“ Wir kamen nach Minsk und dann entweder mit dem Bus oder sonst noch wie kamen wir also an diesen Ort. Er zeigte mir alles: das sei jene Scheune und in dieser Scheune war Holz und dieses Holz hatten sie noch … Na, das war für ihn sehr … und bei allen diesen Erzählungen traten ihm natürlich Tränen in die Augen. Stets musste er weinen, wenn es um Trostenez ging. Er besuchte Schulen und erzählte allen alles: wo er gearbeitet hatte, wo er gewesen war und was er hatte erleben musste. Na, das wäre alles. Herzlichen Dank, dass Sie es mir erlaubt haben, von meinem Vater zu erzählen!

Galina Pschenitschnaja Nachkomme eines Trostenez-Opfers aus Belarus

ep1 Juli 2015


Meine Eltern waren Juden. Als Juden wurden Sie im Zweiten Weltkrieg in ein Konzentrationslager deportiert. Meine Mutter ging durch zwölf Konzentrationslager, mein Vater durch drei, das letzte davon war Malyj Trostenez. Dem Vater ist es gelungen, kurz vor dem Liquidierungstransport zusammen mit seinem Freund Karel Šípek/damals Schlessinger aus Malyj Trostenez zu fliehen, zu den Partisanen zu wechseln und schließlich in die von Ludvík Svoboda organisierte tschechoslowakische Armee einzutreten, mit der die Beiden in ihr Heimatland zurückgekehrt sind. In der Schlacht von Dukla wurde mein Vater verletzt. Für seine Verdienste bei den Partisanen und in der Svoboda-Armee wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, einschließlich des sowohl Kleinen, als auch Großen Kriegskreuzes. Es war eine schreckliche Zeit voller Leiden, wo die Grenze zwischen Leben und Tod sehr schmal war. Meine Eltern wussten es natürlich, aber sie sprachen nie darüber. Für sie war es Vergangenheit. Sie hatten überlebt. Sie hatten einen dicken Strich darunter gemacht und bemühten sich, in der Gegenwart und der Zukunft zu leben. Mein Vater war ein großer Mann, auch wenn er von Gestalt nur 1,65 m groß war. Als ich ihn fragte, wo er den riesigen Mut in sich gefunden hatte, sagte er mir, er wäre dem Tod so nahe gewesen, dass ihm alles egal gewesen war. Es wäre nicht Mut, sondern eine Riesenwut gewesen, die in seiner Person für ihn selbst, gleichzeitig aber auch für seine Familie, für andere Juden, für andere Gefangene zum Ausdruck gekommen war. Für alle unschuldigen Gefangenen. Er hatte nicht geglaubt, dass er überleben würde. Erst in der Schlacht bei Dukla fühlte er plötzlich, dass seine Überlebenschancen real waren — und eben kurz daraufhin wurde er verwundet. Über Trostenez und die Flucht aus dem Konzentrationslager hat mir der Freund meines Vaters, Karel Šípek, folgendes erzählt:

ep1 Juli 2015

Petr Klenka

„... Im September 1942 wurden wir dem nächsten Transport nach Osten zugeordnet. Wir waren einige Tage unterwegs, fuhren durch Breslau, Warschau nach Brest-Litowsk, wo der gesamte Transport von Personen- auf Güterwagen umgeladen wurde und seine Reise zur Endstation nach Minsk fortsetzte. Von dem gesamten Transport, der an die tausend Menschen zählte, wurden ca. zwanzig bis dreißig junge Männer ausgewählt, alle anderen wurden in Gaswagen umgebracht. Wir, die ausgewählten Männer, luden das Gepäck auf die Güterwagen und nach Abschluss der Arbeiten wurden wir in das Lager in Malyj Trostenez übernommen. In dem Lager waren mehrere hundert jüdische Häftlinge und eine große Zahl von Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion. „ „... In dem Lager gab es eine Feldküche, das Essen war sehr dürftig: täglich ein kleines Stück Kommissbrot, zum Frühstück und Abendessen Tee oder Kaffee, mittags eine stärkere Suppe. „

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

47


„... Ich hatte das Glück, dass ich für die Arbeit in dem zum Lager gehörenden Pferdestall zugeordnet wurde. Ich hatte für etwa zehn Pferde zu sorgen. Es war meine Aufgabe, am Morgen den Stall zu reinigen, die Pferde zu füttern und zu striegeln, und danach fuhr ich mit dem Wagen als Kutscher zu verschiedenen Arbeitsaufgaben außerhalb des Lagers. Ich hatte die Gelegenheit, mich mit Einheimischen zu treffen, und manchmal konnte ich mit ihnen Geschäfte machen, oder genauer gesagt Dinge tauschen. Die dortigen Bewohner hatten jedoch ziemlich Angst, denn in der Ortsgemeinde Malyj Trostenez hatte eine weißrussische Polizeieinheit ihren Sitz. Das ständige Hinausfahren aus dem Lager hat es mir ermöglicht, mich in der dortigen Landschaft zu orientieren, und ich erfuhr auch, wo die Partisanen dort wirkten“. „... Wir waren eine kleine Gruppe von aus Mähren, überwiegend aus Brünn stammenden Häftlingen, die untereinander abgemacht hatten, aus dem Lager zu fliehen. Den Weg zu den Partisanen kannte ich ja bereits. Es war jedoch nur eine allgemeine Vereinbarung. Die genaue Zeit hatten wir noch nicht beschlossen. Eines Tages verließ ein Transport Trostenez, ich denke, auf dem Weg nach Lodz. Als ich von der Arbeit ins Lager kam, erfuhr ich, dass ich und noch Karel Klein (nach dem Krieg hieß er Klenka) in diesen Transport zugeordnet worden waren. Wir waren schon alte Hasen und wussten bereits, was das Wort „Transport“ bedeutete. Deshalb sahen wir zu, ihm zu entgehen. Wir haben sofort die gesamte Gruppe einberufen, mit der wir fliehen wollten, aber außer Karel Klein hat sich keiner von uns dafür ausgesprochen, wir waren nur zu zweit. Wir nahmen eine Schaufel und gingen aus dem Lager hinaus. Es war nicht auffällig, wir gingen leise. Wir gingen ca. zwei Meilen hinein in ein Kornfeld, wo wir bis zum Abend warteten. In der Nacht gingen wir dann in das naheliegende Dorf Berjosowka, wohin bereits die Partisanen strömten, soviel wusste ich. Wir sagten ihnen, dass wir mit ihnen gehen wollten, und sie nahmen uns mit zu ihrer Truppe, einer Aufklärungstruppe. Dies geschah ungefähr im August 1943,

