Stromausfall extrem – Was tun, wenn nichts mehr geht?

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Re i ne rDi t t r i c h

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Re i ne rDi t t r i c h( ge b.1 9 6 1 ) ,s t a a t l i c h ge pr üf t e rHoc hba ut e c hni k e r und Ha ndwe r k s me i s t e rE l e k t r ot e c hni k , v e r öffe nt l i c ht eme hr e r eBüc he r , di es i c hmi tpr a k t i s c he n T he me ns c hone nde rL e be ns we i s e ,Umwe l t s c hut zund ba ue nmi tNa t ur ba us t offe nbe s c hä f t i ge n. E ra r be i t e ts e i t v i e l e nJ a hr e nbe ide rS ä c hs i s c he nL a nde s s t i f t ungNa t ur undUmwe l t , unde r l e bt eha ut na hme hr e r eHoc hwa s s e r k a t a s t r ophe ni mS ä c hs i s c he nE l bt a l mi t .

Rei nerDi t t r i c h

Obe shöhe r eNa t ur g e wa l t e ns i nd,me ns c hl i c he sVe r s a g e n ode re i nf a c hnurGe l dnöt eda z uz wi ng e n,e ska nnj e de n t r e ffe n: Pl öt z l i c hi s tde rS t r om we g . Wa sa nf a ng snurwi ee i neS t ör unga us s i e ht , ka nns i c h s c hne l lz urKa t a s t r ophee nt wi c ke l n. Wi ee i ns ol c he sS z e na r i oa us s i e htundwe l c heMög l i c hke i t e ne sg i bt , t r ot z de me i ng e or dne t e sLe be nz uf ühr e n, be s c hr e i btdi e s e rRa t g e be ra us f ühr l i c hunde i ndr uc ks v ol l . Zus ä t z l i c hr e g tda sBuc ha n,r e c ht z e i t i gv or he rübe ra l t e r na t i v eS t r omv e r s or g ung e nundVor s or g e ma ßna hme nna c hz ude nke n.


1. Backout – nichts geht mehr

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017, Reiner Dittrich Laudatio Verlag, Frankfurt am Main ISBN 9783946590026 www.laudatio-verlag.de

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Reiner Dittrich

Laudatio


1. Backout – nichts geht mehr

Inhaltsverzeichnis 1. BACKOUT – NICHTS GEHT MEHR

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TAG EINS TAG ZWEI DIE FOLGENDEN TAGE WIE UNSERE STROMVERSORGUNG FUNKTIONIERT

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2. WESHALB DER STROM AUSFALLEN KANN

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EIN FALLSCHIRM LEGT GROßSTADT LAHM GELDSORGEN - WENN DIE RECHNUNG ZU HOCH IST HACKER, SABOTEURE UND KORRUPTION NATURGEWALTEN – SCHNEE, HOCHWASSER, ERDBEBEN… ICH ZAHLE KEINEN STROM SONNENSTURM TRIFFT AUF ERDE DER MAGNETISCHE POLSPRUNG WENN KOHLE, ÖL UND URAN ZUR MANGELWARE WERDEN

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3. VORSORGEMAßNAHMEN

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1. DAS NOTLICHT 2. DIE WASSERVERSORGUNG 3. KOCHEN OHNE STROM 4. KÜHLEN OHNE STROM 5. HEIZEN OHNE STROM 6. DIE KOMMUNIKATION 7. MENTALE DURCHHALTETAKTIKEN 8. ENERGIESPAREN

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41 46 49 54 58 63 66

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1. Backout – nichts geht mehr

4. NÜTZLICHE STROMRESERVEN

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BATTERIEN AKKUMULATOREN EINE BIOBATTERIE SELBST GEBAUT USV-ANLAGE NOTSTROMAGGREGATE

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5. AUTARK UND UNABHÄNGIG LEBEN

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BHKW SONNENENERGIE WASSERKRAFT WINDKRAFT BRENNSTOFFZELLE

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ANHANG

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LICHT AUS - EARTH HOUR 1. HILFE BEI STROMSCHLAG NACHWORT QUELLENNACHWEIS BILDERVERZEICHNIS

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167 176 180

200 203 204 205

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1. Backout – nichts geht mehr

EINLEITUNG Leben ohne Strom – geht das überhaupt noch? Diese Frage zu stellen, scheint in unserer modernen Gesellschaft fehl am Platz zu sein. Obwohl unser tägliches Umfeld voll gestopft ist mit technischen Dingen, vertrauen wir blind unserer Stromversorgung. Als wäre sie unverletzlich, immer fehlerfrei und unbegrenzt vorhanden. Was würde passieren, wenn der Strom global ausfällt? Nicht nur ein paar Stunden oder einen Tag, sondern eine Woche oder gar einen ganzen Monat? Was passiert, wenn nichts mehr geht? Wie verhalten wir uns in solch einer Situation? Ein Mensch kann ohne Wasser höchstens vier Tage überleben, ohne etwas zu essen bis zu drei Wochen. Doch wie lange können wir ohne Strom leben? Könnte es sein, dass nur Obdachlose und Minimalisten eine Überlebenschance hätten, weil sie schon längst gelernt haben, dass es auch anders geht? Oder sind es die Camper und Skipper, die Ihre Wohnmobile und Yachten auf alternative Lösungen umgerüstet haben? Haben Sie schon mal was von den Preppern oder Off-Griddern gehört? Jene Menschen, die uns überlegen sein werden, weil sie längst schon auf den Krisenfall vorbereitet sind? Bei aller Vorsorge, zum Überleben braucht man als Mensch sehr wenig. Doch Leben ist weit mehr als reines Überleben. Das folgende Buch soll weder Panik verbreiten noch irritieren. Es soll real aufzeigen, wie verwundbar unser hochtechnisiertes Zeitalter sein kann. Es soll uns zum Nachdenken anregen und Wege aufzeigen, wie wir uns vorbereiten und schützen können. Das beginnt mit persönlichen Vorkehrungen, kleinen technischen Veränderungen in unserem Haushalt, bis hin zur Überdenkung unserer eigenen Lebensweise. 6


1. Backout – nichts geht mehr

Das Buch in vier große Abschnitte gegliedert, die auch für sich allein stehen können: Der erste Abschnitt wird eingeleitet mit einer Geschichte, die sich mit der Realität eines globalen Blackouts beschäftigt. Eine Reihe von Gefahren und Unsicherheiten werden dabei beschrieben, wie sie jedem von uns treffen können. Es zeigt, wie schnell wir in Zwangssituationen geraten können. Der zweiten Abschnitt befasst sich mit der Wahrscheinlichkeit eines großflächigen Stromausfalls. An dieser Stelle erwarten uns greifbare Tatsachen und wissenschaftliche Fakten, die mit vielen wahren Geschehnissen belegt sind. Auch einige gewagte Hypothesen sollen nicht verschwiegen werden. Jene Katastrophenszenarien, die praktisch möglich sind, um unser gesamtes Stromnetz lahm zu legen. Im dritten Abschnitt werden Vorsorgemaßnahmen erläutert, die von jedermann mit einfachen Mitteln ohne größere finanzielle Ausgaben getroffen werden können. Viele dieser Maßnahmen spiegeln Einzelsituationen der Anfangsgeschichte wieder und erläutern die richtigen Strategien zur Vermeidung. Im vieren Abschnitt geht es tief in die Technik hinein. Zusammenhänge aus dem elektrotechnischen Alltag, die uns täglich begegnen, werden näher erläutert. Dieses Wissen ist äußerst nützlich, auch wenn man kein Elektrofachmann ist. Zusätzlich erhält der Leser Anregungen zu alternativen Energielösungen, die uns heute schon zur Verfügung stehen. Lassen Sie sich überraschen…

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1. Backout – nichts geht mehr

