Zauberkraft der Märchen

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ISBN 978-3-941275-28-7

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Zauberkraft der Marchen

Laudatio

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Ingrid Ramm - Bonwitt

heiten und bieten ihnen damit eine wichtige Unterstützung und Orientierung für ihre Entwicklung. In unserer stark visuell bestimmten Zeit bleibt oft zu wenig Raum dafür, die Vorstellungskraft der Kinder anzuregen und zu fördern. Die Germanistin und Autorin mehrerer erfolgreicher Bücher über Yoga und Puppentheater beschreibt in diesem Buch, wie man Kindern durch das Erzählen und Visualisieren von Märchen und deren Symbolen eine leicht verfügbare Hilfe zur Bewältigung typischer Alltagssituationen vermittelt. Fantasiereisen laden ein, in die zauberhafte Welt des Orients einzutauchen, und wunderschöne Illustrationen bringen Groß und Klein zum Staunen und Träumen.

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vermitteln Kindern in fantaMärchen siereich verhüllter Form Lebensweis-

Ingrid Ramm-Bonwitt

Zauberkraft .. der Marchen

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Orientalische Marchen zum Entspannen und .. .. Traumen fur Kinder

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Zauberkraft der Marchen


Die Autorin Ingrid Ramm-Bonwitt studierte in Frankfurt am Main Germanistik und Anglistik und lebt seit 1978 in Paris, wo sie mehrere Jahre in der Erwachsenenbildung tätig war. Außerdem ist sie diplomierte YogaLehrerin. Zur ihren Veröffentlichungen gehören zahlreiche Bücher über Yoga und das Figurentheater in Europa und Asien. Ihre jahrelange Beschäftigung mit den verschiedenen Formen des Figurentheaters kommt unter anderem in einer umfangreichen Privatsammlung von Hand- und Stabpuppen, Marionetten und Schattenfiguren zum Ausdruck. Besuchen Sie die Autorin auch unter www.puppentradition.de und www.welt-des-yoga.de ..

Uber das Buch Märchen haben Generationen von Kindern und Erwachsenen in ihren Bann gezogen. Sie entstehen aus dem Wunsch, die Welt poetisierend zu verbessern. Zugleich vermitteln sie in fantasiereich verhüllter Form Lebensweisheiten und können dadurch Kindern Orientierung in ihrer Lebensentwicklung bieten, insbesondere in einer Welt, die immer komplizierter und unübersichtlicher wird. Doch in unserem Medienzeitalter sind Märchen nicht mehr selbstverständlicher Bestandteil der Kindheit. Die Autorin beschreibt nicht nur den Einfluss der Märchen auf die psychische Situation des Kindes, sondern auch die Technik der Visualisierung, die der Entspannung, der Leistungsfähigkeit und Konzentration dient. Kindern, die durch das Visualisieren von Märchensymbolen lernen, sich zu entspannen, wird dadurch eine leicht verfügbare Hilfe in problematischen Lebenssituationen des Alltags vermittelt. Das Buch enthält von der Autorin neu erzählte Märchen aus dem geheimnisvollen Schatz des Orients. Dort wusste man schon sehr früh um den segensreichen Einfluss der Märchen. Sie dienten nicht nur der Unterhaltung, sondern waren gleichzeitig Medien einer Volkstherapie. Verbunden mit den Grundübungen der Entspannung öffnet die zauberhafte orientalische Märchenwelt das Tor zur Fantasie, zum bildhaften Denken, zum Staunen und Wundern. Eine Vielzahl wunderschöner Zeichnungen aus der Welt des Orients illustriert das Buch.


Ingrid Ramm-Bonwitt

Zauberkraft .. der Marchen ..

