Ravensburger Buchverlag - Leseproben Herbst 2015

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ISBN: 978-3-473-40127-7 The School for Good and Evil

ISBN: 978-3-473-40130-7 Solange wir lügen

ISBN: 978-3-473-58481-9 Splitterlicht

ISBN: 978-3-473-40129-1 Wie ich in High Heels durch die Zeit stolperte

ISBN: 978-3-473-40126-0 Press Play

ISBN: 978-3-473-40125-3 Dove Arising – Im Herzen des Feindes

ISBN: 978-3-473-40131-4 Herz Slam

ISBN: 978-3-473-40128-4 Der Fluch von Cliffmoore

ISBN: 978-3-473-58480-2 Verliebt in Amsterdam

ISBN: 978-3-473-36915-7 Spirit Animals – Der Feind erwacht

ISBN: 978-3-473-36911 -9 Ein Hoch auf den Herbstwind

ISBN: 978-3-473-40508-4 Die unglaublichen Fälle des Dr. Dark

ISBN: 978-3-473-36922-5

ISBN: 978-3-473-36921-8 Klara Krawumm – Mein explosives Tagebuch

ISBN: 978-3-473-36912-6 Mia und das Wolkenschiff

ISBN: 978-3-473-36439-8 Einfach ungeheuerlich

Ein Stern für Finja

www.ravensburger.de ISBN: 978-3-473-95155-0

L E S E P R O B E N H ER BST 2015

LESEPROBEN HERBST 2015

R AV E N S B U R G E R B U C H V E R L A G

LESEPROBEN H ER BST 2015



Leseproben Herbst 2015 Ravensburger Buchverlag


mit E-Book Alle Leseproben sind den Neuerscheinungen des Herbstprogramms entnommen. Dabei handelt es sich um gekürzte und teils unredigierte Texte bzw. Illustrationsskizzen. Änderungen vorbehalten. Alle Rechte vorbehalten. © 2015 Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH, Postfach 1860, 88188 Ravensburg Umschlaggestaltung: designschneiderei.de unter Verwendung einer Illustration von Iacopo Bruno. Printed in Germany ISBN 978-3-473-95155-0 www.ravensburger.de

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Liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler, haben Sie sich schon einmal die Füße mit Pferdeapfel-Shampoo gewaschen? Was würden Sie tun, wenn man Sie auf eine magische Schule verschleppt und dort wie eine Hexe behandelt, obwohl Sie eindeutig eine Prinzessin sind? Träumen Sie manchmal heimlich von einem Seelentier, das Sie in allen Lebenslagen beschützt? Und wie wäre Ihnen zumute, wenn Sie plötzlich den bevorstehenden Tod anderer Menschen spüren könnten? Seite an Seite mit unseren Protagonisten können Sie in unserem Herbstprogramm Antworten auf all diese Fragen finden. Die Charaktere könnten dabei unterschiedlicher nicht sein. Sie sind Einfach ungeheuerlich wie Freddy, der sich plötzlich in der Welt der Menschen zurechtfinden muss. Sie sind gegensätzlich wie die besten Freundinnen Sophie und Agatha auf der School for Good and Evil und mutig wie Abeke, Rollan, Conor und Meilin, die zusammen mit ihren Spirit Animals die Welt retten sollen. Und sie sind mysteriös wie Delaney, die die Welt nach einem Unfall im Splitterlicht betrachtet. Doch so verschieden sie auch sind, eines ist ihnen allen gemein: Sie müssen sich gegen andere behaupten, ihren Platz in der Welt finden und lernen, dass Freundschaft und Liebe großes Glück, aber auch viel Leid bedeuten können – Themen also, mit denen sich auch unsere Leser jeden Tag auseinandersetzen. Wir freuen uns sehr, Ihnen unsere Neuheiten im Herbst 2015 vorzustellen. Lesen Sie schon heute in Bücher hinein, die morgen die Herzen von jungen Erwachsenen höher schlagen lassen und Kinderaugen zum Leuchten bringen werden. Viel Spaß beim Schmökern! Ihre Redaktion für Kinder- und Jugendliteratur

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I N H A LT JUGENDBUCH Soman Chainani The School for Good and Evil . . . . . . . . . . . . . 7 E. Lockhart

Solange wir lügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .17

Megan Miranda Splitterlicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .31 Mandy Hubbard Wie ich in High Heels durch die Zeit stolperte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Steven Camden Karen Bao

Press Play . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Dove Arising – Im Herzen des Feindes . . . . . . . . . 65

Jaromir Konecny Herz Slam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Laura Foster

Der Fluch von Cliffmoore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Gina Mayer

Verliebt in Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

KINDERBUCH Brandon Mull

Spirit Animals – Der Feind erwacht . . . . . . . 109

Anna Herzog Ein Hoch auf den Herbstwind . . . . . . . . . . . . . . 121 Fabian Lenk Die unglaublichen Fälle des Dr. Dark . . . . . . . . . 131 Inge Meyer-Dietrich, Anja Kiel Ein Stern für Finja . . . . . . . . 145 Emily Gale Klara Krawumm – Mein explosives Tagebuch . . . 155 Petra Kasch

Mia und das Wolkenschiff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Jochen Till Einfach ungeheuerlich! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

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Info

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Soman Chainani The School for Good and Evil Band 1: Es kann nur eine geben ISBN 978-3-473-40127-7 Aus dem Amerikanischen von Ilse Rothfuss Ca. 512 Seiten Ab 12 Jahren 14,3 x 21,5 cm, Hardcover 3 16,99 (D) / 3 17,50 (A) / sFr. 27,90 Erscheint im Oktober 2015


Soman Chainani

The School for Good and Evil Band 1: Es kann nur eine geben

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The School for Good and Evil – Band 1: Es kann nur eine geben > > > Inhalt

Märchenhafte Fantasy um zwei Rivalinnen, die gegensätzlicher nicht sein könnten Fesselnder Erzählstil mit Situationskomik und überraschenden Wendungen Riesenerfolg in den USA

Auf der Schule der Guten und der Schule der Bösen werden Jugendliche für ihre spätere Karriere in einem Märchen ausgebildet: als Helden und Prinzessinnen oder aber als Schurken und Hexen. Sophie träumt seit Jahren davon, Prinzessin zu werden. Ihre Freundin Agatha dagegen scheint mit ihrem etwas düsteren Wesen für die entgegengesetzte Laufbahn vorbestimmt. Doch das Schicksal entscheidet anders und stellt die Freundschaft der Mädchen auf eine harte Probe … Soman Chainani, Schriftsteller und Drehbuchautor, glaubt noch mehr an Märchen als die Bewohner von Galvadon. Deshalb schrieb er seine Doktorarbeit in Harvard über die Frage, warum Frauen im Märchen die besseren Bösewichte sind. Und warum in jeder Prinzessin auch ein bisschen Hexe steckt – und umgekehrt. Aus dieser Idee entstand seine Roman-Trilogie „The School for Good and Evil“, mit der er die New-York-TimesBestsellerliste eroberte.

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Die Prinzessin und die Hexe

S

ophie hatte sich ihr Leben lang auf den Tag ihrer Entführung gefreut. Die anderen Kinder von Gavaldon lagen

jetzt schlotternd in ihren Betten. Sie träumten von einem rotäugigen Monster, das sie aus ihrem Schlaf riss und ihre Schreie erstickte. Sophie dagegen träumte von einem Prinzen. Und von einem

Ball, der ihr zu Ehren auf einem Schloss gegeben wurde. Der ganze Saal wimmelte von Verehrern, und keine Rivalin war weit und breit zu sehen. Nur hübsche Jungs mit glänzendem Haar, glatter sonnengebräunter Haut, charmant und ritterlich. Einer stach besonders hervor. Er hatte leuchtend blaue Augen und schneeweißes Haar. Das war er, ihr Märchenprinz, mit dem sie für immer glücklich sein würde. Strahlend ging Sophie auf ihn zu, doch dann ertönten laute Hammerschläge und der Prinz zerbarst in tausend Stücke … Sophie schlug die Augen auf. Die Sonne schien und der Hammer war kein Traum.

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»Aber Vater, du weißt doch, dass ich meinen Schönheitsschlaf brauche«, jammerte sie. »Ich will nicht mit verquollenen Augen herumlaufen.« »Alle sagen, du wirst dieses Jahr mitgenommen«, brummte ihr Vater. Er nagelte eine dicke Querstange vor ihr Fenster, das ganz mit Brettern, Vorhängeschlössern und Stacheldraht verbarrikadiert war. »Ich soll dir die Haare scheren und dein Gesicht mit Schlamm einschmieren. Ha! Wer glaubt schon an diesen Märchenblödsinn. Aber heute Nacht kommt hier keiner rein, so viel steht fest.« Sophie funkelte grimmig ihr schönes Fenster an, das jetzt völlig verschandelt war. »Schlösser. Wie einfallsreich.« »Warum sollte er ausgerechnet dich mitnehmen?«, knurrte ihr Vater. »Wenn der Schulmeister gute Mädchen braucht, holt er sich Gunildas Tochter.« »Was? Belle?«, rief Sophie empört. »Ja, Belle ist eine gute Tochter. Sie kocht für ihren Vater und bringt ihm das Essen in die Fabrik. Und die Reste gibt sie der armen Alten auf dem Dorfplatz.« Sophie verdrehte die Augen. Kochen ! Nie im Leben würde sie ihren Vater mit Speckknödeln und Gulasch füttern. Der fettige Qualm würde ihr nur die Poren verstopfen. Ihr Vater konnte ja die Gerichte essen, die sie für sich selber kochte. Rote-Beete-Brei, Brokkoli, fettfrei gedünsteter Spinat. »Wie du schon sagst, alles Blödsinn«, säuselte Sophie mit zuckersüßem Lächeln, fegte an ihm vorbei und knallte die Badezimmertür hinter sich zu.

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Seufzend betrachtete sie sich im Spiegel. Der fehlende Schlaf hatte seine Spuren hinterlassen. Ihr hüftlanges Haar, das sonst immer glänzte wie gesponnenes Gold, war ein wenig matt. Ihren jadegrünen Augen fehlte der Glanz und ihre vollen roten Lippen wirkten etwas trocken. Selbst ihre Haut schimmerte nicht so pfirsichzart wie sonst. Schön war sie natürlich trotzdem. Eine Prinzessin. Auch wenn ihr Vater keinen Blick dafür hatte. So wie ihre Mutter, die leider zu früh gestorben war. »Sophie, du bist viel zu schön für diese Welt«, waren ihre letzten Worte gewesen. Heute Nacht, wenn sie geholt wurde, begann Sophies wahres Leben. Aber in diesem Zustand konnte sie ihrem Entführer unmöglich unter die Augen treten. Als Erstes rieb sie sich das Gesicht mit Fischeiern ein. Die rochen nach Schweißfüßen, halfen aber todsicher gegen Pickel. Danach massierte sie ihre Haut mit Kürbismus, spülte sie mit Ziegenmilch ab und trug eine Gesichtsmaske auf (aus Melonen und Schildkröteneigelb). Während die Maske einwirkte, blätterte Sophie in einem Märchenbuch und trank Gurkensaft, der ihre Haut taufrisch hielt. Lächelnd schlug sie ihr Lieblingsmärchen auf. Das Märchen von der bösen Hexe, die in einem mit Nägeln gespickten Fass einen Hang hinuntergerollt wurde, bis nichts mehr von ihr übrig war als ihr Armreif, der aus den Knochen kleiner Jungen bestand … Sophie starrte auf das Armband und dachte dabei an ihre Gurken. Gab es überhaupt Gurken im Märchenwald? Ein paar getrocknete Melonenflocken rieselten auf die Buch-

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seite. Sophie schaute in den Spiegel und erschrak. Oh nein! Diese Stirnfalten! Erst Schlafmangel und jetzt auch noch Falten. Schnell entspannte sie ihr Gesicht und verbannte die Gurken aus ihren Gedanken. Sophies restliche Morgentoilette beinhaltete so exquisite Zutaten wie Tomaten in Öl, Cashewnusscreme, Pferdehufpulver und sogar Kuhblut. Zwei Stunden später trat Sophie aus dem Haus. Sie trug ihr rosafarbenes Kleid, ihre gläsernen Stöckelschuhe und einen perfekt geflochtenen Zopf. Bis zur Ankunft des Schulmeisters blieb ihr noch ein Tag Zeit, und den wollte sie nutzen. Der Schulmeister sollte sehen, wie gut sie war. Damit er nicht Belle an ihrer Stelle mitnahm oder Tabitha oder sonst eine von diesen Heuchlerinnen. Sophies beste Freundin lebte auf dem Friedhof. Sophie hasste alles Düstere, aber sie stieg jede Woche einmal zu dem Haus auf dem Friedhofshügel hinauf. Immer mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, weil es ja eine gute Tat war. Sophie spürte ein Ziepen in den Oberschenkeln, während sie mit ihrem Picknickkorb zum Gräberhügel hinaufstapfte. Waren ihre Beine beim Gehen etwa dicker geworden? Eine Prinzessin mit dicken Oberschenkeln, undenkbar! Schnell lenkte sie sich ab, indem sie ihre guten Taten der letzten Woche noch einmal in Gedanken durchging. Sie hatte die Gänse im See mit Linsen und Blutegeln gefüttert (ein natürliches Abführmittel, weil die armen Tiere von den Dorftrampeln hier immer mit Käse vollgestopft wurden). Dann hatte sie eine selbst gemachte

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Reinigungsmilch ins Waisenhaus gebracht. (Was gibt es Wichtigeres im Leben als reine Haut ?) Und schließlich hatte sie einen Spiegel im Kirchenklo aufgestellt, damit die Gläubigen frisch gestylt in ihre Bank zurückkehren konnten. War das genug ? Wieder fielen ihr die Gurken ein. Vielleicht konnte sie einen kleinen Vorrat mitnehmen ? Aber waren Gurken schwer ? Sophie überlegte, ob die Schule ihr einen Diener oder Lakaien schicken würde. »Wo gehst du hin?« Sophie wirbelte herum. Radley mit dem feuerroten Haarschopf stand vor ihr und grinste sie mit seinen Hasenzähnen an. Dieser Dummkopf lief ihr auf Schritt und Tritt nach. »Ich besuche eine Freundin«, sagte Sophie. »Warum bist du mit einer Hexe befreundet?« »Sie ist keine Hexe.« »Doch, ist sie. Weil sie so komisch ist und keine Freunde hat.« »Dann bist du auch eine Hexe«, hätte Sophie fast gesagt. Stattdessen lächelte sie geduldig, um Radley zu zeigen, dass sie nur aus reiner Nächstenliebe mit ihm sprach. »Die kommt jetzt in die Schule für Böse«, brabbelte Radley. »Dann brauchst du eine neue Freundin.« »Der Schulmeister nimmt immer zwei Kinder mit«, sagte Sophie zähneknirschend. »Ja, schon. Für die andere Schule nimmt er Belle. Belle ist die Beste. Aber wenn du willst, kann ich dein neuer Freund sein.« Radley grinste hoffnungsvoll. »Danke, ich habe genug Freunde«, fauchte Sophie.

