Weiße Langnase – Ein Schwabe bei den Ureinwohner Sri Lankas

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Ein Schwabe bei den Ureinwohnern Sri Lankas

Herbert Müller

Ein Schwabe bei den Ureinwohnern Sri Lankas

Laudatio

Laudatio

Laudatio

Herbert Müller www.laudatio-verlag.de

19,95 €

ISBN 978-3-941275-97-3

Weiße Langnase

Weiße Langnase

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chon als kleiner Junge träumt der gebürtige Schwabe und leidenschaftliche Natur- und Tierfilmer Herbert Müller davon, es seinen Vorbildern, den berühmten Forschern und Abenteurern Sven Hedin und Thor Heyerdahl, gleichzutun und die Schönheiten der Wildnis selbst zu erkunden. Die Faszination des Autodidakten Müller gilt dabei seit jeher dem Reiz des Unbekannten und der Entdeckung seltener Tiere und Pflanzen. Mit Mitte 40 ist es dann endlich so weit und der Hobby-Botaniker bereist zunächst allein und später zusammen mit seiner Familie die entlegenen Regenwald- und Dschungelgebiete Südostasiens. In seinen poetischen und spannenden Reiseerzählungen entführt er den Leser in eine schillernde und geheimnisvolle Welt voller Abenteuer und überraschender Begegnungen mit Einheimischen, die schon bald zu Freunden werden. Herbert Müller gelingt es so, ein beeindruckend plastisches und lebendiges Bild von Land und Leuten zu zeichnen, welches uns das Gefühl vermittelt, selbst Teil dieser unvergesslichen Reise geworden zu sein.


Herbert MĂźller

WeiĂ&#x;e Langnase

Laudatio

Ein Schwabe bei den Ureinwohnern Sri Lankas


Impressum Alle Rechte vorbehalten © 2016 Laudatio Verlag, Frankfurt am Main Autor: Herbert Müller Lektorat: Daniela Jungmeyer Umschlagbild: © Svetlana Nikolaeva, fotolia.de (Titel) Fotos von den Weddas: © Wolfgang Uhl Sri Lanka: © Uwe Merettig, © Markus Wydera Wenn nicht anders bezeichnet: © Herbert Müller ISBN 978-3-941275-97-3 www.laudatio-verlag.de


Die prächtige Perahera Zeremonie Genervt vom fröhlichen Geschrei unserer Kinder wurde ich aus dem allertiefsten Schlaf gerissen. Schon wollte ich die beiden Lauser mahnen, sich mitten in der Nacht gefälligst etwas ruhiger zu verhalten. „Der heutige Tag wird lang und anstrengend werden. Stellt euch darauf ein“, lautete meine dringende Mahnung. „Ordentlich erfrischen, nicht mit leerem Magen losziehen und vorher bereits genügend trinken, denn es wird wieder sehr heiß. Auch an Ballast wird nur das Allernötigste mitgenommen, und was Kleidung und Schuhzeug betrifft, dürfte ohnehin alles klar sein“, meinte ich so nebenbei. Nach unserer Ruhepause konnten wir es kaum erwarten, die Perahera und das ganze Drumherum live mitzuerleben. Pünktlich wie verabredet trafen wir uns am schilfüberdachten Stellplatz unseres Wagens. Und die Sonne brannte gnadenlos! Zwar hatten wir uns aus der Erfahrung heraus gründlich eingecremt, doch die Haut zeigte bereits erste Spuren. Vorsichtig fuhren wir den abschüssigen Schotterweg hinunter ins Tal. Trotzdem rutschte unser Gefährt immer wieder, fast ohne dass die Reifen griffen, knapp an gefährlichen Abhängen vorbei. Doch zu Freddy, unserem Fahrer, hatten wir absolutes Vertrauen, so auch zu Björn, seinem Freund. Immer wieder machte Freddy, der ein ausgesprochener Spaßvogel war, seine Späßchen. Ich fühlte mich dabei richtig wohl. Zumal im Anschluss an die Kandy Perahera unser Abenteuer bald beginnen würde. Bei unserer Fahrt zum heiligen Bezirk rund um den Zahntempel herrschten bereits reges Treiben und Gedränge. Jeder wollte den möglichst besten Platz mit optimaler Sicht. Vor allem Familien mit Kindern, die am gestrigen Abend nicht dabei sein konnten, sowie etliche Touristen. Schaulustige und Pilger in ihren festlich bunten Gewändern prägten neben der

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großen Schar an Händlern und denen, die das große Geschäft witterten, das bunte Straßenbild! Man spürte direkt das Knistern, das in der Luft lag. Wir mischten uns einfach unter die Menge und waren wenige unter vielen. „Passt gut auf euer Geld und alle Wertsachen auf und lasst nichts aus den Augen. Denn es gibt auch hier schlechte Menschen, vor denen nichts sicher ist“, mahnten uns die Freunde zur Vorsicht. Das verführerische Angebot an Köstlichkeiten und Getränken, aber auch kunterbuntem Ramsch kannte keine Grenzen! Doch wo es für uns Exoten absolut kein Vorbeikommen gab, das waren die farbenprächtigen, scheinbar aus einer anderen Welt stammenden, bunten unwiderstehlichen Obststände. Sven und Cornelia, unsere beiden kleinen Schleckermäuler, hatten sich längst auf die feinsten Früchte geeinigt. Zum Schluss hatten sie samt meiner Frau alle Hände voller Tüten. Sie mussten sich sehr bemühen, damit sie nicht die Hälfte davon verloren. Während Else mit den Kindern immer wieder Faszinierendes, Neues und Unbekanntes entdeckte, lief ich die schwere Kameraausrüstung schleppend hinterher. Die Freunde blieben dagegen immer etwas auf Abstand, hielten jedoch stets Blickkontakt mit ihren Schützlingen. Da beim Kauf irgendwelcher Dinge immer gehandelt wurde, waren sie stets darauf bedacht, dass wir nicht übers Ohr gehauen wurden. Mit allgemeiner Erleichterung zog unser kleiner Tross Richtung Haupttribüne. Unsere Freunde – wahre Kavaliere, die sich längst der ganzen Obsttüten bemächtigt hatten – zur Freude meiner Naschkatzen. Der Weg zur Tribüne wurde zu einem einzigen Spießrutenlauf. Je näher wir kamen, umso größer war der Trubel. Jeder Schritt musste durch heftiges Schubsen neu erkämpft werden. Dabei galt das Augenmerk immer den Kleinsten, die im Gewühl fanatischer Gläubiger fast zu ersticken drohten.

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Doch auch ich stieß mit so manchem Schaulustigen zusammen, bis wir endlich unsere Tribünenplätze erreicht hatten. Neugierige, oft auch unverständliche Blicke verfolgten mich ständig! Endlich, es war geschafft! Das extra für die Perahera erstellte Ungetüm lag uns zu Füßen. Mit Erleichterung stapften wir erhobenen Hauptes vorbei an den Ehrengästen zu unserer Loge der Haupttribüne. „Hallo, wir haben es geschafft – wir sind da!“ Schnell hatte ich meine Kamera samt Stativ in die richtige Position gebracht. Wir saßen in der untersten Reihe – von dort aus zeigte sich ein hervorragendes Blickfeld zur Straße des Zuges hin, direkt gegenüber dem See – Garant für Filmaufnahmen bester Qualität. Zudem standen mir alle Möglichkeiten offen, Gäste und Besucher auf der Haupttribüne ins Visier zu nehmen. Meine ersten Probeaufnahmen verliefen zu meiner vollsten Zufriedenheit! Eigentlich konnte die Prozession gleich beginnen, doch an der Bewegung und dem Verhalten der Menschen war zu erkennen, dass noch viel Geduld erforderlich war. Zum Glück gab es in unmittelbarer Nähe keine störenden Besucher oder andere Gäste, da die Preise für gewöhnliche Sterbliche unerschwinglich und Karten zudem nur schwer zu erhalten waren. Längst hatte ich das Augenmerk vieler Leute auf mich gelenkt. Wäre ich das Ganze nicht gewohnt gewesen, würde das schon gewaltig nerven! Es galt als erstes Gebot, sich ruhig und cool zu geben. Kein Zeichen von Unsicherheit. Jede meiner Bewegungen wurde von den Wartenden genauestens beobachtet. Zwar war etwas weiter entfernt eine weitere Kamera im Einsatz, doch schienen die Menschen meinen betriebenen Aufwand als professionell zu betrachten. Was mir eigentlich ziemlich gleichgültig war! Während sich meine Familie neben mir die Zeit mit Beobachtungen über die Köpfe der anderen hinweg vertrieb, mussten unsere Freunde kaum sichtbar mit zwei der hintersten und billigeren Plätze vorliebnehmen. Grölende Musik mit Durchsagen

