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Die Landschaft übernimmt. Landvermessung No. 5, Sequenz Marie Gamillscheg kreist um den Dolomitengipfel Croda da Lago. 56–63
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Fast niemand weiß mehr, was in zurückliegenden Jahrzehnten in der Kunst los war – auch nicht (oder vor allem
nicht?) in der sogenannten Provinz. Oft braucht es den Anstoß von außen, auf dass die Geschichten wieder
erzählt werden, an die künstlerisches Schaffen der Gegenwart und Zukunft anknüpfen könnte. Hier also aus
gutem Grund die erste kulturelle Inventur eines Zugereisten: Florian Waldvogel mit einer „Liebeserklärung an
das wilde Innsbruck“.
Ich habe die letzten zehn Jahre in Hamburg gearbeitet, und als ich im Sommer 2019 als Leiter für die Modernen Sammlungen ans Ferdinandeum berufen wurde, wurde ich immer wieder gefragt, warum ich in die Provinz gehe? Ob London, New York oder Innsbruck – jede dieser Städte ist reich, reich an Kultur und Geschichte. Ich habe noch nie in einer Stadt gearbeitet, in der die Menschen so aufgeschlossen und hilfsbereit sind wie in Innsbruck. Innsbruck ist ein lebendiger Organismus. Jede Stadt repräsentiert eine visuelle Herangehensweise über die Ergebnisse der von der Gesellschaft geschaffenen sozialen Phänomene. Jede und jeder ist an den Vorgängen im öffentlichen Raum beteiligt, und wenn wir annehmen, dass eine Kultur ein notwendiges Vehikel der Öffentlichkeit ist, dann kann den Citoyens ihre Mitwirkung an diesen sozialen Phänomenen und ihren historischen Bedingungen gerade durch die Kunst, die Musik, das Theater etc. über die unmittelbare Realität des Alltagslebens, welches die Menschen betrifft, bewusst gemacht werden. Innsbruck muss sich kulturell nicht verstecken – unzählige hervorragende Künstlerinnen und Künstler stammen von hier, haben hier gearbeitet oder tun es immer noch. Die Ökonomisierung, die ohnehin weite Teile des gesellschaftlichen Lebens dominiert, hat aber auch in Innsbruck die Bereiche Bildung, Wissenschaft und Kultur fest im Griff. Als zweimaliger Austragungsort der Olympischen Winterspiele dominieren in Innsbruck der Sport und die Funktionskleidung das öffentliche Bild. Dieser Fokus unter einem Dach aus Gold ist ein Nicht-Verstehen, weil bestimmte kulturelle Praktiken und Kontexte aus unserem Alltagsleben verschwunden sind. Die dafür stehenden Personen, Aktionen, Bilder, Erinnerungen können nicht mehr gelesen werden, weil die damit verbundenen Geschichten nur noch wenigen oder gar nicht mehr bekannt sind. Kulturelle Praxis bleibt eine Abstraktion, bis man eine Geschichte erzählen kann. Diese Geschichten sind nicht der Endpunkt, sondern Momente in einer Kette, die die unterschiedlichen Episoden einer Wegstrecke mehr oder weniger fest verbinden. Die nachfolgenden Zeilen sind meine Liebeserklärung an das wilde Innsbruck.
Kreuzigung in der Bergwelt Beginnen möchte ich mit dem ersten kulturellen Konflikt der Nachkriegszeit in Tirol, dem Bilderstreit um die „Hungerburgfresken“ von Max Weiler. Anlässlich des 150-jährigen Jubiläums des Tiroler Herz-Jesu-Bundes, den die Landstände 1796 angesichts der Bedrohung durch die napoleonischen Truppen geschlossen hatten, wurde Max Weiler mit der Umsetzung des Herz-JesuZyklus in der Theresienkirche auf der Hungerburg in Innsbruck beauftragt. In den Jahren 1946 und 1947 ausgeführt, lösten Weilers Fresken damals einen so großen Skandal aus, dass der Künstler gezwungen wurde, drei der insgesamt vier Wandbilder zu verhüllen, um einer vom Vatikan verordneten Entfernung zuvorzu-
kommen. Dieser Konflikt mit den geistlichen und weltlichen Vertretern der Kirchengemeinde – sowie der von ihr mobilisierten Öffentlichkeit – entzündete sich am „Lanzenstich“. Max Weiler transportierte die Kreuzigungsszene in die Tiroler Bergwelt der Gegenwart mit bekannten Tiroler Bürgern, Bauern und Schützen in ihren traditionellen Trachten. Der tödliche Lanzenstich wird von einem jungen Bauern ausgeführt, während ein Tiroler Schützenhauptmann die Szene billigend aus nächster Nähe beobachtet und gelangweilte Bürger sich von der Hinrichtung abwenden. Das wollten weder der Klerus noch der Kirchenrat noch die Pfarrgemeinde hinnehmen. So viel Heimatfilm ging allen zu weit. Die Bauernzeitung veröffentlichte eine Protestnote und Weiler wurde schließlich von einem Landwirt wegen „Übertretung gegen die Sicherheit der Ehre des gesamten Tiroler Bauern- und Landarbeiterstandes“, wegen „Vergehen der religiösen und standesmäßigen Aufreizung“ und schließlich wegen „Verbrechen der Religionsstörung“ angezeigt und verklagt. Im Oktober 1948 forderten zwei Vertreter des Bauernbundes den Bischof auf, Max Weiler zu beauftragen, den Bauern zu entfernen und durch einen römischen Soldaten zu ersetzen. Der Künstler weigerte sich, dieser Forderung nachzukommen. Am 14. Juni 1950 verhängte Weiler als vereinbarte Kompromisslösung die beanstandeten Fresken. Seit 1959 ist der vollständige Zyklus wieder zu sehen. Die Affäre hat Max Weiler aber keinesfalls geschadet, bis zu seinem Tod im Jahre 2001 gestaltete er unzählige Wandmalereien, Mosaikarbeiten und Glasfenster für öffentliche Einrichtungen.