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Radley wurde knallrot. »Oh, klar – ich dachte nur …«, stotterte er und schlich davon wie ein geprügelter Hund. Sophie starrte ihm nach und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Ihre ganzen guten Taten, das ewige künstliche Lächeln – alles umsonst, nur wegen diesem Jammerlappen. Warum hatte sie nicht einfach gesagt: »Ja, gern, lass uns Freunde sein.«? Radley wäre selig gewesen und Sophie hätte beim Schulmeister gepunktet. Aber es ging einfach nicht. Sie war schön und Radley war hässlich. Basta. Warum hätte sie ihm also falsche Hoffnungen machen sollen? Das wäre gemein gewesen. Der Schulmeister würde es schon verstehen. Sophie zog das rostige Friedhofstor auf und ging hinein. Überall wucherte stachliges Unkraut, das ihr die Beine zerkratzte. Vermoderte Grabsteine ragten kreuz und quer aus den welken Blätterhaufen auf. Langsam schlängelte sie sich zwischen den dunklen Gräbern hindurch und zählte sorgfältig die Reihen. Ihre Mutter lag auch auf diesem Friedhof, aber Sophie hatte ihr Grab nie angeschaut. Nicht einmal bei der Beerdigung. Und jetzt erst recht nicht. Als sie an der sechsten Reihe vorbeikam, fiel ihr Blick auf eine traurige Hängebirke. Morgen beginnt mein neues Leben, tröstete sie sich. Mitten im dichtesten Gräbergewirr ragte die baufällige Villa Grabhügel auf. Die Treppe zur Veranda schimmerte grün vor Schimmel. Tote Birken und vertrockneter Efeu wuchsen an den verwitterten Holzwänden empor, und das spitzgiebelige Dach erinnerte an einen schwarzen Hexenhut. Sophie stieg die knarzenden Stufen hinauf und hielt die Luft

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an, um den Gestank nicht einatmen zu müssen – eine grässliche Mischung aus Knoblauch und nasser Katze. Am Boden lagen geköpfte Vögel, die vermutlich dem Katzenmonster zum Opfer gefallen waren. Sie klopfte an die Tür und wappnete sich gegen die Flut von Schimpfwörtern, die über sie hereinbrechen würde. »Hau ab«, ertönte eine knurrige Stimme. »Aber Aggie, wie redest du denn mit deiner besten Freundin?«, säuselte Sophie. »Du bist nicht meine beste Freundin.« »Wer dann?«, fragte Sophie beunruhigt. War Belle ihr etwa zuvorgekommen? »Das geht dich nichts an.« Sophie holte tief Luft. Bloß nicht denselben Fehler machen wie bei Radley. »Aber wir hatten doch gestern so viel Spaß, Agatha. Ich dachte, du freust dich, wenn ich komme.« »Du hast mir die Haare orange gefärbt.« »Ja, aber das haben wir doch wieder in Ordnung gebracht!« »Du willst nur deine blöden Schönheitsmittelchen an mir ausprobieren.« »Dazu sind Freunde doch da«, sagte Sophie. »Dass man sich gegenseitig hilft.« »Nützt ja doch nichts. Ich werde nie so hübsch wie du.« Sophie suchte nach einer netten Antwort. Aber Aggies Klumpschuhe stampften bereits von der Tür weg.

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Info

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E. Lockhart Solange wir l端gen ISBN 978-3-473-40130-7 Aus dem Amerikanischen von Alexandra Rak 320 Seiten Ab 14 Jahren 14,3 x 21,5 cm, Hardcover mit transparentem Schutzumschlag 3 14,99 (D) / 3 15,50 (A) / sFr. 24,90 Erscheint im September 2015


E. Lockhart

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Solange wir lügen > > > Inhalt

Dramatische Liebesgeschichte mit unvergesslichem Überraschungsende Der New-York-Times-Bestseller! Über 100.000 verkaufte Exemplare Filmrechte verkauft

Eine wohlhabende und angesehene Familie. Eine Privatinsel vor der Küste von Massachusetts. Ein Mädchen ohne Erinnerungen. Vier Jugendliche, deren Freundschaft in einer Katastrophe endet. Ein Unfall. Ein schreckliches Geheimnis. Nichts als Lügen. Wahre Liebe. Die Wahrheit. E. Lockhart studierte Schreiben und Literatur an der Vassar und an der Columbia University und steht im ständigen Austausch mit ihren Fans. Besuchen Sie die Autorin online auf emilylockhart.com oder folgen Sie @elockhart auf Twitter.

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1 HERZLICH WILLKOMMEN BEI den wunderschönen

Sinclairs. Niemand von uns ist ein Verbrecher. Niemand ein Abhängiger. Niemand ein Versager. Wir Sinclairs sind athletisch, groß und gut aussehend. Wir sind Demokraten aus dem alten Geldadel. Unser Lächeln ist breit, unser Kinn markant und unsere Tennisaufschläge aggressiv. Es spielt keine Rolle, wenn eine Scheidung unser Herz zerreißt, sodass es nur noch widerwillig schlägt. Es spielt keine Rolle, wenn das Geld auf Treuhandkonten knapp wird, wenn Kreditkartenrechnungen unbezahlt auf der Küchenanrichte liegen bleiben. Es spielt keine Rolle, wenn auf dem Nachttisch eine Sammlung von Tablettenschachteln steht. Es spielt keine Rolle, wenn jemand von uns hoffnungslos, hoffnungslos verliebt ist. So verliebt, dass hoffnungslos verzweifelte Maßnahmen ergriffen werden müssen.

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Wir sind Sinclairs. Niemand ist schwach. Niemand hat Unrecht. Wir wohnen, zumindest in den Sommermonaten, auf einer Privatinsel vor der Küste von Massachusetts. Vielleicht ist das schon alles, was ihr wissen müsst.

2 MEIN VOLLSTÄNDIGER NAME ist Cadence Sinclair

Eastman. Ich wohne zusammen mit Mum und drei Hunden in Burlington, Vermont. Ich bin fast achtzehn. Ich besitze nicht viel mehr als einen gut genutzten Bibliotheksausweis, obwohl ich in einem prachtvollen Haus voller teurer, nutzloser Dinge wohne. Früher war ich blond, aber jetzt sind meine Haare schwarz. Früher war ich stark, aber jetzt bin ich schwach. Früher war ich hübsch, aber jetzt sehe ich krank aus. Seit meinem Unfall leide ich an Migräne. Schwachköpfe kann ich nicht leiden. Ich mag es, wenn etwas mehrere Bedeutungen hat.

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An etwas leiden, jemanden nicht leiden können. Das Wort bedeutet in beiden Fällen fast dasselbe, aber eben nur fast. Leiden. Man könnte sagen, dass es ertragen heißt, aber auch das trifft es nicht genau. Meine Geschichte beginnt vor dem Unfall. In dem Sommer, als ich fünfzehn Jahre alt war, ist mein Vater mit irgendeiner Frau abgehauen, die er mehr liebte als uns. Dad ist ein halbwegs erfolgreicher Professor für Militärgeschichte. Damals habe ich ihn vergöttert. Er trug Tweedjacken. Er war schlank. Er trank seinen Tee mit Milch. Er mochte Brettspiele und ließ mich gewinnen, er mochte Boote und brachte mir das Kajakfahren bei, er mochte Fahrräder, Bücher und Museen. Hunde mochte er nie, und die Tatsache, dass unsere Golden Retriever auf den Sofas schlafen durften und er jeden Morgen fünf Kilometer mit ihnen spazieren ging, war ein Beweis dafür, wie sehr er meine Mutter liebte. Meine Großeltern mochte er auch nicht, und die Tatsache, dass er trotzdem jeden Sommer in Windemere House auf Beechwood Island verbrachte, wo er Aufsätze über längst ausgefochtene Schlachten schrieb und sich zu jeder Mahlzeit für die Verwandten ein Lächeln abrang, war ein Beweis dafür, wie sehr er sowohl Mum als auch mich liebte.

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In jenem Juni, Sommer Fünfzehn, verkündete Dad, dass er uns verlassen werde, und zwei Tage später ging er fort. Er sagte meiner Mutter, dass er kein Sinclair sei und dass er auch nicht länger versuchen wolle, so zu tun. Er wolle nicht mehr lächeln, nicht mehr lügen, kein Teil dieser wunderschönen Familie in ihren wunderschönen Häusern sein. Wolle nicht. Wolle nicht. Würde nicht. Er hatte den Umzugswagen bereits bestellt. Er hatte auch schon ein Haus gemietet. Mein Vater verstaute einen letzten Koffer auf der Rückbank des Mercedes (er ließ Mum mit dem Saab sitzen) und startete den Motor. Dann zog er eine Pistole und schoss mir in die Brust. Ich stand gerade auf dem Rasen und ich fiel. Die Einschussstelle klaffte weit auseinander und mein Herz rollte aus meinem Brustkorb ins Blumenbeet. In rhythmischen Stößen quoll Blut aus meiner offenen Wunde, aus meinen Augen, meinen Ohren, meinem Mund. Es schmeckte nach Salz und Versagen. Hellrot tränkte meine Scham, nicht geliebt zu werden, das Gras vor unserem Haus, die Auffahrt, die Stufen zur Veranda. Mein Herz zuckte zwischen den Pfingstrosen wie eine Forelle. Mum blaffte mich an. Sie sagte, dass ich mich zusammenreißen soll. Benimm dich normal, sagte sie. Sofort, sagte sie.

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Weil du es bist. Weil du es kannst. Mach keinen Aufstand, sagte sie. Atme und setz dich. Ich tat, was sie verlangte. Sie war alles, was ich noch hatte. Als Dad den Hügel hinunterfuhr, reckten Mum und ich unser markantes Kinn nach oben. Dann gingen wir ins Haus und warfen all seine Geschenke in den Müll: Schmuck, Kleider, Bücher, alles Mögliche. In den folgenden Tagen beseitigten wir die Sofas und Sessel, die meine Eltern zusammen gekauft hatten. Wir schmissen das Hochzeitsgeschirr, das Tafelsilber, die Fotos weg. Wir schafften uns neue Möbel an. Engagierten einen Innenausstatter. Gaben eine Bestellung für Tafelsilber bei Tiffany’s auf. Wir beauftragten Großvaters Anwalt, damit er Mums Vermögen in Sicherheit brachte. Dann packten wir unsere Taschen und fuhren nach Beechwood Island.

3 PENNY, CARRIE UND Bess sind die Töchter von Tipper

und Harris Sinclair. Harris kam mit einundzwanzig Jahren nach seinem Harvardstudium zu Geld und vermehrte sein

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Vermögen mit Geschäften, die zu verstehen ich mir nie die Mühe gemacht habe. Er erbte Häuser und Grundstücke. Er traf kluge Entscheidungen an der Börse. Er heiratete Tipper und überließ ihr die Herrschaft in Küche und Garten. Er behängte sie mit Perlen und stellte sie auf Segelbooten zur Schau. Ihr schien das zu gefallen. Großvaters einziger Misserfolg war, dass er nie einen Sohn bekam. Aber was machte das schon. Die Sinclairtöchter waren braun gebrannt und wunderschön. Sie waren groß, fröhlich und reich wie Prinzessinnen aus einem Märchen. Sie waren wie gemacht für Legenden. Wie gemacht für Prinzen und Eliteschulen, teuren Schmuck und prachtvolle Häuser. Großvater und Tipper liebten ihre Töchter so sehr, dass sie nicht einmal sagen konnten, welche von ihnen sie am liebsten hatten. Manchmal war es Carrie, dann Penny, dann Bess, dann wieder Carrie. Auf drei sensationelle Hochzeiten mit Lachs und Harfenmusik folgten hübsche hellblonde Enkel und süße blonde Hunde. Niemand hätte stolzer sein können auf seine umwerfenden amerikanischen Mädchen, als Tipper und Harris es waren. Auf ihrer felsigen Privatinsel bauten sie drei neue Häuser und gaben jedem einen Namen: Windemere für Penny, Red Gate für Carrie und Cuddledown für Bess. Ich bin die Älteste der Sinclairenkel. Erbin der Insel, des Vermögens und der Erwartungen. Na ja, vielleicht.

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4 ICH, JOHNNY, MIRREN und Gat. Gat, Mirren, Johnny

und ich. Die Familie nennt uns vier die Lügner und wahrscheinlich verdienen wir das auch. Wir haben alle im Herbst Geburtstag und sind praktisch gleich alt. Und in all den Sommern auf der Insel haben wir immer irgendwie für Ärger gesorgt. Gat kam zum ersten Mal nach Beechwood, als wir acht waren. Sommer Acht nannten wir das. Davor waren Mirren, Johnny und ich noch nicht die Lügner. Wir waren einfach nur ein Cousin und zwei Cousinen, und Johnny ging uns auf die Nerven, weil er nicht gern mit Mädchen spielte. Johnny. Er ist Energie, Einsatz und Bissigkeit. Damals hat er immer unsere Barbies erhängt oder mit seinen Legopistolen auf uns geschossen. Mirren. Sie ist Freundlichkeit, Neugier und Anmut. Damals verbrachte sie ganze Nachmittage mit Taft und den Zwillingen planschend am großen Strand, während ich Bilder auf Millimeterpapier zeichnete oder in der Hängematte unter dem Vordach von Clairmont lag und las. Dann kam Gat, um den Sommer mit uns zu verbringen. Tante Carries Mann verließ sie, als sie mit Johnnys Bruder Will schwanger war. Ich weiß nicht, was vorgefal-

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len ist. Die Familie redet nie darüber. Im Sommer Acht war Will ein Baby und Carrie hatte schon etwas mit Ed angefangen. Ed war Kunsthändler und vergötterte die Kinder. Das war alles, was wir über ihn gehört hatten, als Carrie verkündete, dass sie ihn zusammen mit Johnny und dem Baby nach Beechwood bringen würde. Sie waren die Letzten, die in diesem Sommer auf die Insel kamen, und wir warteten alle am Steg darauf, dass das Boot anlegte. Großvater hob mich hoch, damit ich Johnny zuwinken konnte, der eine orangefarbene Schwimmweste trug und uns über den Bug hinweg etwas zurief. Oma Tipper stand direkt neben uns. Sie drehte sich einen Moment lang vom Boot weg, fasste in ihre Tasche und holte einen Pfefferminzbonbon heraus. Sie wickelte ihn aus und steckte ihn sich in den Mund. Als sie zum Boot schaute, änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ich kniff die Augen zusammen, wollte sehen, was sie sah. Carrie stieg als Erste aus. Sie hatte Will auf dem Arm, der in einer gelben Babyschwimmweste steckte. Sein bloßer Anblick löste eine Welle der Entzückung aus. Diese Weste hatten wir alle als Babys getragen. Die Haare. Wie wundervoll, dass dieser kleine Junge, den wir noch gar nicht kannten, ganz eindeutig ein Sinclair war. Johnny sprang vom Boot und warf seine Weste auf den Steg. Als Erstes rannte er zu Mirren und verpasste ihr einen

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Tritt. Dann trat er mich. Danach waren die Zwillinge an der Reihe. Ed war nach Johnny aus dem Motorboot gestiegen und stehen geblieben, um den Angestellten beim Ausladen zu helfen. Er war groß und schlank. Seine Haut war sehr dunkel: indische Herkunft, wie wir später erfuhren. Er hatte eine Brille mit schwarzem Rahmen und trug ein elegantes Großstadtoutfit, einen Leinenanzug mit gestreiftem Hemd. Seine Hose war von der Reise zerknittert. Großvater setzte mich ab. Oma Tippers Mund war nur noch ein schmaler Strich. Dann setzte sie ein Lächeln auf und ging auf Ed zu. »Sie müssen Ed sein. Was für eine schöne Überraschung.« Er gab ihr die Hand. »Hat Carrie Ihnen nicht gesagt, dass wir kommen?« »Natürlich hat sie das.« Ed schaute unsere weiße, weiße Familie an. »Wo ist Gat?«, fragte er Carrie. Sie riefen nach ihm und Gat kletterte aus der Bootskabine. »Mutter, Vater«, sagte Carrie, »Wir haben Eds Neffen Gat mitgebracht, damit er mit Johnny spielen kann.« Großvater streckte seine Hand aus und tätschelte Gats Kopf. »Hallo, junger Mann.« »Hallo.« »Sein Vater ist gestorben, dieses Jahr erst«, erklärte

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Carrie. »Er und Johnny sind beste Freunde. Für Eds Schwester ist es eine große Hilfe, wenn wir uns ein paar Wochen um ihn kümmern. Alles klar, Gat? Hier wird es Grillpartys geben und du kannst schwimmen gehen, in Ordnung?« Aber Gat antwortete nicht. Er schaute mich an. Er hatte eine ausgeprägte Nase und schöne Lippen. Dunkelbraune Haut, schwarze gewellte Haare. Sein Körper strotzte vor Energie. Gat wirkte wie eine gespannte Feder. Als würde er auf etwas warten. Er war Einkehr und Begeisterung. Ehrgeiz und starker Kaffee. Ich hätte ihn ewig anschauen können. Unsere Blicke trafen sich. Ich drehte mich um und rannte weg. Gat lief mir hinterher. Ich hörte seine Schritte auf den Bohlenwegen, die sich quer über die Insel zogen. Ich rannte weiter. Er lief mir weiter hinterher. Johnny jagte Gat nach. Und Mirren jagte Johnny nach. Wir vier hielten erst am kleinen Strand vor Cuddledown an. Es ist ein schmales Sandstück, das zu beiden Seiten von hohen Felsen gesäumt wird. Damals wurde es von niemandem großartig genutzt. Am großen Strand gab es weicheren Sand und nicht so viel Seegras. Mirren zog ihre Schuhe aus, der Rest von uns folgte ihrem Beispiel. Wir warfen Steine ins Wasser. Für uns existierte nur der Moment.