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aus Lautsprechern und Megafonen. Wahnsinniges Gehupe und Geschrei von Polizeibeamten und übereifrigen Ordnungskräften. Sirenengeheul von Krankenwagen mischte sich in das bunte Bild unzähliger Trödler und Marktschreier. Ein wildes, jedoch scheinbar geordnetes Chaos und Durcheinander, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte, spielte sich ab! Der Eindruck war überwältigend! Ich konnte mir ein heimliches Schmunzeln nicht verkneifen. Sven und Cornelia waren über und über damit beschäftigt, die vielen unbekannten Früchte zu untersuchen. Natürlich war meine Frau mit von der Partie, wie sollte es auch anders sein! „Cornelia“, hörte ich Else sagen, „sei doch so nett und bring Freddy und Björn auch etwas von dem vielen Obst. Die werden sich ganz bestimmt freuen!“ „Immer nur ich“, meckerte Cornelia daraufhin los. „Warum soll gerade ich durch diese Menschenmassen hindurchlaufen?“ „Weil du es am besten kannst, und damit basta“, meinte Else. Mürrisch klemmte sich die Kleine den Beutel mit zusammengestelltem Obst unter den Arm und stolzierte durch die inzwischen prall gefüllten Reihen bunter Gäste. Mir kam es so vor, als hätte der blanke Wahnsinn bereits Einzug gehalten. Die Zeit verging und das nahende Chaos schien fast absehbar – sollte nicht bald etwas geschehen! Plötzlich ging ein laut vernehmbares Raunen durch die Menge. Die gewaltige Masse an Menschen schien in Bewegung zu geraten. Dumpfer Trommelwirbel und mächtiges Getöse kündigten an, dass sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte. Mithilfe der Linse erblickte ich den Anfang eines gewaltigen Spektakels! Just in dem Augenblick, als Cornelia mit einem strahlenden Lächeln zurückfand. Pfeifend und mit theatralischen Bewegungen, was mich eher an Marionetten eines Puppentheaters als an uniformierte Ordnungshüter erinnerte, sorgten die Sicherheitskräfte für den nötigen Abstand zur Prozession. Einige Jahre zuvor ereignete sich eine furchtbare Katastrophe, als wild gewordene Elefanten

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wahllos etliche Menschen einfach zu Tode trampelten. Bei aller Gutmütigkeit der grauen Riesen sollte man nicht vergessen, dass es sich hierbei um gezähmte Wildtiere handelte! Bis zu hundert ausgewählte, prachtvoll geschmückte Elefanten nahmen mit ihren Mahuds an den Umzügen teil. Es war eine große Ehre für jeden Mahud, zu den Auserwählten zu zählen. Das galt natürlich ganz besonders für den Besitzer des Tieres. Alle Blicke wanderten zu der Stelle, von der aus der Zug startete – Richtung Zahntempel! Immer stärker drang das rhythmische Trommeln und Pfeifen an mein Ohr. Und die ersten farbenprächtigen Bläser, Trommler und Tänzer waren bereits mit bloßem Auge erkennbar. Zwischen den einzelnen Gruppen hielten sich prächtig geschmückte, riesige Elefanten auf, auf deren Rücken hohe Würdenträger in ihren glanzvollen Gewändern und Uniformen thronten. Immer wieder Peitschenknaller und Feuerschlucker, nicht zu vergessen, die vielen Fackelträger und Dämonenaustreiber. Furchterregende Gestalten bei wilden Tänzen voller Ekstase. Die Menschen entlang der Straße und bis hin zum See waren wie besessen! Auf unserer Tribüne schien alles in Bewegung zu sein. Jeder drängte nach vorne. Viele verließen den eigenen Platz, um besser sehen zu können. Ich machte mir bereits Sorgen wegen der Überbelastung in Bezug auf unsere Plätze. Die Begeisterung steigerte sich und kannte bald keine Grenzen mehr. Verzückte oder auch aus der Fassung geratene Gesichter. Fanatische, wie in Ekstase geratene Gruppen tanzten und spielten an unserer Haupttribüne entlang! Und immer wieder unzählige bunt geschmückte Elefantenriesen, umgeben von Trommlern und Spielleuten. Der Lärm war unbeschreiblich. Wir konnten die eigenen Worte fast nicht mehr verstehen! Fassungslose, fast unbegreifliche Blicke in den Gesichtern unserer Kinder und meiner Frau. Der Wahnsinn nahm kein Ende, immer mehr und mehr. Als liefen sie im Kreise!

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Dann der Höhepunkt: der mächtigste und am prächtigsten geschmückte Elefant, der die Zahn-Reliquie auf dem Rücken trug. Aus Sicherheitsgründen handelte es sich dabei allerdings nur um eine Kopie! Voller Ehrerbietung zog er flankiert von edlen Gefolgsleuten an uns vorbei. Ich war einfach tief beeindruckt davon, wie eng die Menschen mit ihrem Glauben verwurzelt waren und die Verehrung Buddhas auf solch wunderbare Weise zum Ausdruck brachten. Mir brummte nur noch der Schädel. Nach mehreren Stunden anstrengendster Schwerstarbeit mit der Kamera. Das reichte! Doch wie sich später herausstellte, hatte sich das Ganze mehr als gelohnt!

Erneut zu den Weddas Bereits am nächsten Morgen hieß es wieder Abschied nehmen. Nachdem wir unser Frühstück eingenommen hatten, ging es auch schon in zügiger Fahrt ins Land der Weddas. Doch vorher mussten wir uns auf den Rat unserer Freunde hin noch mit zahlreichen Geschenken eindecken, ohne die angeblich überhaupt nichts lief! Bereits nach wenigen Kilometern holpriger Savannenfahrt führte uns Freddy zu einer kleinen Ansiedlung. Dort war nach Meinung unserer beiden Freunde das Notwendige an Gastgeschenken und auch dringender Proviant für uns zu erhalten. Ein alter ausgetrockneter, bereits zerfallener Kanal, der als bequeme Müllkippe diente und bestialisch stank, trennte uns vom einzigen in weitem Umkreis vorkommenden Laden – besser gesagt einer Bretterbude! Zwei starke Dielen – eher einer Hühnerleiter gleichend, dienten der unsicheren Überquerung des fünf Meter breiten Kanals. An den verwahrlosten Häuserfronten lehnten stark alkoholisierte, herumlungernde Gestalten. Durchwegs meist jüngere Burschen mit wenig vertrauenswürdigen Blicken.