Bild 1: Busan, Südkorea, 2015 am Abend

1. Backout – nichts geht mehr

Tag Eins Eigentlich war es ein ganz normales Herbstwochenende. Unsere kleine Familie hatte ein schönes Wochenende verlebt. Das läuft bei uns oft wie ein Ritual ab. Da wir beide berufstätig sind, ist der Sonnabend dem Einkaufen und dem Wohnungsputz vorbehalten. Die Kinder haben in dieser Zeit frei, dürfen spielen. Sonntags unternehmen wir meist etwas Gemeinsames. Diesmal fuhren wir aus der Stadt zu einem etwas höher gelegenen Ackerland. Hier weht der spätherbstliche Wind besonders kräftig und lässt unsere selbstgebauten Drachen lustig im Wind tanzen. Nicht mehr lange und dann wird alles voller Schnee liegen. Der Wetterbericht hat es schon angekündigt. Nasse Luftmassen, ein Tiefdruckgebiet und kalte Luft aus dem Osten wandern auf uns zu. Als sich dann am späten Nachmittag die ersten dicken Wolken vor die tief liegende Sonne schieben, packen wir 8


1. Backout – nichts geht mehr

unsere Sachen ein. Mit roten Nasen und kalten Fingerspitzen, doch mit dem Gefühl noch einmal so richtig frischen Sauerstoff getankt zu haben, fahren wir heim. Als wir nach dem Abendessen unseren Fernseher einschalten, liefen gerade die Nachrichten. Nach den üblichen Wirtschaftsnachrichten und eines Berichtes über die Erweiterung eines Einkaufscenters im Stadtkern, flimmern Bilder von starken Schneefällen über die Mattscheibe. Verzweifelt versuchen Räumfahrzeuge die Fahrbahnen zu räumen, nachdem quer stehende Laster eine Autobahn blockiert haben. Irgendwo sind die Menschen wieder einmal vom voreiligen Winterwetter überrascht worden. Und wie jedes Jahr reagiert der Winterdienst viel zu spät. Aber das interessiert uns nicht weiter. Wir wohnen nicht im Gebirge. In der Stadt laufen viele Dinge geregelter ab. In dem Moment, als ich die erste Flasche Bier öffnete und Mutter das Geschirr in die Küche brachte, war er weg – der Strom. Im Haus gingen die Lichter aus. Im Wohnzimmer blieb der Fernseher stumm. Aus dem Nebenzimmer kamen geschwind die Kinder gelaufen. Plötzlich versammelte sich die ganze Familie in einem Raum. Krampfhaft wird nach einer Lichtquelle gesucht. Ein Feuerzeug flammt auf. Nach einigem Wühlen in verschiedenen Schubfächern findet sich noch eine Kerze. „Das wird doch hoffentlich nicht lange andauern, ich wollte heute noch mit meiner Freundin telefonieren!“ ruft die Mutter. Die kleine Lene, die die ganze Aufregung nicht versteht, weint erst mal los. Ich versuche sie erst mal väterlich zu beruhigen: „Keine Panik, bestimmt ist nur irgendwo eine Sicherung durchgebrannt“. Der große Bruder Paul springt einstweilen lärmend vor Freude im Zimmer herum. Im romantischen Licht einer Kerze lässt es sich bis dahin hervorragend Gespenster spielen. Ich freue mich schon auf den 9


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neuen Tatortfilm, der gleich beginnt. Doch nun laufe ich erst mal ohne Licht in den Keller. Bereits im Treppenhaus drücke ich aus alter Gewohnheit zielsicher den Lichtschalter. Doch alles bleibt dunkel. Lachend über die eigene Vergesslichkeit taste ich mich im Dunkeln weiter. Die Treppen herunter läuft es sich schon etwas unheimlich. Wenn man jetzt die Anzahl der Stufen wüsste, bräuchte ich nur abzählen. Im Untergeschoß angekommen, geht Nachbars Tür auf. Herbert, dass immer nörgelnde Rauhbein, steht im düsteren Flur und ist außer sich. „Das kann doch wohl nicht war sein, die müssen doch einen an der Waffel haben“. Wen immer er auch mit „die“ meint, irgendeinen Schuldigen wird es schon geben. Nur hilft das augenblicklich nicht weiter. „Haben Sie vielleicht eine Taschenlampe im Haus?“ frage ich. Doch Herbert verneint, zieht sein Gesicht in Falten und macht kurzerhand kehrt. Er grummelt noch einige Flüche vor sich her, wühlt in seiner Garderobe verschiedene Jacken durch und befördert ein Handy herzu. „Wollen Sie einen Elektriker anrufen?“ frage ich erstaunt. „Nee, der kostet bloß Geld. Aber das Display!“ Er streckt mir ein bläulich schimmerndes Teil entgegen. Tatsächlich, im Schein der Displaybeleuchtung lässt sich einiges erkennen. Die Augen haben sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Wenig später stehen wir im Keller. In einem hinteren Kellerregal, zwischen Einweckgläsern und Fahrradteilen taste ich nach meinem Werkzeugkoffer. Seit Jahren hüte ich darin eine Akku-Taschenlampe – für den Notfall. Leider glimmt sie nur kurz auf. Komisch, denke ich, dabei hatte ich sie voll aufgeladen geschenkt bekommen und gleich weggepackt. Sie war praktisch noch unbenutzt. Wir tasten uns im schwachen Handylicht weiter bis zum Zählerschrank. Hilflos begutachten wir die kleinen Hebelchen, die so schön aufgereiht nebeneinander stehen. Plötzlich ist es wieder dunkel. Die Displaybe10


1. Backout – nichts geht mehr

leuchtung schaltet sich nach 30 Sekunden automatisch aus. Herbert fummelt auf der Tatstatur herum, dann glimmt abermals das fade Licht auf. Offensichtlich scheint an den Sicherungen alles in Ordnung zu sein.„Ach, bestimmt hat die Baufirma gepfuscht, ich hatte gleich so ein Gefühl, als die den neuen Zähler eingebaut hatten“. Herbert kennt sich da aus, war selbst lange Zeit auf dem Bau beschäftigt. Zuletzt auf Montage in einem anderen Bundesland. Jeden Sonntagnachmittag ist er losgefahren, um an dem darauf folgenden Freitag mit seinem Auto und einem Kofferraum voller dreckiger Klamotten zurück zu kommen. „Glaub ich nicht“ sage ich „…die kenn ich recht gut, die arbeiten immer ordentlich.“ Und wieder standen wir im Dunkeln. Der Energiesparmodus am Handydisplay nervt. Herbert fummelt mit seinen derben Handwerkerhänden herum und erneut flammt die bläuliche Notbeleuchtung auf. Mir kommt ein Verdacht auf. „Vielleicht hat die Wohnungsgesellschaft ihre Rechnungen nicht beglichen und die Stadtwerke haben einfach die Stromleitung gekappt?“ „Quatsch, das geht nicht so einfach, dafür gibt es Gesetze“ sagt Herbert. Dann aber scheint er sich so sicher auch nicht zu sein. Denn er bemerkt, auch schon eine Mahnung bekommen zu haben. „Naja, die hohen Energiekosten, Strom, Wasser, Wärme, das Benzin für’s Auto, da kommt schon einiges zusammen“. Während wir noch so ratlos diskutieren erschallt im Treppenhaus eine Stimme. „Ist hier wer?“ Der Lichtkegel einer gleißend hellen Taschenlampe blendet uns. Schemenhaft erkennen wir dahinter eine gebückte Gestalt. An der Stimme erkannten wir schnell unsere Hausnachbarin Hildegard. Trotz ihrer 76 Jahre ist sie immer noch eine rüstige Person. Auf mich wirkt sie zwar etwas altmodisch mit ihren selbst gestrickten Schafswollhandschuhen und ihrem Filzmantel. Hat sie alles selbst hergestellt, 11


1. Backout – nichts geht mehr

verriet sie mir einmal. Aber sonst ist sie in Ordnung. Ich wundere mich nur, dass ihre Taschenlampe besser funktioniert als meine. „Der ganze Straßenzug ist dunkel“ sagt sie und meint, man müsse die Energieversorgung informieren. Schnell ist geklärt, dass auch bei ihr und den anderen Nachbarn der Strom weg ist. Herbert zückt erneut sein tolles Smartphone. Er blättert einige Zeit in der Telefonbuchfunktion und wählt schließlich eine Servicenummer. Nach einigen Sekunden ertönt das Besetztzeichen. „Mist, wenn man die schon mal braucht“ schimpft mein liebenswerter Nachbar. Dank der Wahlwiederholung versucht er es noch einige Mal. Dann das Freizeichen und kurz darauf meldet sich eine freundliche Computerstimme. Wir werden aufgefordert, zur zügigen Bearbeitung zunächst die Postleitzahl einzugeben. Doch dazu kommt Herbert nicht mehr. Das Telefon gibt ein doppeltes Piepsen von sich, dann schaltet es sich abrupt ab. Der Akku ist leer. Herbert, in dem trotz seines grobklotzigen Charakters noch ein Fünkchen Kavaliersehre steckt, begleitet unter Flüchen auf die vermeintlichen Schuldigen, Hildegard nach Hause. Auch ich taste mich langsam aber im völligen Dunkeln nach oben. Im Wohnzimmer ist inzwischen Ruhe eingezogen. Die Kinder sind längst eingeschlafen und Katrin, meine Frau, hat im Kerzenschein eine Flasche Wein geöffnet. Zwei Gläser wecken in mir erotische Gefühle. Wir machen es uns gemütlich und genießen den schönen Abend…