48

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

nach etwa einem Jahr Aufenthalt in dem Lager. Anfangs waren wir an der Basis, in solcher Art von Behausung schliefen wir und die Partisanen überprüften uns, sie hatten sogar Verbindung zum Lager in Malyj Trostenez. Manchmal kamen sogar Mitglieder der belarussischen und ukrainischen Polizei. Die Partisanen nahmen sie, wussten jedoch Bescheid, und nach dem Krieg liquidierten sie diese. Unsere erste Aufgabe, nur für uns zwei, Karel und mich, war es, die Holzbrücke in Trostenez auf der Hauptstraße von Minsk nach Mogiljow niederzubrennen und wir haben diese Aufgabe erfüllt. Sie gaben uns Zündhölzer und wir zündeten das Ganze in der Nacht mithilfe von Heugarben vom Nachbarfeld an. Da es den Partisanen an Waffen mangelte, bekamen wir die Aufgabe, uns je eine Waffe zu besorgen. Ich wusste, dass einer jener belarussischen Polizisten im nächsten Dorf lebte und jeden Abend dorthin zurückkehrte. So haben wir auf ihn gewartet und ihn mit einem Stock geschlagen. So sind wir zu zwei Waffen gekommen — einem Gewehr und einer Pistole. Die ganze Gegend dort war in den Händen der Partisanen, es war ein riesiges Gebiet und die Deutschen haben in der Tat nur die Straßen, Bahnhöfe und größere Städte bewacht. In die Wälder trauten sie sich nicht. Die Dörfer hatten die Partisanen unter Kontrolle und die Einheimischen mussten ihnen zwangsweise Brot und Essen übergeben.“ Ende des Zitats. Wenn man dies alles bedenkt, ist einem nicht klar, wer schlimmer dran war, ob die Partisanen, unter mangelnder Hygiene und täglicher Lebensbedrohung, oder die Leute im Dorf, die selber nur wenig Nahrung hatten und sich darüber hinaus noch um ihr Leben fürchten mussten, denn es lebten dort auch Mitglieder der belarussischen Polizei. Es war eine schreckliche Zeit! Ich wurde nach dem Krieg geboren, hatte eine schöne Kindheit im Kreise meiner Familie. Von meinen Eltern habe ich unter anderem gelernt, Menschen in gute und böse einzuteilen, ungeachtet ihrer Nationalität, Religion, körperlicher Verfassung

ep1 Juli 2015


und Hautfarbe. Natürlich ist die Freundschaft, die sich zwischen den ehemaligen Gefangenen entwickelt hat, durch grausame Kriegszustände in den Konzentrationslagern geprüft worden, und es war eine Freundschaft auf Lebenszeit, von großer Qualität! Meine Eltern jedoch hatten in ihrer Wahrnehmung anderer Leute nach dem Krieg auch unter den Deutschen viele Freunde (und nicht nur die deutschen Juden). Ich war von 1990 bis 2008 in Besitz von einem Transportunternehmen mit internationaler Geschäftstätigkeit. Von Anfang an habe ich unter anderem auch mit einem deutschen Speditionspartner zusammengearbeitet, der nach 3 Jahren guter Zusammenarbeit Mitinhaber von meiner Firma wurde. Wir hatten je 50 % Anteil daran. Die deutschen Mitinhaber unseres Unternehmens waren in meinem Alter, korrekt und fair, wir verstanden einander gut. Ich habe einmal während eines gemeinsamen Abendessens einen jüdischen Witz erzählt. Jüdische Witze haben ihre Besonderheiten, ich mag sie sehr. Meine deutschen Partner haben jedoch überhaupt nicht gelacht, im Gegenteil, sie erinnerten mich daran, dass ich mich über die Juden nicht lustig machen sollte, auch wenn es nur ein Witz sei. Ich sagte ihnen, dass nur ich, da ich ein Jude bin, diese Witze erzählen kann. Sie waren überrascht, denn sie wussten nicht, dass ich Jude bin. Sie waren schockiert, als ich ihnen ein paar Details über meine Eltern während des Krieges erzählt hatte. Sie fingen an, sich dafür zu entschuldigen, wie man die Juden während des Krieges behandelt hatte. Beschämt über Hitler, über das fanatisierte deutsche Volk, wegen all den Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dabei wurden meine beiden Partner erst nach dem Krieg geboren. Aber das Schamgefühl steckte in ihnen und wird wahrscheinlich auch in anderen Generationen von Deutschen stecken. Da erkannte ich, dass es so zu Recht sei. Auch ich schäme mich dafür, wie sich der tschechoslowakische Staat nach dem Krieg gegenüber den Sudetendeutschen verhalten hat. Ich bin damit nicht einverstanden und wenn ich im Exil lebenden Sudetendeutschen begegne, fühle ich selbst tiefe Scham und entschuldige

ep1 Juli 2015

mich bei ihnen. Ja, ich wurde auch erst nach dem Krieg geboren, erst im Jahre 1948. Wenn man sich jedoch für die Übeltaten schämt, die man nicht beeinflussen konnte, obzwar sie von seiner eigenen Nation begangen worden sind, ist es gut so. Hitler, Stalin, Gottwald, Bin Laden ... Es gab sie, es gibt sie und andere werden sicher noch kommen. Und es ist wichtig, an diese Namen stets zu erinnern, sodass es noch mehr Leute gibt, die jegliche Bigotterie verurteilen, jede Art von Ismus stets mit Vorsicht betrachten und stolz darauf sein wollen, dass sie in Frieden und unter Menschen leben. Petr Klenka Sohn von Karel Klein, einem Überlebenden von Trostenez