Sinn im Sinnlosen Ein entscheidender Moment bei der Entnazifizierung, Resozialisierung und Kulturalisierung der Tiroler Bevölkerung nach dem geistigen Vakuum der Nationalsozialisten war das Institut français in Innsbruck. Die französisch-tirolerischen Beziehungen waren nicht erst seit dem Tiroler Volksaufstand etwas angespannt. Am 8. Juli 1946 wurde das Institut mit der Ausstellung „Chefs d’oeuvre du Museé d’art Moderne de Paris“ eröffnet. Neben dem Ziel einer geistigen Öffnung der Österreicher war die Aufgabe dieser Einrichtung ein umfangreiches kulturelles Programm in Form von Sprachunterricht, Konzerten, Lesungen, Theateraufführungen und Literaturabenden. Eine Sensation war die durch das Institut français vermittelte Ausstellung „École de Paris“ im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum im Januar 1960. Gezeigt wurden 62 Originalarbeiten von Pablo Picasso, Marc Chagall, Fernand Léger, Joan Miró, Max Ernst und anderen in den sechs Sälen des Neubaus. Nie war in einer so konzentrierten Dichte die Entwicklung der Malerei im 20. Jahrhundert von der frühen Abstraktion bis zur ungegenständlich-automatischen Malerei über konstruktivistische Tendenzen hin zur jüngsten Entwicklung in Tirol zu sehen. Durch die Aufteilung in sechs Räumen konnte die westliche Malereigeschichte in Entwicklungs- und Stilstufen erzählt werden und die Einzelwerke hatten genügend Platz, ihre Wirkung zu entfalten. Wie jede Institution, hängt ihre Qualität von jener Person ab, die ihr vorangeht. Ich möchte Pierre Würms hervorheben, der von 1961 bis 1965 das Institut français leitete. Sein Abschiedsgeschenk für Innsbruck war die Matinee „Französische Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart“ in den Kammerspielen. Für Würms war die kulturelle Praxis an die Gegenwart gebunden und somit Künderin einer neuen Welt. Für ihn ist die Kunst wie die Wissenschaft ein Weg zur Erforschung des Seins. Sie ist immer Ausdruck des Absoluten, das den Menschen zu entgleiten droht. Selbst in der Verklärung des Sinnlosen will sie noch Sinn hineintragen. Künstlerische Praxis ist eine Form des Seins, eine Art, die Dinge zu betrachten. Jeglicher künstlerische Ausdruck spiegelt den Kampfplatz im Menschen. Da die künstlerische Wirklichkeit eine andere ist als die, die wir vor Augen haben, verlieren auch deren logische Gesetze ihre Gültigkeit. Die künstlerische Praxis kennt
keine Kontrolle durch die Vernunft. Und das ist bis heute so. Merci, Monsieur Würms.
Hingabe zum Dargestellten Kaum in Innsbruck angekommen, verliebte ich mich in die Arbeiten von Gerhild Diesner. Ihre Porträts, Stillleben und Landschaftsdarstellungen sind auf ihre Grundformen reduziert, kein nebensächliches Beiwerk stört Diesners Entschiedenheit, ihre künstlerische Intensität, die nur die Deutlichkeit des Daseins verklären würde. In ihren Arbeiten gibt es keine Schatten, keine Andeutung, die etwas zukünftig Böses vermuten lässt. Als die meisten Zeitgenossen abstrakt malten, blieb Diesner gegenständlich, eine Anomalie, die mit weiblicher Naivität abschätzig kritisiert wurde. Ich denke, sie war erfüllt von großer Lebensfreude, von Schönheit, einer Stimmung, welche allen unruhigen und streitbaren Menschen eigen ist. Fragmentarisch und ausschnitthaft hält die Künstlerin die Welt und die scheinbaren Nichtigkeiten des Alltags fest und erweist sich auf jeder noch so kleinen Leinwand als große Erzählerin. Diesners Arbeiten jubeln dem Betrachter zu. Sie glänzen mit ihrem Optimismus und ihrer humanistischen Auffassung. Sie schafft es, mit ihren drei Lieblingsfarben Orange, Blau und Gelb das Dargestellte zur Kunst zu verdichten. Es ist ein Irrglaube der Kunstbetrachtung, dass das Leiden, das Hässliche, der Tod, das, was Diesners Werken so fremd ist, immer noch für die substanziellere Kunst gehalten wird. Im Werk von Gerhild Diesner dreht sich alles um die Begeisterung: um das intensive Hinsehen, um das leidenschaftliche Erzählen, um die Hingabe zum Dargestellten und die Neugier für das Leben selbst. Ihre Arbeiten sind wie gute Freunde, unbeschwerte Gesellen, die einem das Gefühl vermitteln, was es heißt, in der Welt zu sein, sie wahrzunehmen und sie zu lieben. Ihre Arbeiten atmen „angehaltenes Leben“ und erweitern unseren Blick auf ein größeres Bild von dieser Welt. Zu schade, dass ich diese fantastische Künstlerin nicht mehr kennenlernen durfte. Jenseits des Gewöhnlichen Streift man aufmerksam durchs Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, kann man zwei Verwirrung stiftende Arbeiten eines Künstlers namens August Pezzey entdecken. Bei Betrachtung des Labels stellt man fest, dass jener nur 29 Jahre alt wurde, und im Gegensatz zu den meisten Künstlern auf derselben Wand, die künstlerisch noch im 19. Jahrhundert weilten, lieferte Pezzey großartige Vorlagen für eine Monty-Python-Rezeption. Es scheint, als würde der Künstler zu den Mächten des Unbewussten und des Es in einem freieren und kunstreiferen Verhältnis stehen, als es den meisten von uns vergönnt ist, dem in neurotischer Angst und dazugehörigem Hass sich mühenden Menschentum, um Thomas Mann zu paraphrasieren. Pezzey hat eine Disposition des Sehens und Übertragens, die jenseits des Gewöhnlichen liegt und die wir nicht sehen und benennen können. Es geht um die Schwächen und den Übermut der Menschen, um Unzulänglichkeit und gelähmtes Dasein, aber oft auch um kleine Momente der Bewegung und des Glücks. Melancholie und Sehnsucht bestimmen vieler seine Bilder, die er aber durch seinen Humor zu brechen weiß. Und genau das ist die Aufgabe eines Malers. Pezzey war übrigens das einzige Opfer bei den Innsbrucker Unruhen 1904 zwischen deutschen und italienischen Studenten. Er wurde hinterrücks mit dem aufgepflanzten Bajonett des Kaiserjägers Luigi Menotti erstochen. Am 6. November wurde der Künstler auf dem Westfriedhof beigesetzt. Er erhielt ein Ehrengrab der Stadt Innsbruck und unter den 30.000 Trauergästen, die August Pezzey die letzte Ehre erwiesen, war auch sein Hund namens Satan.
Tiroler-Sein als Delikt 1989 bezeichnete Gustav Peichl anlässlich der Überreichung des Tiroler Landespreises für Kunst an Josef Lackner den Preisträger als den „Architekturstützpunkt in Tirol“. Lackner war ein begnadeter Baukünstler, der mit dem Gymnasium Ursulinenschule Innsbruck ein architektonisches Denkmal schenkte; berühmt auch
sein Grottenbad für den Zeichner Paul Flora auf der Hungerburg, welches vom neuen Besitzer mittlerweile zerstört wurde, ohne dass sich öffentlicher Protest regte, wenn man von einem Foto im Schaufenster des aut. architektur und tirol absieht. Mein Lieblingsprojekt von Lackner ist sein Vorschlag, die Innsbrucker Altstadt in Bronze zu gießen oder zerfallen zu lassen, da „wir ohnehin nur ein rein ästhetisches Verhältnis zu diesem Teil der Stadt haben“. Er begründet seine Empfehlung damit, dass wir diesen Lebensraum nicht nach unseren Bedürfnissen adaptieren können, sondern ihn wie einen Grabstein verehren. Diese ausschließlich ästhetische Beziehung zu einem Quartier hat keine Lebensqualität, sondern ist ein Denkmal-Dilemma. „Josef Lackner ist Tiroler. Tiroler zu sein ist allein schon ein Delikt“, so Peichl weiter in der eingangs erwähnten Laudatio. Ein Denker nach meinem Geschmack.