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Ich kam mir vor wie im Wilden Westen, als ich das bunte übel riechende Durcheinander sah! Doch zum Erstaunen von uns allen gab es nicht hier nur das, was das Herz begehrte, sondern es war auch äußerst günstig. Der Ladenbesitzer, ein noch jüngerer Mann, schien trotzdem mit uns das Geschäft seines Lebens gemacht zu haben. Denn er zeigte sich von seiner besten Seite! Nach unserem kurzen Zwischenstopp endete die bis dahin befahrene Straße. Ein fest ausgefahrener Weg führte uns durch die trockene Dornensavanne. Massenweise stachelige Sukkulenten und Dornensträucher, die diese Trockenregion harmonisch mit Blüten, Beeren und Kaktusfrüchten belebten und ernährten. Nur langsam, und eine lange Staubwolke hinter uns herziehend, kamen wir voran. Manchmal war es ein bunter Vogel, dann wieder ein Leguan oder eine Schildkröte, die sich im Schutz eines Schatten spendenden Strauchs versteckten. Denn einer ihrer vielen Feinde war überall – der Adler! Doch die Trockenheit zeigte noch ein anderes Gesicht. Gebleichte Überreste – Knochen vieler toter Tiere. Stumme Zeugen des Kampfes ums Überleben! Mit einem leicht hügeligen bewaldeten Land mit größeren Bergen, die sich wie eine verschwommene Silhouette im Hintergrund abzeichneten, wechselte die Landschaft zunehmend ihren Charakter. Wie verloren standen ein paar verwahrlost wirkende, primitive Hütten da. Anscheinend verlassen! Doch gerade auf diese fuhren wir zu. Wir fragten uns, was zum Kuckuck wir da nur sollten. Es war Stanley, unser Freund und Diener, der auf eine der Baracken zulief. Anscheinend ohne Erfolg! Nach etlichen Rufen kam ein torkelnder junger Mann auf ihn zu. Doch der eine verstand den anderen nicht! Also ging’s auf zur nächsten Hütte. Dabei konnte ich seiner Miene entnehmen, dass er eine zufriedenstellende Auskunft erhalten hatte. „Herbert, wenn du zu den Weddas willst, ist das kein Problem“, meinte Freddy. „Nur

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wenige Kilometer entfernt von hier wohnen mehrere Familien, die allerdings schon zivilisiert leben.“ Wir würden dann auch keinen Dolmetscher brauchen, der ihre Sprache sprach! Das hatte mir gerade noch gefehlt! Ich bin extra nochmals nach Sri Lanka gefahren und dann soll ich mir das anschauen. „Freddy“, sprach ich verärgert, „das kommt für mich überhaupt nicht infrage!“ „Was sollen wir machen?“, meinte er. „Es gibt weiter weg auch noch Menschen, die völlig ursprünglich im Wald und in den Bergen leben, doch ohne behördliche Genehmigung und Dolmetscher kannst du dort nicht hin!“ „Zum Teufel“, sagte ich erzürnt! „Da will und da muss ich hin – wie auch immer.“ „Glaubst du vielleicht, ich hätte die ganzen Geschenke nur zu meinem Vergnügen gekauft?“, sprach ich eindringlich auf Freddy ein. Ich wusste nicht, was das Ganze sollte, denn plötzlich fuhr er weiter. Nicht zurück – sondern hin zu den Bergen! Ich hatte mir vorgenommen, vorerst keine weiteren Fragen zu stellen, sondern abzuwarten, wohin die Reise ginge. Während Else und die Kinder wie teilnahmslos aus unserem von Sand und Staub überzogenen Wagen blickten, machte ich mir meine eigenen Gedanken. Bereits nach einer halben Stunde Fahrt waren wir den Bergen sehr nahe gekommen! Eine Art Wegtafel in unleserlicher Schrift zeigte in zwei verschiedene Richtungen. Nach links und geradeaus. Ich konnte damit herzlich wenig anfangen, doch wir entschieden uns für die gerade Piste. Warum, das sollte ich bald erfahren! Wir steuerten direkt auf zwei mit Stroh eingedeckte, schlicht wirkende Hütten zu. Aus der Ferne winkten uns bereits zwei schüchtern erscheinende, halb nackte Kinder mit sehnsüchtigen Blicken zu. Während ein noch jüngerer Mann – anscheinend der Vater – uns eher mit misstrauischer Neugier betrachtete.

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Doch ehe ich mich versah, verschwand auch schon dessen Frau auf Nimmerwiedersehen! Mein erster Eindruck war, dass es sich um Abkömmlinge der Ureinwohner handeln könnte oder um solche, die außerhalb ihres Stammesgebietes lebten. Er war ein dunkelhäutiger, langhaariger Mann von großer edler Gestalt. Ohne viele Worte gingen die Männer aufeinander zu! Aus ihrem längeren Gespräch konnte ich schließen, dass der Wedda außer seiner Stammessprache auch noch Singhalesisch beherrschte. Was nicht allzu oft vorkam! Ich fand das schon äußerst bemerkenswert. Als mir Freddy Näheres von seiner Unterredung erzählte, war die Welt für mich wieder in Ordnung. Also doch! „Kinder, wir haben es geschafft“, rief ich voller Erleichterung. „Herbert, wir haben die Erlaubnis erhalten, einige Wald-Weddas-Familien zu besuchen, die noch nach ihren alten Traditionen leben. Nicht sehr weit von hier! Dazu brauchen wir allerdings einen guten Dolmetscher – und das hier ist unser Mann!“ Es handelte sich dabei um jenen jungen Eingeborenen, mit dem er zuvor gesprochen hatte und den er uns jetzt kurz vorstellte. Durch endloses Gewirr blühender Dornsträucher und Kakteen führte uns eine ausgefahrene Sandspur in das hügelige Waldgebiet der Ureinwohner Sri Lankas. Abgesehen von gelegentlichen Luftsprüngen durch das Innere unseres eigentlich doch bequemen, geländegängigen Wagens gab es keine äußerst nennenswerten Vorkommnisse. Manchmal legten wir sogar einen kurzen Stopp ein, um irgendwelche Tiere oder Pflanzen näher kennenzulernen. Nach einigen Kilometern gemütlicher Savannenfahrt hieß es, auszusteigen und zu Fuß weiterzulaufen. Eine schirmartige, mächtige Akazie fungierte dabei als idealer Schattenspender! Voll bepackt mit dem Allernötigsten – ähnlich einer Wüstenkarawane, benutzten wir einen ausgetretenen schmalen Pfad, der uns rasch zu einem endlos erscheinenden Urwaldgebiet führte.

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Nach kurzem Fußmarsch erschien eine wie aus dem Boden gestampfte Urwaldsiedlung. Kein Leben oder sonstige Laute deuteten auf irgendwelche Bewohner hin. Kleine, einfache Lehmhütten, mit Stroh bedeckt. Wie siedlungsähnliche Reihenhäuser, nur schlichter und primitiver! Sollten da etwa die Weddas leben? Für mich war das absolut unvorstellbar und menschenverachtend. Denn das käme einer Zwangsansiedlung auf Befehl der Regierung gleich. Das Eigenartige dabei war, dass alles wie ausgestorben dalag. Nicht einmal ein Hund ließ sich blicken! Wut und Enttäuschung war alles, was ich noch fühlte. Jegliche Freude, jede Lust war mir genommen worden. Ich empfand es zunehmend als schamlos, wie mit diesen Menschen umgegangen wurde! Und wie wir für gutes Geld an der Nase herumgeführt wurden. Ich hatte nicht die geringste Lust, weiterhin wie ein Trottel hinterherzulaufen. Damit sollte ab jetzt Schluss sein! Ich hatte nicht die Absicht, meine Familie weiterhin dieser gnadenlosen Hitze auszusetzen. Litt ich etwa schon an Halluzinationen, sah ich richtig – oder träumte ich? „Schaut mal … da! Das sind doch kleine Kinder. Völlig nackt!“ Ich wartete auf die Bestätigung meiner Frage oder hatte ich mich wohl getäuscht? Endlich … ich hatte bereits an mir selbst gezweifelt, erklang der erlösende Freudenschrei. Tatsächlich, meine Frau jauchzte. Und die Begeisterung kannte keine Grenzen! Kleine langhaarige Kinder, splitterfasernackt – spielend mit kleinen Steinbeilen. Ich kam mir plötzlich wie im Paradies vor. Das konnte doch nicht wahr sein. Doch es war wahr! Diese kleinen braunhäutigen unschuldigen Geschöpfe, so glücklich und sorglos beim Spiel beobachten zu dürfen, war für mich das schönste Geschenk. Wer nun erwartet hatte, sie würden vor uns die Flucht ergreifen, sah sich getäuscht. Neugierig, wie Kinder nun einmal waren, hatten sie diese weißen Langnasen genau gemustert und konnten sogar noch ein wenig lächeln. Ich kam mir im Moment so vor, als wäre ich