Orientalische Marchen zum Entspannen .. .. und Traumen fur Kinder

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Ohne Poesie lässt sich nichts in der Welt wirken. Poesie aber ist Märchen. Johann Wolfgang von Goethe

Originalausgabe Copyright © 2011 Laudatio Verlag, Frankfurt am Main Lektorat, Gestaltung und Satz: Michael Zuch, Frankfurt am Main Umschlag: Michael Zuch/Laudatio Verlag, Frankfurt am Main, unter Verwendung einer Illustration von Franz Toussaint Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten www.laudatio-verlag.de ISBN 978-3-941275-28-7


Inhalt Einführung Die Zauberkraft des Märchens Märchen als Lebenshilfe Freies Erzählen Konzentration und Entspannung durch Visualisierung Die Bedeutung der Fantasie Märchen aus Tausendundeiner Nacht

Die Märchen Empfehlungen für das Märchenerzählen Drei Märchen aus dem Orient Prinz Achmed und das Zauberpferd Die Prinzessin mit den zwei Gesichtern Die Geschichte vom Affen und der Prinzessin

Fantasiereisen Reise durch die Wüste Die Prinzessin auf der Erbse Der fliegende Teppich

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Literaturverzeichnis

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Abbildungsnachweis

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Einfuhrung Am Anfang begleiten uns fremde Märchen. Erst später erzählen wir die eigenen. Sigmar Schollak

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inder brauchen Märchen – diese Feststellung von Bruno Bettelheim (1903–1990) ist nach wie vor aktuell. Märchen, die wie Träume gedeutet werden können, sind für Kinder eine wichtige Lebenshilfe, um die Spannungen ihres Unbewussten zu bewältigen. Märchen klären die Emotionen und regen Fantasie und Kreativität an. Wird die Fantasie nicht in der Kindheit trainiert, so verkümmert sie. Dadurch wird dem Kind die Möglichkeit genommen, sein Bewusstsein und seine Erlebnisbreite zu erweitern. Märchen verhelfen Kindern auch zu mehr Konzentration, Entspannung und innerer Ruhe. Schon in frühester Kindheit machen Kinder Stresserfahrungen, die durch die Berufstätigkeit der Eltern, durch Scheidung oder durch die Lebenssituation Alleinerziehender hervorgerufen werden können. In zunehmendem Maße zeigt sich, dass immer mehr Kinder den hohen Leistungserwartungen einer an materiellen Werten ausgerichteten Gesellschaft nicht mehr gewachsen sind. Das unbarmherzige Konkurrenzdenken, die Angst vor schulischem Misserfolg und Arbeitsunlust führen zu psychosomatischen Störungen und Dauerbelastungen, denen die Eltern hilflos


gegenüberstehen. Eine übergroße Zahl von Schulkindern leidet an Konzentrationsschwäche, Lernstörungen, Ängsten, Aggressionen, Nervosität, Hypermotorik, Kontaktstörungen, Kopfschmerzen, Störungen im Magen- und Darmbereich, Verhaltensstörungen etc. In der Schule liegt der Schwerpunkt auf der intellektuellen Bildung und nicht auf der Erziehung einer ganzheitlichen Persönlichkeit, die sowohl die kognitiven als auch die emotionalen Bereiche gleichwertig berücksichtigt. Daher ist es wichtig, den Kindern Hilfen anzubieten, die es ihnen ermöglichen, eine harmonische, abgerundete Persönlichkeit zu erlangen. Bei all der Hektik und Reizüberflutung in der heutigen Zeit wächst die Sehnsucht der Kinder, sich Geschichten erzählen zu lassen. Durch das Vorlesen oder Erzählen von Märchen vermitteln wir unseren Kindern Ruhe, Entspannung, Zuwendung und Geborgenheit und tragen dazu bei, ihre emotionale Intelligenz zu fördern und sich selbst und ihre Umwelt besser zu verstehen. Märchen vermitteln Lebensweisheiten, die durch die fantasievolle und bildhafte Verhüllung den Kindern verständlich werden und ihnen in einer Welt, die immer komplizierter und unübersichtlicher wird, eine Orientierung für das eigene Leben bieten. Märchen strahlen heilende Kräfte aus, wenn man sich ganz auf sie einlässt. Sie verhelfen Kindern zur Gewissheit, dass trotz vieler Schwierigkeiten im Alltag letztlich fast alles zu bewältigen ist. Wie so viele Psychologen heute haben bereits Dichter vor langer Zeit um den segensreichen Einfluss der Märchen gewusst. Im Alt- und Neugriechischen heißt das Wort für Märchen auch Trost und Zuspruch. Plutarch (45–125 n. Chr.) schrieb, dass Mütter ihren Kindern Märchen erzählten, um sie zu trös­ten und aufzumuntern. So geschieht es auch heute noch. Goethe wusste um die Notwendigkeit einer lebhaften