Oase der Unangepasstheit Erinnern möchte ich auch an eine Kulturinitiative, die von 1985 bis 2000 das Zentrum für alternative Kultur in Innsbruck war: das Utopia. Legendär ihr Berg-Isel-Festival an Pfingsten 1987. Ihr wohl orchestriertes Line-up um Miles Davis, Udo Lindenberg, Ina Deter, John McLaughlin & Paco de Lucia, Lucio Dalla, Tintenfisch u.v.a. sollte alle Besucherrekorde für eine Musikveranstaltung in Innsbruck pulverisieren. Man rechnete für das dreitägige Festival mit 20.000 Besuchern pro Tag. Es kam, wie es kommen musste. Das Festival fiel buchstäblich ins Wasser, Regen und Kälte, Absagen, schlechte Presse und kaum Besucher stürzten die Veranstalter fast in den finanziellen Ruin. Sie machten trotzdem weiter! Mit Konzerten von Musikern, die damals noch unbekannt waren und später zu Weltstars wurden wie zum Beispiel Adam Green. Oder mit legendären Konzerten von The Cure, Pete Doherty, Mother’s Finest beim „Innsbrucker Sommer“ auf dem Fenner-Areal, um nur einige zu nennen. Das kulturelle Angebot reichte von der ersten Gaydisco bis zu Projekten wie die „Kunststraße“ und weiteren Veranstaltungsreihen. Es ist ein Jammer, dass diese Oase der Unangepasstheit nicht mehr existiert.
Gefälschte Meister Lange vor Wolfgang Beltracchi hatte Innsbruck einen Kunstfälscher-Skandal. Mittendrin statt nur dabei, jenes Museum, an dem ich arbeiten darf, das Ferdinandeum. Im Juni 1997 beschlagnahmte die Polizei rund 260 Kunstwerke bei einem Innsbrucker Ehepaar. Bilder unbekannter Maler wurden mit gefälschten Signaturen von Kokoschka, Matisse, Picasso, Degas, Cézanne, Egger-Lienz nobilitiert und als Fälschung verkauft. Auch das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum hatte 1996 vom „Sammlerehepaar“ Mudrovcic einen vermeintlichen Theodor von Hörmann für 300.000 Schilling gekauft. Da sich die „Hörmann-Expertin“ Magdalena Hörmann in einer tendenziösen Rede für die Echtheit des vermeintlichen Hörmann-Frühwerks „Kanal in Samois“ verbürgt hatte, kam der Ankauf zustande, trotz massiver Vorbehalte einiger Mitglieder des musealen Kunstausschusses. Erst der Besuch des Kunstsammlers Rudolf Leopold im Ferdinandeum und dessen Zweifel an der Echtheit der Arbeit veranlassten Museumsdirektor Gert Ammann, eine Untersuchung des Bildes beim Schweizer Institut für Kunstwissenschaft in Zürich in Auftrag zu geben. Die technologische Untersuchung ergab, dass es sich bei der eingelieferten Arbeit um eine Fälschung handelt. Die Farbe, mit der das Bild signiert und datiert wurde, wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt, das Bild ist aber mit 1889 datiert. Die Infrarotreflektografie ergab außerdem, dass sich unter der Übermalung die ursprüngliche Signatur „A. Jacob“ befindet. Das Museum legte rechtliche Schritte gegen die Verkäufer ein, das Bild wurde restituiert, der Kaufpreis gestundet zurückbezahlt. Zu den Opfern des Ehepaars zählten auch die Kärntner Landesgalerie und der Alpenverein.
Große Kunst im Dorf In meiner Aufzählung darf natürlich ein Tiroler Berg-
dorf nicht fehlen: Alpbach. Diese Hauptstadt der Geranien-bestückten Blumenkästen avancierte 1948 zum Zentrum der geistigen und wissenschaftlichen Begegnungen im Rahmen des Österreichischen Forums. Jede der alljährlichen Hochschulwochen wurde von einer Kunstausstellung begleitet, die retrospektiv einzigartig sind und das Bergdorf in den Fokus der internationalen Kunstrezeption katapultierten. Alpbach schrieb mit seinem Internationalen Kunstforum ein Kapitel Kunstgeschichte der Gegenwart. Eröffnet wurde das Forum 1948 mit einer Ausstellung von Fritz Wotruba. Im folgenden Jahr bildete die „Brücke“-Ausstellung mit Arbeiten von Ernst Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Otto Müller, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff den Übergang in die Internationalität. 1950 stand eine Gegenüberstellung von österreichischen und französischen Positionen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg im Mittelpunkt. Mit dabei waren Oskar Kokoschka, Pablo Picasso, George Braque, Fernand Léger, Henri Matisse. Die Ausstellung im Jahre 1954 entwickelte sich zu einer Weltausstellung des Phantastischen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. In den folgenden Jahren gab es immer wieder Ausstellungen mit einem nationalen Schwerpunkt. So wurden junge und zeitgenössische Positionen aus Frankreich (1955), Deutschland (1956), Österreich (1957), Polen (1958), den Niederlanden (1959), England (1960) gezeigt. Die Leistung des Forum Alpbach kann nicht hoch genug bewertet werden, vor allem, wenn man sich vor Augen führt, dass es bis Ende der 1950er Jahre kein österreichisches Museum gab, welches seine Aufmerksamkeit einer zeitgenössischen künstlerischen Praxis widmete, geschweige denn eine Kunstzeitschrift selbigen Formats.