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dem Zoo entlaufen. Nur wenige Schritte entfernt zeigte sich uns eine völlig andere Welt. Auf mühsam gerodetem Urwaldboden standen vereinzelte einfache Rundhütten mit sonnengebleichten Strohdächern. Vorsichtig und in respektvoller Weise gingen wir gleich auf die Erste der Hütten zu, mit unserem einheimischen Wedda vorne an der Spitze. Ich selbst mit unseren zwei Freunden hintendran. Meine Familie hielt sich abwartend im Hintergrund auf. Doch niemand schien sich für uns zu interessieren. Ein mit einem Lendenschurz bekleideter junger Mann hatte gerade direkt neben uns hurtig seine Hütte verlassen und uns dabei eigentlich sehen müssen. Doch er würdigte uns keines Blickes! Ich fand das schon merkwürdig. Es tat sich ja fast der Verdacht auf, dass wir an der Pest hätten leiden können! Doch unser Dolmetscher kannte seine alten Stammesbrüder und auch ihre Gewohnheiten. Und siehe da, schließlich öffnete sich nach mehreren vergeblichen Versuchen eine Türe und ein alter grauhaariger Mann mit starkem markanten Bart und Gesichtsausdruck kam freundlich grüßend auf uns zu. Ich spürte sofort, dass das ein ganz außergewöhnlicher Mensch sein musste. Denn er hatte etwas an sich, das man einfach nur schwer beschreiben konnte! Voller Respekt und Hochachtung blickte ich den weisen alten Mann an, als er sich in der Sprache seines Volkes mit unserem uns begleitenden Wedda unterhielt. Ich konnte meine Enttäuschung trotzdem nur schwer verbergen. Denn in meiner Fantasie gab es bei diesem Volk nur junge Jäger und Sammler und keine alten Personen. Zudem wollte ich Näheres über die Lebensweise des Stammes erfahren und möglichst mit ihnen in den Urwald wandern, um dort filmen zu können. Und dazu war dieser Alte bestimmt nicht geeignet! Ich war überaus neugierig und konnte es kaum erwarten, bis Freddy uns erzählte, was er Neues in Erfahrung gebracht hatte.

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„Herbert“, fing er auch gleich an, „dieser alte Mann, vor dem wir stehen, ist Häuptling Warig Tissahami. Nachdem wir ihm erzählt haben, dass du ihn um Erlaubnis bittest, filmen zu dürfen und das Schicksal seines Volkes dir besonders am Herzen liegt, war er gerne bereit, für dich eine Ausnahme zu machen! Und er bittet euch, dort vor seiner Hütte Platz zu nehmen.“ Zum Schutz vor der Sonne diente ein einfaches mattenbedecktes Vordach, das auf ein paar Pfosten aus schwachen Bäumen gestützt war. Die Sitzgelegenheit bestand aus mehreren im Halbkreis aufgelegten, circa anderthalb Meter langen stärkeren Stammstücken. Auf dem Boden direkt gegenüber ließ sich der große Häuptling Tissahami nieder! Wie ich inzwischen heimlich erfahren hatte, war er zudem gewählter Präsident aller Ureinwohner Sri Lankas. Und er vertrat im Parlament von Colombo die Belange seines Volkes unter größtem Respekt aller dort vertretenen Parteien! Stumm und versunken, mit tiefen, in sich gekehrten Blicken schaute er zu uns herüber. Da sah Freddy den Augenblick gekommen, um unsere Gastgeschenke vor ihm auszubreiten. Ein kleiner Sack Reis, dazu Tabak, etwas Honig und für die großen Schleckermäuler: die Lieblingssorte Bonbons der Weddas. Der Gesichtsausdruck des Häuptlings blieb dabei absolut regungslos! Ich wusste nicht, ob er zufrieden war oder nicht. Doch Freddy war bemüht, ein paar Worte des Dankes für die erbotene Gastfreundschaft auszusprechen. Was anscheinend gut ankam! Langsam und bedächtig erklangen die Worte des alten Häuptlings Tassahami! „Es ist noch nicht allzu lange her, da hat die Regierung versucht, uns mit großen Versprechungen und dem Bau von Hütten sesshaft und gefügig zu machen. Viele Familien meines Volkes sind trotz aller Warnungen den Verlockungen erlegen, mit der modernen Zivilisation dann allerdings nicht zurechtgekommen. Elend und Armut waren die Folge! Die Menschen stehen ohne Arbeit und ohne jegliche Perspektive da.

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Die Konsequenzen daraus sind einfach schlimm! Viele sind Opfer des Alkohols und der Drogen geworden. Unser entrechtetes Volk kämpft um das ständige Überleben und die alten Werte und Traditionen gehen unaufhaltsam verloren. Auch für meinen Stamm haben sie eine Siedlung angelegt. Doch ohne Herz und ohne Seele! Meine Stammesbrüder und ich haben uns zur Wehr gesetzt, deshalb steht die Ansiedlung verlassen und leer. Wir sind ein sterbendes Volk – klein, unterdrückt und ohne Rechte! Wir wollen frei sein und leben wie unsere Ahnen – als Jäger und Sammler, im Einklang mit der Natur. Und dafür werden wir kämpfen!“ Wir saßen stumm da und sahen betroffen wie ertappte Sünder nur ins Leere. Ich war erschüttert und konnte dem Alten direkt gegenüber in die Augen blicken, als Freddy seine Erzählung übersetzte. Ich war kaum dazu fähig, klar zu denken, so ging mir das alles unter die Haut! „Freddy, weißt du, was mich noch interessieren würde?“ „Nein – leider nicht“, gab er mir schlagfertig zur Antwort. „Dann hör mir zu: Wie machen die Weddas Feuer?“ Gleich darauf holte der alte Weddas-Häuptling alles, was er dafür benötigte! Ein kleines Häufchen an Utensilien, die er geschickt zu unseren Füßen ausbreitete. Irgendwelche Fasern, ein Reibholz und ein Stück Holz, das durch geschickte Drehungen zum Glosen gebracht werden konnte. Bereits kurze Zeit später wurden die feinen, aufgelegten Fasern durch einfaches Pusten zum Brennen gebracht. Ich war total überrascht, wie man mit solch einfachen Mitteln und Geschick auf die Schnelle Feuer machen konnte. Dann ging alles sehr rasch! Barfuß, mit einer Haut wie aus gegerbtem Leder und lediglich mit einem schlichten Lendenschurz bekleidet, bat uns der Häuptling, ihm zu folgen. Doch der Preis war nicht gerade billig! Was mich kaum weiter störte. Denn meine Absicht war es, möglichst wirklichkeitsnahe Filmaufnahmen mit dem

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alten Weddas zu drehen. Sein unersetzbarer Bogen samt Pfeilen und Köcher sowie sein altes Steinbeil waren mit von der Partie! Vorbei an mehreren Hütten der Eingeborenen lief unsere bunt zusammengewürfelte acht Personen starke Gruppe bei sengender Hitze in den vermeintlich schattigen Urwald. Ungewöhnlich viele kleine, niedliche Äffchen hingen in den Kronen großer Fruchtbäume und erregten mit ihrem heftigen Geschrei unser Interesse! Meine Kamera fest im Griff blieb ich, auf jeden Schritt achtend, immer in der Nähe des umherpirschenden Häuptlings. Abseits jeden Pfades ging es immer tiefer in den Wald. Nur Björn, der meine gesamte Kameraausrüstung schleppte, war in meiner Nähe. Krach vermeidend folgten in gebührendem Abstand meine Familie und Freddy. Schleichend und flink wie ein Wiesel lief der Alte geräuschlos über alle Hindernisse. Den Pfeil am Bogen angelehnt lauschte er in die Baumkronen oder suchte nach irgendwelchen Spuren – auf dem Boden, auf den Stämmen. Er hatte seine Augen einfach überall! Trotz vieler Laub abwerfender Bäume war der von lärmendem Geschrei erfüllte Urwald von einem kameradiffusen Licht erfüllt. Ich war begeistert darüber, dass in diesem Teil des Waldes so eine Vielfalt an wunderbarsten Blüten, an Kletterpflanzen und lichten Sträuchern und deren Ranken zu finden war. Während des Filmens gab mir Björn ein Zeichen. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich unzählige wunderschöne Aufsitzerpflanzen und an den stark bemoosten Ästen dieses stattlichen Baumriesen gleich noch mehrere herrliche Orchideen. Im Farbenspiel des einfallenden Lichtes gab das einen grandiosen Anblick. An einem kleinen, verträumt aussehenden Wasserlauf mit tief abfallendem Bachbett war der alte Häuptling Tissahami gerade dabei, das Schlupfloch in einem Baumstamm mithilfe seiner Steinaxt zu erweitern und stocherte dabei mit einem dünnen Holz herum.