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Tag Zwei Wir wachen am nächsten Morgen auf. Es ist schon hell und ich schnelle aus dem Bett. Wir haben es verschlafen. Warum hat der Wecker nicht geklingelt? Ach ja, der Strom ist noch immer weg. Verdammt, der Morgen fängt ja schon gut an. Unsere Kinder schien das alles nicht zu stören. Sie sind schon lange wach, haben sich im Wohnzimmer aus Decken und Bettzeug eine Bude gebaut. Meine Frau schaut etwas entrüstet: „Wie sieht es denn hier aus?“ Ich fand es nicht so schrecklich. Was hätten sie denn sonst tun sollen wenn wir so lange schlafen. „Diesmal sitzt ihr ja gar nicht vor dem Fernseher, wie kommt das denn?“ wollte ich wissen. „Na der Strom ist doch weg riefen mir beide Kinder gleichzeitig zu“. Na dann lasst uns erst mal frühstücken. Ich deckte schon mal im Esszimmer den Tisch, während unsere Kinder sich anzogen. „Sag mal, hast Du eine Idee, wie ich einen Kaffee koche, unser Kaffeeautomat geht nicht!“ rief Katrin aus der Küche. „Dann trinken wir heute eben türkisch.“ Das war etwas unüberlegt von mir. Die Reaktion kaum auch sofort: „Witzbold, und wo nehme ich das kochende Wasser her?“ Unsere Kinder schienen zu spüren, dass heute alles irgendwie anders war. Sie hatten sich in Windeseile angezogen. Diesmal ohne lange Diskussionen und ohne Murren. Na das hat doch auch was Gutes, dachte ich mir und schickte sie gleich ins Bad. „Geht euch schon mal waschen und dann gibt es Frühstück.“ Die Rasselbande verschwand auch gleich im Bad. Kurz darauf erklang ein doppelter Aufschrei „Iiii, das Wasser ist ja eisig kalt!“ „Dann muss es heute eben mal mit kaltem Wasser gehen!“ befahl ich. Aber die Kinder weigerten sich. „Nö, ich wasch mich nie wieder, wenn das Wasser so kalt bleibt“ schimpfte Lene und Paul nickte zustimmend. Noch bevor ich etwas sagen konnte, fragte mich meine Frau, ob ich beim Bäcker war, wir haben weder Brot 13


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noch Brötchen im Haus. „Hatte ich vergessen“, musste ich eingestehen. Bisher war das auch kein Problem, wir haben für solche Fälle jede Menge Aufbackbrötchen im Haushalt. Schön eingepackt in Folie, unter Schutzatmosphäre, halten sie einige Wochen. Wenn welche gebraucht werden, schieben wir sie für ca. 10 Minuten in den Elektroherd und legen sie dampfend frisch auf dem Frühstückstisch. Doch heute bleibt das alles Illusion. Wir durchsuchen unseren Küchenschrank. Es ist nicht viel zu finden, aber es muss erst mal reichen. Wir trinken Milch, essen Kekse und die Kinder teilen sich eine Tüte Cornflakes. Meine Laune verfinstert sich. Ohne Kaffee komm ich früh nicht los. Auch meine Frau beginnt gereizt zu werden. „Wir könnten wenigstens mal die Nachrichten hören, aber dein supermodernes Küchenradio gibt ja auch keinen Ton von sich. Es musste ja unbedingt so ein teures Digitalradio sein“. „Dafür hat es aber einen wunderbaren Klang, echt, mit Surround, Bassröhre und USB-Anschluss“, versuchte ich mich zu rechtfertigen. Sie hat natürlich Recht, ein kleines Kofferradio mit Batterien wäre in dieser Situation angebrachter, auch wenn der Klang nicht so gut ist. Doch dann verschlug es uns beiden die Sprache. Unsere Lene stand vom Tisch auf und schüttete ihre eingerührten Cornflakes in die Spüle. „Was ist denn jetzt los?“ wollten wir wissen. „Na das schmeckt mir nicht. Wenn die Cornflakes in der Milch einweichen, will ich das nicht mehr!“ entschied meine Lene mit kindlich kreischender Stimme. „Ich will was anderes!“ Uns wurde langsam bewusst, in welchem Luxus wir leben. Aber was sollten wir ihr jetzt geben? Wir kaufen nicht auf Vorrat. Warum auch, der nächste Einkaufsmarkt in unserem Stadtteil ist nur wenige hundert Meter entfernt. Außerdem schauen wir regelmäßig nach Schnäppchen. Deshalb steht auch immer etwas Neues auf unserem Speiseplan. Letztens gab es im Angebot eingelegten 14


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Kandiszucker in Rumlikör und Irische Butter mit Mandelstückchen. In Gedanken ging ich meinen letzten Einkauf durch: Eine Doppelpackung Rooibostee, einen aromatischen Lufterfrischer mit der Duftrichtung Lilientraum, die ich so mag. Auch mehrere Dosen Diät-Drink für meine Frau, geröstete Kürbiskerne, eine Dose extracremiger Tsatsiki, eine Riesentube Meerrettichaufstrich mit der Aufschrift „extrascharf“ und im absoluten Sonderangebot, eine Kollektion Soßenbinder für helle und dunkle Soßen. Für’s Auto entdeckte ich im letzten Augenblick noch an der Kasse zwei Kissen Luftentfeuchter. Total preiswert, das Stück nur 2,99 €. Solche Kissen sind sehr nützlich, da laufen die Scheiben von innen nicht so schnell an. Bisher glaubte ich, einen guten Einkauf getätigt zu haben. Langsam kamen mir Zweifel und meine Laune verfinsterte sich weiter. Das kreischende Heulen meiner Tochter riss mich in die Realität zurück. Ich versuchte den klebrigen Brei in der Spüle wegzuspülen. Doch aus dem Wasserhahn kamen nur noch wenige Tropfen. Nun klebten nicht nur das Spülbecken sondern auch meine Hände. Mit einem Bogen Küchenpapier reinigte ich mich notdürftig. Dabei fiel mein Blick auf meine Armbanduhr. Ich erstarrte. Wir hätten schon längst los gemusst. Wir kommen zu spät. Alles stehen und liegen lassend stürzten wir in den Flur. Unsere Sachen suchten wir im Halbdunklen zusammen. Auf der Straße funkelten uns Eiskristalle entgegen. Es war ein kühler und grauer Morgen. Die Stadt wirkte irgendwie gespenstisch. Obwohl schon eine Menge Autos unterwegs waren, spielte sich alles im Halbdunkeln ab. Die gewohnten Straßenlaternen blieben ebenso dunkel wie die sonst so lustig flackernden Reklameschilder. Auch die Schaufenster wirkten wie riesige, schwarze Löcher. Nur die Luft roch angenehm 15