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

49


Ich spreche heute als Enkel, der im Wald von Blagowschtschina ermordeten Marie Winter aus Berlin zu Ihnen. Meine Großmutter war eine deutsche Jüdin. Ihr ganzes Leben hat sie in Deutschland verbracht, sie ist dort zur Schule gegangen, hat dort geheiratet, ihr Kind zur Welt gebracht und gemeinsam mit ihren Geschwistern und Eltern ein bürgerliches Leben in Berlin gelebt. Marie Winter ist die Flucht aus Deutschland nicht mehr gelungen. Sie fühlte sich zu alt und zu beschwert, um woanders ein neues Leben zu beginnen. Sie hing an ihrer Familie, an ihren Freundinnen, an ihrem zu Hause, an ihren Erinnerungen und auch an der deutschen Kultur, die sie innig geliebt hat und in der sie sich entfalten konnte. Marie Winter wurde – nach viel Entbehrung und Entrechtung am 24. Juni 1942 an die Sammelstelle in der ehemaligen Berliner Synagoge an der Lewetzowstraße gebracht. Es sollte der 16. Berliner Transport „nach dem Osten“ werden. Über 200 Jüdinnen und Juden waren an diesem Tag einbestellt worden oder sind per Schub von ihrem Arbeitsplatz oder direkt aus der Haft dahin gebracht worden. Als Reiseziel war ihnen Minsk bestimmt. Im Waggon dritter Klasse fuhren sie bis nach Wolkowyjsk, dort wurde die Menschenfracht in Viehwagen umgeladen und mit einem Güterzug voller Juden aus Königsberg gekoppelt. Die Namen, die Geburtsdaten, die letzte Wohnadresse der Deportierten aus Berlin sind im sogenannten Transportbuch „Welle XVI – nach dem Osten“ dokumentiert – und bis heute erhalten geblieben. Es ist für alle Nachfahren so etwas wie ein Sterbebuch – ein letzter Eintrag ihrer Existenz. Das Vermächtnis der Nazi-Bürokratie, dass sie bis zu diesem Tag am Leben gewesen waren. Dieses Transportbuch begleitete die Reise und diente der Kontrolle. Es wurde im Anschluss nach Berlin zurückgeschickt und bildete nun die Grundlage für die Vermögensenteignung der Menschen, die nie mehr zurückkehren sollten. Die Namenslisten gingen in die Finanzministerien und dort haben die Beamten – Person für Per-

50

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

son – das Vermögen der Deportierten, von denen die Beamten wussten, dass sie nie mehr zurückkommen werden, enteignet und dem Deutschen Reich zugesprochen. Das war Teil des organisierten Raubzuges. Am Freitag, den 26. Juni entlädt sich die Menschenfracht in Minsk. Ich zitiere jetzt aus einer Arbeit von Alfred Gottwald und Dina Schulle, die sich in jahrelanger Arbeit um die Rolle der Reichsbahn bei den Deportationen verdient gemacht haben, und die beschreiben, wie die Ankunft der Züge in Minsk vonstatten ging. Ich zitiere:

Die Exekution der nacheinander auf dem Güterbahnhof von Minsk angekommenen Transporte wurde weitgehend auf gleiche Weise durchgeführt; nach der Ankunft am frühen Morgen überwachte eine Gruppe der Dienststelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD in WeiSruthenien das Ausladen der Menschen und des Gepäcks. AnschlieSend wurden ihnen auf einem Sammelplatz ihre Wertsachen fortgenommen. Die Exekutionsstätte von Malyj Trostenez lag auf einem Gebiet etwas 15 km südöstlich der Stadt Minsk an der „Rollbahn“ oder LandstraSe nach Mogiljow auf einer ehemaligen Kolchose, die von Kräften der deutschen Polizei bewirtschaftet wurde. Die Insassen der Sonderzüge wurden mit Lastkraftwagen zu neu ausgehobenen Gruben in einem Kiefernwäldchen gebracht, wo 80 bis 100 Schutzpolizisten und Angehörige der Waffen-SS sie mit Schusswaffen umbrachten.

Im Frühjahr und Sommer 1942 gehört die Ankunft von Judentransporten aus dem Reich zur Routine der Mannschaft vom Vernichtungsort von Malyj Trostenez. Auch das ist in einem

ep1 Juli 2015


Dokument erhalten, und zwar gibt es ein Kriegstagebuch des Kommandostabs Reichsführer SS, Tätigkeitsbericht der 1. und 2. Infanteriebrigade und von Sonderkommandos der SS mit dem Titel „Unsere Ehre heißt Treue“. Eine Gruppe dieser Sondereinheiten trägt den Namen des Tagebuchführers, der am 3. August 1942 in seinem Tätigkeitsbericht am Exekutionsort im Wald von Blagowschtschina festhält. „Tätigkeitsbericht. Die Arbeit der Männer hier in Minsk bleibt nach wie vor ziemlich dieselbe. Die Judentransporte trafen in regelmäßigen Abständen in Minsk ein und wurden von uns betreut.“ (Was er mit „betreut“ meint, wissen wir heute. G.H.) „So beschäftigten wir uns bereits am 18. und 19. Juni 1942 wieder mit dem Ausheben von Gruben. Am 26.6. (Das ist der Transport, von dem ich spreche. G.H.) traf der erwartete Judentransport aus dem Reich ein. Am 2.7. werden bereits wieder Vorkehrungen zum Empfang eines Judentransportes – Aushebung der Gruben – getroffen.“ GAbriel Heim