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Ich schrieb unsere Namen in den Sand. Cadence, Mirren, Johnny und Gat. Gat, Johnny, Mirren und Cadence. So ďŹ ng es mit uns an.

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Info

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Megan Miranda Splitterlicht ISBN 978-3-473-58481-9 Aus dem Amerikanischen von Ingrid Ickler Ca. 320 Seiten Ab 14 Jahren 14 x 21 cm, Broschur 3 9,99 (D) / 3 10,30 (A) / sFr. 17,90 Erscheint im September 2015


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Splitterlicht > > > Inhalt

Packende Mischung aus Mystery-Thriller und Liebesgeschichte Gedankenexperiment über die veränderte Realität nach einer Nahtoderfahrung Fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite

Elf Minuten ist Delaney unter dem Eis, bevor ihr bester Freund Decker sie aus dem eiskalten See herausziehen kann – und nach allem, was die Ärzte sagen, sollte sie eigentlich tot sein. Aber nach einer Woche im Koma erwacht Delaney – ohne bleibende Schäden. Und trotzdem ist nichts, wie es vorher war. Nach und nach zeigen sich Risse in Delaneys Alltag und ihrer Wahrnehmung. Unausgesprochene Gefühle zwischen ihr und Decker belasten Delaney zusätzlich, und sie fühlt sich plötzlich zu dem mysteriösen Troy Varga hingezogen, der nach einer Nahtoderfahrung dieselbe schreckliche Fähigkeit wie sie zu besitzen scheint: Beide spüren den bevorstehenden Tod anderer Menschen. Megan Miranda hat ihren Abschluss in Biologie am Massachusetts Institute of Technology gemacht und lebt zusammen mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in der Nähe von Charlotte in North Carolina. Sie verbringt viel Zeit damit, über das Warum und das Wie der Dinge nachzudenken, und ertappt sich dadurch häufig selbst beim Tagträumen über das Was-wäre-wenn.

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In elf Minuten kann viel passieren. Decker kann in elf Minuten ohne Probleme zwei Meilen rennen. Ich habe mal in zehn Minuten einen Aufsatz geschrieben. Und Gott weiß, dass Carson Levine in der Hälfte der Zeit ein Mädchen verführen kann. Unter Wasser können elf Minuten eine Ewigkeit sein. In Bio haben wir gelernt, dass man schon nach drei Minuten ohne Sauerstoff ohnmächtig wird. Ab vier Minuten kommt es zu dauerhaften Hirnschäden. Dann zum Herzstillstand. Der Tod tritt nach etwa fünf Minuten ein. Wahrscheinlich nach sieben. Definitiv nach zehn. Decker hat mich nach elf Minuten aus dem Wasser gezogen. Als ich das erste Mal starb, habe ich keinen Gott gesehen. Kein Licht am Ende des Tunnels. Keine Engel mit Heiligenschein. Keine verstorbenen Großeltern. Nicht einmal endlose Dunkelheit. Einfach nichts. Eben noch krallte ich mich in das Eis über mir, meine Haut war taub, meine Lunge brannte. Dann war plötzlich alles verschwunden: das Eis, der Schmerz, der helle Schein, der durch die zugefrorene Wasseroberfläche des Sees drang. Und dann kam das Licht. Ein weiß gekleideter Mann – ganz sicher nicht Gott – leuchtete ein paarmal mit einer kleinen Lampe in meine Augen, dann zog er einen dicken Schlauch aus meinem Hals. Er sagte etwas, und seine Stimme klang genau so, wie ich mir die Stimme Gottes immer vorgestellt hatte: sanft und doch bestimmend. Aber ich wusste, dass er nicht Gott war, denn wir waren in einem puddinggelben Raum und ich hasse Pudding. Außerdem steckten mindestens fünf Schläuche in meinem Körper. So viel Plastik konnte es im Himmel gar nicht geben.

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Beweg dich, dachte ich. Aber das Einzige, was sich bewegte, war etwas verschwommen Weißes, als der Mann meinen reglosen Körper von oben bis unten untersuchte. Sag was, dachte ich. Aber nur sein Mund spuckte Geräusche aus: Zahlen und Buchstaben und fremd klingende Wörter. Ich saß nach wie vor in der Falle. Aber jetzt starrte ich nicht mehr von unten auf die Eisdecke eines zugefrorenen Sees, sondern aus einem zu Eis erstarrten Körper. Ich fühlte mich noch immer wie unter Wasser: nutzlos, schwer und voller Angst. Ich war gefangen in meinem eigenen Körper und hatte nichts mehr unter Kontrolle. »Die Krankengeschichte, bitte«, sagte der Mann, der nicht Gott war. Er hob meinen Arm und ließ ihn wieder fallen. Jemand im Hintergrund gähnte geräuschvoll. Ich hörte das Echo blecherner Stimmen aus der Ferne. »Weiblich, siebzehn Jahre.« »Schwere Gehirnschädigung durch Sauerstoffmangel.« »Nicht ansprechbar.« »Seit sechs Tagen im Koma.« Sechs Tage? Ich klammerte mich an die Wörter, zog mich an die Oberfläche und wiederholte sie so lange, bis sie nichts weiter waren als eine Anhäufung von Konsonanten und Vokalen. Sechs Tage, sechs Tage, sechs Tage. Sechs Tage. Fast eine ganze Woche. Weg. Der Mann in Weiß hatte ein Stethoskop um den Hals hängen, das sich dicht vor meiner Nase hin und her bewegte wie das Pendel einer Uhr. Spulen wir sechs Tage zurück. Decker Phillips, mein bester Freund seit ewigen Zeiten und noch länger mein Nachbar, brüllte am Fuß

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der Treppe: »Beweg deinen Arsch hier runter, Delaney! Wir sind spät dran!« Mist. Ich klappte meine Englischhausaufgaben zu und suchte in der Kommode nach meiner Skiunterwäsche. »Sekunde!«, rief ich, während ich mich in meine Skiunterhose zwängte. Dann kamen die Skihose, die Jacke und die Mütze dran. Die Handschuhe stopfte ich in die Jackentaschen. Durch die vielen Stoffschichten wirkte ich doppelt so breit wie sonst, aber es war schließlich Winter. Noch dazu Winter in Maine. Ich rannte die Treppe hinunter und übersprang die letzten drei Stufen. »Fertig«, sagte ich. »Bist du verrückt?«, fragte Decker und musterte mich. »Was meinst du?« Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Das ist nicht dein Ernst.« Wir wollten Manhunt spielen, eine Art Versteckfangen. Die meisten spielten es im Dunkeln und trugen Schwarz. Wir spielten es im Schnee und trugen deshalb Weiß. Leider hatte meine Mutter meinen alten weißen Anorak entsorgt und als Ersatz eine rote Skijacke gekauft. »Na ja, besser als erfrieren«, sagte ich. »Keine Ahnung, warum ich jedes Mal wieder so blöd bin, dich in mein Team zu wählen. Du bist lahm. Du bist laut. Und jetzt auch noch die perfekte Zielscheibe.« »Du wählst mich, weil du mich liebst.« Decker schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Du blendest.« Ich sah an mir hinunter. Er hatte Recht. Meine Jacke strahlte in grellem Rot. »Ich zieh sie falsch rum an, wenn wir da sind. Das Futter ist nicht ganz so schlimm.«

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Decker drehte sich zur Tür, und ich hätte schwören können, dass er grinste. »Übrigens reg ich mich ja auch nicht über deine Haare auf. Meine passen sich wenigstens der Umgebung an.« Ich wuschelte mit beiden Händen durch seinen schwarzen Schopf, aber er schüttelte mich ab wie einen aufdringlichen Moskito. Als wäre ich ihm lästig. Decker packte mich am Handgelenk und zerrte mich durch die Tür. Ich stolperte hinter ihm her. Wir durchquerten erst unseren, dann Deckers Garten nebenan. Anschließend kletterten wir über eine Schneewehe am Straßenrand. Dann rannten wir mitten auf der Straße weiter, denn die Bürgersteige waren mit einer frischen Schneeschicht bedeckt. Ich korrigiere: Decker rannte. Ich rannte nur, wenn er sich nach mir umdrehte, meistens ging ich. Trotzdem war ich ziemlich außer Puste, als wir um die Straßenecke bogen. An der Abzweigung zum See flog Decker in sechs Riesenschritten den Hügel hinunter. Ich machte einen Umweg und ging die Böschung entlang, bis auch ich den Falcon Lake erreichte, wo Decker schon wartete. Ich beugte mich nach vorn, stützte mich mit den Händen auf den Knien ab und versuchte, zu Atem zu kommen. »Gib mir eine Minute«, keuchte ich. »Machst du Witze?« Immer wenn ich ausatmete, quollen weiße Wölkchen aus meinem Mund, die sich auf dem Weg in Richtung Boden auflösten. Als ich mich wieder aufrichtete, folgte ich Deckers Blick über die Mitte des Sees zur gegenüberliegenden Seite. Ich konnte die Bewegungen vor dem weißen Hintergrund kaum erkennen. Selbst wenn ich meine Jacke falsch herum anzog, hatten wir keine Chance. Zwischen den weiß überzogenen Büschen an der Uferlinie war unter der frischen Schneedecke eine dreckige Spur zu erahnen.

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Decker folgte der Spur mit den Augen, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen auf der anderen Seite zu. »Lass uns rübergehen.« Er packte mich am Ellbogen und zog mich in Richtung See. »Ich leg’ mich bestimmt flach.« Ich hatte zwar Profilsohlen, aber das wog meine fehlende Körperbeherrschung bei Weitem nicht auf. »Wirst du nicht.« Decker trat auf die schneebedeckte Eisfläche. Er wartete einen Augenblick, bis ich an seiner Seite war, dann ging er weiter. Im Januar liefen wir auf dem See Schlittschuh. Im August saßen wir barfuß am Kiesufer und hielten unsere Zehen ins Wasser. Selbst im Hochsommer war das Wasser zum Schwimmen zu kalt. Jetzt war es Anfang Dezember. Ein bisschen früh fürs Schlittschuhlaufen, aber die einheimischen Eisfischer meinten, die Seen seien in diesem Jahr schon zugefroren. Sie planten bereits einen Trip in den Norden. Decker war sportlich und ging so schnell und sicher über den See, als hätte er festen Boden unter den Füßen. Ich dagegen stolperte und schlitterte fast bei jedem Schritt, obwohl ich die Arme waagerecht zur Seite gestreckt hatte, als würde ich auf einem Drahtseil balancieren. Auf halber Strecke rutschte ich aus und prallte gegen Decker. Er umklammerte meine Taille. »Pass auf«, sagte er und hielt mich an seine Seite gepresst. »Ich will zurück«, jammerte ich. Ich war gerade weit genug gekommen, um die Gesichter von acht meiner Mitschüler auf der anderen Seite des Sees zu erkennen. Dieselben acht, die ich schon mein ganzes Leben kannte, in guten wie in schlechten Tagen. Carson Levine, dessen blonde Locken unter seiner Mütze hervorquollen, formte mit den Händen einen Trichter und rief: »Hält es?«

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Decker ließ die Arme sinken und ging weiter. »Tot bin ich jedenfalls noch nicht«, rief er zurück. Er wandte sich zu mir und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Dein Freund wartet.« »Er ist nicht mein …«, begann ich, aber Decker hörte gar nicht zu. Er ging einfach weiter. Ich blieb stehen – so lange, bis er festen Boden unter den Füßen hatte und ich allein in der Mitte des Sees stand. Carson klopfte Decker auf den Rücken. Ihm würgte Decker keinen Spruch rein. Was für ein Heuchler. Vor zwei Tagen hatte ich das Beste-Freunde-Gebot Nummer Eins gebrochen: Du sollst nicht mit dem besten Freund deines besten Freundes auf der Couch des besagten besten Freundes rummachen. Ich drehte mich langsam um die eigene Achse, um zu beurteilen, wie ich schneller wieder an Land kommen würde: zurück oder vorwärts. Die Strecke zu Decker und den anderen war etwas kürzer. »Mach schon, Delaney!«, rief Decker. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« »Ich komm ja schon«, murmelte ich. Ich ging schneller – und dann rutschte ich aus. Als ich fiel, streckte ich die Hände nach Decker aus, obwohl ich wusste, dass er zu weit weg war. Ich landete direkt auf meinem Arm und fühlte etwas brechen. Mein Knochen war es nicht. Es war das Eis. Nein. Mein linkes Ohr war gegen die Eisfläche gepresst, und ich hörte, wie sich der Riss verzweigte, erst langsam, dann immer schneller. Aus einem leisen Knistern wurde ein Knacken und Bersten. Dann war es still.