Fantasie, um Probleme bewältigen und das Leben genießen zu können. Etwas von dieser Fähigkeit gewann er dadurch, dass seine Mutter, die als große Märchenerzählerin bekannt war, ihm wunderbare Geschichten erzählte. Wenn auch nicht alle Eltern so gut wie Goethes Mutter Märchen erzählen können, bildet einfühlsames Erzählen oder Vorlesen von Märchen die Grundlage dafür, dass das Kind sich in seiner Persönlichkeit bestätigt fühlt und ihm durch das Märchenerzählen Zuversicht und Kraft verliehen werden, Eigenschaften, die für das Erwachsenwerden wichtig sind. Nach Ansicht des Psychoanalytikers Bruno Bettelheim verführen Märchenlösungen nicht dazu, sie auch im späteren Leben zu erwarten. Er hält ganz im Gegenteil die frühen Ausflüge in die Irrationalität für eine Voraussetzung, um zum „Realitätsprinzip“ zu gelangen. Der tiefere Sinn eines Märchens dürfe nach Bettelheim jedoch niemals erklärt werden, denn sonst seien die Zauberkräfte gebrochen. Aus den Märchen, die das Leben in seiner Universalität schildern, lernen die Kinder, Schwierigkeiten des Lebens zu akzeptieren, ohne sich von ihnen umwerfen zu lassen oder in eine eskapistische Haltung auszuweichen. Märchen, die in verschlüsselter Form Begebenheiten und Wahrheiten aus dem Alltag erzählen, helfen den Kindern bei der Ausbildung ihrer Fantasie, vermitteln in bildhafter Weise die Welt und geben Modelle der Lebensbewältigung. Die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht gelten, seit sie im frühen 18. Jahrhundert ihren Siegeszug durch alle Länder angetreten haben, als das schönste Geschenk des Morgenlandes an die Welt. Diese Geschichten sind, neben vielem anderen, eine Hymne an die Macht des Erzählens. Tausendundeine Nacht erzählt davon, wie eine schöne und kühne Frau die kranke Seele eines gewalttätigen Mannes durch Erzählen heilt. Die Heilkraft des Erzählens durchtränkt das gesamte Buch.

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Werden die überlieferten Geschichten durch den Erzähler le­ben­dig gemacht, wird eine Verbindung zu den Schätzen früherer und fremder Kulturen geschaffen, die ursprünglich mündlich tradiert wurden. Auch die Beziehungsfähigkeit, Kre­ a­ti­vität und Vorstellungskraft unserer Kinder werden durch das Erzählen von Märchen entscheidend beeinflusst. Zudem führt das Visualisieren der Märchensymbole, verbunden mit den Grundübungen der Entspannung, dazu, dass die Kinder mit Belastungen besser umgehen können. Ihnen stehen mehr Kraft und Energie zur Verfügung und sie können ein größeres Potential ihres Gehirns nutzen.

Märchen und Mythen sind der ZauTexte berspiegel, aus dem jeden, wenn er hineinblickt, sein eigenes Gesicht als Rätsel und Antwort anblickt. Heinrich Zimmer

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Die schรถne Scheherazade rettet mit ihren Geschichten nicht nur ihr eigenes Leben, sondern sie heilt mit ihren unterhaltsamen Gleichnissen auch die psychische Krankheit des grausamen Kรถnigs.


Die Zauberkraft .. des Marchens ..

Marchen als Lebenshilfe Man wird wieder aus Himmel und Sternen Bilder machen und die Spinnweben alter Märchen auf offene Wunden legen. Christian Morgenstern

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eit der Antike haben Philosophen, Schriftsteller und Ärzte Märchen, Fabeln, Parabeln und Mythen als Heilung und Lebenshilfe betrachtet. So ließ sich Kaiser Augustus, der unter Schlafstörungen litt, Märchen erzählen, damit er sich entspannen und einschlafen konnte. War Mozart vor einem großen Konzert aufgeregt und nervös, ließ er sich zur Beruhigung von seiner Frau Konstanze Märchen erzählen. Lange vor der Entdeckung der modernen Psychotherapie besaßen Märchen und Mythen zwei Funktionen: Sie dienten der Unterhaltung und waren zugleich ein Element der Volkstherapie. In den Märchen von Tausendundeiner Nacht werden wir mit einer Randgeschichte konfrontiert, die tiefen Einblick in das heilende Wesen des Märchens gibt. Die schöne Skla-