Außerdem gab es in Innsbruck die Galerie Krinzinger, bevor sie nach Wien zog, und gibt es die Galerien Elisabeth und Klaus Thoman, Johann Widauer sowie Bernd Kugler, die als internationale Impulsgeber ganz Tirol mit geistiger Nahrung versorgen. Herbert Fuchs initiierte 1990 und 1995 das Symposium „3 Tage Umhausen“, eine Begegnung zwischen zeitgenössischer Kunst und experimenteller Literatur. Viele der dort Präsentierten – wie Wolfgang Bauer, Cosima von Bonin, Rüdiger Carl, Peter Fischli / David Weiss, Georg Herold, Martin Kippenberger, Otto Kobalek, Peter Kogler, Michael Krebber, Thomas H. Macho, Helmut Middendorf, Oswald Oberhuber, Richard Prince, Tobias Rehberger, Tim Rollins & K.O.S., Andreas Schulze, Rosemarie Trockel, Franz West, Heimo Zobernig – sind Kunstgeschichte und Teil des internationalen Diskurses. Ich muss Stefan Bidner und seine Zeit als Leiter des Kunstraum Innsbruck erwähnen. Nicht zu vergessen Thomas Feuerstein und den Verein medien.kunst.tirol., der erfolgreich von Max Thoman weitergeführt wird. Ich sollte ausführlich über Oswald Oberhuber und Peter Weiermair und ihre kontroversen Ausstellungen im Taxis-Palais berichten. Nicht zu vergessen die Exzesse im KOMM, Bierstindl, Bogen 13, Hafen, MK, Z6 und Prometheus. Das Schwazer Avantgarde-Forum Studio 12 und sein Beat-Abend mit Allen Ginsberg müsste eingehender beschrieben werden und ebenso das ./studio3 der Architekturfakultät, gegründet von Volker Giencke, das bis heute situationistisch im öffentlichen Raum agiert. Die Neujahrsproklamation der Galerie Junge Generation aus Innsbruck ist jederzeit eine Veröffentlichung wert. Die Galerie in der Schule Vomperbach hat eine ausführliche Einordnung verdient, die Jugendkulturwochen ohnehin und die Transformation des Flüchtlingszentrums zum Zentrum 107 in St. Nikolaus sowieso. Darüber hinaus gab es noch den Sängerkrieg DADA im Schloss Starkenberg bei Tarrenz. Max Ernst und seine Frau Luise StrausErnst, Tristan Tzara mit seiner Freundin Maya Chrusecz, André Breton sowie Hans Jean Arp verbrachten die Sommermonate in Tirol und produzierten die achte und letzte Ausgabe der DADA-Zeitung. Dies alles gab es also – und noch viel mehr.
So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer
Jause mit Gespräch. Folge 21: die in Berlin lebende britische Komponistin Rebecca Saunders, die 2019 den
Ernst von Siemens Musikpreis – oft auch „der Nobelpreis der Musik“ genannt – erhielt. Manos Tsangaris,
Professor für Komposition und selbst ebenfalls ein vielgefragter Komponist und Kurator, hat sie interviewt. Ein
Werkstattgespräch über das Eintauchen in die Nacht, labile Klänge, die Gefahren zu großer Aufmerksamkeit
und das Komponieren als Akt der Hoffnung – das allerdings auf Grund der Corona-Krise nicht neben der
Brenner-Autobahn, sondern via Zoom stattgefunden hat.
Manos Tsangaris: Ich wollte mit dem Beginnen beginnen. Wenn ich eine neue Idee verfolge oder ein neues Stück beginne oder Skizzen dazu mache, bereitet es mir den größten Spaß, weil alles wirklich neu und offen ist. Dagegen sind die Tage, an denen ich weiß, ich muss jetzt anfangen, die Partitur zu machen, mit die schwärzesten Tage in meinem Leben. Wie ist das bei dir?
Rebecca Saunders: Wir kennen das alle. Bis zu dem Moment, in dem ich anfange, die Partitur zu schreiben, gibt es wie bei dir einen langen Prozess der Vorbereitung – Klangpaletten festlegen, experimentieren, Austausch mit Musikern, eine Notation entwerfen; vielleicht werden daraus auch die ersten Skizzen. Und in dem Moment, in dem ich die Partitur beginne, da spüre ich oft einen enormen Widerstand und der ist total energiegeladen. Dieser Moment des Wartens interessiert mich ungeheuer. Das Warten ist eine Art „operational silence“. Und wenn ich an den Punkt komme, dass ich die Spur finde, die ich verfolgen muss, und das Komponieren beginnen kann, dann bin ich wie in die Musik hineingeschleudert. Die Stille, das Warten vor dem Komponieren ist sehr wichtig.
M.T.: Du bist ja eine Komponistin, die extrem intensiv recherchiert und mit Musikern zusammenarbeitet, bevor du ein Stück schreibst. Das Verhältnis von Induktion und Deduktion ist ja auch ein heikles. Man kann sich in Möglichkeiten verlieren. Wie schaffst du hier die Balance?
R.S.: Ja, ich arbeite sehr intensiv mit Musikern, aber das sind kleine, sehr intensive Zeitfenster. Sie sind von großer Bedeutung im kompositorischen Konzept. Wenn man wiederholt mit den gleichen Musikern arbeitet, entsteht über die Jahre ein großes Vertrauen. Das Experimentieren, das Musikmachen, der Prozess selbst steht im Vordergrund. Es ist für mich sehr befruchtend und inspirierend, dass diese jahrzehntelangen Beziehungen eigentlich immer weiter wachsen und dass ich immer mehr in bestimmte Ideen und Klangwelten eintauchen kann. Vielleicht neige ich deshalb dazu, immer wieder mit den gleichen Musikern zu arbeiten, weil das Leben so wahnsinnig kurz ist. Man kann nicht alles machen. Ich finde einen Klang, eine Geste, einen Kern und dann möchte ich da drei, vier Jahre drinbleiben. Das Filtern, den Klang oder die Geste zu identifizieren, den entscheidenden Moment zu erfassen, ist auch ein wichtiger Teil der Kompositionsarbeit, nicht wahr? Das hier ist der Klang. Warum das der Klang ist, weiß ich erstmal nicht. Tatsächlich, es gibt oft eine Reihe von Stücken, die aus nur einem Klangfragment oder
Baustein entwickelt ist. Ein solcher Klang ist zum Beispiel ein doppeltrillerndes Flageolett mit glissando auf einem Abstrich sul ponticello*. Es ist ein Klang, der unheimlich labil und fragil ist. Wenn er laut ist, ist er brutal und direkt, und wenn er leise ist, zerbrechlich und unberechenbar. Und jedes Mal, wenn er gespielt wird, klingt er anders. Der gleiche Spieler, der gleiche Raum, die gleiche Akustik, das gleiche Gewicht der Hände – es wird immer anders klingen.
M.T.: Also je präziser du versuchst, dich dem Klang zu nähern, auch zu notieren – desto mehr entzieht sich dieser Klang gleichzeitig – darin liegt die Dialektik. Du versuchst so genau und letztlich auch so liebevoll wie möglich damit zu arbeiten und dich dem Phänomen anzunähern, und im selben Moment lässt es sich nicht wirklich beherrschen.
R.S.: Das ist genau richtig. Und ja, eine Art Liebe ist dabei; Achtsamkeit, Fokussiertheit – das sind wichtige Begriffe. Mir geht es darum, einem Klang auf Augenhöhe zu begegnen; dass man in dem Moment umfassend nur ein Ding betrachtet, sich auf das Ding einlässt und es mit absoluter Aufmerksamkeit betrachtet. Eine Notation zu entwerfen, die wirklich sofort verständlich ist, trotz all ihrer Komplexität, und – wichtig für mich persönlich – als kreatives Kompositionsmittel auch weiter fortsetzbar ist. Das Komponieren ist nicht nur hier (zeigt auf die Stirn) und in dem, was wir hören. Das Abstrahieren ist auch wichtig.