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Stocksteif blieb ich liegen. Vielleicht würde das Eis halten, wenn ich mich nicht bewegte. Ich sah Deckers Beine auf mich zurennen. Und in diesem Moment gab das Eis nach. »Decker!«, schrie ich. Ich spürte das Wasser, dickflüssig und schwer, kurz bevor ich versank – und dann war da nur noch Panik, Panik, Panik. Ich war nicht klar genug im Kopf, um zu denken: Bitte Gott, lass mich nicht sterben. Mir fehlte der Mut, um zu denken: Ich hoffe, Decker ist nicht aufs Eis gelaufen. Mein einziger Gedanke, der sich in einer Endlosschleife drehte, war: Nein, nein, nein. Zuerst kam der Schmerz wie Nadeln, die mir in die Haut stachen. Meine Eingeweide zogen sich zusammen, alles rollte sich ein, um vor der Kälte zu fliehen. Dann kam der Lärm. Wasser, das in meine Ohren strömte, und der Schmerz meiner erfrierenden Trommelfelle. Dieser Schmerz hatte einen Klang, ein hohes, schrilles Rauschen. Schnell sank ich in die Tiefe. Meine dicke Daunenjacke zog mich nach unten, und ich versuchte verzweifelt, mich zu orientieren. Um mich herum war nichts als aufgewühltes schwarzes Wasser, doch über mir waren Fußabdrücke, die sich immer weiter entfernten … kleine helle Flächen, wo Decker und ich Spuren hinterlassen hatten. Ich kämpfte mich darauf zu. Mein Hirn befahl meinen Beinen, sich kraftvoller zu bewegen, aber sie reagierten nur mit einem schwachen Paddeln. Ich würde es vielleicht bis zur Wasseroberfläche schaffen, aber das Loch, durch das ich gefallen war, würde ich nicht wiederfinden. Ich schlug um mich, immer und immer wieder, aber das Wasser war zäh wie Sirup und das Eis dick und hart wie Stahl. In meiner Panik schluckte ich Unmengen eiskaltes Wasser. Ich hustete und schluckte

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und hustete und schluckte, bis sich der Druck auf meiner Brust bleischwer anfühlte und meine Arme und Beine nicht mehr in der Lage waren, sich zu bewegen. Aber dann, einen Augenblick bevor alles dunkel wurde, hörte ich eine Stimme. Ein Flüstern. Als würde sich ein Mund gegen mein Ohr pressen. Geh nicht gelassen in die dunkle Nacht, sagte die Stimme, im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht. Blinzeln. Die energische Stimme sagte: »Und heute atmet sie ohne Beatmungsgerät. Prognose?« »Wachkoma, im besten Fall.« Das Gemurmel im Hintergrund wurde klarer. »Warum wurde sie überhaupt intubiert, wenn sie doch eindeutig hirntot ist?« »Sie ist minderjährig«, sagte der diensthabende Arzt und beugte sich über mich, um die Schläuche zu überprüfen. »Man hält ein Kind immer so lange am Leben, bis die Eltern da sind.« Der Arzt trat einen Schritt zurück und gab den Blick auf einen Engelschor frei. Frauen und Männer in weißen Kitteln lehnten an den Wänden, ihre Münder waren geöffnet, als würden sie himmlische Lieder singen. »Dr. Logan, ich glaube, sie ist wach.« Sie starrten mich an, ich starrte sie an. Dr. Logan lachte leise. »Dr. Klein, Sie werden noch lernen, dass viele komatöse Patienten ihre Augen öffnen. Das heißt aber nicht, dass sie auch etwas wahrnehmen.« Beweg dich. Sag was. Wieder flüsterte die Stimme in mein Ohr. Sie verlangte Wut. Und ich war wütend. Ich schlug gegen die Arme

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des Arztes, ich zerrte an seinem weißen Kittel. Ich bohrte meine Nägel in sein Fleisch, als er versuchte, mich abzuwehren. Ich strampelte mit den Beinen und versuchte mit aller Kraft, mich von den weißen Laken zu befreien. Ich war wütend, weil ich die Stimme in meinem Ohr erkannte. Es war meine eigene. »Der Name! Ihr Name!«, schrie der Arzt. Er beugte sich über mein Bett und hielt mich zurück, den Unterarm mit aller Kraft auf meine Brust gedrückt. Aber ich schlug weiter um mich, die ganze Zeit. »Delaney. Sie heißt Delaney Maxwell«, rief jemand. Mit der freien Hand umfasste der Arzt mein Kinn und zog meinen Kopf zu sich heran. Sein Gesicht kam mir so nah, dass ich den Pfefferminzgeruch in seinem Atem riechen und die Fältchen an seinen Mundwinkeln erkennen konnte. Er sagte kein Wort, bis sich unsere Blicke trafen, dann wich er zurück. »Delaney. Delaney Maxwell. Ich bin Dr. Logan. Du hattest einen Unfall. Du bist im Krankenhaus. Dir geht es gut.« Die Panik legte sich. Ich war frei. Befreit vom Eis, befreit aus meinem eiskalten Gefängnis. Ich bewegte die Lippen, um etwas zu sagen, aber sein Arm auf meiner Brust und seine Hand an meinem Kinn erstickten meine Frage. Langsam gab Dr. Logan mich frei. »Wo«, setzte ich an. Meine Stimme war ganz rau und heiser, wie bei einem starken Raucher. Ich räusperte mich und fuhr fort: »Wo ist …« Ich konnte nicht weitersprechen. Das Eis brach. Ich sank in die Tiefe. Und er war nicht da. »Deine Eltern?«, beendete Dr. Logan die Frage für mich. »Keine Sorge, sie sind hier.« Er drehte sich zum Engelschor um und sagte barsch: »Holt sie her.« Aber das wollte ich gar nicht fragen. Meine Eltern hatte ich gar nicht gemeint.

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Mandy Hubbard Wie ich in High Heels durch die Zeit stolperte ISBN 978-3-473-40129-1 Aus dem Amerikanischen von Franziska Jaekel 320 Seiten Ab 12 Jahren 14,3 x 21,5 cm, Hardcover 3 12,99 (D) / 3 13,40 (A) / sFr. 22,90 Erscheint im Juni 2015


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Inhalt

Für Fans von Zeitreise-Geschichten und Jane Austen Witzig, frech und zum Verlieben Herrschaftliche Landsitze, tolle historische Kleider und elegante Bälle

So hatte sich Callie die Klassenfahrt nach London nicht vorgestellt: Nach zwei Schritten in ihren nagelneuen High Heels fällt sie hin – und wacht im Jahr 1815 wieder auf. Zum Glück nehmen sie die Bewohner eines nahe gelegenen Landsitzes bei sich auf. Trotzdem will Callie unbedingt wieder zurück in ihre Zeit, denn die strengen gesellschaftlichen Regeln sind einfach unerträglich. Genau wie der unglaublich arrogante – aber leider auch unglaublich gut aussehende – Lord Alex … Mandy Hubbard ist in Seattle aufgewachsen. Sie ist Autorin von inzwischen sieben Jugendromanen, arbeitet als Literaturagentin und lebt mit ihrem Mann und einer Tochter in Enumclaw, Washington.

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Kapitel 5 Jemand ist in meinem Zimmer. Ich weiß es, bevor ich die Person sehe, denn ich höre einen ächzenden Laut und eine Art schabendes Geräusch. Ich setze mich im Bett auf und ziehe die Decke bis unters Kinn. Und dann erinnere ich mich wieder. Die letzte Nacht … der Weg durch den Wald … diese merkwürdigen Menschen, die so getan haben, als würden sie in der Vergangenheit leben. Ich spüre eine schmerzhafte Leere in der Brust, als mich schreckliches Heimweh packt. Verzweifelt beiße ich mir auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten. Warum bin ich nicht in meinem Hotelzimmer aufgewacht? Dann wäre alles nur ein verrückter Traum gewesen. Meinetwegen hätte ich auch im Krankenhaus aufwachen können. Das hier kann doch unmöglich real sein. Ich dürfte gar nicht in diesem Bett sitzen. Aber hier hocke ich nun: in einem Raum, der größer ist als unser Wohnzimmer zu Hause, und in einem Himmelbett, das wahrscheinlich nicht mal in mein Zimmer hineinpassen würde. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Aber eins ist sicher: Alles

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hier ist gigantisch, vornehm und luxuriös. Allein die Einrichtung muss ein Vermögen gekostet haben. Bin ich in einem Bed and Breakfast für Adlige gelandet? Die Person, die mich geweckt hat, muss eine Bedienstete sein. Sie trägt ein schlichtes schwarzes Kleid und ihr feines Haar ist im Nacken zu einem Dutt zusammengebunden. Als sie mich anlächelt, beruhigen sich meine flatternden Nerven etwas. Sie schleppt einen Koffer zu einem großen Kleiderschrank und öffnet die Türen. »Ihr könnt unter diesen vier Kleidern wählen«, sagt sie mit einem herrlich britischen Akzent, ohne dabei so geschwollen zu klingen wie Emily. »Wir müssen uns beeilen, sonst kommt Ihr zu spät. Der Herzog wird Euretwegen das Frühstück mit den Damen einnehmen.« Sofort ergreift mich wieder die Panik und ich springe wie eine Rakete aus dem Bett. »Der Herzog? Was soll das heißen?« Das Dienstmädchen sieht mich an, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen. »Wie meinen?« »Welcher Herzog?« »Seine Durchlaucht, natürlich.« Ich starre das Mädchen an, während sich mein Herzschlag beschleunigt. »Ein Typ namens Durchlaucht ist ein Herzog?« Sie prustet los, hält sich jedoch schnell die Hand vor den Mund, als wäre ihre Reaktion unangebracht. »Sein Name ist nicht Durchlaucht. Er ist Lord Alexander Thorton-Hawke, der Herzog von Harksbury.« »Und warum hast du ihn gerade Durchlaucht genannt?« Sie hebt eine Augenbraue. »Ich vergaß, dass Ihr Amerikane-

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rin seid. Die angemessene Anrede für ihn – und jeden anderen Herzog – ist Euer Durchlaucht.« »Oh.« Mit wackligen Beinen lasse ich mich auf dem Bettrand nieder. Ich bin also im Haus eines Herzogs gelandet. Oh Gott! Was, wenn er Rebecca (alias das Mädchen, das ich nicht bin) besser kennt als Emily? Wenn er sofort sieht, dass ich eine Hochstaplerin bin? Ein Herzog besitzt Macht, oder? Er könnte mich verhaften oder in den Kerker werfen lassen. Dieses Gebäude ist so groß wie ein Schloss. Wahrscheinlich gibt es hier sogar ein Verlies. Niemand wird mich je finden. Nicht in einem fremden Land in einem Haus im Nirgendwo. Ich kann kaum noch atmen und schnappe nach Luft. »Geht es Euch gut?« Ich bleibe regungslos sitzen und starre auf den Läufer unter meinen Füßen. Warum musste ich mich auch als Rebecca ausgeben? Das wird niemals gut gehen. Ich hätte Emily die Wahrheit sagen sollen. Sie schien ganz nett zu sein und vielleicht hätte sie mir trotzdem geholfen. Ich hätte einfach um Hilfe bitten sollen, anstatt mich als jemand auszugeben, der ich nicht bin. Nach einer Weile beruhigt sich meine Atmung wieder und ich fühle mich etwas besser. Ich muss nur dieses Frühstück überstehen. Wenn der Herzog meinen Schwindel bei unserer ersten Begegnung nicht bemerkt, könnte ich es schaffen. Ich muss nur auf meinen Teller starren und darf kein Wort sagen. Und wenn Emily mich danach mit in die Stadt nimmt, haue ich einfach ab.

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Die Dienerin steht wortlos da und wartet. Zum Glück macht sie nicht den Eindruck, als würde sie mich für verrückt halten. Ich reiße mich endgültig zusammen und stehe auf. Das Mädchen nimmt ein paar Kleidungsstücke und legt sie auf das Bett. Ich bin eigentlich nicht so der Kleidertyp, aber im Moment habe ich weitaus größere Sorgen. Ich atme tief durch und überlege mir einen Plan. Wenn ich erst mal in London bin, muss ich dieses Theater nicht mehr mitspielen. Ich werde ein Taxi anhalten und zum Hotel zurückfahren. Mrs Bentley wird mich anschreien, weil ich allen einen Riesenschrecken eingejagt habe, doch am Ende werden wir darüber lachen. Mum wird mir wahrscheinlich Hausarrest geben, wenn ich wieder zu Hause bin. Aber zu Hause klingt im Moment so himmlisch, dass mir das egal wäre. Großer Gott, ob die High Heels etwas damit zu tun haben? Das alles ist doch erst passiert, nachdem ich sie angezogen habe. Vielleicht sind sie ja verflucht oder so. »Das Frühstück wird in zwanzig Minuten serviert. Wir sollten uns besser beeilen.« Nach diesen Worten knurrt mein Magen plötzlich so laut, als hätte ich ein wütendes Löwenbaby verschluckt. Die Dienerin tut so, als hätte sie nichts gehört. Bevor mir klar wird, was sie vorhat, zieht sie mir auch schon das T-Shirt über den Kopf und ich bin obenrum nackt. Um mein Schamgefühl scheint sie sich nicht gerade viele Gedanken zu machen. Ich halte einen Arm vor die Brust, bis sie mich zwingt, die Hände über den Kopf zu heben. Im nächsten Moment steckt sie

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mich in ein dünnes Unterkleid aus einem kratzigen Soff. Dann zerrt sie mir die Jeans von den Beinen, stülpt mir noch ein paar andere Kleidungsstücke über den Kopf und schnürt alles hinten zusammen. Ich schwöre, dass sie mir mindestens sechs Stoffschichten übergeworfen hat. Die »äußere Schicht« ist ein Kleid in einem hübschen Pfirsichton, das an Rocksaum und Halsausschnitt mit weißer Spitze besetzt ist. Zum Schluss bindet sie mir noch ein schmales weißes Seidenband unter den Busen. Es sieht wirklich ganz nett aus. Zu Hause würde ich so etwas natürlich nie tragen, aber hier passt es irgendwie. Mit schmerzverzerrtem Gesicht überstehe ich das Haarstyling meiner Kammerzofe, das etwa zehn Minuten dauert. Als sie endlich fertig ist, betaste ich vorsichtig meinen Kopf. Meine Haare sind wie eine Art Krone um meinen Kopf geflochten. Das Mädchen gibt mir ein paar Handschuhe, aber es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass ich sie tatsächlich gleich anziehen soll – hier drin. Ich finde das zwar ziemlich albern, schlüpfe aber trotzdem brav hinein. Ich versuche sogar meine Füße in die zierlichen Pantoffeln zu stecken, die für mich bereitstehen, aber sie sind viel zu klein. Emily und ich haben vielleicht die gleiche Konfektionsgröße, aber was unsere Füße betrifft, liegen Welten zwischen uns. Also bringt mir das Dienstmädchen meine High Heels. Obwohl meine Zehen immer noch höllisch wehtun und ich die Schuhe offiziell zum Fluch meines Daseins erklärt habe, ziehe ich sie an. Ich kann ja schlecht barfuß gehen.

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Kurz darauf humpele ich die Treppe hinunter. Das Kleid schleift hinter mir über die Stufen und ich fühle mich überhaupt nicht mehr wie ich selbst. Von meinen geflochtenen Haaren bis zu dem altmodischen Kleid bin ich jemand anderes. Ich bin in einen Traum gestolpert. Oder besser: in einen Albtraum. Als ich das Speisezimmer betrete, ist Emily schon da. Mein Blick huscht kurz zu den beiden anderen anwesenden Personen: eine übergewichtige Frau, die so etwas wie ein riesiges Spitzendeckchen trägt, und ein Typ, der nicht viel älter als ich zu sein scheint. Soll das etwa der Herzog sein? Bevor ich ihn etwas genauer unter die Lupe nehmen kann, walzt die Frau mit ausgestreckten Armen auf mich zu. »Miss Rebecca«, flötet sie und umarmt mich überschwänglich. »Wie wundervoll, Euch zu sehen! Ich muss mich dafür entschuldigen, Euch gestern Abend nicht willkommen geheißen zu haben.« Ich bekomme kaum noch Luft. Ein penetranter puderiger Geruch geht von der Frau aus. Puder war in der Vergangenheit offensichtlich sehr beliebt. Ich bin so erschrocken über meine eigenen Gedanken, dass ich zusammenzucke und mich aus der Umarmung befreie. Wie kann ich nur so etwas denken? Das hier ist doch nicht die Vergangenheit. Ich bin nur bei ein paar Leuten gelandet, die sich entschlossen haben, nicht in der heutigen Welt zu leben. Ich zwinge mich, den jungen Mann anzusehen, der neben der dicken Frau steht. Jetzt stockt mir endgültig der Atem.