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vin Scheherazade rettet durch ihre Erzählkunst nicht nur das eigene Leben, sondern heilt auch den König von seiner Grausamkeit und seiner gestörten Beziehung zu Frauen „Im Erzählen – im Wort, in der Geschichte, im Zuhören und in der Zuwendung – liegen unendlich viele Möglichkeiten für Erkenntnis, Sich-Finden, Verarbeiten, für Hoffnung, neuen Mut, Beziehungen, Veränderungen, Neugestaltung und überhaupt neue Wege. Diese Aufzählung lässt sich fortsetzen, aber sie zeigt auch so schon den Reichtum des Erzählens und weist hin auf die in ihm liegenden heilenden Kräfte. Durch sie gewinnt es immer mehr Bedeutung für die Psychotherapie, wie es die vielen Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt auch beweisen.“ Christel Oehlmann 2007, S. 240 Zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Form angewandt, kann eine Geschichte zum Angelpunkt des therapeutischen Bemühens werden und Einstellungs- und Verhaltensänderungen einleiten. Nossrat Peseschkian

In den Märchen erleben Kinder eine erste Begegnung mit dem Reich und dem Reichtum der Literatur und machen grundlegende, für ihr weiteres Leben prägende Erfahrungen. Das Märchen wird im Rahmen der oralen Kultur zur Kategorie „Volkserzählung“ gerechnet. Volkserzählungen sind mehr oder weniger fiktive Prosaerzählungen, die irgendwie, irgendwann, wo auch immer, über einen gewissen Zeitraum mündlich tradiert worden sind. Märchen sind für die Kinder unseres Medienzeitalters nicht mehr so selbstverständlich. Am häufigsten kommen sie über das Fernsehen oder ähnliche Medien mit ihnen in Berührung. Mit dem Vormarsch der Bildmedien ist auch der Rückgang der Narrativität verbunden. Die Menschen bekommen oft nichts mehr individuell erzählt und erzählen in der

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Folge auch selbst nichts mehr. Seit Adornos früher Kritik des Fernsehens wissen wir, dass das Bild förmlich süchtig macht. Gegen diese audiovisuelle Bilderziehung hat die vormediale traditionelle Erzählkunst kaum eine Chance mehr. Nur selten erleben unsere Kinder noch das, was in traditionellen Kulturen eine Selbstverständlichkeit war und ist, nämlich, dass ältere Menschen ihren Kulturschatz mündlich weitergeben. Wenn in Afrika ein alter Mann stirbt, dann verbrennt eine ganze Bibliothek. Hampâté Ba (1900–1991), Schriftsteller aus Mali

Die elektronischen Medien, die uns mit einem nie versiegenden Fluss an Informationen eindecken und unsere Vorstellung von Kommunikation verändern, können den verbalen Austausch, die direkte Kommunikation zwischen Erzähler und Zuhörer jedoch niemals ersetzen. Da die dort gebotene Überfülle an vorgefertigten Bildern nicht richtig verarbeitet werden kann, bleiben viele seelische und geistige Spannungen zurück. Die Fertigprodukte der elektronischen Medien nehmen den Kindern die Möglichkeit, ihre eigene Fantasie zu entwickeln, und vertreiben sie dadurch mehr und mehr aus ihrer magischen Welt, die eine wichtige Funktion in ihrer seelischen Entwicklung einnimmt. Dieser Verlust an Fantasie ist schwerwiegend. Für Bruno Bettelheim, den bekannten amerikanischen Kinderpsychologen, gehören Fantasie und Märchen für eine glückliche Kindheit zusammen. Märchen regen aber nicht nur die Fantasie an, sondern vermitteln Trost, Mut und lösen Spannungen, worauf auch die bereits erwähnten Synonyme des altgriechischen Wortes für „Märchen“ verweisen. Sie versprechen sogar einen glücklichen Ausgang in schwierigen Lebenssituationen, sofern man bereit ist, sich nicht vor den Problemen zu verstecken, sondern beherzt da­ rangeht, sie zu lösen, auch wenn es ein langer Weg werden