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„Björn, frag doch mal, was er da macht – mich würde das schon interessieren“, sprach ich nebenbei. „Siehst du das nicht? Er sucht nach Honig!“ Um mir das Filmen zu erleichtern, drehte, stand und agierte er ganz nach meinem Wunsch. Nichts schlug er mir aus. Ein wirklich geduldiger Mensch – voller Stolz, der uns seinen Wald und so manches, das im Verbogenen schlummerte, mit innerer Genugtuung zu erklären wusste. Jeder Muskel, jede Sehne meines Körpers war aufs Äußerste gespannt. Erst Jahre später sollte ich diese Begegnung wirklich begreifen! Eigentlich hatte ich mir mehr erhofft, als ich mit dem Häuptling der Eingeborenen in den Wald gezogen war. Doch schon alleine seine Anwesenheit und Nähe entschädigten für alles. Hatte ich nicht damals als Kind die Berichte bekannter Asienforscher mit sehnsüchtigen Augen regelrecht aufgefressen. Und davon geträumt, einmal, ihnen gleich, durch richtige Urwälder zu laufen? Ja, das hatte ich getan. Und jetzt hatte sich das Unglaubliche erfüllt, nämlich, mit einem großen alten Häuptling und den eigenen Kindern, die momentan im gleichen Alter waren wie der Junge von damals, durch einen gefährlichen Urwald zu ziehen. Während mir das alles durch den Kopf ging, hatte mich ein kaum vernehmbares Rufen und Winken des vorauseilenden Häuptlings stutzig gemacht. In Eilschritten, jedes Geräusch vermeidend, versuchten Björn und ich, zu ihm zu gelangen, während unser dolmetschender Wedda hinterherlief. Und da sah ich sie, eine prächtige, sich durch das seichte Wasser schlingende Tigerpython. Fasziniert riss ich meine Kamera herum und versuchte, Aufnahmen aus möglichst bestem Blickwinkel zu machen. Immer wieder war ich gezwungen, durch Matsch und Dreck so nahe wie möglich daran heranzukommen. Dabei rutschte ich in der Brühe des glitschigen, feuchten Urwaldbodens einige Male aus. Das riesige rotbraune, weiß gezeichnete Reptil hatte gewaltige Ausmaße mit einem wuchtigen Kopf und wie leblos wirken-

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den kalten Augen. Es war für mich das erste Mal, einer solchen Würgeschlange zu begegnen. Während ich aussah, als wäre ich gerade einem Schlammbad entstiegen, betrachteten die Herbeieilenden, darunter unsere Kinder, mit schaudernden Blicken das Riesentier! Der Waldboden schien von einer einzigen gelbroten Hügellandschaft gepflastert zu sein. Wie stolze Trotzburgen ragten überall prächtige Termitenhügel aus dem Boden. Bei näherer Betrachtung sah ich überall die Spuren der gierigen Räuber. Als Häuptling Tissahami mich dabei beobachtete, meinte er, mit einem Stock hindeutend, dass die einen von einem bis zu anderthalb Meter großen Lippenbär stammten, der mit Vorliebe die Termiten schlürfte und mit seinen langen scharfen Krallen und der spitzen Schnauze bestens dafür ausgerüstet wäre. Das andere waren wiederum Spuren eines Gürteltiers. Wahre Feinschmecker, die eher nachtaktiv waren! Meine Frau und meine Kinder, die inzwischen mit Freddy auch nachgekommen waren, lauschten interessiert den Erzählungen von Häuptling Tissahami. Dabei war ich schon einigermaßen erstaunt, dass Sven und Cornelia mit so viel Schneid und Wissbegierde auch noch Fragen stellen konnten, die der alte Weddas-Häuptling sogar mit einem aufmunternden Blick auf unsere Kinder besonders gerne zu erklären versuchte! Ich und Björn, mein zuverlässiger Träger, folgten dem führenden Wedda in geringem Abstand! Während Freddy sich gemeinsam mit unserem jungen Dolmetscher etwas weiter hinten um die Sicherheit meiner Familie kümmerte. Fast jeder Schritt sorgte für irgendwelche Überraschungen. Unzählige Käferarten, kleine Echsen und Hörnchen – aber auch flüchtende Affen mit lautem Geschrei liefen uns über den Weg. Als ich einmal wieder den Boden näher untersuchte, entdeckte ich ein Büschel schönster Federn, die von einem größeren Vogel stammen mussten. Gleich daneben lagen knöcherne Überreste.

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Allem Anschein nach handelte es sich um einen Specht! Doch der Wald barg unheimlich mehr. Denn die Stimmen im Verborgenen waren wahre Meister des Versteckspiels! Als hätte der Himmel einen Spalt seiner heimlichen Pforte geöffnet, so lag plötzlich ein sich in Licht und Sonne badender Dschungel mit mächtigen, vereinzelt dastehenden, alles überragenden Bäumen, die geradezu in den Himmel zu wachsen schienen, vor uns! Fast hatte ich das Gefühl, von einer gewaltigen Theaterkulisse großen Ausmaßes genarrt zu werden. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, dass ich kein Träumer war. Denn den anderen erging es kaum anders! Wie bei einem Konzert eines begnadeten Dirigenten spielten die Akteure des Dschungels in ihrem Orchester. Schweigend lauschte ich den begnadeten Lauten, wobei ich die anderen nicht aus den Augen ließ. Reglos im Schutz einer Wand aus drei Meter hohem Elefantengras verharrend, schweiften die Blicke suchend umher. Fast unheimliche Stille. Kein Laut! Die knisternde Spannung lag förmlich in der Luft. Auf etwas schien der Alte zu warten. Nur worauf? Denn er sprach kein Wort! Mehrere Flughörnchen sprangen und segelten nebenan wie zu unserer Unterhaltung von einem Baumriesen zum anderen. Ein weiteres eigenartiges, größeres Tier, das sehr gewandt, eigentlich wie eine kleine Raubkatze aussah, sprang unruhig von einem Ast zum anderen. Meine Blicke hatten größte Mühe, dieser wieselflinken Schleichkatze zu folgen. Doch plötzlich schien alles wie vergessen. Wie ein lauerndes Raubtier, das im Schutze des grüngelben Schilfgürtels auf sein Opfer lauerte, kam plötzlich Bewegung in den Häuptling. Winkend gab er mir zu verstehen, dass ich vorsichtig näher kommen sollte. Und da sah ich ihn! Fast zitterten mir die Knie vor lauter Aufregung. Ein prächtiger Leopard, kaum fünfzig Meter entfernt. Er strebte sich immer wieder umschauend auf eine nahe gelegene Akazie zu. Jeder in unserer Gruppe hatte das einmalige Glück, dieses Raubtier so nah beobachten zu können!