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Der Herzog! Dieser Kerl ist ein Herzog. Aber er ist doch höchstens ein paar Jahre älter als ich. Wie kann er da schon einen Titel tragen? Genau wie alle anderen ist er total altmodisch gekleidet. Aber etwas an ihm … ist anders. Die marineblaue Jacke betont seine breiten Schultern und die schmale Taille. Eine Wildlederhose schmiegt sich eng an seine langen, schlanken Beine und die kniehohen Lederstiefel runden sein vornehmes Erscheinungsbild ab. Trotz des albernen Aufzugs wirkt er förmlich und einschüchternd – aber irgendwie auch zum Anbeißen. Wie kann ein Kerl so angezogen sein und gleichzeitig so gut aussehen? Er macht einen Schritt auf mich zu und ich will unwillkürlich zurückweichen, reiße mich jedoch im letzten Moment zusammen und rühre mich nicht von der Stelle. Er hat dunkles Haar und seine Augen leuchten in einem kräftigen Grün. Und er ist groß. Er überragt mich problemlos. Er starrt mich an. Ich schlucke, starre zurück und warte. Auf den Moment, wenn sein Blick misstrauisch wird. Auf den Moment, wenn ihm klar wird, dass ich eine Betrügerin bin. Mein Herz pocht, während er mich mit völlig ausdrucksloser Miene mustert. Woran denkt er? Weiß er Bescheid? Oh Gott, ob es in diesem Haus wohl wirklich einen gruseligen Kerker gibt? »Miss Rebecca«, sagt er schließlich und verbeugt sich vor mir.

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Steven Camden Press Play. Was ich dir noch sagen wollte ISBN 978-3-473-40126-0 Aus dem Amerikanischen von Alexandra Ernst 352 Seiten Ab 12 Jahren 14,3 x 21,5 cm, Hardcover 3 16,99 (A) / 3 17,50 (D) / sFr. 27,90 Erscheint im September 2015


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Inhalt

Coming-of-Age-Geschichte voller Witz und Weisheit Abwechselnde Erzählperspektiven sprechen Mädchen und Jungen an Über das Leben und die Liebe – wie Nick Hornby für Jugendliche

Ryan wächst in einer Zeit ohne Handys, MP3s oder Internet auf. Seine geheimsten Gedanken hält er auf einer Kassette fest. Er spricht über seine Ängste, seine Träume und über das neue Mädchen von nebenan, in das er verliebt ist. Zwanzig Jahre später findet Ameliah die Kassette, als sie in den persönlichen Gegenständen ihrer verstorbenen Eltern stöbert. Schon bald ahnt sie, dass sie und den fremden Jungen viel mehr verbindet als nur eine Tonbandaufnahme … Steven Camden zählt in Großbritannien zu den meist gefeierten Slam-Poets und bestreitet als „Polarbear“ auf der ganzen Welt Aufführungen. Er unterrichtet Kreatives Schreiben an Schulen und war die treibende Kraft hinter dem Ministry of Stories, einem Verband für Kinderkultur, und gründete 2013 die Kreativagentur BearheART. Geboren in Birmingham, lebt Steven Camden heute in London.

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Hallo? Läuft das Band? Ja, das Lämpchen ist an. Alles klar. Ich fange noch mal an. Ich nehme auf. Es ist einfach passiert. Einfach so, und das Verrückte ist, dass es mir nicht mal verrückt vorkommt. Ich glaube, ich verstehe jetzt, Dad. Ich verstehe es wirklich. Am besten denkt man nicht zu viel darüber nach. Über das Universum und den ganzen Rest. Ich bin hier und das ist die Hauptsache. Ich bin hier und ich tue, was ich tue, und es ist passiert. Genauso wie du gesagt hast. Sieht so aus, als wäre das Universum glücklich. War es Bestimmung, dass es jetzt passiert? Tut mir leid, vergiss es. Ich frage nicht nach. Die Dinge passieren, wenn sie passieren sollen. Du hast das Gleiche gemacht, hast dich hingesetzt und die Aufnahme-Taste gedrückt. Und genau das tue ich jetzt auch.

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Ich spreche in den Lautsprecher – wie funktioniert das überhaupt? Alle sagen immer: „Es ist wichtig, die Dinge aus dir herauszulassen, Ameliah, sie loszulassen. Erst dann kann man weitermachen, kann vorwärtsblicken.“ Ich habe nie wirklich hingehört. Ich wollte es nicht so machen wie sie. Vielleicht war ich dazu noch nicht bereit, keine Ahnung. Das hier fühlt sich anders an. Es fühlt sich richtig an. Es ist so viel passiert. Ich habe so vieles zu sagen, also werde ich es sagen. Es ist halb zwölf, und ich nehme meine Stimme auf diesem Kassettenrekorder auf. So wie du es getan hast.

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1. Kapitel

Ryan wischte über den kleinen runden Badezimmerspiegel und stellte sich vor, Eis vom Bullauge eines U-Bootes zu kratzen, eines U-Bootes aus dem Zweiten Weltkrieg, jahrelang verschollen und in der Nähe des Nordpols wiederentdeckt. Er sah das gefrorene Gesicht eines alten MarineofÀziers vor sich, in dessen Schnurrbart Eiszapfen hingen und der mit weit aufgerissenen Augen nach draußen starrte, in dem Bewusstsein, dass er hier sterben würde. Ryan ließ die Hand wieder sinken und sah nur sein eigenes Gesicht, dreizehn Jahre alt, gerötet von der Wärme im Badezimmer, das dichte dunkle Haar – noch nass von der Dusche – nach hinten gestrichen. Jedes Mal, wenn Ryan in den Spiegel blickte, hatte er das Verlangen, sich selbst ins Gesicht zu schlagen. Nicht weil er wütend auf sich war und glaubte, er würde es verdienen, sondern weil er so etwas einmal in einem Film gesehen hatte. Ein Privatdetektiv starrte sich nach einer Nacht voller Gefahren und Verfolgungsjagden im Spiegel an und ohrfeigte sich,

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um sicherzustellen, dass er wach und konzentriert in einen neuen harten Arbeitstag ging. Ryan hob die Hand auf Höhe seiner Wange. Er spannte die Armmuskeln an und zog die Hand zurück, bereit zum Zuschlagen. Er verengte die Augen und wappnete sich für den Aufprall. Dann erstarrte er und sah sein Spiegelbild an. Mach schon, du Feigling. Los doch, mach schon! Seufzend ließ er seinen Arm wieder fallen. Dann blies er die Wangen auf und dachte darüber nach, wie groß seine Mundhöhle war. Wahrscheinlich könnte man problemlos jeweils eine halbe Orange rechts und links zwischen Zähne und Wangeninnenseite pressen. „He!“ Die Stimme kam von der anderen Seite der Tür, begleitet von einem Hieb, der die Scharniere erzittern ließ und Ryan die Luft aus dem Mund presste. „Gib Gas, Krätze, oder ich mach dich einen Kopf kürzer!“ Ryan starrte sich im Spiegel an, während draußen munter weiter gegen die Tür gehämmert wurde. Er stellte sich Nathans Gesicht vor, wie es immer wütender und wütender wurde und sich zu Grimassen verzog. Als wäre Nathan ein Monster-Mutanten-Stiefbruder. Ryan griff nach einem Handtuch und warf es sich über Kopf und Schultern, wie ein Boxer, der für seinen Titelkampf in den Ring tritt. Es war etwa sechs Monate her, dass sein Vater Michael sich mit ihm zusammengesetzt und verkündet hatte, dass Sophia bei ihnen einziehen würde. Mit Nathan. Michael hatte

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ihn gefragt, was er davon hielt. Ryan hatte gesagt, er fände es eine gute Idee, denn er hatte die Hoffnung in den Augen seines Vaters gesehen. Eine Woche später zogen sie ein, was Ryan bewies, dass seine Meinung unerheblich gewesen war. Wenigstens musste er sein Zimmer nicht teilen. Michael wandelte sein Büro in ein Zimmer für Nathan um, sodass Ryan weiterhin einen Raum für sich allein hatte. Zumindest theoretisch, denn Nathan schien die Bedeutung des Wortes „Privatsphäre“ nicht zu kennen. Er klopfte niemals an. Er stapfte einfach ins Zimmer, als ob das Haus ihm gehören würde. Er war ein paar Monate jünger als Ryan, ein paar Zentimeter größer und – um die Wahrheit zu sagen – viel stärker, obwohl Ryan dies auf die Tatsache zurückführte, dass Nathan ständig zu essen schien. Er hatte sogar nachts ein belegtes Brot neben seinem Bett liegen. Einen Monat nach dem Einzug hatten Michael und Sophia in einem kleinen grauen Zimmer im Rathaus geheiratet. Ryan hatte denselben Anzug getragen, den er auch bei der Beerdigung seiner Mutter angehabt hatte. Damals war er ihm zu weit gewesen; diesmal hatte er wie angegossen gepasst. Abends war ihm Sophia in die Küche gefolgt, als sich Ryan ein Glas Kirschlimonade einschenken wollte. Sie hatte ihm erklärt, sie habe nicht vor, seine Mutter zu ersetzen. Sie liebe seinen Vater sehr und wünsche sich, dass dies ein Neuanfang für alle sei. Sie hatte Ryan umarmt und ein bisschen

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zu fest gedrückt, sodass ihm die LimonadenÁasche aus der Hand gefallen war. Nachdem sie wieder ins Wohnzimmer gegangen war, hatte Ryan die Flasche aufgehoben und den Bläschen zugesehen, die sich nach oben kämpften. Dann war Nathan in die Küche gekommen, auf der Suche nach Futter. Er hatte Ryan gesagt, sein Anzug sähe dämlich aus, und ihm die LimonadenÁasche aus der Hand genommen. Ryan hatte etwas sagen wollen, sich dann eines Besseren besonnen und einen Schritt zurückgemacht. Dann hatte er zugeschaut, wie Nathan den Verschluss öffnete und sich von oben bis unten mit Kirschlimonade bekleckerte. Ryan zog sein Schlafshirt mit dem Logo der Chicago Bears über und blickte zu seinem Gettoblaster. Auf der glänzenden silberfarbenen Hülle spiegelte sich das Licht. Ryans Augen glitten über die schwarzen Tasten unterhalb des kleinen Fensters, durch das man die Kassette sehen konnte. Perfekt. Es war sein Weihnachtsgeschenk gewesen, in dem Jahr, bevor seine Mutter gestorben war. Er erinnerte sich daran, wie er das Papier aufgerissen und die Ecke des Geräts gesehen hatte, wie er dann den Rest des Tages in seinem Schlafanzug davorgesessen und an dem Rad gedreht hatte, mit dem die Sender eingestellt wurden. Ryan zog seine Nachttischschublade auf und holte eine Kassettenhülle heraus. Er fuhr mit dem Daumen über das glatte Plastik und strich an der Kante entlang, bevor er die

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Hülle öffnete und die Kassette herausholte. Anders als die Hülle war das Etikett auf der Kassette beschriftet. Er steckte sie in eines der beiden Kassettenfächer und las die mit blauem Filzstift geschriebenen Buchstaben: MOM. Ryan drückte den schnellen Rücklauf und wischte mit dem Finger über das kleine Fenster, während der Motor brummte und das Band zurück zum Anfang spulte. Die Rücklauftaste sprang mit einem Klicken wieder nach oben. Ryan stellte den Gettoblaster auf seinen Nachttisch, sodass er hineinsprechen konnte, während er im Bett lag. Er drückte mit zwei Fingern gleichzeitig die Start- und die Aufnahmetaste. Das Band spulte sich langsam ab. Ryan räusperte sich.

Ameliah starrt auf die restlichen Cornflakes in ihrer Schale. Ihr Löffel schlägt sanfte Wellen in der Milch und sie stellt sich vor, dass jedes einzelne durchweichte Cornflakes-Stück ein winziges hölzernes Floß in einem weißen Ozean wäre. Sie schiebt den Löffel zwischen die Cornflakes und schaut zu, wie einige sinken, während andere sich abmühen, an der Oberfläche zu bleiben. Morgenlicht fällt durch das große Fenster auf den Küchenboden. „Ein Penny für deine Gedanken“, sagt Nan, die ihr gegen-

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über an dem kleinen quadratischen Tisch sitzt und ein Hefebrötchen isst. Ameliah weiß, was gemeint ist. Sie hat den Spruch schon oft gehört (meistens von Nan), aber diesmal kommt ihr der Gedanke, dass ein Penny für all das, was im Kopf eines Menschen vorgeht, ein wirklich geringer Preis ist. „Ich war noch nie auf einem Schiff.“ Nan hält kurz inne und kaut dann weiter. Ameliah schaut ihre Großmutter an. „Ich meine so richtig, auf dem Meer.“ „Du bist noch jung, mein Schatz. Du hast noch viel Zeit.“ „Wie alt warst du?“, fragt Ameliah. „Als du das erste Mal auf einem Schiff warst?“ „Ich? Hm, jetzt wo du fragst … Es war vermutlich mit deinem Großvater, lange bevor du geboren wurdest. Noch bevor deine Mutter auf die Welt kam.“ Ameliah senkt den Kopf und eine dunkle Locke fällt ihr ins Gesicht. Mit den Fingerspitzen streicht sie die Strähne nach hinten. „Willst du wirklich kein Brötchen? Das gibt dir Kraft für deinen letzten Tag.“ Ameliah schüttelt den Kopf. „Nein danke.“ Nan nimmt sich noch ein Brötchen aus dem Korb auf dem Tisch. „Sie hat auch nie viel gefrühstückt.“ Ameliah schaut Nan an und versucht, sich eine jüngere Version ihrer Großmutter vorzustellen, die mit ihrer

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Mutter am Frühstückstisch sitzt, einen Korb Brötchen zwischen ihnen, während ihre Mutter in Gedanken schon in der Schule ist. „Das muss in den Genen liegen“, fährt Nan fort, „obwohl deine Mutter es bestimmt nicht von mir geerbt hat.“ Ameliah zuckt mit den Schultern. Nan beugt sich vor. „Führst du noch dein Tagebuch, wie die Frau es dir gesagt hat?“ Ameliah sieht das leere Notizbuch vor sich, das sie unter ihr Bett geschoben hat – den hellbraunen Einband aus Recyclingpapier, die Seiten unbeschrieben und leer. Sie schaut in ihre Schale. Alle winzigen Flöße sind gesunken, alle bis auf eins. Sie beobachtet es dabei, wie es sich an die Oberfläche klammert. „Na ja. Es kommt mir komisch vor.“ „Ich kann verstehen, dass es sich komisch anfühlt, Liebes, aber es ist wichtig …“ „... alles aus sich herauszulassen.“ Nan prustet ein großmütterliches Kichern zwischen zwei Brötchenbissen hervor. „Braves Mädchen.“ Ameliah starrt das letzte Cornflakes-Floß an, das auf der milchweißen Oberfläche schwimmt, leicht auf und ab schaukelt und sich weigert, unterzugehen.