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kann. Da das Märchen auf die Zukunft gerichtet ist, wird das Kind dazu angeleitet, seine infantilen Abhängigkeitswünsche zu überwinden und ein unabhängiges Leben zu führen. Märchen sind keine analytischen Beschreibungen unserer Probleme, sondern anschauliche Sinnbilder für sie. Dies vermittelt Kindern die oft nötige Distanz, sich mit Problemen spielerisch auseinandersetzen zu können, die sich richtig einzugestehen sie oft noch nicht in der Lage sind. Besonders weil der Symbolgehalt den Kindern nicht immer bewusst ist, helfen Märchen, die Grundprobleme des Menschseins wie Liebe und Hass, Schuld und Sühne, Leben und Tod zu erleben. Märchen sind Träume von einer heimatlichen Welt, nach der wir uns sehnen, in die wir mit unserem eigentlichen, inneren Wesen gehören. Novalis

Die bildschaffende Sprache des Märchens, durch die Identifikationsmöglichkeiten angeboten werden, führt das Kind zu sich selbst. Das Bilddenken, eine Art primären Denkens, geht dem Denken in Worten voraus und bleibt nach Ansicht von Frances Vaughan „lebenslänglich Teil des subjektiven Erlebens – in Form von Träumen, Fantasien und Vorstellungen … Innere Vorstellungen können auch Träger intuitiver Einsichten sein. Innere Bilder werden unmittelbar wahrgenommen und vermitteln in einem Augenblick Gefühle und Beobachtungen, die nur mit vielen Worten zu beschreiben wären.“ Frances Vaughan 1991, S. 87 Diese inneren Bilder, die im Gedächtnis gespeichert werden, wirken nach Ansicht von Christel Oehlmann wie „Stichwörter, die ein ganzes Drama in Fluss bringen können, mitsamt der Möglichkeit, inzwischen gemachte Erfahrungen neu zu verarbeiten. Allerdings ist oftmals Zeit erforderlich, um diesen Prozessen und Zusammenhängen nachzusinnen. Das

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nur einmal kurz vermerkte Bild kann stumm bleiben, kann als ein nur äußeres Bild stehen bleiben, ohne transparent zu werden für den Erkenntnisprozess. Wenn wir diese Bilder aber innerlich zu bewegen lernen, uns auf sie einlassen, ihnen die Bereitschaft zum Verständnis ihrer Tiefenschichten entgegenbringen, offenbaren sie sich allmählich, und zwar einem jeden von uns.“ Christel Oehlmannn 2007, S. 162 f. Außerdem wecken Sprachbilder nicht nur visuelle Vorstellungen in uns, sondern auch gleichzeitig Klang, -Geruchsoder Berührungserinnerungen. Die Kunst des Denkens in Bildern ist die unverzichtbare Grundlage jedes kreativen Denkens und Handelns. Gertrud Hempel

Durch die Bildersprache des Märchens wird zum einen „der Bereich der Fantasie und Intuition angesprochen und so auch die Ressourcen der rechten Hirnhälfte mobilisiert; zum anderen wird die direkte verbale Konfrontation mit einem Problem und damit die Bildung von Widerständen vermieden. Beides zusammen führt zu einem Standortwechsel, so dass Probleme in einem anderen Licht erscheinen.“ Nossrat Peseschkian 2002, S. 62 Durch orientalische Geschichten oder Märchen wird dieser Effekt besonders gefördert, da sie einen großen Verfremdungseffekt haben. Das Märchen ist dem Traum verwandt. Seine Figuren entstammen realen und irrealen Bereichen. Hexe, Teufel, Fee, König, Zauberer, Dämonen und Prinzessinnen sind die magischen Handlungsträger eines ursprünglich magischen Zeremoniells und ihre Bedeutung ist sowohl konkret als symbolisch. Sie vermögen das Gegenwärtige, Aktuelle darzustellen, aber auch das immer schon Vorhandene – eine allgemeine

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menschliche Erfahrung, wie sie seit Urzeiten gemacht und erlebt wird. Die Figuren des Märchens und des Traums sind Bilder aus dem ältesten gemeinsamen Erfahrungsschatz der Menschheit. In diesen „ursprünglichen Bildern“, wie sie C. G. Jung nennt, erscheint all das bildhaft, was die Psyche der Menschheit seit ihrem Anbeginn in Wachstum und Niedergängen, in Glück und Leid, in der Begegnung mit den Naturmächten, den Tieren, den Menschen, in den Erlebnissen jeder Art immer wieder erfahren hat.