Maries letzte Reise bestand aus einem Zug von 25 Güterwagen und einem Wagen 3. Klasse, achtzehn Begleiter des Transports sind dokumentiert. Am Güterbahnhof von Minsk stehen an diesem Morgen auch stabile 7-Tonnen-Laster der Marke „Saurer“, in Berlin umgebaute Lastwagen, deren Abgase in den hermetisch verschließbaren Transportraum umgeleitet werden können. Wie viele es sind, wissen wir nicht. Doch wissen wir, seit Frühjahr 1942 kommen bis zu drei dieser – von der Minsker Bevölkerung „Seelenersticker“ genannten Wagen – zum Einsatz. Die Strecke zum etwa 15 Kilometer entfernten Wäldchen vor Blagowschtschina, wo die Gruben warten, gab genügend Fahrzeit, um die Fracht „zu betreuen“. Es war wohl so, dass die gehbehinderte – meine Großmutter hatte eine steife Hüfte – und durch 2 Monate Gestapogefangenschaft geschwächte Marie Winter in einen dieser grauen Lastwagen einsteigen muss. Am Ende dieses von der Mitternachtssonne bis spät erhellten Sommertages wird das frische Massengrab mit Chlorkalk abgelöscht. Danach: Stille...

ep1 Juli 2015

Soweit kann ich Ihnen aus dem Leben von Marie Winter berichten. Es war Ihr letzter Lebenstag. Und ich lese Ihnen dies auch im Gedenken an alle jene, die denselben Weg gehen mussten und deren Namen wir heute nicht mehr kennen und deren Nachfahren nicht das große Glück empfinden konnten, ihre Familiengeschichte zu klären, so wie es mir beschieden war, der als Journalist das Leben der Großmutter in allen Einzelheiten dokumentieren konnte. Ein Leben, das für viele Tausende, wenn nicht Hunderttausende steht. Gabriel Heim Enkel von Marie Winter

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

51


DAS Online-Archiv

Damit die Erfahrungen der Zeitzeugen langfristig bewahrt werden und auch auSerhalb der Geschichtswerkstatt zugänglich sind, haben die Mitarbeiter der Minsker Geschichtswerkstatt in 2013 mit dem Aufbau eines digitalen Archivs in deutscher und russischer Sprache begonnen. In diesem Archiv finden sich lebensgeschichtliche Porträts sowohl von belarussischen Zeitzeugen, die unter dem Holocaust und der deutscher Besatzung während des Zweiten Krieges zu leiden hatten, als auch von jüdischen Bürgern aus Orten des damaligen Deutschen Reiches, die in das Ghetto Minsk oder das Vernichtungslager Trostenez deportiert und ermordet wurden. Etwa 200 Lebensgeschichten in deutscher und russischer Sprache umfasst bisher das elektronische Zeitzeugenarchiv. Die Geschichtswerkstatt sieht es als ihre Aufgabe, solche historischen Materialien, Zeugnisse und Spuren systematisch interessierten Laien und Historikern zugänglich zu machen und arbeitet kontinuierlich am Ausbau des Archivs.

1

Die Sammlung von Zeitzeugen des Minsker Ghettos enthält lebensgeschichtliche Porträts von Überlebenden des Minsker Ghettos. Diese leben z. T. heute noch in Minsk und nehmen aktiv an Veranstaltungen in der Geschichtswerkstatt teil. Andere sind nach dem Krieg oder nach der Auflösung der Sowjetunion nach Israel, Deutschland, in die USA oder in andere Länder ausgewandert. Zahlreiche Zeitzeugen sind inzwischen leider verstorben. Mit dem elektronischen Archiv wollen wir dazu beitragen, dass ihr Schicksal nicht vergessen wird.

2

Die Sammlung „Gerechte unter den Völkern“ enthält lebensgeschichtliche Porträts von den Menschen, die während des Holocaust ihr Leben aufs Spiel setzten, um die jüdische Bevölkerung zu retten. »Gerechte unten den Völkern« ist ein offizieller Titel, den Yad Vashem im Auftrag des Staates Israel und des jüdischen Volkes an Nichtjuden verleiht.

3

Die Berliner Sammlung enthält 25 lebensgeschichtliche Porträts, die dem 2013 im Metropol Verlag erschienenen Gedenkbuch „Berlin – Minsk. Unvergessene Lebensgeschichten“ entnommen wurden. Aus Berlin wurden 1941/1942 über 1.000 jüdische Bürger nach Minsk deportiert. Bis auf vier kamen sie alle im Minsker Ghetto oder im nahegelegenen Vernichtungslager Trostenez ums Leben.

52

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

Das Berliner Gedenkbuch ist das Ergebnis eines dreijährigen Projekts von Studierenden der Humboldt-Universität unter Leitung von Prof. Wildt vom Lehrstuhl „Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt in der Zeit des Nationalsozialismus“. Wir danken den Herausgeberinnen des Buches Anja Reuss und Kristin Schneider sowie dem Metropol-Verlag für die Erlaubnis, die lebensgeschichtlichen Porträts ins Russische zu übersetzen und im digitalen Archiv der Minsker Geschichtswerkstatt zu verwenden. Das Gedenkbuch enthält insgesamt 59 biographische Texte über 127 Personen, die auch im Internet unter www.berlin-minsk.de in deutscher Sprache zugänglich sind.