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frisch. Jeder Atemzug bescherte anschließend eine Dampfwolke beim Ausatmen. Eine dicke Schneeschicht lag auf dem Gehsteig. In der Nacht hatte es kräftig geschneit. Der Winter war unverhofft zeitig angekommen. Mir fiel auf, dass sich sehr viele Autos einen Weg durch den Schnee bahnten. Wir wohnen zwar inmitten eines großen Stadtteilzentrums, aber in unserer Nebenstraße bleibt es sonst um diese Zeit ruhig. Vielleicht lag es daran, dass der Schneepflug noch nicht vorbei gekommen war und einige Autofahrer Umfahrungen nutzten. Wir verabschiedeten uns voneinander. Es ist jeden Morgen das gleiche Ritual. Katrin bringt zuerst unsere Tochter Lene mit der Straßenbahn in den Kindergarten und fährt dann in Fahrgemeinschaft mit einer Kollegin zur Arbeit. Ich übernehme unseren Sohn Paul. Auf meinen Weg zur Arbeitsstelle lade ich ihn vorher an seiner Schule ab. Die wenigen Schritte bis zu unserem Auto rennen wir zwei. Das spart etwas Zeit und vielleicht kommen wir dadurch nicht ganz so spät. Paul klickt wie an jedem Morgen im Lauf auf die Autoschlüsseltaste. Die Warnblinkanlage grüßt zweimal zurück. Während er seinen Schulranzen verstaut und ich eine dicke Schnee- und Eisschicht von der Frontscheibe kratze, höre ich meinen Namen in der Ferne rufen. Katrin gestikuliert mit ihren Händen. Was denn nun, noch was vergessen? - denke ich. Doch als sie mit der kleinen Lene an der Hand herankam, begann ich zu begreifen. Die Straßenbahnen stehen. Ohne Strom kommen auch sie nicht vorwärts. Uns bleibt nichts weiter übrig als gemeinsam mit dem Auto zu fahren. Wir besitzen nur ein Auto. Der Weg wird für mich dadurch entschieden länger. Zuerst nach Norden zum Kindergarten. Dann noch ein Stück weiter zu Katrins Arbeitsstelle, einer Seniorenpflegeeinrichtung, und dann wieder zurück, an Pauls Schule vorbei um schließlich an das andere Ende der Stadt zu meinem Brötchengeber, einer Aufzugsfirma, 16


1. Backout – nichts geht mehr

zu gelangen. Na, das kann ja heiter werden, denke ich und starte das Auto. Mit einigen Mühen reihen wir uns in den Fahrzeugstrom ein. Vor uns sind einige Ampeln zu überwinden. Das heißt, die Ampeln waren allesamt ausgefallen. Lange Staus bildeten sich an jeder Straßenkreuzung. Damit kommen wir schon mal zu spät. Per Handy will Katrin ihre und meine Arbeitsstelle anrufen. Glücklicherweise hat sie ein Autoladekabel dabei. Damit lässt sich ihr Akku laden. Wer weiß, wie lange der Zustand noch anhält. Doch die Kanäle sind belegt, es ist heute wie verhext. Während wir weiter fahren, schalte ich das Radio ein. Die Ruhe ist erdrückend. Wenigstens die Nachrichten könnten wir hören. Das Radio funktioniert noch, welch ein Glück. Das heißt, irgendwie bekomme ich keinen vernünftigen Sender rein. Die automatische Suchfunktion springt über die Frequenzbänder. Auf den Kanälen sind nur Rauschtöne zu hören. Entweder ist meine Antenne defekt oder die haben alle keine Lust zum Senden. Dann eben nicht. Es ist auch mal schön, Kinderlieder von CD zu hören. Katrin singt gleich mit, auch Lene stimmt mit ein und Paul summt. Nur ich brumme still in mich hinein. Nach einer gefühlten unheimlich langen Zeit von einer halben Stunde, und einer Ausweichstrecke über Nebenstraßen, erreichen wir endlich Lenes Kindergarten. „Bei diesem Schneckentempo hätten wir auch laufen können.“ bemerkt meine Frau und hat damit sicherlich auch Recht. Der sinnige Name „Regenbogen“ prangt in bunter Schrift über der Eingangstür. Der Kindergarten liegt sehr idyllisch an einem großen Park. Den haben wir extra heraus gesucht, weil er sehr naturnah liegt. Auch die Erzieherinnen machten auf uns einen sehr netten Eindruck. Sie gründeten vor nicht all zu langer Zeit diesen „Waldkindergarten“. Zurück zur Natur war ihr Motto. Das fanden auch wir sinnvoll und so schreckten uns auch die zusätzlichen Fahrkilometer nicht ab. 17


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Es gab zwar auch einen in unserem Wohnviertel, zwischen einer Drogeriekette und einem Kfz-Händler. Doch da war kein Betreuungsplatz frei. Als wir das Auto verließen, kamen uns schon einige Mütter entgegen gelaufen. An ihrer Hand jeweils ein oder zwei Kinder. „Was ist los, warum lauft ihr zurück?“ Katrin blickte fragend eine entgegenkommende Frau an. Ich schaue derweilen auf einen kleinen weißen Zettel an der Eingangstür. Handschriftlich war zu lesen, dass die Kindertagesstätte heute wegen Heizungsausfall geschlossen bleibt. „Na super, kein Strom, keine Heizung und gleich machen die ihren Laden dicht!“ schrei ich etwas unbeherrscht. „Und was machen wir jetzt mit unseren Kindern?“. „Deine Aufregung bringt gar nichts!“ versuchte mich meine Frau zu beruhigen. Sie hat ja Recht, auch die Erzieher haben eine Obhutpflicht gegenüber den Kleinen. Und wenn in der Einrichtung alles dunkel und kalt bleibt ist die nicht mehr gesichert. „Man hätte zumindest eine Notbetreuung einrichten können!“ rief eine verärgerte Mutter. „Wie denn, einige Erzieherinnen sind noch gar nicht da, stecken wahrscheinlich irgendwo fest.“ „Und das Telefon geht auch nicht, man weiß nicht einmal, wohin man sich wenden soll“ beschwerte sich eine andere Mutter. „Weiß eigentlich irgendjemand, was überhaupt passiert ist?“ erkundigte sich eine andere Stimme. Das hätte ich auch gern gewusst. Aber wir schauten nur in ratlose Gesichter. Mein Gefühl sagte mir, das wir unseren Sohn nicht in die Schule schicken brauchen, denn da wird es nicht anders aussehen. Aber kann ich das einfach entscheiden? Schließlich gibt es eine Schulpflicht und als Eltern haben auch wir eine Sorgfaltspflicht. Einmal hatten wir bereits geschummelt. Es war kurz nach den Sommerferien. Wir planten eine Familienfeier für unseren Opa. Er hatte das rüstige Alter von 80 Jahren erreicht und wer weiß, 18


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wie lange uns unser Opa noch erhalten bleibt. Deshalb schrieben wir eine Mail an die Schule, unserem Sohn ginge es nicht gut und wir würden ihn gern einen Tag zu Hause lassen. Aber alles kam heraus. Paul erzählte am nächsten Tag natürlich alles haargenau, wie schön er die Geburtstagsfeier empfand. Er war ganz aus dem Häuschen und uns war das natürlich äußerst peinlich. Diese Plamage wollten wir nicht noch einmal erleben. Also stiegen wir wieder in unser Auto. Der CD-Player rotierte weiterhin und beschallte uns mit lustigen Kinderliedern. Katrin begann etwas gedämpfter zu singen und Lene stimmte lauter als zu vor ein. Sie verstand die ganze Aufregung ohnehin nicht. „Haben wir heute Urlaub?“ wollte sie wissen. Wir hatten unseren Plan geändert. Erst Paul in die Schule, dann Katrin zur Arbeit. Ihre Kollegin, bei der sie immer zusteigt, war längst schon weg. Doch auch in Pauls Schule sah es nicht anders aus. Es sah überhaupt nichts mehr aus wie sonst. Die Menschen waren voller Aufregung. Ein Polizeiauto mit Lautsprechern bat um Geduld. Die Stromversorgung würde in absehbarer Zeit wieder hergestellt, hieß es. Man solle Ruhe bewahren. Zwischendurch düsten mehrere Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr an uns vorüber. Überall staute sich der Verkehr. Sirenen waren zu hören und der flackernde Schein irgendeines Blaulichtes streifte uns. Statt der lustigen Kindermusik zu lauschen, stritten wir uns im Auto. Wer von uns bleibt heute zu Hause? Einer muss schließlich die Kinder betreuen. Ich müsste unbedingt meine Werkstatt erreichen. Als Mechaniker einer Aufzugsfirma bin ich für die Sicherheit vieler Wohnblocks verantwortlich. Vermutlich stecken noch Leute in Aufzügen fest. Zum Schichtbeginn muss ich den Notdienst ablösen. Die Menschen müssen befreit werden. Aber auch in den Lagerhallen der Großhändler sind sämtliche Kühlaggregate und 19