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Als ich die angstvollen und doch neugierigen Blicke unserer Kinder sah, wurde mir so richtig bewusst, wie ernst die augenblickliche Gefahr war. Doch Häuptling Tissahami sah anscheinend alles anders, denn er kannte den Dschungel und die Gewohnheiten der Tiere. Ich konnte gerade noch erkennen, wie der Leopard mit einem mächtigen Sprung im Schutze des Akazienbaumes verschwand. Daraufhin gab der Weddas-Häuptling das Zeichen zur Umkehr. Noch lange sprachen wir auf unserem Rückweg von unseren Erlebnissen. Als uns dann zufällig noch ein Mungo über den Weg lief, schien das inzwischen selbstverständlich zu sein. Wir waren einfach happy! Was mich immer wieder ins Grübeln brachte, war die Frage, wie der alte Häuptling Tissahami mit 84 Jahren so etwas überhaupt noch durchhalten konnte? Wenn ich uns so anschaute, da war jeder froh, wieder bei seiner Hütte zu sein! Für mich war das Ganze einfach erstaunlich. Da unsere Zeit bereits knapp war und Freddy, unser Fahrer, schon ungeduldige Blicke zu mir herüberwarf, war es so weit, sich zu verabschieden. Allerdings nicht, ohne dass ich dem großen alten Häuptling noch etwas als kleine Anerkennung gereicht hatte. Mit müden Füßen liefen wir zu unserem Fahrzeug, das uns schon beim bloßen Anblick als die reinste Erlösung erschien. Unser junger Wedda machte einen für sein Volk üblichen höflichen und bescheidenen Eindruck. Er begutachtete das von mir erhaltene Salär gleich mehrere Male. Als könnte er es kaum fassen, so viel Geld in den Händen zu halten! Es war die reinste Erholung. Müde von der Hitze und den ganzen Strapazen des Tages lümmelten wir uns in die bequemen Sitzlehnen und ließen alles über uns ergehen. Ich wusste nicht, wie lange wir schon unterwegs gewesen waren. Doch nach dem Stand des Tageslichts schätzte ich, dass wir eine gewaltige Strecke zurück zur Hauptverbindungsstraße Richtung Ostküste zurück-

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gelegt hatten. Fieberhaft waren die zwei auf der Suche nach einer Unterkunft für ihre Gäste. Ich sah ihre sorgenvollen Mienen und spürte so etwas wie Unruhe aufkommen! Niemand wagte sich in diese Unruhegebiete der Ostküste. Keine Touristen! Die brutalen Massaker und tagtägliche Überfälle hatten offenbar Spuren hinterlassen. Überall mehr oder weniger sichtbares Militär und Posten. Nur noch Militärkonvois waren unterwegs. Schon allein deren Anblick zeigte den Ernst der Lage! Ich wunderte mich, dass wir trotz ständiger Straßenkontrollen immer noch weiterfahren konnten! Einer Erlösung gleich fuhren wir kurz vor Eintritt der Dämmerung in eine Seitenstraße eines kleinen verschlafenen Städtchens. Mit flinken Schritten lief unser Diener auch schon auf ein auffallendes Haus mit großen Schriftzügen an der Fassade zu! Erleichtert beobachteten wir, wie er kurz darauf winkend signalisierte, dass wir kommen sollten. Dies sollte unser Quartier für die Nacht sein! Eine unbeschreibliche Erleichterung durchfuhr mich. Rasch brachten sie das Notwendigste auf unser Zimmer, alles andere blieb im Wagen. Wir schauten nicht einmal mehr nach, wie das Zimmer aussah. Wir wollten nur eines: hinlegen und schlafen! Alle eventuellen Gefahren wurden total ignoriert. Während die letzten Laute meiner Familie schnell verstummten, lag ich noch lange wachend im Halbschlaf und vor meinem inneren Auge spulte sich filmartig alles nochmals ab … In dieser Nacht hätte man uns forttragen können und wir hätten nichts davon gemerkt!

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Zum beeindruckenden Gal Oya-Nationalpark Zum Glück war das nicht der Fall gewesen. Bereits in den ersten Morgenstunden war es vorbei mit dem Schlaf. Fremdartige Geräusche und quälendes Geschrei kreischender Papageien rissen uns zu unserem Leidwesen und vor allem dem der Kinder aus dem notwendigen Schlaf! An ein Weiterschlafen war nicht mehr zu denken. Die Versorgung beim Frühstück war alles andere als rosig. Wir konnten uns glücklich schätzen, wenigstens einen warmen Tee mit etwas Toast und Marmelade zu erhalten. Schlimmer konnte es kaum noch kommen! In Maha Oya, einer Kleinstadt mit wenigen Tausend Einwohnern, schien zudem das endgültige Aus eingetreten zu sein. Alle Bemühungen, um eine Weiterfahrt nach Amparai mit dem riesigen Staubecken und seinem gewaltigen Naturreservat in die Wege zu leiten, blieben erfolglos! Es schien, als dass wir die ganze Strecke umsonst zurückgelegt hatten. Stur nach der Willkür der Polizeiobrigkeit wurde uns jegliche Weiterfahrt untersagt! Was sollten wir tun? Freddy hatte unseren Wagen links von der Fahrspur im heißen, erhitzten Sand des noch frühmorgendlichen Tages abgestellt. Abwartend beobachtete ich das längere Gespräch zwischen den Freunden! Dann liefen beide mit scheinbar neuer Strategie wieder los. In der rechten Hand hielt er seine abgegriffene, zerknüllte Straßenkarte, die schon so manches hinter sich hatte. Wie gebannt folgte ich jeder Bewegung! Plötzlich nestelte Freddy an seiner Leid gewohnten Brieftasche herum. Und heimlich für alle nicht Eingeweihten schien das geheiligte Bakschisch plötzlich sein volles Wunder zu entfalten! Erleichtert, so als ob es sich nur um ein kleines Missverständnis gehandelt hatte, kehrten die beiden gemächlichen Schrittes zurück zum Wagen.

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Und schon ging es unter gut gelauntem Winken eines eigenartigen Postens rechts abbiegend Richtung Amparai weiter. Ein schmales, eher einem Weg ähnelndes, durch Urwälder und Trockengebiete führendes Sträßchen fraß sich quälend durch die wie verloren wirkende Landschaft. Wir durchquerten ein geradezu atemberaubendes, unglaubliches Landschaftsgefüge voller Unberührtheit und Harmonie. Ich konnte wirklich den Atem der Natur spüren! Wie einst bei den ersten großen Entdeckern zogen meine Blicke mit leuchtenden Augen durch die Leere der Gegend, wo noch keine Menschenhand eingegriffen hatte! Auf spärlichem Grün verloren wirkende Sträucher – wie große schillernde Edelsteine. Unter den gnadenlosen Temperaturen des blauen Tropenhimmels ruhende, paradiesisch anmutende Vögel. Die Wälder, außer dem Geschrei der Zikaden, tot, wie ausgestorben! Selbst die an Hitze gewohnten Affenhorden schienen unter dem Dach Schatten spendender Urwaldgiganten die unerträglichen Mittagsstunden für ein erholsames Nickerchen zu nutzen. Besorgt schaute ich zu meiner Familie! Eingenickt, erschöpft und zusammengekauert lagen die Kinder übereinander, wie ein Häufchen Elend, auf ihren Sitzen. Während Sven mehr betroffen war und mir schon richtig leidtat, steckten es Cornelia und meine Frau erstaunlicherweise noch gut weg! Bei der flimmernden Hitze verwischten sich die Konturen mit dem Horizont auf trügerische Weise. In ratterndem Gleichklang und störend wie ein Fremdkörper stießen wir durch eine ausgetrocknete, nach Wasser lechzende Landschaft zum Gal Oya. Erste Anzeichen von Zivilisation und Leben! Vereinzelter Anbau von Obst, Gemüse und Reis neben malerischen, mit Stroh eingedeckten Hütten und mit Nüssen behangenen Kokospalmen. „Hier bietet sich die beste Gelegenheit, um eine kleine Rast einzulegen“, sprach ich auf einen menschenleer anmutenden Kiosk hindeutend, der voller frischer Bananen, Kekse und Bonbons zur Fahrbahn hin strahlte. An der Außenseite verlo-