Erich Fromm nennt diese Symbolsprache die „einzige Universalsprache, die die Menschheit je hervorgebracht hat.“ Und er meint: „Wenn wir diese Sprache nicht verstehen, verlieren wir einen großen Teil von dem, was wir in den Stunden wissen

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und uns selbst sagen, in denen wir nicht beschäftigt sind, die Außenwelt zu beherrschen.“ Erich Fromm: Märchen, Mythen, Träume Im Märchen werden innere Vorgänge in Bilder umgesetzt. Bruno Bettelheim

C. G. Jung bezeichnet diese Urbilder der Menschheitsgeschichte als Archetypen. Die Zahl der archetypischen Symbole ist beschränkt, da es nur eine begrenzte Zahl menschlicher Grunderlebnisse gibt. Das Symbol, das alle Saiten des menschlichen Geistes zugleich anschlägt, ist nie eindeutig; es vereinigt verschiedene Bedeutungen und Widersprüche in einem Bild. So kann sich im Symbol ein Sinngehalt und gleichzeitig sein Gegenteil verkörpern. Durch Symbole zu kommunizieren ist nicht weniger wichtig als durch Worte. Gianni Rodari

Wie Bruno Bettelheim in seinem Buch „Kinder brauchen Märchen“ gezeigt hat, helfen Märchen dem Kind, einen Sinn im Leben zu finden. „Gerade weil ihm sein Leben oft verwirrend erscheint, muss man dem Kind die Möglichkeiten geben, sich selbst in dieser komplizierten Welt zu verstehen und dem Chaos seiner Gefühle einen Sinn abzugewinnen. Es braucht Anregungen, wie es in seinem Inneren und danach auch in seinem Leben Ordnung schaffen kann. Es braucht – und dies zu betonen ist in unserer Zeit kaum notwendig – eine moralische Erziehung, die ihm unterschwellig die Vorteile eines moralischen Verhaltens nahe bringt, nicht aufgrund abstrakter ethischer Vorstellungen, sondern dadurch, dass ihm das Richtige greifbar vor Augen tritt und deshalb sinnvoll erscheint. Diesen Sinn findet das Kind im Märchen.“ Bruno Bettelheim 1982, S. 11

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Erwachsene, die der Ansicht sind, dass Märchen sinnlos, furchterregend, fantastisch und unglaubhaft erscheinen, und die in ihrer Kindheit selbst keine Märchenfantasie entwickeln durften, tragen mit ihrer Einstellung dazu bei, dass sich ihre Kinder ebenfalls von ihrem inneren Leben entfremden und seelisch verarmen. „Die Spätfolge beim Heranwachsenden, der nicht mehr unter dem emotionalen Einfluss seiner Eltern

steht, kann sich darin zeigen, dass er die rationale Welt hasst und ganz in eine Fantasiewelt flüchtet, wie um nachzuholen, was in der Kindheit versäumt wurde … Ein solcher Mensch kann aber auch die Verkapselung seines Ichs ein ganzes Leben beibehalten und sich nie völlig befriedigt fühlen, weil ihm die Vorgänge seines Unbewussten fremd geworden sind, so dass sie sein reales Leben nicht zu bereichern vermögen.“ Bruno Bettelheim 1982, S. 78

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Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: Wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten! Friedrich Wilhelm Nietzsche