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Lüftungssysteme ausgefallen. Dazu müssen Notstromaggregate hingefahren werden, provisorische Leitungen sind zu ziehen. Dazu wird jeder Techniker gebraucht. Die Lagerarbeiter sind für so was nicht ausgebildet. Deshalb muss ich dringend… Katrin schnitt mir das Wort ab. „Was glaubst Du was jetzt in unserem Seniorenheim los ist. Die alten Menschen benötigen unbedingt warme Sachen. Die Bettlägerigen müssen rund um die Uhr betreut werden, Medikamente gereicht, die Mahlzeiten vorbereitet werden. Pro Station gibt es nur eine Schwester, bei dem knappen Personalbestand wird jede Hand gebraucht.“ Während wir unseren Unmut weiter austauschten, steuerte ich die nächste Tankstelle an. Meine Reserveanzeige leuchtete schon seit gestern. In der Regel komme ich da immer noch knappe 50 km weit. Aber mit dem Umweg und den vielen Staus heute Morgen hatte ich nicht gerechnet. Schon von weiten sahen wir die lange Autoschlange. „Nicht das noch!“ rief Katrin „Wieso müssen ausgerechnet heute alle Leute tanken?“ „Vergiss es!“ schrie ich zurück. „Schau nur, da tankt keiner.“ Und tatsächlich hangen die Zapfpistolen alle ordentlich an ihren Säulen. Auch hier war der Strom ausgefallen. Die Pumpen können den Treibstoff nicht aus den unterirdischen Tanks fördern. Ohne Strom läuft eben nichts mehr. Als ob ich das jetzt noch gebrauchen könnte, raunt mich Katrin an: „Warum musst du auch mit einem leeren Tank rum fahren? Hättest ja schon mal eher tanken können!“ „Wieso ich, es ist auch dein Auto, du kannst genauso tanken wie ich.“ versuchte ich mich zu verteidigen. Doch die Antwort kam sofort: „Das ist Männersache, liebst ja sonst auch dein Auto mehr als mich.“ Das kränkte mich. „Und du deine Alten im Seniorenheim. Die waren dir schon immer wichtiger als ich“, entgegnete ich ihr mit drohender Stimme. „Stimmt, die sind mir wenigstens dankbar für jede Kleinigkeit. Wozu du ja nicht 20


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fähig bist!“ schrie sie zurück. Zu allem Überfluss mischten sich unsere Kinder ein. Lene weinte und Paul schrie dazwischen. „Ich habe nicht mal ein richtiges Frühstück bekommen. Ich habe Hunger!“ Was sofort Katrin bewog zum nächsten Schlag auszuholen: „Da hast du es, nichts bekommst du auf die Reihe. Hättest ja Sonnabend mal zum Bäcker fahren können!“ Nun reichte es mir endgültig. „Wenn deine dämlichen Schichten nicht wären, hättest du genauso einkaufen gehen können.“ Die Stimmung war dahin, ich hatte keine Lust mehr. Wutentbrannt zog ich den Zündschlüssel ab und drückte ihn ihr in die Hand. „Dann fahr du weiter, weißt ja sowieso alles besser!“ Ich stieg aus, ich wollte nicht mehr. Die schreienden Kinder, meine gestikulierende Frau, die Autoschlange vor uns, das war eindeutig zuviel für mein Nervenkostüm. Wutentbrannt schlug ich die Autotür hinter mir zu und lief Richtung Tankstelle. Doch ich hatte mich nur wenige Schritte entfernt, da hörte ich, wie die Beifahrertür ebenfalls zuknallte. Als ich mich erschrocken umdrehte, flogen mir die Autoschlüssel zurück. Entsetzt sah ich, wie Katrin zu Fuß weg hastete, in Richtung Pflegeheim. Eigentlich wollte ich mit dem Rauchen aufhören. Der Gedanke beschäftigte mich schon längere Zeit. Doch nun vergaß ich erst mal meine guten Vorsätze. Im Handschuhfach befand sich noch eine Not-Zigarette. Die fingerte ich heraus und setzte mich auf die noch warme Motorhaube. Auch die Kinder kamen heraus. Sie blinzelten in die Sonne und kratzen den Schnee vom Fußweg zusammen, bis sie einen Schneeball formen konnten. Allmählich beruhigte ich mich etwas und überlegte, was jetzt vernünftig wäre. Auch die anderen Autofahrer saßen hinterm Steuer oder standen in kleinen Grüppchen zusammen. Wahrscheinlich hatte jeder so seine 21


1. Backout – nichts geht mehr

eigenen Probleme zu bewältigen. Am schlimmsten war die Ungewissheit, wann der Strom wieder kommt. Ich sprach einen vorbeilaufenden Herrn mit Hund an, ob er denn Näheres wisse. Er verneinte, es gäbe so verschiedene Vermutungen. Vielleicht sind es nur technische Probleme. Nein, nein, rief ein anderer, der sich zu uns gesellte. Das musste ja eines Tages mal so kommen. Seit dem die Grünen überall ihre Windräder aufbauen und die Atomkraftwerke der Reihe nach abgeschaltet wurden, wird das jetzt unsere neue Zukunft sein. Quatsch, winkte ich ab, das hat damit nichts zu tun. „Ach, du bist wohl auch so ein Grüner, dem wir das zu verdanken haben?“ Seine Stimme wurde jetzt ernster. Ich versuchte mich zu verteidigen. „Nein, nein, wir sind nur selber dran schuld, weil wir einfach viel zu viel Energie verbrauchen. Vielleicht sollten wir vernünftiger damit umgehen“. „Na soweit kommt es noch, dass ich zu Hause mit Kerzenlicht sitze. Als wenn wir die Großverbraucher wären. Schau Dir doch die Reichen an, in welchem Luxus die schwelgen.“ Mir schwoll langsam der Kamm. Ein Blick auf seine 240 PS-Karosse, die da vor mir parkte, verriet mir, dass es ihm auch nicht so schlecht gehen müsse. “Dein SUV schluckt ja auch ganz schön“ entgegnete ich. Doch ich erntete damit nur höhnisches Gelächter. „Tja mein Lieber, man lebt nur einmal und wer es sich leisten kann…“ Plötzlich schauten mich zwei grimmige Augenpaare an. Ok., ich gab es auf. Bevor diese Typen noch ausrasten ziehe ich mich lieber zurück. Ich sammelte meine zwei Kinder ein und startete den Motor. Ich wendete auf der Straße und fuhr zurück, in Richtung unserer Wohnung. Mal sehen wie weit der Sprit noch reicht. Vielleicht schaffe ich es noch zurück. Sicher ist in ein paar Stunden der Strom wieder da und dann laufe ich mit einem Benzinkanister zur Tankstelle. Dabei kam mir unwillkürlich die Fernsehwerbung im Sinn, bei dem ein Mann 22


1. Backout – nichts geht mehr

mit einem blauen Kanister auf der Straße läuft und dabei das Lied: „I’m walking da, da, da – I’m walking da, da, da…“ tönt. Mir lag das Lied gerade auf den Lippen als der Motor zu stottern anfing. Das war’s dachte ich und meine Lene fragte auch gleich, ob jetzt der Motor kaputt ist. Während ich mit dem letzten Schwung unsere Limousine an den Straßenrand manövrierte, erklärte Paul die Ursache. „Auch der Motor hat Durst und wenn der Tank leer ist, läuft auch er nicht mehr“. „Dann gib ihn doch etwas zu trinken!“ rief Lene. „Geht nicht, die Tankstelle hatte zu.“ erklärte Paul geduldig. Wir stiegen aus. Paul schulterte seinen Schulranzen, ich meine Arbeitstasche. Nur Lene blieb sitzen. „Was ist mit Dir, willst Du nicht mit?“ „Doch“, entgegnete sie. „Nur habe ich auch Durst und ohne etwas zu trinken kann ich nicht laufen!“ Das wird langsam zu einem Problem, denke ich. Wir haben zu Hause noch eine Flasche Selters stehen. Das muss erst mal reichen. „Lene“, sagte ich, „unsere Tankstelle ist nicht mehr weit. Wir laufen mit unserer Reserve nach Hause und dort tanken wir uns erst mal richtig auf“. Das half und so begaben wir uns auf dem Weg. Lene war immer noch der Meinung, dass wir heute Urlaub haben und ich fand mich langsam damit ab.