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Info

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Karen Bao Dove Arising Band 1: Im Herzen des Feindes ISBN 978-3-473-40125-3 Aus dem Amerikanischen von Wolfram Strรถle Ca. 384 Seiten Ab 14 Jahren 14,3 x 21,5 cm, Hardcover 3 16,99 (D) / 3 17,50 (A) / sFr. 27,90 Erscheint im Oktober 2015


Karen Bao

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Inhalt

Neuer Lesestoff für Fans von „Die Tribute von Panem“ und „Die Bestimmung“ Sprachlich gut gemachte Action für Mädchen mit leichtem „Liebesknistern“

Die Welt im Jahre 2034: Phaet lebt mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in einer Kolonie, in der strenge Regeln herrschen. Alles ist limitiert – Lebensmittel, Wohnraum, Gedankenfreiheit. Als Phaets Mutter verhaftet wird, trifft die Fünfzehnjährige eine schicksalhafte Entscheidung: Sie geht zum Militär, denn nur so kann sie ihre Geschwister durchbringen. Das Training ist brutal, die Konkurrenz groß – und Phaet verliebt sich ausgerechnet in ihren härtesten Gegner … Karen Bao ist Schriftstellerin, Musikerin und angehende Wissenschaftlerin. Sie hat einen drei Jahre jüngeren Bruder und eine 60 Jahre ältere Violine. Geboren in Kalifornien und aufgewachsen in New Jersey, studiert sie zurzeit Umweltbiologie an der Universität in New York City. Neben den Naturwisschenschaften war Schreiben schon immer ihre Leidenschaft: Bereits mit 17 Jahren arbeitete sie an „Dove Arising“.

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Umbriel meint, ich könne so gut mit Pflanzen umgehen, weil ich genauso schweigsam sei wie sie. Vielleicht irrt er sich. Die ältesten Menschen hier sagen, dass Pflanzen nicht immer schweigsam waren. Früher hätten ihre Blätter im Wind geraschelt. Und bei Sturm wären Äste mit einem ohrenbetäubenden Krachen von den Stämmen abgebrochen. Aber die Apfelbäume, Erdbeeren und Baumwollpflanzen in meiner Umgebung geben keinen Laut von sich. Wenn sie könnten, würden sie sich wahrscheinlich darüber beklagen, dass sie nie mit Erde in Berührung kommen und das Tageslicht nur durch das mit Kohlenstofffasern verstärkte Glasdach vom Gewächshaus 22 sehen. Ich habe mir früher immer vorgestellt, dass sie sich in Richtung der leuchtenden Scheibe strecken, die am Horizont teilweise zu sehen ist, dass sie sich von unserem unfruchtbaren, kraterübersäten Satelliten weg- und zur Erde zurücksehnen, von der wir gekommen sind. Aber mit dreizehn endete mein Mitgefühl. Statt solchen kindlichen Fantasien nachzuhängen, konzentrierte ich all meine Kraft auf die Schule. Jetzt gehen wir nach dem Unterricht in die Gewächshäuser, um etwas dazuzuverdienen. Ich versuche nicht mehr, die Pflanzen zu verstehen, ich versorge sie nur noch. »Phaet!«, ruft Umbriel. Weil mein Name wie das englische

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»Fate« ausgesprochen wird, klingt es wie eine Beschwörung, so als sei ich gegen das Schicksal gefeit. »Der Ast hier ist schnell gewachsen. Bringst du mir einen Pfosten?« Er steht ein paar Meter entfernt an einer Reihe blühender Apfelbäume und betrachtet kritisch einen zu langen Ast, der das Gleichgewicht des jungen Baumes bedroht. Der Baum sieht aus wie ein »Wolkenkratzer« von der alten Erde, ein ausgemergelter Wolkenkratzer, der jeden Moment umkippen könnte. »Wolkenkratzer« ist übrigens ein lustiges Wort. Wir sind viel weiter von der Erde weg, als die Menschen es damals je waren. Um zu Umbriel zu gelangen, springe ich über die Pflanzen zwischen uns. Über unseren Köpfen hängen keine Magneten, deshalb kann man hier Sprünge hinlegen, die anderswo auf Basis IV undenkbar wären. Ich genieße den Anblick meiner sich blähenden weißen Kleider, bis die Schwerkraft mich wieder herunterholt. Wir binden den Stamm des jungen Baumes an einen Pfosten, damit er nicht umkippt. Umbriel ähnelt mit seinem schlaksigen Körper dem Baum – und die Ähnlichkeit wird durch seine grünen Kleider noch verstärkt. Mit meiner kleinen Schaufel hole ich stinkenden Kompost aus einer Kiste und verteile ihn kreisförmig um den Stamm. Bei der Arbeit bekomme ich nasse Haare. Die Sprühdüsen in der Decke haben meinen Kopf von links mit Wasser benetzt. Umbriel zieht seinen Ärmel über die Hand und tupft damit die Tropfen aus meinem Haar. »Sie sind hoffentlich trocken,

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wenn Dorado uns sieht. Weil … du sollst doch kein Wasser verschwenden.« H2O ist bei uns sehr wertvoll. Eine Literflasche Trinkwasser kostet drei Sputnik. Wenn wir Glück haben, sieht sich Dorado, der Pflanzenexperte der Abteilung Landwirtschaft, die Kamerabilder nicht so genau an. Er ist schon alt, mindestens siebzig, und döst bei der Arbeit gern ein, wenn er nicht gerade mit uns tollpatschigen Jugendlichen schimpfen muss. Obwohl wir ihn schon oft geärgert haben, glaube ich, dass er uns mag. Als wir elf waren, ist Umbriel über eine Kürbisranke gestolpert und mit dem Kopf voran in einem Busch Vaccinium-8 gelandet, einer durch Bio-Engineering hergestellten Blaubeersorte mit faustgroßen Beeren und extrem giftigen Blättern. Dorado hörte seine Schmerzensschreie über die Überwachungsanlage, sah den roten Ausschlag auf Umbriels Haut und alarmierte die Sanitäter. Es hätte sich um einen Sonderfall gehandelt, sagte er danach, weil wir noch jung gewesen seien. Wenn ein Arbeiter sonst einen nicht lebensbedrohlichen Unfall hätte, würde er die Sanitäter nicht rufen. Seit damals will ich Bioingenieurin werden und bei Projekten mitarbeiten, bei denen man zum Beispiel den Giftstoffgehalt einer Pflanze verringert, während man zugleich ihren Nährwert erhöht. Mir passieren solche Missgeschicke so gut wie nie – und Umbriel inzwischen auch nicht mehr. Bevor wir hier arbeiten durften, mussten wir drei Jahre lang unter strenger Aufsicht üben, und das aus gutem Grund. Das meiste Essen und auch die Baumwolle für unsere Kleider und der Sauerstoff, den wir atmen, kommen aus dem Gewächshaus. Die solarbetriebenen

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Filter über meinem Kopf leiten Kohlendioxid in das Gewächshaus und pumpen Sauerstoff in den Rest der Basis. Heute bin ich zugegebenermaßen nicht ganz bei der Sache. Meine Mutter ist am Morgen mit blauen Ringen um die Augen zu ihrer Arbeit in der Journalismus-Abteilung aufgebrochen. Sie wirkt seit einigen Tagen ungewöhnlich erschöpft, will aber nicht sagen, warum. Ich verdränge meine Sorgen. Aber Umbriel merkt mir an, dass irgendwas nicht stimmt. »An was denkst du? Doch hoffentlich nicht an die stachellosen Bienen? Die Bienen-Leute mussten den Honig heute ernten. Weder sie noch die Bienen waren darüber glücklich.« Umbriel weiß, dass ich in Gesellschaft von Pflanzen, von wachsenden, lebendigen Dingen, meist ganz zufrieden bin. Sobald die kleinste Falte auf meiner Stirn erscheint, hat er gleich das Gefühl, dass er sie mit einem Witz beseitigen muss. »Ach so, die Chemiearbeit liegt dir im Magen. Du hast sie wahrscheinlich verhauen und bist nicht mehr die Erste auf der Liste im Bereich Wissenschaften.« Auf diesen Platz, die Belohnung für nächtelanges Lernen, bin ich besonders stolz. Immer wieder musste ich mir in die Arme kneifen, um wach zu bleiben und Formeln vor mich hin murmeln, um das Knurren meines leeren Magens zu übertönen. Der Platz soll mir eines Tages eine Stelle in der Abteilung für Bio-Engineering verschaffen – wo ich mit modernsten Geräten arbeiten kann und Mitarbeiter habe, die mich bewundern. Die ganze Basis bewundert den Bioingenieur, der die Gene der Honigbiene so verändert hat, dass ihr kein Stachel mehr wächst. Auch ich will mit den Werkzeugen, die die Natur

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zur Verfügung stellt, etwas Neues schaffen. Ich will auch so viel verdienen wie ein Ingenieur, obwohl das zweitrangig ist. Umbriel bindet einen weiteren Baum an einen Pfosten. Dabei betrachtet er mich mit seinen Augen, die so dunkel sind, dass Pupille und Iris ineinander übergehen. Dann schlägt er die behandschuhten Hände dreimal aneinander, als wollte er den Dreck daran abschütteln. Das ist eines unserer Geheimzeichen und bedeutet: Wir unterhalten uns später weiter, wenn wir ungestört sind. »Wahrscheinlich bist du einfach müde«, sagt er. Er klopft auf den Rücken seiner linken Hand und hält sie mir hin. Die Uhr auf seinem Handmonitor – einer mit der Haut verschmolzenen, runden Scheibe aus elastischem Kunststoff – zeigt 16:58 an. Noch zwei Minuten, dann können wir in den Wohnbezirk zurückkehren, er zu Block Phi und ich zu Block Theta. Wir verteilen den restlichen Kompost und gehen an weiteren fruchttragenden Gehölzen der gemäßigten Klimazone vorbei zum Rand der Glaskuppel. Unser Zwei-Personen-Fahrzeug aus Fiberglas mit eingelagerten Kohlenstoffnanoröhren hat eine Nase, die wie eine altmodische Patrone geformt ist. Es handelt sich um ein ausrangiertes Fahrzeug der Miliz ohne die gepanzerte Hülle, dafür mit einem Transportbehälter am hinteren Ende, in den wir unsere Schaufeln, Hacken, leeren Kompostsäcke, Reservepfosten und schmutzigen Handschuhe werfen. Das Ding ist während seiner Einsatzzeit im Weltraum wie durch ein Wunder nicht im Kampf explodiert und wurde auch nicht von einem unerfahrenen Soldaten gegen einen Asteroiden gesteuert. Es

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sind nur Narben an den Stellen zu sehen, an denen das von selbst nachwachsende Material von kleinen Teilchen durchschlagen wurde. Ich setze mich auf den Fahrersitz und gebe den Code 6, 8, 8, 6 in das Tastenfeld ein, ebenfalls ein Relikt der Vergangenheit. Inzwischen sind Türen und Fahrzeuge durch Fingerscanner gesichert. Umbriel setzt sich neben mich und klopft mir auf die Schulter, wie er es immer tut, wenn er nicht weiß, was er sagen soll. Im vergangenen Jahr haben wir die erste Pilotenprüfung gemacht. Wir waren ganz aufgeregt angesichts der Aussicht, bald selbst die weite Strecke zwischen Landwirtschafts-Terminal und den uns zugewiesenen Gewächshäusern fliegen zu können, statt bei anderen, älteren Arbeitern mitfahren zu müssen. Weil ich den Steuermechanismus und das Handbuch des Luftverkehrs gründlich studiert hatte, bestand ich den schriftlichen und den praktischen Teil der Prüfung in der Hälfte der vorgegebenen Zeit. Umbriel nicht. Er vergaß die wissenschaftlichen Namen der empfindlichen Pflanzen, über die wir nicht fliegen dürfen, und fiel in der schriftlichen Prüfung durch. Insgeheim bin ich froh, dass er allein keine längeren Strecken zurücklegen kann. So lässt Dorado uns aus Bequemlichkeit weiter zu denselben Zeiten bei denselben Pflanzen arbeiten. Ich schiebe den Regler für die Schubdüse nach oben. Ruckelnd hebt unser Gefährt zwei, dann vier, dann sechs Meter vom Boden ab. Ich stelle auf Vorwärts und drücke den Steuerknüppel nach vorn, was mir erst beim dritten Mal gelingt, weil er zweimal klemmt.

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Wir fliegen über den Garten. Umbriel holt scharf Luft. Ihm ist nicht ganz wohl, wenn ich etwas so »Gefährliches« mache wie selber fliegen. »Da gewöhne ich mich nie dran … Nächstes Jahr schaffe ich die Prüfung.« Ich werfe ihm einen Blick zu und lache, als er sich mit der Zunge über die Schneidezähne fährt – unser Geheimzeichen für »Da hast du’s, ätsch!«. Wir sind wie kleine Kinder, die sich gegenseitig die Zunge rausstrecken. Wir verlassen das Gewächshaus 22 und gelangen zum Haupt-Terminal der Abteilung für Landwirtschaft. Ich spüre den vertrauten kalten Luftzug im Gesicht. Statt nach Pflanzen riecht es jetzt nach Kunststoff und Glas. Der plötzliche Wechsel von beruhigendem Grün zu grellem Weiß tut mir in den Augen weh. Alle Innenräume von Basis IV sind weiß, weil uns das am besten vor den starken Temperaturschwankungen auf der Mondoberfläche schützt. Die Magneten an der Decke stoßen die diamagnetischen Wassermoleküle in meinem System ab. Sie machen mich so schwer, wie ich es auf der Erde wäre, und drücken mich auf den Sitz. Wenn die Anziehungskraft des Mondes nicht durch diese magnetische Kraft verstärkt würde, würden unsere Muskeln und Knochen verkümmern. Wir sausen an den Gewächshäusern vorbei, die jeweils einen Durchmesser von einem halben Kilometer haben und in denen ein zu den jeweils dort wachsenden Pflanzen passendes Klima herrscht. In Gewächshaus 17 wachsen tropische Früchte, in 14 Baumwolle und Indigo, in 13 Nadelbäume. Im letzten Jahr hat Dorado uns den Reisfeldern in 12 zu-

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geteilt. Wir mussten komische Overalls aus Gummi tragen und haben Reis gesät. Immer wenn wir mit einer Reihe fertig waren, haben wir einander mit schlammigen Fingern angestupst. Ich parke unser Fahrzeug an der dafür vorgesehenen Stelle in der Lobby. Wir steigen aus und betreten das gewaltige Atrium, in dem das komplexe Netz von Gängen von Basis IV zusammenläuft. Jede der sechs Basen hat die Abteilungen, die sie zu ihrer Versorgung braucht – eine Landwirtschaftsabteilung, in der Nahrung angebaut, eine Küchenabteilung, in der sie verarbeitet, und eine Marktabteilung, in der sie verkauft wird. Außerdem gibt es Abteilungen für Rechtswesen, Verteidigung, Kanalisation und Trinkwasserversorgung und Freizeit, alles Einrichtungen, die konkreten Lebensbedürfnissen dienen. Wir wissen immer, wohin wir uns wenden müssen, wenn wir etwas brauchen. Zu vielen Abteilungen haben Menschen, die nicht dort arbeiten, jedoch keinen Zutritt – dazu zählt auch die Journalismus-Abteilung, in der meine Mutter tätig ist. Umbriel legt mir den Arm um die Schultern. Um uns drängen sich andere Menschen, die alle die Kleiderfarben ihrer jeweiligen Wohnblocks tragen. In das Gedränge mischen sich Gruppen schwarzgewandeter Milizionäre oder »Käfer«, wie wir sie nennen. Ihre Gesichter sind hinter schwarzen Helmen mit Visieren verborgen, die glänzen wie Insektenpanzer. Missetäter müssen ihr Tun vor den Käfern und vor den konvexen Sicherheitsspiegeln verbergen, die sich zwei Meter hoch gen Decke strecken. Alle Zivilpersonen sind angehalten,

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immer wieder in den Sicherheitsspiegeln nachzusehen und verdächtige Aktivitäten dem nächsten Käfer zu melden. Ich habe allerdings noch nie einen Verbrecher in Aktion gesehen. Vielleicht passe ich nicht gut genug auf – die Milizionäre machen mir Angst und ich will ihnen nicht zu nahe kommen.