Märchen sind „geistige Forschungsreisen“ (G. F. Chesterton), die das Kind zur Entdeckung seiner Identität und seines Lebenssinns führen. Nach Mircea Eliade sind Märchen „Vorbilder des menschlichen Verhaltens, die gerade in dieser Eigenschaft dem Leben Sinn und Wert geben.“ Märchen zu lesen heißt, sich immer aufs Neue zu fragen, was von den berichteten Dingen in der eigenen Seele Wirklichkeit sei. Um einen tieferen Sinn im Leben zu finden und befriedigende und sinnvolle Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen, muss das Kind im Laufe seiner Entwicklung lernen, sich selbst immer besser kennenzulernen und Zugang zu seinen eigenen inneren Kraftquellen zu finden. Jedes Märchen ist ein Zauberspiegel, in dem sich gewisse Aspekte unserer inneren Welt und der Stufen spiegeln, die wir in unserer Entwicklung von der Unreife zur Reife zurücklegen. Für die, welche sich in das vertiefen, was das Märchen uns mitzuteilen hat, wird es zu einem tiefen, ruhigen See, in dem sich zunächst nur unser eigenes Bild spiegelt. Aber dann entdecken wir hinter diesem äußeren Bild die inneren Verwirrungen unserer Seele – ihre Tiefe und Möglichkeiten, unseren Friede mit uns selbst und der Welt zu machen, was der Lohn unserer Mühe ist. Bruno Bettelheim

Wie die großen Philosophen fragen Kinder – allerdings auf der Grundlage ihres animistischen Denkens – nach dem Wesen der Dinge. Das Kind fragt sich: Wer bin ich, woher

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komme ich und wie ist die Welt entstanden? Märchen geben Antwort auf diese Fragen, die dem Kind erst in seiner Entwicklung zum Jugendlichen bewusst werden. Eine andere Bedeutung des Märchens liegt darin, dass es die Existenz des Bösen in einer Form offenbart, die es dem Kind erlaubt, diese Erkenntnis ohne Trauma zu verarbeiten. „Möglich ist das nicht allein deshalb, weil der Inhalt der Märchen über Jahrhunderte hinweg organisch gewachsen ist und von den Erwachsenen kontrolliert wird (die etwa die Gewalt abschwächen oder den Ausgang einer Erzählung nach den Bedürfnissen eines bestimmten Kindes verändern können), sondern auch deshalb, weil die psychologische Umgebung, in der die Märchen erzählt werden, ermutigend und insofern therapeutisch ist.“ Neil Postmann 1987, S. 110 Das Märchen vermittelt dem Kind die Botschaft, dass das Gute ebenso gegenwärtig ist wie das Böse und der Kampf gegen die Widrigkeiten des Lebens unvermeidlich ist und untrennbar zur menschlichen Existenz gehört. Die polare Märchenstruktur kommt dem kindlichen Denken entgegen. Eine Person ist entweder gut oder böse, es gibt aber nichts dazwischen. Dadurch wird dem Kind die Identifikation erleichtert und die Gewissheit eines guten Ausgangs vermittelt ihm eine emotionale Lebenssicherheit. Vielleicht müssen im Märchen das Böse und das Gute drastisch dargestellt werden, damit wir das zu unterscheiden lernen, was uns im Leben selten klar geschieden voneinander begegnet. Durch das Märchen lernt das Kind auch, seine widersprüchlichen Gefühle kennenzulernen und im Laufe seines Reifungsprozesses in seine Persönlichkeit zu integrieren. Viele Märchen geben die dualistischen Charakterzüge symbolisch wieder und erreichen dadurch, dass das Kind mit den Ambivalenzen in seinem Innern fertig wird.

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Das Märchen, das das Kind in eine wundersame fantastische Welt führt und es auf höchst tröstliche Weise in die Wirklichkeit zurückführt, bewirkt auch, dass es lernt, den ungeheueren Abgrund zwischen den inneren Erfahrungen und der äußeren Welt zu überbrücken. Zugleich ist es gut, wenn das Kind dabei erfährt, dass solche Fantasiereisen nicht nur unschädlich sind, sondern auch dabei helfen, einen erweiterten Blick auf die Wirklichkeit zu gewinnen – sofern das Märchenhafte im Märchen belassen wird. „Wie wir von unseren Träumen erfrischt erwachen und besser imstande sind, den Aufgaben der Realität zu begegnen, so ist auch der Märchenheld, der am Schluss der Geschichte in die reale Welt zurückkehrt oder ihr zurückgegeben wird, viel eher fähig, das Leben zu meistern.“ Bruno Bettelheim 1982, S. 75