4

Die Düsseldorfer Sammlung enthält 27 Familiengeschichten aus der Kollektion der Mahn- und Gedenkstätte der Landeshauptstadt Düsseldorf. Die Biografien wurden zusammengestellt von Hildegard Jakobs, der stellvertretenden Leiterin der Gedenkstätte. Wir danken den Mitarbeitern der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf für die Erlaubnis, die lebensgeschichtlichen Porträts ins Russische zu übersetzen und im digitalen Archiv der Minsker Geschichtswerkstatt zu verwenden.

ep1 Juli 2015


5

Die Hamburger Sammlung: Am 8. und 18. November 1941 verließen zwei Deportationstransporte mit 968 und 407 Jüdinnen und Juden die Stadt Hamburg in Richtung Minsk. Für ca. 1/3 dieser Menschen liegen bisher Biographien vor, weitere werden folgen. Im Jahr 2006 starteten Dr. Rita Bake (Stellvertretende Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung) und Dr. Beate Meyer (Historikerin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden) das Projekt „Biographische Forschungen“ zu den Stolpersteinen, das von Beteiligten aus Geschichtswerkstätten, Bürgervereinen, Studierenden und anderen getragen wird. Alle erforschen die Biographien der Menschen, an die in ihren Stadtteilen Stolpersteine erinnern. Aus der Arbeit entstanden bisher 15 stadtteilbezogene Bücher mit Biographien, die die Landeszentrale für politische Bildung verbreitet. Zurzeit sind (Stand: Frühjahr 2015) ca. 2.600 Einzelbiographien bzw. Familiengeschichten erarbeitet. Etwa 90 davon wurden bereits ins Archiv gestellt.

6

Die Sammlung „Zwangsarbeiter“ enthält lebensgeschichtliche Porträts von den Menschen, die zur Zwangsarbeit in verschiedenen Arbeitsbereichen des Dritten Reiches, aus den besetzen Gebieten der Sowjetunion, deportiert wurden. Zurzeit entsteht die Prager Sammlung in der Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum in Prag.

Erwähnungswert ist im Archiv die Rubrik „Bildung“. In dieser Rubrik haben die Mitarbeiter der Geschichtswerkstatt für Lehrer methodische Hilfestellungen, Audio- und Videomaterialien, Presseartikel und andere Veröffentlichungen zusammengestellt, die Ihnen bei der Vorbereitung von Unterrichtsstunden, Veranstaltungen oder bei der eigenständigen Erforschung der Geschichte des Minsker Ghettos helfen sollen. So hoffen wir, dass die im Archiv präsentierten lebensgeschichtlichen Porträts und bereit gestellten Materialien aktiv in der Bildungsarbeit von Schulen, Universitäten u. a. benutzt werden.

ep1 Juli 2015

Dr. Alexander Dolgowskij

Wir würden uns freuen, wenn weitere noch lebende Zeitzeugen des Minsker Ghettos, andere Holocaust-Überlebende und NS-Verfolgte sowie ihre Angehörigen zur Weiterentwicklung des digitalen Archivs beitragen, indem sie Tagebücher, Dokumente etc. zur Verfügung stellen. Wir suchen außerdem aktiv die Kooperation mit anderen Forschungs- und Gedenkeinrichtungen, um weitere Informationen sowohl über aus dem Deutschen Reich deportierte Juden als auch über bisher unbekannte belarussische Trostenez-Opfer in das Archiv aufnehmen zu können. Das von mir präsentierte Online-Archiv soll in der Zukunft in die Wanderausstellung Trostenez und Gedenkstätte Trostenez integriert werden.

Dr. Alexander Dolgowskij, Das Online-Archiv der Geschichtswerkstatt

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

53


Arbeitsgruppe

Meilensteine der deutsch-polnischen Versöhnung Der Prozess der Annährung und Versöhnung zwischen Polen und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war schwierig und mühselig, weil zugleich auch der Ausgangspunkt und der politische Kontext schwierig waren. Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Die Polen als „minderwertiges Volk“ sollten durch brutale und systematische Ermordung ihrer Eliten und Zivilbevölkerung, durch Zwangsarbeit sowie massive Aussiedlungen vernichtet werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen die Siegermächte auf der Potsdamer Konferenz die Verschiebung der westlichen Grenze Polens weiter nach Westen und die gewaltsame Umsiedlung der deutschen Bevölkerung. Das Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 hat jedoch nicht allen Ländern Europas Freiheit und Souveränität gebracht. Fast der halbe Kontinent kam unter die Kontrolle des kommunistischen Moskaus, darunter auch Polen und Ostdeutschland. Der Kalte Krieg begann und damit die Konkurrenz des sowjetischen Systems mit dem demokratischen Westen. Das Problem der Grenze an der Oder und Neiße sowie die durch unterschiedliche Erfahrungen geprägte Erinnerungen an den Krieg haben Polen und Deutsche für viele Jahre gespalten. Die Polen sahen sich als Opfer der deutschen Aggression, die Deutschen sahen sich als Opfer von Flucht und Vertreibung. Für Polen bedeutete die Westverschiebung einen Gebietsverlust von 46 % von Vorkriegspolen an die Sowjetunion, darunter Zentren der polnischen Kultur wie Lwów (Lemberg) und Wilna (Vilnius), sowie die Notwendigkeit, sich in den ehemals deutschen Gebieten anzusiedeln, die Polen von den Alliierten zugeteilt wurden. Für die Deutschen bedeutete die Grenzverschiebung den Verlust der Ostgebiete und solch wichtiger Kulturzentren wie Breslau oder Königsberg. Offiziell gab es zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR kein Grenzproblem. Die Propaganda sprach von einer deutsch-polnischen Friedensgrenze. Gleichzeitig waren Feindseligkeit und Misstrauen den Deutschen gegenüber, die vor allem aus den Erfahrungen des