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Info

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Jaromir Konecny Herz Slam ISBN 978-3-473-40131-4 Ca. 192 Seiten Ab 14 Jahren 14,3 x 21,5 cm, Hardcover 3 12,99 (D) / 3 13,40 (A) / sFr. 22,90 Erscheint im Oktober 2015


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Inhalt

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Jaromir Konecny hat sich mit „Doktorspiele“ einen Namen gemacht Ideal für Fans von „Fack ju Göhte“ Humorvolles Buch für Mädchen, das ihre Bedürfnisse und Bedenken dennoch ernst nimmt

Hauptschüler sind dumm, prollig und schlecht angezogen – behauptet Leas beste Freundin Sophie. Lea findet Sophie manchmal ziemlich arrogant, dennoch hat auch sie so ihre Vorurteile. Als die beiden sich für einen Poetry-Slam-Workshop anmelden, wissen sie nicht, dass auch Jugendliche einer anderen Schule daran teilnehmen werden: einer Hauptschule. Eine Vollkatastrophe! Es hagelt Wortgefechte und Beleidigungen, doch nach und nach beginnen die Fronten zu bröckeln und Herzen heftig zu schlagen …

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Ich freue mich auf unseren Poetry-Slam-Workshop in Unterfranken. Von unserem Gymnasium fahren nur Sofie und ich hin. Weil wir die besten Texte für die Auswahl geschrieben haben. Seit ich schreiben kann, schreibe ich. Mein stärkstes Gedicht habe ich Alex zu verdanken – oder vielmehr dem Liebeskummer. Zum ersten Mal im Leben war ich richtig verknallt. Ach, Alex! Nur dass er mich sehr bedrängte. Von Anfang an. Mir in die Augen zu gucken, reichte ihm nicht. Wir waren ständig am Fummeln. Also er. Alex ließ seine Hände über meinen Körper wandern, und ich versuchte, sie abzuwehren. »Wir sind doch erst seit einer Woche zusammen«, sagte ich. Er lachte. »Na und? Wer weiß, vielleicht geht die Welt morgen schon unter.« Dass Alex am liebsten mit mir allein sein wollte, hat mich zuerst gefreut. Doch dann wurde es schon etwas komisch: Meine Brüste hielt er sehr gern, wenn wir zu zweit waren. Aber meine Hand wollte er, wenn wir in der Schule waren, nicht halten. Als ob wir uns vor den anderen verstecken müssten. Dann hat mir Sofie erzählt, sie habe Alex bei einer IsarParty getroffen, wo er auch an ihr fummeln wollte. Alex hat es bestritten. »Sofie ist doch nur eifersüchtig«, sagte er.

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Daran ist die Freundschaft zwischen Sofie und mir fast zerbrochen. Wem sollte ich glauben? Meiner Freundin oder meinem Freund? Zum Glück – na ja – auch zum Pech, habe ich Alex kurz darauf mit Natalie gesehen. Auf einer Decke am Eisbach im Englischen Garten. Natalie ist in der 12 b und eine echt blöde Tussi. Sie redet nur mit Leuten, deren Eltern viel Kohle haben. Mit mir nicht, mit meiner Freundin Sofie schon. Auf der Decke am Eisbach haben Alex und Natalie geknutscht wie die Weltmeister. Heulend lief ich heim, schlug alle Türen hinter mir zu, sodass der Putz nur so von den Wänden flog. Keiner traute sich, mich anzusprechen, weder mein Papa noch mein kleiner Bruder. Mama jedoch hockte sich am Abend an mein Bett, in dem ich immer noch schluchzte. Sie hat mir keine Fragen gestellt, nur neben mir gesessen und gewartet. Irgendwann habe ich angefangen, ihr von Alex zu erzählen. Mama hat bloß zugehört, das tat gut. Papa hätte mir in der Zeit schon Tausend Lösungsvorschläge für mein Problem unterbreitet und mir auch sicher angeboten, sich Alex vorzuknöpfen. Ich wollte aber nichts lösen, ich wollte nur, dass mir jemand zuhört. Zum Schluss hat Mama mir dann doch einen sanften Tipp gegeben, indem sie lächelnd sagte: »Willst du nicht darüber

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schreiben ?« Und so ist mein Abschiedsgedicht an Alex entstanden: *Wenn ich dich frage Ob du mal meine Hand halten würdest Nur so Nur so zum Spaß Nur so, damit es nicht so kalt ist Dem kleinen, dem Ring-, dem Mittel-, dem Zeige-, dem Daumenfinger Nur so, weil ich dann aufhöre zu fragen Sagst du sicher Nein Weil du das immer sagst Wenn ich dich frage Ob du mal meine Hand halten würdest Nur so Nur so zum Spaß Vor den anderen Vor den anderen Mädchen, den anderen Jungs, den anderen eben Wenn du mal meine Hand halten würdest Nur so Nur so zum Spaß Wäre das ja auch kein Spaß mehr

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Kein einfaches Warmhalten von Daumen-, Zeige-, Mittel-, Ring- und kleinem Finger Dann wäre das ja Das wäre dann ja einer Bitte entsprechen und das wäre Schlecht Jetzt muss ich aber etwas ganz Fürchterliches beichten: Am Vormittag hatte ich noch gedacht, ich würde Alex für immer lieben, bis ans Ende meiner Tage. Am Nachmittag, als er mit Natalie rumgemacht hat, wollte ich nur noch sterben, weil ich so unglücklich war. Stundenlang habe ich geheult. Doch nach dem Gedicht ging’s mir schlagartig besser. Ich habe mir auf dem Notebook The Guard – Ein Ire sieht schwarz angesehen und dabei schon wieder lachen können. Und am nächsten Morgen habe ich mich nur noch gewundert, wie ich in einen so fiesen Fummler wie Alex hatte verliebt sein können. Leute, wenn der Liebeskummer immer nur ein paar Stunden dauert, kann ich mich einmal in der Woche verlieben … Neee! Nur ein Scherz. Als ich Alex mit Natalie sah, ging’s mir echt dreckig. Sofie geht’s immer gut – egal, ob sie verliebt ist oder nicht. Sie verspürt auch überhaupt keinen Drang, mal was Neues zu schreiben. So wie ich, ich bin ständig am Texten. Schon seit einem halben Jahr trägt sie überall dasselbe Gedicht vor. Es heißt *Zeitlupe.

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Ich will dich in Zeitlupe, um deine Augen zu sehen und dein Lächeln Auch wenn du nur an mir vorübergehst will ich mir jeden einzelnen Gesichtszug einprägen bevor du dich wieder umdrehst Ich will diesen einen Augen-Blick nicht nur für eine Millisekunde, ich will ihn für eine Stunde Das ist – zugegeben – wirklich wunderschön. Nur sollte Sofie sich mal wieder etwas Neues einfallen lassen. Einmal war sie mit unserer Klasse beim Poetry Slam im Substanz. Als ich im Winter mit Grippe und Buch im Bett lag. Seitdem will Sofie eine große Poetry Slammerin werden. »Dafür reicht ein einziges gutes Gedicht«, sagt sie. »Ein Mädchen wurde bei einem Slam-Auftritt gefilmt, und das Video hat ihr sieben Millionen Klicks bei YouTube gebracht. Jetzt ist sie berühmt ! Mehr als ein Gedicht brauchst du nicht.« Kann das stimmen? Aber ich frage mich auch noch etwas anderes: Warum redet Sofie ständig über YouTube-Klicks und -Likes? So langsam kriege ich den Eindruck, dass alles nur noch in Klicks und Likes gemessen wird. Im Sinne von: »Das Leben da ist tausend Likes wert, das hier kommt aber nur auf mickrige fünfzig Likes.«

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KLICK!, KLICK!, KLICK …, und du bist der tollste Mensch

der Welt. Statt zu schreiben, guckt Sofie sich lieber Videos auf YouTube an. Mit ihrer Zeitlupe hat sie bei Herrn Schneider, unserem Deutschlehrer, einen wahren Begeisterungstsunami ausgelöst. Herr Schneider wiegt an die hundertzwanzig Kilo, aber wenn ihm jemand aus der Klasse ein selbst geschriebenes Gedicht vorliest, hüpft er vor Freude federleicht auf und ab. Dabei spannt sich das Hemd über seinem großen Bauch so sehr, dass wir uns ängstlich fragen, wie lange die kleinen Knöpfe das wohl noch aushalten werden. Seit Sofie ihr Gedicht in der Klasse vorgetragen hat, setzt Herr Schneider sie damit bei jeder Schulfeier ein. Ich hoffe, man sieht mir nicht an, dass ich hin und wieder ein klein wenig neidisch bin. Auch wenn ich Sofie sehr mag, fühle ich mich manchmal wie ihr Anhängsel. Sie ist wunderschön, von der Haarspitze bis zu den lackierten Fußnägeln. Obwohl Sofie erst sechzehn ist, hat sie wohl geformte, große Brüste. Und sie ist stolz darauf. Sie hat den beiden sogar Namen gegeben, worüber sie offen spricht. So was würde ich mich nie trauen. Wie kann Sofie von allem, was sie tut, nur so überzeugt sein? Weil ihre Eltern reich sind und sie immer alles bekommen hat, was sie wollte? Jeder Junge starrt Sofie nach, was mich ziemlich nervös macht, denn seit ich ihre beste Freundin bin, schauen die Jungs zwangsläufig auch mir nach.

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»Zum Glück kommt der Schneider nicht mit«, sagt Sofie jetzt. »Der ist so ja was von verklemmt. Der würde uns bestimmt die ganze Woche kaputt machen.« * Die macht uns der Schneider aber auch so kaputt. »Aus welchen Schulen kommen denn die anderen?«, fragt Sofie ihn in der Deutschstunde. »Zu dem Poetry-Slam-Workshop, meine ich.« »Das weiß ich nicht genau«, sagt Herr Schneider. »Ich weiß nur, dass die Hälfte der Teilnehmer aus Gymnasien kommt und die andere Hälfte aus den Mittelschulen.« »Was?«, stößt Sofie entsetzt hervor. »Hauptschüler?« »Mittelschüler«, sagt Herr Schneider. »Außerdem fahren nur zehnte Klassen hin, das heißt, die Haupt… äääh … die Mittelschüler aus den M-Klassen. Die erreichen nach der zehnten Klasse die mittlere Reife.« »Dann fahre ich nicht mit!«, sagt Sofie entschieden. »Und ich auch nicht«, stammle ich kleinlaut. Herr Schneider färbt sich rosa, sein Hals schwillt an wie bei einem Truthahn, seine Backen blähen sich auf. »Ihr habt euch angemeldet, also fahrt ihr auch hin!«, poltert er los. »Was denkt ihr euch eigentlich? Ich habe wochenlang dafür gekämpft, dass ihr da mitmachen könnt. Habt ihr die Ausschreibung denn nicht gelesen? Das ist ein Integrations-

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projekt: Hier sollen junge Menschen aus Schulen mit unterschiedlichen Bildungsansprüchen zusammenkommen. Um Vorurteile abzubauen.« »Ich habe keine Vorurteile«, sagt Sofie. »Ich hasse Hauptschüler nur – das ist was anderes.« Wir gucken uns an: Die schlimmste Woche unseres Lebens steht uns bevor. Von Poesie keine Spur. * Mit hängenden Köpfen sitzen wir später in der Cafeteria der Schule. »Wie heißt eigentlich das Schloss, wo wir hinfahren?«, fragt Sofie. »In dem die Jugendherbergszimmer sind?« Sie holt das Smartphone aus ihrer Ledertasche und wischt das Startbild weg. »Herzburg. Du solltest dein Handy mit einer PIN schützen. Wenn du‘s mal verlierst …« »Ich verlier‘s schon nicht, ich bin nicht wie du.« Da hat Sofie leider Recht. Für Pleiten, Pech und Pannen bin eher ich zuständig. Ein paar Schüler aus der Fünften hocken sich an den Nebentisch. Sofie googelt Herzburg und zeigt mir ein schnuckeliges Schlösschen im Grünen. »Sieht aus wie das Schloss von Dracula.«

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Ich lache. »Das würde auch gut zu unserem Mathelehrer passen«, sagt Sofie mit Grabesstimme. »Jetzt übertreib mal nicht! Uns wird dort schon nichts passieren.« Sofie starrt mich an. »Lea, kannst du dir vorstellen, dass ich an einen Hauptschüler meine …« » … mein Bruder hat gesagt, dass das Jungfernhäutchen grün ist«, sagt ein Fünftklässler am Nebentisch laut. Wir durchbohren ihn mit Laserblicken, die seine Fanta glatt zum Kochen bringen könnten. »Ups!«, sagt der Knirps mit einem frechen Grinsen. »Ich kann mir nicht vorstellen, meine Jungfräulichkeit an einen Hauptschüler zu verlieren«, flüstert Sofie mir ins Ohr. Das kann ich mir bei Sofie auch nicht vorstellen. »Lea, passt du auf, dass ich dort keinen Alkohol trinke?«

*Quellenangaben: Nora Gomringer: Wenn ich dich frage. Aus: »Mein Gedicht fragt nicht lange – reloaded«, Verlag Voland & Quist 2015, Dresden und Leipzig. Clara Nielsen: Zeitlupe. Aus: »Windschattengewächs«, Periplaneta Verlag. Berlin, 2012.

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Info

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Laura Foster Der Fluch von Cliffmoore ISBN 978-3-473-40128-4 Ca. 352 Seiten Ab 12 Jahren 14,3 x 21,5 cm, Hardcover 3 14,99 (D) / 3 15,50 (A) / sFr. 24,90 Erscheint im September 2015


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Für Fans von Kerstin Gier Die neue Mystery-Trilogie für Mädchen Spannend, romantisch und verflucht gut

Lisa wird eindeutig vom Pech verfolgt: Ihre Eltern haben sich getrennt, ihr Vater hat eine neue Freundin und Lisa muss mit ihrer englischen Mutter in deren Heimatkaff Cliffmoore ziehen. Ihr neues Zuhause, das alte Cottage von Oma Judith, ist zwar gemütlich, aber auch voller Geheimnisse. Warum gibt es im Keller eine verborgene Tür? Woher kommen die merkwürdigen Geräusche mitten in der Nacht? Und wieso warnt die kauzige Nachbarin Lisa vor einem uralten Familienfluch? Als wäre das alles noch nicht genug Chaos, spukt in Lisas Kopf ständig ein ganz bestimmter Junge herum … Laura Foster wuchs in Berlin auf und lebt heute mit ihrer Familie und zwei schwarzen Katzen in England. Wenn sie nicht gerade an spannende Orte reist, schreibt sie Drehbücher für Fernsehserien und -filme. „Der Fluch von Cliffmoore“ ist ihr erstes Jugendbuch.