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ckende Angebote prächtig gestapelter Kokosnüsse. Die ideale Erfrischung! Ohne viele Worte stellten wir den Wagen ab. Ein schlaftrunken wirkender Boy, plötzlich hellwach, war anscheinend von uns aus den schönsten Träumen gerissen worden. Irgendwie hatte ich das Gefühl, mich für die Störung entschuldigen zu müssen! Mit gezielten Hieben einer fast abenteuerlich aussehenden Machete halbierte er die köstliches Nass bergenden Nüsse. Langsam keimte in uns, unter einem Schattenbaum sitzend, erneut erstes Leben auf. Die einen aßen voller Heißhunger Bananen und die anderen knabberten lieber am Fleisch der Kokosnüsse herum. Mit äußerster Genugtuung beobachtete ich, wie schnell sich unser Kleinster wieder erholte. Und wie er sich heftig gegen die Neckereien seiner zwei Jahre älteren Schwester erfolgreich zu wehren vermochte! Zunehmender Reisanbau, mit einer einzigartigen Naturkulisse, die sich von ihrer schönsten Seite zeigte, versetzte mich in eine andere Welt – fast wie im Mittelalter. Wohin ich auch schaute, entdecke ich sich suhlende, riesige Kolosse von Wasserbüffeln mit ihren Hirten. Andere wieder trotteten geradezu gemächlich mit ihren alten klapprigen zweirädrigen Ochsenkarren über die Straße. Als spielte die Zeit für sie überhaupt keine Rolle. Ich konnte Freddy überhaupt nicht verstehen: Fuhr er doch ein übers andere Mal direkt über die auf der Straße ausgebreiteten Reishalme, anstatt auszuweichen! Als ich ihn darauf ansprach, ob er denn den Reis nicht sehen würde, lachte er nur und meinte: „So wird hier auf die einfache Art gedroschen. Die Reiskörner fallen aus und das Stroh wird wieder weiterverarbeitet oder verfüttert.“ Tatsächlich, das Bild der bunt gekleideten, oft abenteuerlich anmutenden Menschen war kaum mehr wegzudenken. Kuhfladen, Staub – Urin oder Kot von Hunden, wen störte das schon! Das Ganze erschien mir eher gewohnheitsbedürftig! Doch handelte es sich trotz der herr-

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schenden Armut meist um glückliche und zufrieden wirkende Menschen. Die einen waren eher schüchtern, die anderen – vor allem die Kinder – stets voller Bewunderung, freundlich und ausgelassen. „Uh …was ist denn das mit dem zotteligen Schwanz?“, hörte ich Cornelia rufen. „Papa, das ist was für dich! Schau mal, ein ganz komisches Tier, das neben der Straße umherläuft.“ „Es handelt sich um einen Mungo“, versuchte ich ihr mit väterlicher Besserwisserei zu verkaufen, als Björn etwas zurückhaltend erklärte: „Sie werden von den Menschen auch als Haustiere, zum Schutz vor Schlangen gehalten.“ Nachdem wir die wenige Tausend Einwohner zählende, kleine Distrikthauptstadt Amparai rasch hinter uns gelassen hatten, gab es für mich nur noch ein Ziel: Inginiyagala! Das in unmittelbarer Nähe zum 78 qkm großen Senanayake Samudra-Staudamm gelegene Städtchen war Ausgangspunkt für alle Unternehmungen zum nahen Gal Oya-Nationalpark, der mit seinem Tierreichtum als einer der schönsten, wenn nicht gar als der Schönste überhaupt galt. 14 weitere kleine Stauseen und Kanäle ergänzten ein riesiges Bewässerungssystem, das ein Riesengebiet fruchtbaren Bodens Ackerland mit Wasser versorgte. Den Nationalpark konnte man nur mit heimischen Führern vom Boot aus erkunden. Man legte irgendwo am Ufer an und pirschte sich einfach zu Fuß durch den Dschungel, um nach Elefanten, Büffel oder seltenen Tierarten und Vögeln zu suchen. Eine Wildnis voller Wunder, aber auch voller Gefahren, die es zu erleben und zu entdecken galt. Ich konnte es kaum erwarten, bis wir unser neues Quartier erreichten hatten. Doch keiner wusste, ob es überhaupt noch stand oder längst geschlossen worden war. Zu groß war das Risiko für Betreiber und Angestellte, Opfer der mordenden Tamil Tigers zu werden, die nachts Massaker verübend aus dem Busch kamen. Zudem blieben Touristen einfach aus!

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Bis auf wenige Kilometer Entfernung zum großen Stausee, direkt an den Rand des Nationalparks, hatte uns die Fahrt gebracht. Über riesige von Moos und filigranen Farnen bewachsene Baumstümpfe mit mächtigem Wurzelgeflecht führte uns unsere abenteuerliche Fahrt über Windungen, gefährliche Steigungen und Abfahrten, so richtig nach meinem Geschmack, voran. Meine Fantasie spielte wie die eines kleinen Jungen mitunter total verrückt! Hinter jedem Felsen oder Baumriesen, hinter jeder Ecke glaubte ich, etwas Außergewöhnliches entdecken zu müssen. Überall ein wahres Wunder üppigen Lebens. Voller Gesang und eigenartiger Laute. Ob auf dem Boden, in den Baumkronen und Lüften. Wie ein ausgelassenes Fest unter dem leuchtenden Grün der sich durchquälenden Tropensonne hörte sich das an! Urplötzlich, wie dem Boden entwachsen, standen wir vor einer fast versteckt wirkenden, großen Pforte aus weißen Naturbruchsteinen, die wiederum von einem kunstvoll gefertigten Eisentor verriegelt zu sein schien! Eine kaum sichtbare, mehrere Meter hohe, undurchdringbare Wand aus dichtem Dornengeflecht, die als Einfriedung und zum Schutz vor wilden Tieren diente, zog sich wie eine große, sich windende Schlange durch den Busch. „Das sieht nicht gut aus“, vernahm ich Freddys besorgte Stimme. Und schon lief er mit nachdenklicher Miene in Begleitung seines Freundes zum Tor hin. Doch er wäre nicht Freddy, hätte er nicht schon bald ein Mittel gefunden, um das Tor zu entriegeln! Ein allgemeines Raunen einer entzückten Familie machte sich breit, als wir einen ersten Blick hinter die trennende, verbergende Dornenwand werfen konnten. Eine malerische, wie im Dornröschenschlaf zu liegen scheinende, moderne ebenerdige Anlage breitete sich vor uns aus. Ich war einfach überrascht, so etwas hier vorzufinden! Im Schritttempo ging es dann auf einen zum Schutz vor Sonne und Regen mit Schilfdach überdeckten Parkplatz zu.

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Gleich wenige Schritte entfernt lag der lang gezogene, u-förmig angelegte Gebäudekomplex inklusive eines zum Lustwandeln einladenden Wandelganges, geschützt von einer Überdachung. Und das direkt neben einer unglaublichen Urwaldkulisse. Herz, was konntest du dir mehr wünschen! Während die Freunde nach menschlichem Leben Ausschau hielten, machte ich mit den Kindern erste Erkundungen im Park. Else, meine Frau, zog es dagegen vor, lieber auf die Rückkehr der beiden Späher zu warten. Bei der Betrachtung der Vielfalt an Pflanzen versuchte ich, nebenbei den langen Gang der Anlage im Auge zu behalten! Nicht auszudenken, was bei einer möglichen Absage der Betreiber auf uns zukommen würde. Endlich, nach bangen Minuten des Wartens, sah ich mit Erleichterung, wie beide mit einer dritten Person eilend auf Else zuliefen! Nichts konnte mich mehr halten. Rasch, ohne mich weiter um die Kinder zu kümmern, lief ich wie von Flügeln getragen schwebenden Schrittes zu den anderen hinüber. Mit den Augen eines erfahrenen Fährtenlesers versuchte ich, schon von Weitem irgendwelche Spuren im Gesicht der beiden Freunde auszumachen. Doch ausdruckslos und ohne jede Mimik standen sie mit schlaff herunterhängenden Armen nebeneinander. Der andere direkt daneben! Ich hatte bereits böse Vorahnungen … das alles konnte nichts Gutes bedeuten. Nachdem mir der vornehm gekleidete, junge Mann näher vorgestellt worden war, glaubte ich, uns gegenüber gewisse musternde Blicke festzustellen. In der Annahme, das wär’s nun gewesen! Doch zu meiner großen Überraschung kamen scheinbar wie aus dem Nichts zwei junge Boys eilenden Schrittes auf uns zugelaufen. Als wüssten sie längst Bescheid, gingen sie direkt zum Wagen und rannten gleich wieder schwer schleppend mit unserem Gepäck zurück. Ohne Worte folgte ich den beiden auf unser Zimmer, die anderen trotteten gelangweilt hinterher. Doch mein Interesse