54

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

Zweiten Weltkrieges herrührten, ein wesentliches Element der kommunistischen Propaganda in der Volksrepublik Polen. Diese Faktoren verzögerten den Beginn des Dialoges über eine gemeinsame Vergangenheit und Zukunft zwischen den Polen und den Deutschen. Die ersten Annäherungsinitiativen, die diesen Stillstand zu veränderten versuchten, gingen von einzelnen Menschen und kleinen Gruppen aus, sehr oft unter dem Dach der katholischen und evangelischen Kirchen. In der BRD waren das vor allem Mitglieder des Bensberger Kreises und der Pax-Christi-Bewegung, in der DDR – die der Aktion Sühnezeichen, und in Polen – die Mitglieder der Klubs der katholischen Intelligenz, unter anderem in Breslau, Warschau und Krakau, sowie Personen aus dem Umfeld der Zeitschriften „Tygodnik Powszechny“, „Znak“ und „Więź”. Seit Mitte der 1960er Jahre ist so ein relativ dichtes Netz an Kontakten entstanden, das in den folgenden Jahren durch den Austausch und Zusammenarbeit vertieft wurde. Bahnbrechend war 1965 der Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen mit dem Satz „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Der Autor des Briefes war Erzbischof Bolesław Kominek. Er schlug eine neue Sichtweise auf die Vergangenheit der deutsch-polnischen Beziehungen vor und entwarf eine Zukunftsvision für diese Beziehungen, die in einem Gegensatz zur kommunistischen Propaganda stand. Dem Briefwechsel polnischer und deutscher Bischöfe ging die „Ostdenkschrift“ der evangelischen Kirche unter dem Titel „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ voraus. Ihre Autoren sprachen sich für die Notwendigkeit der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie aus. Wesentlich weiter gingen die Mitglieder des Bensberger Kreises (1968) in ihrem Text „Ein Memorandum deutscher Katholiken zu den polnisch-deutschen Fragen“. Sie postulierten unter anderem die Aufgabe von Ansprüchen auf Gebiete, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen befanden, die

ep1 Juli 2015


Entfernung revisionistischer Informationen über diese Gebiete aus den Geschichtsbüchern sowie die Notwendigkeit der Wiedergutmachung gegenüber den Opfern des deutschen Terrors in Polen (1939-45).

mut Kohl kam, symbolisierte den Neuanfang der deutsch-polnischen Beziehungen auf dem Weg in die deutsch-polnische Interessens- und Wertegemeinschaft, die heute im Rahmen der NATO und EU realisiert wird.

Vertrauenserweckend waren z. B. die Fahrrad-Pilgerreise junger Deutscher der ostdeutschen Aktion Sühnezeichen nach Polen (u. a. nach Auschwitz) mit dem Ziel, sich individuell und kritisch mit der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen, was vom DDR-Regime ungern gesehen wurde. Bei der Herstellung und Vertiefung der weiteren Kontakte zwischen den Polen und den Deutschen aus beiden Ländern waren in den 70er Jahren auch die westdeutschen Korrespondenten behilflich.

Die deutsch-polnische Versöhnung ist aber anders als die deutsch-französische. Sie ist nicht die Antwort mutiger Staatsmänner, sondern die der mutigen Bürger aus Polen, aus der DDR und der BRD auf die Tragödie des Zweiten Weltkrieges. Kreisau und somit die deutsch-polnische Versöhnung stehen für den Mut von einigen Einzelpersonen, die es gewagt haben, das eigene Trauma aus dem Zweiten Weltkrieg zu überwinden und sich der gegenseitigen Feindseligkeit zu widersetzen. Von einem langen und beschwerlichen Weg dieser Menschen aus Polen und Deutschland erzählt die Ausstellung „Mut und Versöhnung“, die in Kreisau am 20. November 2014 von der polnischen Ministerpräsidentin Ewa Kopacz und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel eröffnet wurde.

Während des ersten Besuches vom Bundeskanzler Willy Brandt im Nachkriegspolen im Dezember 1970 kam es zur Unterzeichnung des Vertrags über die Grundlagen der Normalisierung der Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland. Wichtiger ist aber der Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettoaufstands, der heute als öffentliches Schuldbekenntnis Deutschlands für den Zweiten Weltkrieg gilt. Die obigen Initiativen zur Annäherung lösten in ihren Gesellschaften enorme Protestwellen und Kontroversen aus, denn sie entsprachen nicht den kollektiven Bildern von jeweiligen Nachbarn sowie der immer noch nicht aufgearbeiteten Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Mit der Unterzeichnung des Vertrages wurden neue Bedingungen zur Zusammenarbeit zwischen Polen und der Bundesrepublik geschaffen. Im Jahr 1972 wurden diplomatische Beziehungen aufgenommen und unter der Ägide der UNESCO die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission ins Leben gerufen, deren Ziel es war, gemeinsame Richtlinien für Geschichts- und Geografie-Schulbücher zu erarbeiten. 1976 wurde auch das Deutsch-Polnische Forum gegründet – eine Plattform für regelmäßige Treffen für Vertreter der Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Kultur. Wichtig für den Wandel des Deutschlandbildes in Polen waren die vor allem von der westdeutschen Gesellschaft vorbereiteten Paketaktionen als spontane Reaktion und großangelegter Hilfsaktion für Polen nach der Einführung des Kriegsrechts im Jahre 1981. Die Solidarnosc-Bewegung in Polen inspirierte auch viele Bürgerrechtler in der DDR, die sich in Friedens- und Umweltbewegung organisierte. Mit dem politischen Wandel in mitteleuropäischen Ländern 1989 wurden wieder neue Bedingungen für die deutsch-polnische Nachbarschaft geschaffen. Die Versöhnungsmesse in Kreisau, während der zum Austausch des Friedensgrußes zwischen dem ersten nichtkommunistischen Regierungschefs Polens Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Hel-

ep1 Juli 2015

Eine Versöhnung als langer und mühsamer Annäherungsprozess kann nur dann gelingen, wenn sie von der Zivilgesellschaft mit mutigen und kreativen Initiativen gepflegt wird. Eine Annäherung zwischen zwei verfeindeten Nationen bzw. Ländern besteht aber keinesfalls nur darin, dass die politischen Interessen gleich sind. Um sich zu versöhnen, sich auch psychologisch anzunähern, muss man sich besser verstehen. Um sich aber besser verstehen zu können, muss man eine gemeinsame Sprache finden, mit der man nicht nur das beschreiben kann, was das Verbindende in Zukunft sein sollte, sondern mit der vor allem Verständnis für die unterschiedliche Perspektiven auf tragische, vergangene Ereignisse erzeugt wird, sodass die Erinnerung daran nicht mehr Wunden aufreißt, sondern doch verbindet. Und eine gemeinsame Sprache findet man nur dann, wenn man seine eigenen Positionen überschreitet und wenn man dadurch eine Dialoggemeinschaft schafft. Rafal Borkowski, Leiter der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Kreisau, Polen