M.T.: Das bedeutet de facto, sehr nah an Phänomene und ihre Repräsentationen heranzugehen. Aber dann ist ja das Interessante immer wieder, von diesem Bild oder Phänomen weit wegzugehen, um es als Ganzes oder wenigstens diesen Teil als Ganzes betrachten zu können. Das meinte ich vielleicht mit Induktion und Deduktion …
R.S.: Ich verstehe jetzt, was du meinst. Natürlich ist es notwendig, immer wieder Abstand zu schaffen und rauszuzoomen. Es ist selbstverständlich auch beides gleichzeitig möglich, du kannst auch in dem innersten Klangdetail schreiben, dabei völlig in der Musik verlorengehen und trotzdem gleichzeitig das Ganze im Blick behalten. Aber es gibt unterschiedliche Mittel, die dazu dienen, nicht nur Abstand, sondern auch andere Perspektiven zu gewinnen, um das gerade entstehende Stück wirklich umfassend zu verstehen. Ganz banal zum Beispiel das ganze Stück an die Wand zu kleben, sodass man eine grafische Übersicht hat. Oder die Komposition mit dem Metronom mehrmals durchzuhören. Das kann anstrengend sein, tut fast weh, aber es entsteht für einen Moment eine andere Perspektive. Ich habe früher oft auch einzelne Gesten eines Werks auf einzelne Blätter geschrieben. Die Blätter habe ich aber nicht nummeriert und sie nach grafischen Darstellungen an die Wand geklebt. Dadurch konnte ich das Material ganz unterschiedlich betrachten. Das gab mir die Möglichkeit, die verschiedenen Facetten der Gesten oder des Materials besser zu verstehen und den Zusammenhang dieser Gesten anders wahrzunehmen. Denn natürlich – wie du genauso weißt –, der Kontext ist alles. Wie der Klang oder die Geste klingt, was für eine Musik das tatsächlich wird, ist abhängig davon, was vorher und nachher kommt, wie es gerahmt wird. Mit der Reihenfolge zu spielen schafft neue Perspektiven des Klangmaterials und Kompositionsprozesses.
* Anmerkungen: Triller – Verzierung in der Musik; schneller Wechsel des notierten Haupttons mit dem darüber liegende Nebenton (Halbtonschritt oder Ganztonschritt) über die Dauer der Hauptnote hinweg Doppeltriller – Triller auf zwei Tönen desselben Akkords Flageolett – ein meist auf einem Streich- oder Saiteninstrument erzeugter Ton bzw. Oberton, der durch die Anregung einer Oberschwingung als Teilschwingung der Saite entsteht glissando – kontinuierliche (gleitende) Veränderung der Tonhöhe beim Verbinden zweier Töne Abstrich – Streichen des Bogens in der Richtung vom Frosch zur Spitze sul ponticello – Spielanweisung für Streichinstrumente, bei welcher der Bogen möglichst nahe am Steg geführt werden soll
M.T.: Der Philosoph Odo Marquard wurde einmal von Journalisten gefragt, was er am nächsten Tag tun würde, wenn er wüsste, dass er übermorgen sterben müsste? Und er sagte, er würde dann am liebsten schlafen. Er war fast schon berühmt dafür, dass er, um zu arbeiten, unheimlich viel schlief. (Was bei mir übrigens ganz ähnlich ist.) Das Gegenteil wäre die Schauspielerin Corinna Harfouch, die sagt, um arbeiten zu können, müsse sie in den luziden Zustand des Schlafentzugs kommen. Es stellt sich also die Frage, wie man mit sich selbst als Instrument umgeht, als Wesen, hinsichtlich der Möglichkeit zu arbeiten.
R.S.: Ich glaube, dass mein Arbeitsrhythmus, mein Schlafrhythmus, meine Beziehung zu meiner Arbeit anders ist als bei dir. Für mich hat es etwas mit Abwechslung zu tun. Abwechslung zwischen dem Komponieren, für mich ganz allein, und der Familie – also ein Teil von einem sozialen Gefüge zu sein. Das ist eigentlich eine Dynamik, ein Gleichgewicht, das wahnsinnig gut funktioniert. Ich kann, wenn ich Zeit habe, überall und immer komponieren. Aber das kommt zum Teil daher, dass ich oft wenig Zeit zum Komponieren habe. Ich habe nicht diesen Luxus des Leidens oder des Wartens oder des Rumschwirrens. Ich setze mich hin und arbeite, weil ich jetzt fünf Stunden für mich habe. Sonst würde ich nie komponieren. Insofern habe ich durch die Familie eine wahnsinnige Arbeitsdisziplin erlernt.
M.T.: Du arbeitest am liebsten nachts?
R.S.: Ja, aber als meine Kinder klein waren, wäre das niemals möglich gewesen. Da war es ganz anders. Inzwischen bin ich aber zu meiner alten Gewohnheit zurückgekehrt, nachts zu arbeiten. Ich liebe es, wenn die Welt stillsteht. Ich mag es, in die Nacht einzutauchen. Keine E-Mails, keine Ablenkungen. Ich mag die Dunkelheit.
M.T.: Der Ausgleich zum Komponieren, den wir, glaube ich, alle irgendwie brauchen, der ist bei dir also vor allem sozial determiniert durch Familie, Familienleben, auch Verantwortung. Und da komme ich auf ein Stichwort zurück, über das wir schon gesprochen haben: Auch hier sehe ich eine Form des Widerstands. Wenn du jetzt 27 Stunden am Tag Zeit hättest und dich nur mit der Innenschau und Nabelschau beschäftigen würdest, dann wäre ein ganz anderer Stoffwechsel im Gange, als wenn du weißt, du hast nur so und so viel Zeit. Da wird die Zeit sehr kostbar, die man hat, um dann noch die solitäre Arbeit zu tun.
R.S.: Ich glaube, das sind zwei ganz wichtige Begriffe. Das ist natürlich Widerstand im besten und positiven Sinne. Und Kostbarkeit. Es ist doch ein Luxus, morgens aufzustehen und erstens diese Begeisterung zu empfinden, dass ich wieder Kaffee trinken kann, und dann zweitens zu denken: Scheiße, ich kann jetzt komponieren, schon wieder. Ich meine, was für ein Geschenk ist so ein Leben! Es macht mich glücklich, dass ich komponieren kann. Und es ist kostbar.
M.T.: Das hört man deiner Musik auch an. Man hört diese Freude, die du gerade beschrieben hast.
R.S.: Ich mag diese absolute Fokussiertheit. Sagt man das so, Fokussiertheit? Fokussiert zu sein, in dem Moment sich zu verlieren, diese absolute Aufmerksamkeit aufzubringen, in dem Klang drin zu sein. Ich habe manchmal einen brennenden Hunger auf das Komponieren.