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galt weniger der neuen Unterkunft, sondern der fantastischen Aussicht durch das große Fenster vor mir. Mit schmunzelnden Blicken, als hätten sie geradezu Mitleid mit mir, verfolgten sie jede Gesichtsbewegung. Der Urwald zum Greifen nah, kaum fünfzig Schritte vom Fenster entfernt. Und wie er sich zeigte: Das Geschrei des Waldes drang bis in unser Zimmer herein – nur getrennt durch eine alte verwitterte Backsteinmauer, die von wildem Bewuchs total umschlungen wurde und fast erdrückt zu werden schien. Ein verschwenderisches Meer leuchtender Blütenfarben umgarnte meine Sinne. Und dahinter gerodeter Urwald. Versteppt – im dürren, von der Sonne ausgebrannten Gras einzelne blühende Kakteengewächse, die sich verstreut wie bunte Farbtupfer hin bis zum Rand des Waldes zogen. Für mich stand längst fest: Hier gefiel es mir, hier wollte ich bleiben! „Herbert, bist du zufrieden?“ „Man muss abwarten, denn man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben“, gab ich dem nervenden Frager zur Antwort. Doch sein schelmisches Lächeln sprach Bände. Kurz nachdem Freddy mit seinem Freund nach draußen gegangen war, wurden wir uns schnell einig, dass wir hier gerne mehrere Tage verbringen möchten. Es gab ein zusätzliches Bett für die Kinder, dazu sorgte eine vorzügliche Innenausstattung mit bequemer Rattan-Garnitur zum Essen und zum gemütlichen Ausruhen für ein zusätzliches Wohlgefühl. Während Else und ich uns auf dem von einem Moskitonetz umgebenen Bett genüsslich entspannten, schmökerte Cornelia quietschvergnügt mit ihrer juchzend hellen Kinderstimme in ihren Comics herum. Sven, unser Jüngster, zog es dagegen vor, sich lieber draußen umzuschauen, als sich das Gekicher seiner Schwester anzuhören. Unsere Freunde dagegen waren sicherlich wieder in irgendeiner Besenkammer untergebracht und entspannten sich beim genüsslichen Arrak.

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Früher als erwartet hatte die Dämmerung urplötzlich eingesetzt. Die Lautstärke liebestoller Zikaden hatte noch an Heftigkeit zugenommen. Um die ganze Atmosphäre einer Tropennacht vollends genießen zu können, setzte ich mich auf eine überdachte und geschützte schlichte, kleine Holzbank, die nur von diffusem Mondlicht erhellt wurde und sich unweit unserer Zimmertür befand. Um mich herum unendlicher Friede – kein störender menschlicher Laut. Nur in einiger Entfernung drang schemenhaft noch eine verloren wirkende Lichtquelle durch die Sträucher unserer unheimlich anmutenden Anlage. Eine eigenartige Schwere überkam mich! Weit weg von der Heimat, unter fremdem Himmelszelt, fing ich plötzlich an zu träumen. Die Stimmen des Dschungels und der Nacht verliehen mir ein nie gekanntes Glücksgefühl. Mit geschlossenen Augen nahm ich das Ganze in mich auf. Über mir schaute, vertraut und doch ganz fremd, ein blass wirkendes, liebliches Gesicht durch das Dunkel der Bäume auf mich herab. Seine traurig wirkenden, sich heimlich zu bewegen scheinenden Schatten geisterten stumm durch die lichten Kronen der mächtigen Riesen. Eine melancholische Zeitreise entführte mich in Sekundenschnelle in die frühe Kindheit meiner Jugend zurück. Und ich sah einen traurig dreinschauenden kleinen Jungen. Suchend – den Blick in die endlose Ferne werfend. Als suchte er das, was ihm in seiner Kindheit so fehlte! Die Sehnsucht nach Geborgenheit. Erschrocken fuhr ich wie von einer Tarantel gestochen zusammen. Ein pfeifendes Ding, das mir über die nackten Füße kroch, hatte mich jäh aus meinen Träumen gerissen! Und da sah ich sie auch schon – mehrere langbeinige, wie dunkle Schatten umherhuschende Ratten. Was mich nicht weiter stören sollte! Gleich über meinem Kopf entdeckte ich unzählige Fledermäuse verschiedenster Art in wildem und doch geordnetem Durcheinander, als wollten sie einen Angriff starten! Was für eine Tropennacht – direkt vor unserer Türe.

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Die Nacht schien kaum Abkühlung zu bringen. Doch die Dunkelheit und die angenehme Ruhe machten das Ganze erträglicher. Bald darauf war für mich die Zeit gekommen, den Nachtgeistern den Rücken zu kehren … Es sollte eine ruhige Nacht werden. Selbst das nervende Tschip-Tschip unserer heimlichen Zimmergenossen wirkte in dieser Nacht eher einschläfernd anstatt störend!

Eine Bootsafari auf dem Stausee So wie die Nacht verlief, so sollte auch der heutige Tag werden. Das wünschte ich mir jedenfalls! Ich wollte keine Hektik aufkommen lassen, denn das wäre das Letzte, das ich heute gebrauchen konnte. Darum hatte ich unsere Safari erst für Spätnachmittag eingeplant. Denn ich konnte mich so in aller Ruhe auf eine gemütliche Bank im ach so herrlichen Park setzen. Etwas träumen und alles Wichtige einfach vergessen! Bestimmt hätten mir die Morgenstunden etwas ganz Besonderes bringen können. Das Erwachen des Dschungels mitzuerleben und die Tiere unbemerkt, fast wie im Paradies ganz nah und ohne Scheu zu beobachten. Was konnte es Schöneres geben? Die ersten sich im grünen Blättergeschlinge brechenden Sonnenstrahlen – das Licht mit seinen aus dem Schlaf zu erwachen scheinenden Lauten und Geräuschen. Und wenn die weißen geheimnisvollen Nebel gar den mächtigen Urwaldkronen zu entsteigen schienen – über dem verbergenden Kronendach des Urwalds stehend und urplötzlich in ein Nichts wieder entschwindend, dann fühlte man sich auf jeden Fall bereit! Die Seele wurde wie von Flügeln getragen – und die Sinne schienen zu schweben! Dennoch, da ich wenigstens den Senanayake Samudra-Stausee anschauen wollte, obwohl er als Sperrgebiet galt, blieben mir nur die heißeren Spätnachmittagsstunden übrig.

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Ein Schwabe bei den Ureinwohnern Sri Lankas

Herbert Müller

Ein Schwabe bei den Ureinwohnern Sri Lankas

Laudatio

Laudatio

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Herbert Müller www.laudatio-verlag.de

19,95 €

ISBN 978-3-941275-97-3

Weiße Langnase

Weiße Langnase

S

chon als kleiner Junge träumt der gebürtige Schwabe und leidenschaftliche Natur- und Tierfilmer Herbert Müller davon, es seinen Vorbildern, den berühmten Forschern und Abenteurern Sven Hedin und Thor Heyerdahl, gleichzutun und die Schönheiten der Wildnis selbst zu erkunden. Die Faszination des Autodidakten Müller gilt dabei seit jeher dem Reiz des Unbekannten und der Entdeckung seltener Tiere und Pflanzen. Mit Mitte 40 ist es dann endlich so weit und der Hobby-Botaniker bereist zunächst allein und später zusammen mit seiner Familie die entlegenen Regenwald- und Dschungelgebiete Südostasiens. In seinen poetischen und spannenden Reiseerzählungen entführt er den Leser in eine schillernde und geheimnisvolle Welt voller Abenteuer und überraschender Begegnungen mit Einheimischen, die schon bald zu Freunden werden. Herbert Müller gelingt es so, ein beeindruckend plastisches und lebendiges Bild von Land und Leuten zu zeichnen, welches uns das Gefühl vermittelt, selbst Teil dieser unvergesslichen Reise geworden zu sein.


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