Die folgenden Tage Was so harmlos anfing, kann schon nach einigen Stunden bedrohlich werden. Was passiert wirklich, wenn der Strom länger ausfällt? Vielleicht eine Woche oder gar einen Monat? Sind wir dieser Situation überhaupt gewachsen? Nicht nur die technische Herausforderung wird uns einiges abverlangen. Auch Mental werden wir gefordert werden. Was passiert mit uns, wie werden wir reagieren, wie lange halten wir das durch? Am heftigsten werden die Auswirkungen eines globalen Stromausfalles in den Ballungsgebieten zu spüren sein. In den 23


1. Backout – nichts geht mehr

Städten, da wo viele Menschen zusammen leben, wird es schon nach wenigen Stunden prekär. Als erstes strömen die Menschen aus ihren Häusern und Büros auf die Straßen. Alle auf der Suche nach einem praktikablen Weg aus der plötzlichen Finsternis. Jeder versucht, sich zu informieren. Tausende von Computern sind abgestürzt, Radio und Fernsehgeräte sind abrupt verstummt. Kein Telefon funktioniert mehr, denn auch den Telefonanlagen fehlt es an Strom. Zwar funktionieren die Mobiltelefone noch, jedoch die Funkkanäle sind innerhalb kürzester Zeit völlig überlastet. Wenn sich hunderttausende Menschen fast zeitgleich ins Funknetz einwählen und ebenso viele Textnachrichten verschickt werden, ist jeder Netzanbieter überfordert. Doch schon nach wenigen Stunden geht auch den Sendemasten und Umsetzern die Notstromreserve aus. Dann fallen große Datencenter aus, bleiben unzählige Webseiten unerreichbar. Wer seine Daten in der Cloud oder auf virtuellen Festplatten im Internet gesichert hatte, hat keinen Zugriff mehr. Schlimmer trifft es die Menschen, die in den unzähligen Personenaufzügen irgendwo zwischen den Stockwerken hängen und auf Hilfe hoffen. Ähnliches wird sich unter der Erde abspielen. In den U-Bahnstationen wird es dunkel. Die Notbeleuchtungen reichen zwei bis drei Stunden, genügend Zeit um die Bahnhöfe zu verlassen. Was aber spielen sich für Szenen in den überfüllten U- und S-Bahnen ab? Keiner weiß, wann der Strom wieder kommt. Man kann doch nicht einfach aus einem stecken gebliebenen Zug aussteigen und irgendwo zwischen den Gleisen herum laufen. Auch das Zugpersonal wird so schnell keine Auskunft geben können. Nervös und ungeduldig werden bald die ersten Reisenden anfangen zu schimpfen. Unverständnis, Erregung und Ärger über verpasste

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1. Backout – nichts geht mehr

Termine und die Hilflosigkeit der Situation heizen das Klima an. Kinder weinen, Angst breitet sich aus. Ungeduld auch in den Restaurants, in den Kinosälen, Theatern, Diskotheken. Für die Musiker und Künstler auf den Bühnen wird es beunruhigend. Die Scheinwerfer sind aus, die Medienplayer haben keine Funktion mehr. Nicht einmal über Mikrofon lässt sich eine Durchsage organisieren. Während Techniker fieberhaft nach Lösungen suchen, herrscht bei den Veranstaltern die pure Ratlosigkeit. Soll die Veranstaltung abgebrochen werden, das Publikum nach Hause gehen? Was aber, wenn der Strom nach wenigen Minuten wieder da ist? Wie lange hält dieser Zustand an? Die Gefahr einer Panik steigt von Minute zu Minute zeitgleich mit der Anzahl der immer ungeduldiger werdenden Menschen. Richtig gefährlich wird das in Großveranstaltungen. Auf den Straßen sieht es nicht viel besser aus. Auch dort herrschen bald wirre Zustände. Die Straßenschluchten haben ihr kunterbuntes Leben verloren. Die Schaufenster sind dunkel, die Reklametafeln grau und auch die Straßenlaternen sind längst erloschen. Unzählige Ampelregelungen sind ausgefallen. In den Hauptverkehrsadern bilden sich erste Staus. Aus den Autoradios und batteriebetriebenen Empfängern ertönen nur dürftige Informationen – wenn überhaupt. Doch mehr, als dass der Strom überall weg ist, erfährt man auch darüber nicht. Daran können auch die Lautsprecherdurchsagen der herumfahrenden Polizeiwagen nichts ändern. Keiner hat genaue Informationen. Immer mehr Sirenen schallen von Rettungsfahrzeugen durch die Dunkelheit. Vermehrt melden sich die schrillen Signale von ausgefallenen Alarmanlagen. Diese halten über Stunden an, bis sich die Akkus langsam entleeren.

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1. Backout – nichts geht mehr

In den Banken herrscht pures Entsetzen, die Geldautomaten spucken kein Geld mehr aus. Lange Schlangen auch in den Supermärkten. Panikkäufer wollen sich schnell mit Batterien, Kerzen und Zündwaren eindecken. Nicht lange, dann werden auch die Lebensmittelbestände und Getränkevorräte aufgekauft. Doch die elektronischen Kassen funktionieren nicht mehr. Die Preise müssen alle einzeln durch die Kassiererinnen von der Verpackung abgelesen und per Hand zusammengerechnet werden. Das schafft weiteren Unmut bei den wartenden Kunden. Bald wird es auch da drunter und drüber gehen. Das Personal wird bald überrannt, Diebstahl und Entwendungen sind der Anfang. Irgendwann kommt es zu den

Bild 2: Flucht aus der Großstadt

ersten Plünderungen. Wer mit dem Auto nach Hause will, bleibt im dichten Straßenverkehr stecken. Weil weder S-Bahn, U-Bahn noch Straßenbahnen fahren, werden die Menschen sich auf die Busse konzentrieren. Und fast jeder, der dem drohenden Kollaps entkommen will, wird mit dem Auto flüchten wollen. Innerhalb kürzester Zeit kommt die mobile 26


1. Backout – nichts geht mehr

Gesellschaft zum völligen erliegen. Wer noch einen vollen Tank hat, kann sich glücklich schätzen. Denn auch an den Tankstellen fließt kein einziger Tropfen Treibstoff mehr durch die Zapfpistolen. Jede Maschine, jeder Motor, jede Pumpe wird innerhalb kürzester Zeit stehen bleiben. Damit wird es sowohl in den hübschen Einfamilienhäusern genauso wie in den Hochhäusern und Wohnblocks nicht nur dunkel, sondern auch kalt. Denn die Umwälzpumpen und Steuerelemente der Heizungsanlagen laufen nicht mehr. Der Wasserdruck in den Trinkwasserleitungen wird allmählich nachlassen und auch hier wird die Versorgung bald enden. Hochbetrieb herrscht in den Krankenhäusern, bei den Stadtwerken und den Einsatzzentralen der Rettungskräfte. Diese sind auf den Notfall vorbereitet. Mächtige Dieselmotoren halten die Notstromversorgung am Laufen. Die wichtigsten Funktionen, lebensrettende Maßnahmen und der komplette Informationsfluss per Telefon und Funk werden noch eine Zeit lang aufrechterhalten. Sicher auch hier nur, solange der Treibstoff reicht. Spätestens nach acht bis zehn Stunden wird es eng. Kommt dann von außerhalb keine Hilfe, bleiben auch hier die Motoren stehen. Und auf dem Land? Wenn hier zwar kein Verkehrschaos ausbricht, so haben die Menschen da mit völlig anderen Problemen zu kämpfen. Die Landwirtschaft wird sehr schnell darunter leiden. In den Geflügelmastanlagen fällt abrupt die Belüftung aus. Der Ammoniakgehalt steigt in kürzester Zeit unerträglich an. Die Futterschnecken liefern keine Nahrung mehr. Die Hähnchen werden innerhalb kurzer Zeit ersticken oder verhungern. Noch schlimmer wird es den Milchkühen ergehen. Gewohnt, dreimal am Tag gemolken zu werden, 27