M.T.: Gab es einen markanten Impuls für deine Entscheidung, das Leben dem Komponieren zu widmen? Oder war es eher ein schleichender Prozess, also etwas, was sich sukzessive ausgeformt hat?
R.S.: Es war keine Entscheidung, es ging schleichend und ziemlich unbewusst. Als ich noch ganz jung war, wusste ich überhaupt nicht, was ich machen sollte. Überlegt war das alles nicht. Ich wählte Komposition als mein Hauptfach, als ich mein Bachelor-Studium
in Edinburgh machte. Als ich fertig war, bekam ich ein Stipendium, um ein Jahr im Ausland zu studieren. Ich hatte vom Goethe-Institut Musik von Wolfgang Rihm auf Kassette bekommen. Die habe ich angehört und gesagt: Wo ist der? Karlsruhe. Wo ist Karlsruhe? Deutschland. Wo ist Deutschland? Okay, rechts von Frankreich; da fahr ich hin. Es war fast instinktiv. Ich hatte sehr großes Glück. Als ich ankam, habe ich gesagt, ich gebe mir ein Jahr. Und wenn ich merke, das wird nichts, fahre ich wieder nach Hause.
M.T.: Das klingt so, als sei dann doch diese Zeit bei Wolfgang Rihm in Karlsruhe eine entscheidende Schwelle gewesen.
R.S.: Absolut. Ja, das war für mich eine entscheidende Chance. Ich habe meine Geige weggepackt und von einem Tag auf den anderen aufgehört, aufführende Musikerin zu sein. Ich glaube, es ist wahnsinnig wichtig, sich in eine andere Kultur zu begeben, mit einem leeren Blatt nochmal anzufangen. Bloßgestellt, fast nackt. Man betrachtet die Welt und auch sich selber aus einer völlig neuen Perspektive. Ich stelle mir manchmal vor, dass wir wie eine Art Prisma sind. Es gibt abhängig von unserer Geschichte, den Einflüssen, den Chancen, der Erziehung, den Gesellschaften, in denen wir gelebt haben, nur beschränkte und bestimmte Facetten unserer Persönlichkeit, die sich entwickeln können. Sobald du als junger Mensch außerhalb der eigenen Kultur alles infrage stellen kannst, ist es eine große Chance.
M.T.: Da möchte ich mir erlauben, in dem Zusammenhang eine Passage aus Paul Celans Büchner-Preis-Rede aus dem Jahr 1960 zu zitieren: „Die Kunst erweitern? Nein. Sondern gehe mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.“
R.S.: Finde ich super. Ich stimme überein.
M.T.: Ich habe das Zitat ausgesucht, weil ich das Gefühl habe, es korrespondiert mit dir und deiner Arbeit, mit dem, wie ich dich wahrnehme, jedenfalls. Du hast die Geige weggepackt, du hast ein neues Leben begonnen. Und irgendwann kommt dann dieser Moment, in dem man sich sagt: Wenn ich das schon tue, dann versuche ich auch wirklich absolut mein Bestes. Der Versuch, die Praxis und die Notwendigkeit, mit der Kunst in die allereigenste Enge zu gehen – und „setze dich frei“. Das ist das Gegenteil von dieser äußerlichen Vorstellung von Innovation, wie sie uns zum Teil auch oktroyiert wird. Die Vorstellung, du wärest jetzt als Komponist damit beschäftigt, nochmal was Neues zu erfinden.
R.S.: Es geht weniger darum, etwas Neues zu erfinden. Wir erfinden ja keine neuen Klänge. Es ist alles bereits da. Wir rahmen, klammern das bereits Existierende aus, ermöglichen, etwas auf eine andere Art und Weise wahrzunehmen. Mir ist oft erst bewusst, wonach ich suche, wenn ich etwas Abstand habe und denke: Womit bin ich gerade beschäftigt? Welche Künstler begeistern mich? Was ist es in ihrer Kunst, das mich so fasziniert …
M.T.: Kannst du ein Beispiel nennen?
R.S.: Das erste Mal, als ich die Musik von Galina Ustwolskaja gehört habe, war so eine Situation. Das war für mich ein Schlüsselmoment. Es war 1992, als Wolfgang Rihm eine neu erschienene CD vorstellte. Ich habe das Duett für Violine und Klavier das allererste Mal gehört und es hat mich so umgehauen! Es hatte etwas mit dieser skelettartigen Struktur, dieser vollkommenen Reduziertheit zu tun; dass nur das absolut Notwendigste sichtbar und hörbar gemacht wird, dass die Struktur vibriert, so wie man es auch bei Bach erleben kann. Ich fand diesen Mangel an Überflüssigem so direkt und mutig. Ich hatte bis zu diesem Moment noch nie ein Werk gehört, das so über sich hinausgegangen wäre. Es fehlt oft – glaube ich – diese Unmittelbarkeit in der Kunst. Diese Musik hat mich geschlagen in ihrer physischen Direktheit und auch mit
ihrer geistigen Klarheit. Es hat mir sehr imponiert. Als das Stück allerdings zu Ende ging, dachte ich: Scheiße, ist schon gemacht worden! Es hat mir aber auch Mut gemacht und mich bestätigt: Auf diesem Weg muss ich gehen, ein Komponist muss eigentlich so sein.
M.T.: Mein Lehrer Mauricio Kagel hat mir gegenüber mindestens zwei-, dreimal gesagt: „Wissen Sie, die anderen haben alle Krisen in ihrem Leben. Ich hatte nie eine Krise, ich hab’ immer weitergeschrieben.“ – Das war mir schon damals, ehrlich gesagt, ein bisschen suspekt. Das Wort Krise selber geht ja auf „krínein“ zurück, im Griechischen heißt das: unterscheiden, sondieren. Ich meine, was wir tun, hängt sehr mit dem Unterscheiden zusammen, der Werdegang eines Komponisten hängt stark damit zusammen: zu unterscheiden und auch sich zu entscheiden. Deshalb die Frage an dich: Wie ist dein Verhältnis zur – nehmen wir mal dieses Wort – „Krise“? Wie klingt das für dich?
R.S.: Das hat für mich wenig mit dem Komponieren zu tun. Das Komponieren ist ein lebensbejahender Akt, es ist das Tun, das Erschaffen. Egal ob du scheiterst, egal was du da riskierst – es ist das Machen, das wichtig ist. Es ist ein Akt der Hoffnung. Und dass wir in dieser Zeit trotz aller Widrigkeiten komponieren, das ist immer wieder ein erneuter Versuch, Hoffnung zu bewahren – und das ist wahnsinnig wichtig. Jeder hat seine Krisen, jeder hat immer wieder diese Momente des Umbruchs im Leben. Das Leben ist bekanntlich fragil und äußerst unberechenbar. In einem Augenblick kann es dich umschmeißen. Das passiert jedem irgendwann. Als Komponist erlebst du das auch. Du musst neu anfangen, bist aufgefordert anders zu denken, dich infrage zu stellen, ganz andere Schaffensräume aufzureißen. Es gab für mich Momente, in denen mir bewusst war, dass ich ein Stück schreiben muss, um durch die Wand zu hauen, und dass es höchstwahrscheinlich nicht gelingen kann; aber dass es notwendig war, das zu schreiben, um mich in einen anderen Raum zu begeben, um mich mit einer anderen Ästhetik oder Form, einem anderen Klang auseinanderzusetzen, ja, um weiterzukommen. Das ist vielleicht meine Art, wie ich eine Krise umsetze. Vielleicht ist das eine Art. Ich habe immer weiter geschrieben, geschrieben und geschrieben und geschrieben. Es ist sehr unangenehm, wenn man nicht arbeiten kann, aber es ist wahrscheinlich auch wichtig, das zuzulassen.