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

55


Wanderausstellung Wanderausstellung zum Vernichtungsort Trostenez kommt in 2016 Im Mai 2015 haben das IBB Dortmund und die IBB Minsk dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland und dem Exekutivkomitee der Stadt Minsk die Konzeption für eine Wanderausstellung zum Vernichtungsort Trostenez vorgestellt. Die Konzeption ist das Resultat eines Dialogs zwischen Historikern und Museumsmitarbeitern aus Belarus, Deutschland, Österreich und Tschechien.

56

Noch im Mai bekräftigte das Auswärtige Amt seine Bereitschaft, die Entwicklung und Herstellung der Ausstellung finanziell zu fördern. Ende Juni sprach sich die Stadt Minsk ebenfalls für die Umsetzung des Projekts aus. Die Ausstellungseröffnung, die zeitgleich in Belarus und Deutschland stattfinden soll, ist für den Sommer oder Herbst 2016 geplant.

te mit den drei Standorten Trostenez, Blagoschtschina und Schaschkowka (ehemaliges provisorisches Krematorium) entstehen wird (siehe Artikel Seite 14). Der erste Bauabschnitt am Ort des ehemaligen Arbeitslagers in Trostenez, der u. a. die Skulptur „Pforte der Erinnerung“ von Konstantin Kostjutschenko einschließt, wurde bereits am 22. Juni 2015 der Öffentlichkeit übergeben.

IBB Dortmund und Minsk setzen sich seit mehreren Jahren für den Bau einer Gedenkstätte am Vernichtungsort Trostenez und insbesondere für die Integration des Waldstücks „Blagowschtschina“ in das Gedenkstätten-Projekt der Stadt Minsk ein. In Blagowschtschina wurden 1942/43 tausende Menschen von der SS und ihren Helfern erschossen und in Massengräbern verscharrt, darunter über 20 Tausend aus dem Deutschen Reich deportierte deutsche, österreichische und tschechische Juden. Inzwischen steht fest, dass in den kommenden Jahren eine integrierte Gedenkstät-

AnstöSe für eine Auseinandersetzung mit Trostenez

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

Während die Gedenkstätte mit Skulpturen und architektonischen Objekten an das geschehene Unrecht und das Leid der Opfer erinnert, bemüht sich das IBB ebenfalls darum, in Deutschland wie in Belarus eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte des Vernichtungsortes Trostenez anzustoßen und dafür entsprechende didaktische Angebote zu erarbeiten. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei den in Belarus in der öffentlichen Erinnerung vernachlässigten jüdischen Opfern zu. So wurde an der Geschichtswerkstatt Minsk 2013 mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes das elektronische Zeitzeugenarchiv angelegt, das inzwischen sechs Sammlungen mit lebensgeschichtlichen Porträts in deutscher und russischer Sprache umfasst und über die Webseite der Geschichtswerkstatt Minsk abrufbar ist (siehe Artikel Seite 52). Neben drei Sammlungen mit Porträts von Juden, die aus Berlin, Hamburg und Düsseldorf nach Minsk deportiert wurden, sind Kollektionen mit Lebensgeschichten von Zwangsarbeitern, Opfern und Überlebenden des Minsker Ghettos und „Gerechten unter den Völkern“ entstanden. Aktuell wird das Zeitzeugenarchiv um eine Sammlung mit Porträts von Trostenez-Opfern erweitert.

ep1 Juli 2015


Dialog mit Historikern aus vier Ländern Das Zeitzeugenarchiv bildet eine wichtige Grundlage für die Wanderausstellung zum Vernichtungsort Trostenez, die ab 2016 zeitgleich in Belarus und Deutschland gezeigt werden soll. Im November 2014 haben Historiker und Museumsmitarbeiter aus Belarus Erinnerungsorte und Gedenkstätten in Deutschland und Polen besucht und sich mit den Mitarbeitern der Einrichtungen über aktuelle Tendenzen in der erinnerungspädagogischen Arbeit ausgetauscht. Zudem organisiert die IBB Minsk seit August 2014 einen Dialogprozess zu Trostenez, an dem Historiker und Museumsmitarbeiter aus Belarus, Deutschland, Österreich und Tschechien teilnahmen. Das Zwischenergebnis dieses Dialogs ist eine umfangreiche und detaillierte Konzeption für eine Wanderausstellung zu Trostenez, deren Inhalte von allen Mitgliedern des Beirates unterstützt werden. Im Mai 2015 hat das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland seine Bereitschaft bekräftigt, die Entwicklung und Herstellung der Ausstellung finanziell zu unterstützen. Zudem hat die Stadt Minsk die Ausstellungskonzeption gesichtet und sich Ende Juni für die Umsetzung des Projekts ausgesprochen. Die Stadt stellt sogar in Aussicht, dass zukünftig auf dem Gelände der Gedenkstätte ein Museum mit einer Dauerausstellung entstehen könnte. Ab August nimmt ein Projektteam an der IBB Minsk mit Unterstützung durch die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas die Arbeit an der Ausstellung auf. Ziele der Ausstellung 70 Jahre nach Kriegsende ist Malyj Trostenez in Deutschland und Belarus wenig bekannt. In beiden Ländern ist der Vernichtungsort weder in der schulischen noch in der außerschulischen Bildungsarbeit präsent. Dabei handelt es sich bei Malyj Trostenez um den größten NS-Ver-