Märchen, in denen innere Vorgänge zum Ausdruck gebracht werden, wirken therapeutisch, weil das Kind ohne die Interpretation der Eltern zu eigenen Lösungen kommt, sofern man ihm die Gelegenheit gibt, das Märchen auszuspinnen

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und in die beim Hören entstandene Atmosphäre einzutauchen. „Nur dann erschließen die freien Assoziationen des Kindes die ganz persönliche Bedeutung des Märchens, die zur Bewältigung drückender Probleme verhilft.“ Bruno Bettelheim 1982, S. 70 Dem Kind die Gelegenheit zu bieten, es unter Umständen sogar dazu zu ermuntern, ein Märchen mit seinen Assoziationen auszuschmücken ist daher ein pädagogisch wichtiger Schritt. Um die Zauberkräfte des Märchens zu erhalten, sollte man seinem Kind die Bedeutung eines Märchens auch nie erklären. Einzig und allein die bewusste Anteilnahme des Erwachsenen bildet die Grundlage dafür, dass das Märchenvorlesen für das Kind zu einem bereichernden Erlebnis wird. „Das Anhören eines Märchens und das Aufnehmen seiner Bilder kann mit dem Ausstreuen von Samen verglichen werden, von dem nur ein Teil im Gemüt des Kindes Wurzel schlägt. Einige Samenkörner fallen unmittelbar in sein Bewusstsein, andere setzen unbewusste Vorgänge frei. Weitere müssen lange Zeit ruhen, bis das kindliche Gemüt so weit ist, dass sie keimen können; viele bleiben ganz ohne Wirkung. Die Samenkörner aber, die auf fruchtbaren Boden fallen, wachsen zu schönen Blumen und kräftigen Bäumen – sie bestärken wichtige Gefühle, vermitteln Einsichten, nähren Hoffnungen und bewältigen Ängste –, und damit bereichern sie das Leben des Kindes in der jeweiligen Zeit und für immer. Wird ein Märchen mit einem anderen Zweck als dem, die Erfahrung des Kindes zu erweitern, erzählt, so ist es nichts anderes als eine moralische Erzählung, eine Fabel oder ein sonstiges didaktisches Mittel, das höchstens das Bewusstsein des Kindes anspricht, während gerade die unmittelbare Einwirkung auf das Unbewusste des Kindes einer seiner größten Vorzüge ist.“ Bruno Bettelheim 1982, S. 177

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Da unsere Welt immer globaler und multikultureller wird, ist es wichtig, dass Kinder Märchen von anderen Erdteilen kennenlernen. In allen Ländern der Welt werden seit Jahrhunderten Märchen erzählt, deren Motive je nach Land, Religion und Brauchtum variieren. Sie dienen der Völkerverständigung und helfen, Toleranz und respektvolles Zusammenleben zu wecken.

Tiefere Bedeutung liegt in den Märchen meiner Kinderjahre als in der Wahrheit, die das Leben lehrt. Friedrich Schiller

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Freies Erzahlen Der erste wahre Erzähler ist und bleibt der von Märchen. Walter Benjamin

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m Idealfall sollten die Märchen frei erzählt werden. Wer seinem Kind Märchen erzählt, kann besser auf seine Bedürfnisse und Reaktionen eingehen. Dies ist beim Vorlesen nicht möglich. Werden Märchen erzählt, hat der Erzähler sein Publikum leibhaftig vor Augen. Er merkt sofort, wo er zu ausführlich oder zu knapp wird, ob sich Langweile ausbreitet oder ob er über den Kopf des Kindes hinweg erzählt oder nicht. Und wenn das Kind sich an einer bestimmten Stelle fürchtet, so kann er dies durch ein freundliches Wort oder eine spaßige Bemerkung auffangen. Wie man Geschichten erzählen soll? So, dass sie einem selbst helfen! Mein Großvater war lahm. Einmal bat man ihn, eine Geschichte von seinem Lehrer zu erzählen. Da erzählte er, wie der große Baalschem beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater stand auf und erzählte, und die Erzählung riss ihn so hin, dass er hüpfend und tanzend zeigen musste, wie der Meister es gemacht hatte. Von der Stunde an war er geheilt. So soll man Geschichten erzählen. Chassidische Legende Abb. links: Yvonne Kleiss-Herzig (1895–1968)

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