M.T.: Du zählst – das kann man ja ruhig in diesem Rahmen sagen – zu den international erfolgreichsten Komponisten der Gegenwart. Kann Erfolg einen auch … ich will nicht sagen: in eine Krise stürzen … aber kann das auch zum Dämon werden, Prize Winner zu sein?
R.S.: Wenn man viel Aufmerksamkeit bekommt, ist es ein Problem. Es ist gefährlich und unangenehm, sich von außen zu betrachten. Es hat nichts mit der Arbeit, mit Kunst zu tun. Ich habe wirklich immer wenig nach links und nach rechts geguckt. Das hat etwas mit meiner Lebenssituation zu tun, ich hab immer einfach gearbeitet und versucht, wenig darüber nachzudenken, was über mich gesagt wird, was andere über mich denken, und einfach mit Beharrlichkeit das gemacht, was ich machen will. Und ich habe versucht, das so gut zu machen, wie ich kann. Das machen wir irgendwie alle, oder? Man darf sich nie in die Situation begeben, dass man sich zu ernst nimmt, dass die eigene Stimme zu laut und wichtig wird. Es ist nicht das, worum es geht. Man muss super bescheiden bleiben, das ist notwendig für unsere Arbeit, man muss einfach aufstehen und sagen: Ach, großartig, Kaffee, und mit dem Komponieren loslegen.
M.T.: Was bedeutet Wiederholung für dich? Das ist jetzt der Moment, wo ich das fragen muss.
R.S.: Sehr viel. Ich würde das so unterteilen: Meine Pianissimo-Musik – das sind hauptsächlich statische, mobile-artige, räumliche Werke, wo die Einzelmusiker in einem geteilten akustischen Raum in eine Art Dialog
miteinander treten –, diese Musik hat sehr viel mit Wiederholung zu tun. Immer wieder gleiche oder ähnliche Fragmente werden in immer neuen Konstellationen und Überlagerungen wiederholt. Diese kleinen Wiederholungen bilden in verschiedenen Kombinationen eine Gesamtform, es entsteht nach und nach eine Art klingende Skulptur. Aber auch in meinen anderen Werken ist Repetition wahnsinnig wichtig, weil ein Stück oft auf einem einzigen Klangfragment beruht. Organisch, aus der Vielfalt oder aus dem Potenzial dieses Kernklangs, entwickelt sich ein ganzes Werk. Das Ausloten dieses einen Klanges oder der einen Geste ist eigentlich auch eine Art Fragestellung. Es wird wiederholt, immer wieder. Der Klang wird in unterschiedlichen Rahmen, in unterschiedlichen Kontexten verändert und mutiert so weit, dass die neue, mutierte Form eigentlich kaum noch als ursprüngliches Material erkennbar ist, aber organisch immer noch eng damit verbunden ist. Wenn man mein Violinkonzert „Still“ hört – das ist eigentlich Wiederholung pur. Das ist fortlaufend, beharrlich, erschöpfend, immer weiter, immer weiter das Gleiche, das Gleiche, das Gleiche – aber jedes Mal anders.
M.T.: Das korrespondiert doch mit dem Leben eines Komponisten – oder?
R.S.: Ja, absolut. Immer das Gleiche, aber hoffentlich immer etwas anders.
M.T.: Der Kaffee ist auch zwangsläufig immer ein bisschen anders, aber es ist eben Kaffee. Und dann die Hoffnung jeden Tag – und das Fenster, das sich öffnet … Ich bin dir sehr dankbar für das Gespräch. Aber eine letzte Frage finde ich jetzt doch noch notwendig, nämlich: Was lernen wir von den Kindern?
R.S.: Von Kindern? Die Welt als ein Wunder zu betrachten, ein Ding wie zum ersten Mal zu erleben, ihm unbeschränkte Aufmerksamkeit zu widmen. Und Kinder schenken einem einen Abstand zu sich selbst – man merkt, dass man nicht das Zentrum des Universums ist.
M.T.: Was fehlt noch?
R.S.: Ich wollte noch etwas über das sogenannte Unbenennbare sagen. Du hast diese Prize-Winner-Frage gestellt – das ist etwas unangenehm. Ich empfinde, dass das gesprochene Wort auch sehr viel kaputtmachen kann. Wir arbeiten mit dem Unbenennbaren. Und das ist so kostbar, so magisch. Musik ist tief in der heutigen Realität verankert, die sie widerspiegelt, sie entspringt ja aus dem here and now. Diese ungeheure Kraft, der Sinn und die Bedeutung, die Musik hat – sie hat die Fähigkeit, unter die Oberfläche zu gehen, sich mit etwas zu beschäftigen und etwas Raum zu geben, das kaum artikulierbar, das verborgen ist. Musik kann etwas enthüllen, es geht über das Normale hinaus und deutet etwas Fragiles und höchst Menschliches an. Und wenn man spricht, habe ich das Gefühl, dass einem diese Dimension entgeht. Mit dem geschriebenen Wort versuche ich manchmal eine Essenz zu erlangen, aber ich komme nie ans Ziel. Mit der Musik aber kommt man unmittelbar an das Ding selbst heran. Man kann zumindest ganz nah herantreten, so dass man auch durch das Schlüsselloch schauen kann.
Tacita Dean hat das Cover und die folgenden Doppelseiten für diese Ausgabe von Quart gestaltet. Hier ein Text
von Raimar Stange zu ihrer Kunst:
„Das Gemeine und das Göttlichste, beides muß im Dichter Statt finden. [Aeußerste Ungleichheit in Hamlets Charakter].“ Friedrich Schlegel 1
I.