Sabrina bobowski,

nichtungsort auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, an dem Menschen aus Belarus, Deutschland, Österreich und Tschechien ermordet wurden. Die zweisprachige Wanderausstellung hat daher primär zum Ziel, Grundlagen zur Geschichte des Vernichtungsortes zu vermitteln und gemeinsames Gedenken zu ermöglichen. Der Beirat hat für die Ausstellung folgende Ziele definiert:

Organisatorin der Wanderausstellung zum Verichtungsort Trostenez

1

Die Ausstellung informiert Besucher in Belarus, Deutschland und Österreich (sowie ggf. Tschechien) über Trostenez im Kontext des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs in Europa und als Ort, an dem Menschen aus Belarus, Deutschland, Österreich und Tschechien massenDer Vernichtungsort Malyj Trostenez Ausstellungskonzeption (entwürfe)

ep1 Juli 2015

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

57


haft ermordet wurden. Zudem soll die Spezifik des Ortes innerhalb des Systems der NS-Vernichtungspolitik in den besetzten sowjetischen Gebieten verdeutlicht werden.

2

Die Ausstellung weckt bei den Besuchern Empathie für die Opfer und trägt zur Ablehnung von Krieg und Diskriminierung bei. Trostenez wird darüber hinaus in die Bildungsarbeit mit jungen Menschen integriert.

3

Die Ausstellung thematisiert verschiedene Formen der Erinnerungsarbeit in Europa und trägt als deutsch-belarussisches Projekt zur Entwicklung neuer, gemeinsamer Formen der Erinnerungsarbeit bei. Zielgruppen

Die Ausstellung richtet sich primär an Schülerinnen und Schüler sowie Studierende in Belarus, Deutschland, Österreich und Tschechien sowie an Individualbesucher. Gliederung

Mit der Gewichtung soll betont werden, dass der historische Ort Trostenez das zentrale Thema der Ausstellung ist. Zudem wird durch die Akzentuierung des vierten Teils zur Erinnerungskultur hervorgehoben, dass die Ausstellung das Ziel verfolgt, einen Beitrag zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Gedenklandschaft zu leisten und die Besucher für eine aktive Beteiligung an gemeinsamen Projekten/Initiativen im Kontext einer europäischen Erinnerungskultur zu gewinnen. Der Ausstellungsteil II bildet den Kernbereich der Ausstellung, daher sind insgesamt zehn Ausstellungseinheiten (siehe Tabelle rechts) für die Darstellung vorgesehen. Neben der Beschreibung der Mordstätten wurden sieben Schicksale ausgewählt, die exemplarisch für eine Opfergruppe von Trostenez stehen sollen.

Sabrina bobowski, Organisatorin der Wanderausstellung zum Verichtungsort Trostenez

Die Ausstellung besteht aus vier Ausstellungsteilen mit insgesamt 18 Ausstellungseinheiten (AE) und einem vorangestellten Einführungsteil. (Da es sich ggf. nicht um zweidimensionale Wände handelt, wird von Ausstellungseinheiten gesprochen.) Einführung 1 AE 1. TEIL 2 AE Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und Besatzungsregime in Belarus 2. TEIL 10 AE Trostenez und seine Opfer 3. TEIL 2 AE Aufarbeitung nach dem Zweiten Weltkrieg 4. TEIL 3 AE Erinnerungskultur

58

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


Fakten zur Ausstellung

Historische Orte

Ausstellungseröffnung geplant für Sommer/Herbst 2016

Ausstellungssprachen Die Ausstellung ist zweisprachig angelegt. Für Deutschland (und Österreich): deutsch / russisch; für Belarus: belarussisch / deutsch.

Ausstellungsorte jeweils eine Ausstellung zeitlich parallel in Belarus und Deutschland sowie perspektivisch in Österreich und Tschechien

Partner Mitglieder des Beirates (Siehe Liste unten) sowie ehrenamtlich tätige Trägerkreise an den Ausstellungsorten

Träger IBB Dortmund und IBB Minsk

I II III

Biographische Portraits

Mitglieder im Beirat für die Wanderausstellung

IV V VI VII VIII IX X

Einführungstext und Exponate Das Arbeitslager der Sicherheitspolizei (SiPo) und des Sicherheitsdienstes (SD) von Minsk nahe des Dorfes Malyj Trostenez Vernichtungsstätten 1. Der Wald Blagowschtschina 2. Der Wald Schaschkowka 3. Scheune auf dem Gelände des Lagers Jewgenij Klumow (Zivilist) Fjodor Schumajew (Kriegsgefangener) Nikolaj Walachanowitsch (Widerstandskämpfer) Zyra Goldina (Häftling aus dem Minsker Ghetto) Lili Grün (Jüdin aus Wien) Erich Klibansky (Jude aus Köln) Hanuš Münz (Jude aus Prag/deportiert aus Theresienstadt)

. . . . . .

Museum für die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges Akademie der Wissenschaften der Republik Belarus Linguistische Universität Minsk Geschichtswerkstatt Minsk Verband der jüdischen Gemeinden und Organisationen in Belarus Exekutivkomitee der Stadt Minsk

. . . .

Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas Deutsch-Russisches Museum Karlshorst Stiftung Topografie des Terrors Tradicia-History Service

Tschechien

. .

Gedenkstätte Theresienstadt (Památník Terezín) Jüdisches Museum in Prag

Österreich

.

Universität Wien

Belarus

Deutschland

Weitere Informationen und nützliche Links

www.ibb-d.de/trostenez Internationales Bildungs- und Begegnungswerk Dortmund

www.stiftung-denkmal.de Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas

www.zeitzeugenarchiv.gwminsk.com/de Zeitzeugenarchiv der Geschichtswerkstatt Minsk

www.memorialmuseums.org Gedenkstättenportal der Stiftung Denkmal

www.ibb.by Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ Minsk

ep1 Juli 2015

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

59


60

EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN

ep1 Juli 2015


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.