1. Backout – nichts geht mehr

werden sie vor den automatischen Melkmaschinen stehen. Doch in den Milchviehanlagen mit 200 bis 300 Kühen, kann keine Kuh automatisch gemolken werden. Schnell werden die Tiere unruhig, ihre Euter schmerzen. Sie werden sich schon nach Stunden entzünden. Die Kühe schreien erbärmlich. Wer kann heute noch mit der Hand melken? Selbst wenn alle Landwirte, die das alte Handwerk noch beherrschen, beherzt eingreifen, es sind zu viele Tiere. Wer wagt die erste Notschlachtung, bevor die Tiere qualvoll verenden? Dieses Szenario lässt sich noch beliebig fortsetzen. Zu vielfältig und zu umfangreich sind die Folgen. Doch sie sind kein Phantasieprodukt, sie sind realitätsnah. Der komplette Stromausfall einer ganzen Region ist eine Katastrophe. Es löst eine Kettenreaktion innerhalb kürzester Zeit aus. Der Pulsschlag einer Großstadt gerät aus dem Takt. Innerhalb von wenigen Tagen wird unsere moderne Gesellschaft in ein längst vergangenes Zeitalter zurückkatapultiert. Wer tiefsinnig unsere heutigen Lebensansprüche betrachtet, wird zwangsweise zu dem Schluss kommen, dass ein Leben ohne Strom unmöglich ist. So wie wir heute Leben, soviel Energie, wie wir glauben zu brauchen, so werden wir nicht unendlich weiterwirtschaften können. Mit dem ständigen Streben nach wachsenden Ansprüchen begeben wir uns auf immer dünneres Eis. Zu empfindlich, zu anfällig, zu teuer ist unser System. Die ersten Epochen der menschlichen Lebensformen bewältigten wir mit der Kraft unserer Muskeln und der Intelligenz. Unsere Intelligenz erhob sich aus dem Reich der Natur und nutzte Tiere und Pflanzen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Die Ergebnisse wurden immer mehr verbessert und verfeinert, bis daraus hochpräzise, vollkommene Bauwerke und Apparaturen entstanden. Mit der Erfindung der Elektri28


1. Backout – nichts geht mehr

zität katapultierten wir uns auf eine weitaus höhere Ebene. Noch präziser, noch vollkommener wurden unsere Bauwerke und Apparaturen. Die natürlichen Gegebenheiten allein reichen heute nicht mehr, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Das Zeitalter der Informationstechnologie beherrscht uns. Jeder will mit Jedem Informationen austauschen. Der Informationsvorsprung dient zur Instrumentalisierung der Macht auf die kein Volk verzichten will. Wollen wir diese Entwicklung beibehalten, müssen wir eine dritte Dimension anstreben. Eine, die uns unabhängig von den erschöpflichen Energieressourcen macht. Sonst werden wir uns eines Tages um die letzten Energiequellen streiten. Dann werden Kriege nicht um Land und Glauben sondern um Kilowatt und Gallonen geführt.

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1. Backout – nichts geht mehr

Bild 3: Hochspannungsnetz

Wie unsere Stromversorgung funktioniert Um zu verstehen, wie gefährdet und anfällig unser gesamtes Stromnetz gegenüber äußeren und inneren Einflüssen sein kann, sollten wir uns das Stromnetz einmal genauer anschauen. Dabei müssen wir uns im Klaren sein, dass die Stromversorgung zu einem der umfangreichsten und kompliziertesten technischen Meisterwerke des Menschen gehört. Es ist weder von einzelnen Personen noch von einzelnen Computern beherrschbar. Es ist ein riesiges, über große Teile des Globus verteiltes Netzwerk, an denen mehrere Millionen Menschen und Computer beteiligt sind. Und es besitzt eine gespenstische Besonderheit: Der Strom muss immer zur selben Zeit erzeugt werden, zu der er auch verbraucht wird. Auch wenn dazwischen tausende von Kilometern liegen, verteilt er sich in Lichtgeschwindigkeit. Er kann nicht zwischendurch gelagert, bevorratet oder geparkt werden. Die Energie, die einmal 30


1. Backout – nichts geht mehr

„verstromt“ wurde, muss im selben Moment auch wieder „verbrannt“ werden, egal in welcher Menge. Da das Stromnetz selbst nicht in der Lage ist, etwas abzuspeichern oder anderweitig zu kompensieren, würde es sich bei einem Ungleichgewicht sekundenschnell selbst zerstören. Das es dies bisher nicht getan hat, ist dem unermüdlichen Engagement tausender Techniker und Ingenieure zu verdanken, die tagtäglich über das Stromnetz wachen.

Bild 4: Höchstspannungs-Umspannwerk

In Europa existieren aufgrund räumlicher und technischer Erfordernisse mehrere große, miteinander verkoppelte Verbundsysteme. Diese bestehen im Allgemeinen aus dreiphasigen Höchstspannungs-Wechselstromnetzen, mit Spannungen von 220.000 Volt bis 400.000 Volt und einer Netzfrequenz von 50 Hertz. In anderen Kontinenten, z. B. im angekoppelten Netz Nordamerikas, verwendet man im Allgemeinen eine Netzfrequenz von 60 Hertz. In Russland existiert ein 750.000 Volt Netz, von dem einzelne Leitungen auch nach Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien führen. In Polen existiert im Landesinneren ein Abschnitt mit 750.000 Volt Leitungen. 31


1. Backout – nichts geht mehr

Daneben betreiben die Eisenbahnen noch ein Netzsystem mit 110.000 Volt Leitungen und einer Netzfrequenz von 16,7 Hertz. Diese hohen Spannungen sind notwendig, um die Verluste über große Entfernungen und die Leiterquerschnitte gering zu halten. Außerdem lassen sich große Spannungen leichter schalten als große Ströme. Diese riesigen, miteinander gekoppelten Verbundnetze dienen zur internationalen Grobverteilung der elektrischen Energie über Ländergrenzen hinweg. An ihnen sind viele große Kraftwerke, Ballungsgebiete und große Wirtschaftszentren sowie die untergeordneten Netzebenen angeschlossen. Nur so lassen sich Über- oder Unterkapazitäten ausgleichen. Denn auf größere Lastschwankungen reagieren Kraftwerke viel zu träge bzw. nicht schnell genug. Kommt es zum Beispiel zum kompletten Ausfall eines Kraftwerkes, kann durch Umleitung aus anderen Netzen die fehlende Energie schneller kompensiert werden. Dazu muss die Netzfrequenz in einem Verbundsystem überall gleich und synchronisiert sein. Sie darf nur um etwa 0,05 Hertz von der 50 Hz Norm abweichen. Das ist deshalb so, weil die Generatoren zur Stromerzeugung genau mit 50 Umdrehungen je Sekunde rotieren. Stromnetze mit unterschiedlicher Frequenz oder Phasenzahl oder Stromnetze, die nicht miteinander synchronisiert sind, müssen über Hochspannungs-Gleichstrom-ÜbertragungsAnlagen oder Motor-/Generator-Kombinationen miteinander gekoppelt werden. Alle anderen Systeme sind über gigantische Transformatoren in Umspannanlagen miteinander verbunden. Wenn nun in einem Verbundnetz ein großer Kraftwerksblock ausfällt, bewirkt das ein enormes Leistungsdefizit. Die Generatoren der anderen Kraftwerke müssen sofort die Leistung abfangen. In der Praxis heißt das, die Antriebsenergie der Generatoren muss vergrößert werden, sonst drehen sich die Generatoren langsamer. Was natürlich in Sekundenschnelle 32