Protagonisten aus der Welt der Kunst und Kultur spielen in Tacita Deans Arbeit immer wieder eine zentrale Rolle. Dabei handelt es sich um reale Personen ebenso wie um fiktive Figuren. In ihrem Film „Craneway Event“ (2009) zum Beispiel setzt die vor allem für ihre Filmarbeiten international bekannte Künstlerin dem legendären Tänzer und Choreographen Merce Cunningham (1919–2009) ein Denkmal. Es handelt sich übrigens um den letzten Film, in dem Merce Cunningham selbst noch mitgewirkt hat. Da Merce Cunningham sich in diesem Film selber „spielt“ und bei Proben mit seinem Tanzensemble zu sehen ist, ist seine Präsenz in dieser Arbeit eine gleichsam potenzierte, denn Authentizität und Rolle verschmelzen untrennbar ineinander. In „Berlin and the Artist“ (2012) hingegen steht der Schriftsteller Robert Walser (1878–1956) im Mittelpunkt des von Tacita Dean collagierten Geschehens. Skizzenhafte Zeichnungen des relativ unbekannten Künstlers Martin Stekker (1878–1962), die das Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Thema haben –also jene Zeit, in der Robert Walser in der Stadt war –, werden da mit alten Postkarten, die Tacita Dean auf Berliner Flohmärkten gefunden hat, auf an der Wand hängenden Tableaus in einen Dialog gebracht. Anders
1 Friedrich Schlegel, Literarische Notizen 1797–1801, ed. Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1980 Notiz 1201, S.131 als bei „Craneway Event“ also ist der eigentliche Protagonist der Arbeit, nämlich Robert Walser, hier nicht sichtlich präsent. Der in Berlin lebenden Künstlerin gelingt es also sowohl mit der Strategie der visuellen Präsenz als auch mit der Strategie der visuellen Abwesenheit über Qualitäten von realen Personen aus der Welt der Kultur künstlerisch zu reflektieren.
II.
Fiktives Personal tritt nicht zuletzt in Tacita Deans analogem Film „Antigone“ (2018) auf, in dem das gleichnamige Stück des antiken Tragödiendichters Sophokles (496 v. Chr. – 406 v. Chr.) im Zentrum steht, genauer: die Blindheit des Königs Ödipus und wie ihm seine Tochter – und Schwester – Antigone dann als Blindenführerin dient. Blindheit wird hier mit Hilfe von Doppelbelichtungen und Maskierung der Darsteller konkret in filmische Ästhetik übersetzt. Zudem setzt die Künstlerin unter anderem eine gefilmte Sonnenfinsternis, die die Natur in Dunkelheit versetzt, und collagierte Bilder, die Sophokles’ Stück interpretieren, in Szene. Da Tacita Deans ältere Schwester ebenfalls Antigone heißt, kommen zudem noch biographische Momente ins Spiel, so dass sich die eben nur scheinbaren Widersprüche von Rolle und Realität hier wieder ein Stück weit aufheben. Der Film „His Picture in Little“ (2017) spitzt dieses spannende Verhältnis von Rolle und Authentizität, von Spiel und Nichtspiel noch einmal zu. Der Titel der Arbeit ist einerseits ein Zitat aus Shakespeares Stück „Hamlet“, andererseits benennt er den Umstand, dass dieser Film von 45-mm auf 16-mm herunterkopiert
wurde und so als konkrete Miniatur fungiert. „His Picture in Little“ ist nämlich ein im Miniaturformat konzipiertes Porträt dreier Schauspieler, die bekannte Hamlet-Darsteller sind. Gezeigt wurde die Arbeit, und hier schließt sich der Kreis, dann in einem Raum der Londoner National Gallery, in dem gemalte Porträtminiaturen zu sehen sind. Gefilmt hat Tacita Dean die Schauspieler Ben Wishaw, David Warner und Stephen Dillane in einer Art und Weise, die ein wenig an Andy Warhols legendäre „Screen Tests“ (1964–66) erinnert: Die Darsteller werden abgelichtet ohne jedwede Regieanweisung, keine Handlung und kein Text wird von ihnen erwartet. So präsentieren sie sich vor laufender Kamera zwar, wenn man so will, in Posen, allerdings nicht in solchen, die ein fiktiver Rahmen ihnen in irgendeiner Weise vorschreibt. Das fiktive Moment ergibt sich also einerseits durch die Tatsache, dass ihre Präsenz in das Medium Film übersetzt wird, andererseits dadurch, dass alle hier „auftreten“, weil sie Hamlet-Darsteller von Rang sind. Stephen Dillane hat sein Spielen der Hamlet-Rolle übrigens unter anderem folgendermaßen umschrieben: „Manchmal empfindest du wie Hamlet, dass es die Freiheit, Hamlet zu sein, nicht gibt, weil die Obersten Geister der Kultur sein Schicksal im Vorhinein beschlossen haben“. (Der vollständige Text ist auf S. 47 zu lesen, Anm.) Rollenspiele, sei es auf der Bühne, sei es im „richtigen Leben“, sind halt kulturell determiniert und haben daher nicht zuletzt auch eine geschichtliche Dimension. Und dies gilt gerade für einen Charakter wie Hamlet, der – schon Friedrich Schlegel, der Kulturphilosoph der Frühromantik betonte es – sich durch ein besonderes Maß an Widersprüchlichkeit auszeichnet.
III.
Die hier in Quart erstmals gezeigte Serie „Hamlet“ von Tacita Dean stellt wiederum die Figur Hamlet vor, dieses Mal auf gedruckten historischen Schauspielerkarten, die ebenfalls Darsteller zeigen, die den Hamlet „gaben“. Im theatralischen Kostüm sind diese jetzt zu sehen, sie scheinen so auf der Bühne zu stehen. Verschiedene Posen werden dabei von den in dieser Arbeit tatsächlich schauspielenden Schauspielern vorgeführt, die vom Betrachter dann schnell mit der eigenen Vorstellung des Hamlet-Dramas in Verbindung gebracht werden. Diese Karten, eine von ihnen weist übrigens eine handschriftliche Beifügung auf, wurden von der Künstlerin in ihren Lithografien dann nachträglich bearbeitet, es wurden ihnen nämlich farbige, amorphe Formen, Farbschlieren und -kleckse beigefügt, die einerseits als fragile, ja poetische Kommentare oder Interpretationen gelesen werden können, andererseits aber auch an das Auflösen der Fotos in Folge einer chemischen Reaktion denken lassen. Dualismen sind es erneut, die hier auf den ästhetischen Masterplan treten: das Schwarzweiß der Fotos versus die von der Künstlerin beigefügte Farbigkeit; das Alter der Fotos versus die Aktualität der Bearbeitung; die Gegenständlichkeit des Fotos versus die Abstraktheit der Farbe; die Fiktionalität der Rolle Hamlet versus das Materiell-Tatsächliche der Farbe; und nicht zuletzt die Statik der still verharrenden Schauspieler versus die offensichtliche Dynamik der künstlerischen Bearbeitung. Das ästhetische Resultat dieser, wenn man so will, „Dialektiken“ sind Zeitbilder, frei nach Gilles Deleuzes Filmtheorie, in denen ein analoger Zeitverlauf inklusive der Tradition der von Stephen Dillane ins Spiel gebrachten „Obersten Geister der Kultur“ sein Recht ebenso behauptet wie eine sich einmischende und aggressiv-schöne Unterbrechung dank individueller Schöpfungsakte.