1. Backout – nichts geht mehr

auch funktioniert. An dieser "Primärregelung" sind Kraftwerke aus dem gesamten Verbund beteiligt. Damit immer genügend Reserven vorhanden sind, sind sie deshalb verpflichtet, ihre Generatoren nur mit maximal 97,5% der möglichen Antriebsleistung zu fahren. Diese 2,5% sind die Leistungsreserven eines jeden Kraftwerkes. Das scheint nicht viel zu sein, doch die Masse der Kraftwerke macht es aus. Je größer ein Verbund ist, umso größer ist daher auch die Leistungsfähigkeit der Sekundärregelung. Und der Verbund ist auch gigantisch groß. Allein Deutschland besitzt (mindestens bis zum Jahr 2022) neun aktive Kernkraftwerke (2), sowie derzeit 148 Kohlekraftwerke (3), 7679 Wasserkraftwerke (4), 26562 Windkraftanlagen an Land und 835 Offshore (auf See) (5), 1,6 Millionen Photovoltaikanlagen (6). Steigt im westeuropäischen Verbundnetz ein Erzeuger mit etwa 1000 MW Leistung aus, bewirkt dass eine Frequenzabsenkung um ungefähr 0,08 Hertz aller am Netz befindlichen Generatoren. Folgen weitere Ausfälle (oder schalten sich zeitgleich überdurchschnittlich viele Verbraucher zu) würde die Netzfrequenz weiter sinken. Aus technischen Gründen darf aber die Frequenz nur bis 47,5 Hertz fallen. Ansonsten würden in den langsamer laufenden Generatoren mechanische Resonanzschwingungen auftreten. Diese sind bei den gewaltigen Maschinenmassen so groß, dass sie sich selbst zerstören würden. Die Kraftwerksbetreiber müssen deshalb bei Erreichen dieser Grenze ihre Generatoren vom Netz trennen und im Leerlauf halten oder herunterfahren. Bevor dieser Fall aber eintritt, werden innerhalb weniger Minuten Regelkraftwerke, das sind Pumpspeicherwerke und Gasturbinenkraftwerke, zugeschaltet. Das ist die zweite Reserve, die auch Sekundärregelung genannt wird. Bis hierher funktioniert das alles vollautomatisch. Erst wenn das nicht ausreicht, muss der Mensch eingreifen. Per Hand werden dann Verbraucher vom 33


1. Backout – nichts geht mehr

Netz genommen. Zunächst die, bei denen die geringsten Schäden zu erwarten sind. Das können große Kühlanlagen oder Wohngebiete sein. Kurzzeitig, bis zu einer Stunde, auch große Industrieöfen, wie zum Beispiel die Aluminiumschmelzen Triemet (9), die mit 400 MW etwa 1% Deutschlands Energie verbraucht. Umgekehrt funktioniert das natürlich genauso, wenn plötzlich ein Leistungsüberangebot vorhanden ist. Dann steigt sofort die Frequenz. Bereits über 50,2 Hz wird es schon kritisch. Dann gehen die Pumpspeicherwerke auf Pumpbetrieb und die Kraftwerke müssen mächtig viel Dampf in die Atmosphäre verpuffen, um die Antriebskräfte herunterzufahren. Neben den großen Verbundnetzen wird der Strom weiter über drei untergeordnete Spannungsebenen verteilt. Das Hochspannungsnetz (110 000 Volt), das Mittelspannungsnetz (10 bzw. 20 000 Volt) und das Niederspannungsnetz (230/400 Volt). Letzteres ist also das Netz, welches direkt in unseren Häusern und Gebäuden endet. All diese Leitungen allein in Deutschland zusammen ergeben eine Länge von rund 1,6 Millionen Kilometern. Damit könnte man rund 40mal den Äquator umspannen. Doch das ist bei weitem noch nicht der Endstand unserer heutigen Energieversorgung. Gerade diese Struktur befindet sich derzeit in einem heftigen Wandel. Heute sind wir glücklicherweise immer mehr in der Lage, Strom dezentral aus Sonnen-, Wasser- oder Windenergie zu gewinnen.

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1. Backout – nichts geht mehr

Beispiel einer größeren Störung im UCTEVerbundnetz: “Am 28. September 2003 fiel nahezu im gesamten italienischen Raum bis zu 15 Stunden der Strom aus. Auch Teile von Frankreich, der Schweiz und Österreich waren kurzzeitig betroffen. Insgesamt saßen 57 Millionen Menschen mitten in Europa im Dunkeln. Die Ursache war ein Kurzschluß gegen 3 Uhr auf der 380 kVBild : 6 Höchstspannungs- Lukmanierleitung zwischen der Übertragung Schweiz und Italien.(7) Im Rom fand gerade die „Weiße Nacht“ statt, mit zahlreichen Großveranstaltungen und kostenlosen Eintritten in Museen. Da innerhalb von Italien nicht schnell genug entsprechende Lasten vom Netz genommen wurden, scheiterte eine Wiederinbetriebnahme der Leitung und in einer Kettenreaktion wurden alle anderen Verbindungsleitungen zwischen Italien und seinen Nachbarn wegen Überlastung abgeschaltet. Italien, welches von Stromimporten abhängig ist, konnte nach der Abtrennung vom europäischen Verbundnetz das landeseigene Stromnetz nicht mehr aufrechterhalten. Der Wiederaufbau des Netzes dauerte – gestaffelt nach Regionen – zwischen 5 und 18 Stunden“

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1. Backout – nichts geht mehr

Kleine und große Fotovoltaikanlagen, Windgeneratoren sowie die Kraftwärmekopplung, wie sie jetzt häufig auch für den Heimgebrauch eingesetzt werden, liefern Strom direkt in das Niederspannungsnetz (400 V). Das hat zwangsläufig direkte Auswirkungen auf die Verteilnetze, denn die Verfügbarkeit kann sich je nach Wetterlage (Sonne und Wind) permanent ändern. Die immer mehr dezentralen und zum Teil unregulierten Einspeisungen, auch von Kleinstmengen, stellen neue Anforderungen an das bestehende Netzsystem. Im Jahr 2015 betrug die Einspeisung von Elektroenergie aus erneuerbaren Energiequellen bereits 29,5% (123.188 GWh) (8) . Das soll sich nach Angaben des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit bis 2050 auf ca. 80% erhöhen. Die Deutsche Energie-Agentur (dena) hat deshalb in einer Studie den Ausbau- und Investitionsbedarf der Stromverteilnetze in Deutschland untersucht. Als Basis wurden reale Last- und Erzeugerdaten zu Grunde gelegt. Demnach wird es erforderlich werden, bis zum Jahr 2030 rund 218 000 km Stromnetzleitungen um- und auszubauen. Das ist abhängig wohin sich der Energiebedarf und die alternative Stromproduktion weiter entwickeln werden. Vermutlich wird diese gewaltige Investition auch unser Landschaftsbild in Zukunft verändern. Neue Hochspannungsleitungen mit ihren Stahlgittermasten, Umspannwerken und Verteilerstationen werden die Landstriche weiter zerschneiden. Windkraftanlagen und Solarparks werden überall sichtbar werden. An dieses Landschaftsbild werden wir uns gewöhnen müssen. Das ist der Preis unseres hohen Energiebedarfs. Zurück zur Ausgangsfrage der Netzsicherheit. Nach Aussagen des großen Netzbetreibers „50-Hertz“ arbeitet derzeit etwa ein Drittel des deutschen Netzes an der absoluten Belastungsgrenze. Während in den früheren Jahren die Grenze 36


Re i ne rDi t t r i c h

Re i ne rDi t t r i c h

Re i ne rDi t t r i c h( ge b.1 9 6 1 ) ,s t a a t l i c h ge pr üf t e rHoc hba ut e c hni k e r und Ha ndwe r k s me i s t e rE l e k t r ot e c hni k , v e r öffe nt l i c ht eme hr e r eBüc he r , di es i c hmi tpr a k t i s c he n T he me ns c hone nde rL e be ns we i s e ,Umwe l t s c hut zund ba ue nmi tNa t ur ba us t offe nbe s c hä f t i ge n. E ra r be i t e ts e i t v i e l e nJ a hr e nbe ide rS ä c hs i s c he nL a nde s s t i f t ungNa t ur undUmwe l t , unde r l e bt eha ut na hme hr e r eHoc hwa s s e r k a t a s t r ophe ni mS ä c hs i s c he nE l bt a l mi t .

Rei nerDi t t r i c h

Obe shöhe r eNa t ur g e wa l t e ns i nd,me ns c hl i c he sVe r s a g e n ode re i nf a c hnurGe l dnöt eda z uz wi ng e n,e ska nnj e de n t r e ffe n: Pl öt z l i c hi s tde rS t r om we g . Wa sa nf a ng snurwi ee i neS t ör unga us s i e ht , ka nns i c h s c hne l lz urKa t a s t r ophee nt wi c ke l n. Wi ee i ns ol c he sS z e na r i oa us s i e htundwe l c heMög l i c hke i t e ne sg i bt , t r ot z de me i ng e or dne t e sLe be nz uf ühr e n, be s c hr e i btdi e s e rRa t g e be ra us f ühr l i c hunde i ndr uc ks v ol l . Zus ä t z l i c hr e g tda sBuc ha n,r e c ht z e i t i gv or he rübe ra l t e r na t i v eS t r omv e r s or g ung e nundVor s or g e ma ßna hme nna c hz ude nke n.


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