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1. Kapitel Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Das frage ich mich heute nicht zum ersten Mal. Leeds von oben gesehen ist graubraun und es regnet. Na toll. Gerade sind meine Mutter und ich mit einer kleinen Passagiermaschine auf dem Flughafen der englischen Großstadt gelandet. Mit Zwischenlandung in Heathrow, auch ein ganz reizender Ort. Auf dem Londoner Flughafen muss man aufpassen, dass man nicht von einer Horde Japaner aus der einen und einer Horde Inder aus der anderen Richtung wie von Büffeln überrannt wird. Ein kleiner Mordversuch nebenbei. Wäre zum Lachen, wenn nicht gerade alles zum Weinen wäre. »Guck nicht so traurig«, sagt Mama, während sie mich energisch zum Bus zieht, der uns zum Bahnhof bringen soll. »Bald sind wir zu Hause.« »Zu Hause?«, murmele ich so leise, dass Mama es nicht hören kann. Zu Hause war mal, das haben wir in Deutschland hinter uns gelassen. Ich habe jetzt schon tierisches Heimweh nach meinem Leben in Berlin. Ich brauche kein neues Zuhause, das alte war schwer in Ordnung. Wie konnte dieser ganze Mist

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nur passieren? Zu allem Überfluss legt der Regen noch zu (wenn der Sommer auch so wird, dann gute Nacht). Das Wasser tropft mir von den Haarsträhnen in die Augen und ich kann kaum noch etwas sehen. Ist vielleicht ganz gut so. Als das Flugzeug durch die tiefschwarzen Wolken zur Landung gerappelt war, hatte ich schweißnasse Hände. Meine Beine sind immer noch wacklig, aber immerhin ist der Flieger nicht abgestürzt. Man wird ja dankbar für Kleinigkeiten. Ich schleppe mich weiter in Richtung Bus, während der Regen munter vom schmutzig grauen Himmel pladdert. »Nun mach schon«, versucht Mama mich mit bemüht heiterer Stimme aufzumuntern. »Es ist nicht mehr weit bis York.« Die Koffer, die wir hinter uns herziehen, haben es echt in sich. Als wir den Bus erreichen, bräuchte ich eigentlich einen Ganzkörper-Föhn, aber den führen sie leider nicht. Wir quetschen uns mit den anderen vor Nässe dampfenden Passagieren in den Bus und lassen uns auf die Sitze fallen. Mama legt den Arm um mich und ich fühle mich so elend, dass ich mich eng an sie kuschele. Gleich fange ich an zu heulen, denke ich, aber ich mache es nicht. Das tue ich ihr nicht an. Und mir auch nicht. Der Bus setzt sich rumpelnd in Bewegung und stößt unter ohrenbetäubendem Geknalle stechend riechende Dieselwolken aus. Hier drinnen müffelt es wie eine Mischung aus totem Hund und verrottendem Maschinenöl. Lecker. Wir schaukeln durch die Stadt zum Bahnhof. Mit seinen uralten dunklen Steinblöcken wirkt er wie ein Ungetüm aus dem vorvorletzten Jahrhundert. Harry Potter lässt grüßen. Es herrscht ein Riesengedränge.

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Chinesen, Pakistani und ein paar grölende Fußballfans ziehen an uns vorbei, dazwischen ein Mann im mausgrauen Anzug mit einem schwarzen runden Bowler auf dem Kopf. Moment mal, ein Bowler? Ich dachte, den gibt es nur im Kino. Und war das eben eine Ziege? »Da staunst du, was?«, meint Mama lachend und bugsiert mich durch die lärmende Menge. Im Zugabteil ist es dann plötzlich ganz still. Mama und ich haben gerade das Gepäck verstaut, als der Zug sich sanft ruckelnd in Bewegung setzt. Ich habe das Gefühl, wenigstens etwas zur Besinnung zu kommen (ist es eigentlich Kindesmisshandlung, wenn man um vier Uhr morgens aufstehen muss?), und lehne meinen Kopf an Mamas Schulter. Sie legt den Arm um mich. Läuft da etwas Nasses über meine Wangen? Verdammt! Ich wische die Tränen verstohlen weg und sehe aus dem Augenwinkel, dass Mama aus dem Fenster schaut und dabei versonnen lächelt. »Sieh mal, wie schön es hier ist«, sagt sie und zeigt mit dem Finger auf die saftigen Wiesen, die im Mairegen umso frischer aussehen. Die vorbeiziehende Landschaft besteht aus kümmerlichen Hügeln, die in all den Millionen Jahren ihre Chance verpasst haben, sich zu anständigen Bergen zu entwickeln. Sie wechseln sich ab mit sattgrünen Weiden, auf denen Kühe lässig herumstehen und vor sich hin kauen. Dazwischen kleine Orte voller kleiner rötlich-brauner Backsteinhäuser mit Tausenden von klei-

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nen rötlich-braunen Schornsteinen. Je näher wir York kommen, desto mehr fällt Mama zu ihrem früheren Leben in England ein. »Da hinten hinter der Kirche hatte dein Großonkel Wilbur eine Farm, da habe ich beim Schweineschlachten den Blutkübel gehalten.« Kotz. »Und in dem kleinen Fluss, ein bisschen weiter oben, ist mein Cousin Frankie mal fast ertrunken, als wir verbotenerweise dort gebadet haben. Er konnte nicht richtig schwimmen und ich musste Mund-zu-Mund-Beatmung machen. Das war vielleicht eklig.« Erzählt sie das gerade wirklich oder träume ich nur? Jedes Mal, wenn der Zug um einen neuen Hügel fährt, quietscht meine Mutter auf, weil sie hier jeden Grashalm aus ihrer Jugend wiedererkennt. Das hält ja kein Mensch aus! Drei Kurven später springe ich auf, verkünde, dass ich mal dringend wohin muss, und reiße die Abteiltür auf. Dann trete ich schwungvoll hinaus auf den Gang – und stoße prompt mit jemandem zusammen, dem ich auch noch voll auf den Fuß steige. Der jault auf und macht »Oi!!!«. Ich sehe mir das Opfer dieser peinlichen Aktion näher an und stelle fest, dass es ein unglaublich süßer Typ in perfekt sitzenden Jeans und einem taubenblauen Kaschmirpullover ist. Junge, Junge. Wellige dunkelbraune Haare und strahlend blaue Augen. Was für eine Kombi, wow. Er sieht ein, zwei Jahre älter aus als ich, so um die fünfzehn oder sechzehn vielleicht. Ich werde knallrot.

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»Den brauche ich noch«, sagt er und zeigt auf seinen demolierten Fuß. »Oh Gott«, stammele ich, »sorry.« Er bewegt vorsichtig die Zehen in seinen Chucks und meint: »Na ja, funktionieren noch.« »Sorry, sorry, sorry«, wiederhole ich mein Englisch-Vokabular, das gerade dramatisch geschrumpft ist, und komme mir unsäglich dämlich vor. Und dann … lächelt er! Er lächelt mich an! Kann ich eigentlich noch röter werden? »Alles okay«, sagt er, »mach’s gut.« Dann dreht er sich um und geht weiter den Gang entlang. Ich unterdrücke einen Fluch und schlage dreimal die Stirn gegen das Fenster. Geht’s vielleicht noch dümmer? Während ich den Kopf so gegen die Scheibe knalle, halte ich inne und sehe verstohlen zu ihm hin. Na klar. Er hat das alles mitgekriegt, weil er sich längst zu mir umgedreht hat. Er grinst, zwinkert mir zu. Und weg ist er. Ich sterbe, denke ich, das ist das Ende. Mein Gesicht hat inzwischen die Farbe frisch ausgespuckter Lava angenommen. Diese grausame Begegnung ist das Sahnehäubchen auf dem kläglichen Rest meines ruinierten Lebens … Wozu soll das alles gut sein? Was soll mir zu diesem ganzen Schwachsinn, der mir in letzter Zeit passiert ist, noch einfallen? Ich gehe zurück ins Abteil und lasse mich stöhnend auf meinen Sitz fallen. Mama sieht mich nur kurz an und weiß sofort Bescheid, dass sie jetzt besser keine Fragen stellt. Sie steckt die

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Nase wieder in ihr Buch und ich sehe aus dem Zugfenster, an dem der Regen in langen Bahnen herunterläuft. Ich wische mit der Hand die kalte beschlagene Fensterscheibe entlang, um mir ein Guckloch zu schaffen. Da draußen saust eine Welt an mir vorbei, mit der ich nichts zu tun haben möchte. Dass mir das nicht im Geringsten weiterhilft, weiß ich. Ich habe festgestellt, dass man den absoluten Durchblick kriegt, wenn man so dreizehn, vierzehn Jahre alt wird. Man läuft durch die Welt und staunt, wie bescheuert sie ist. Ich habe mir in letzter Zeit tatsächlich gewünscht, wieder in der Vorschule zu sein, da war alles noch ganz einfach. Was ich da gelernt habe, habe ich kapiert, die Lehrer waren nicht gestresst und die Jungs waren noch keine Vollidioten. Obwohl … Jedenfalls, vor ungefähr einem halben Jahr machten Papa und ich einen Spaziergang im Park. Ohne Vorankündigung schenkte er mir ein nagelneues Smartphone und ich freute mich wie blöd (dabei lag mein vierzehnter Geburtstag noch ein paar Monate in der Zukunft). Dann ähemmte er in der Gegend herum und erklärte, dass er jetzt öfter mit mir telefonieren würde, weil er sich von meiner Mutter getrennt hätte. Oder sie sich von ihm, er wollte sich da nicht festlegen. Als diese Botschaft zu mir durchgedrungen war, fing es plötzlich an, wie aus Eimern zu schütten, irgendwie ein passender Kommentar von oben. Was für ein absolut uncooler Mist, dachte ich. Dabei sollte es noch viel schlimmer werden. Kommen wir zu Katastrophe Nummer zwei: Meine Mutter erzählte mir wenige Wochen später, dass sie mit mir in eine an-

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dere Stadt ziehen würde, weil sie dort eine Stelle als Schneiderin angenommen hätte. Schneiderinnen würden schließlich überall gebraucht. (Dabei ist sie eigentlich Modedesignerin, und keine schlechte.) Überall hieß in diesem Fall York, England. Genau: das England. Und wohnen würden wir in dem Dorf Cliffmoore, südlich von York, wo wir in das Häuschen meiner verstorbenen Lieblingsoma Judith ziehen würden. Ich konnte es kaum glauben. Ernsthaft? Ich meine, ernsthaft? Würden wir ganz in echt nach England ziehen? Wozu? Ich hatte hier in Deutschland doch mein Leben, meine Freundinnen und die immerhin nicht völlig beknackte Schule. Was wäre denn in England noch von mir übrig? »Du wirst dort deine Wurzeln schon finden«, meinte Mama. »Das ist doch spannend herauszufinden, woher man stammt.« Wurzeln? Geht’s noch? Es ist, als hätten alle gemeinsam beschlossen, mich fertig zu machen. Warum steht mein Leben plötzlich auf dem Kopf ? Was habe ich nur falsch gemacht? Warum muss das ausgerechnet mir passieren? Und während ich die Stirn gegen das kalte, vom Regen gesprenkelte Zugfenster presse, habe ich auf einmal eine Theorie. Die ganze Welt hat sich gegen mich verschworen. Auf mir liegt ein Fluch. Genau so fühlt es sich an.

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Info

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Gina Mayer Verliebt in Amsterdam ISBN 978-3-473-58480-2 Ca. 256 Seiten Ab 12 Jahren 14 x 21 cm, Broschur 3 9,99 (D) / 3 10,30 (A) / sFr. 17,90 Erscheint im Juni 2015


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Verliebt in Amsterdam > > Inhalt

Echte Mädchenthemen: Große Liebe, Glamour, Musik, Reisen Leichter Erzählton

Was ein romantischer Urlaub mit ihrer großen Liebe Jesse hätte werden sollen, endet für Phoebe in einem Fiasko. Schon auf dem Weg nach Amsterdam findet sie heraus, dass Jesse und ihre beste Freundin Hannah hinter ihrem Rücken miteinander flirten. Nach einem heftigen Streit lässt Jesse Phoebe einfach an einer Raststätte zurück – ohne Geld, ohne Handy, ohne Reisetasche. Doch hier trifft sie Aaron, der auch nach Amsterdam will – um seinen Vater zu suchen. Für beide ist es der Beginn eines rasanten Roadtrips voller Überraschungen und Gefahren … und ganz neuer Gefühle. Gina Mayer studierte Grafik-Design und arbeitete als Werbetexterin, bevor sie mit dem Bücherschreiben begann. Inzwischen hat sie viele Romanen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene veröffentlicht. Ihre Werke wurden für viele namhafte Preise nominiert und mit dem Leipziger Lesekompass ausgezeichnet. Gina Mayer lebt mit ihrer Familie in Düsseldorf.

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Phoebe Dieses Lachen. Wenn Jesse lachte, dann spürte Phoebe es tief im Magen. Es prickelte wie Prosecco mit einem Schuss Aperol, süß und ein klein bisschen bitter. Jetzt sah er sie auch noch an. Nur ganz kurz, dann richtete er den Blick wieder nach vorn auf die Straße. Doch sie wandte schnell die Augen ab und starrte aus dem Fenster. Er sollte nicht merken, dass sie ihn am liebsten die ganze Zeit angestarrt hätte. Er sollte nicht wissen, was sie für ihn empfand. Ein Junge darf niemals mitkriegen, dass du auf ihn stehst, sagte Hannah immer. Lass die Jungs im Unklaren. Lass sie zappeln. Und Hannah hatte Recht. Eigentlich. Aber mit Jesse war alles anders. Jesse zappelte nicht. Jesse war ganz cool und ruhig. Sein Lachen. Lachte er sie an oder aus? Nach diesem Wochenende würde sie es wissen. Denn an diesem Wochenende fuhr Phoebe mit Jesse ans Meer. Als er Phoebe gefragt hatte, ob sie mit ihm nach Holland wollte, war sie fast in Ohnmacht gefallen. Sie kannte einige Mädchen, die sich mit Begeisterung den kleinen Finger

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abgehackt hätten, nur um einmal mit Jesse auszugehen. Und er wollte für drei Tage mit ihr verreisen! »Das ist ja wohl der Hauptgewinn im Lotto«, sagte Hannah, als Phoebe ihr davon erzählt hatte. Und klang dabei fast ein bisschen neidisch, dabei war sie doch mit Simon zusammen. Phoebe hatte Tage damit verbracht, sich das Wochenende auszumalen, jetzt ging es endlich los und schon toppte die Wirklichkeit ihre kühnsten Erwartungen. Die Sonne strahlte in Jesses Audi-Cabrio, Phoebes Haare flatterten im Wind. Jesse trug eine Sonnenbrille, sie konnte seine Augen nicht sehen. Aber sie sah sein Lachen. Und spürte es tief in ihrem Innern. »Machst du das oft?«, fragte Phoebe. »Was?« »Dass du übers Wochenende nach Holland fährst.« Mit irgendeinem Mädchen, fügte sie in Gedanken hinzu. Und dachte dann: Egal. Was kümmert mich die Vergangenheit. Jetzt bin ich dran und ich werde es genießen. Jede Sekunde von diesem Wochenende. »Früher war ich ständig da. Wir haben immer die Ferien in Holland verbracht. Und jedes dritte Wochenende. Aber jetzt fahr ich nicht mehr so oft hin.« Er zuckte mit den Schultern. »Nur wenn meine Eltern nicht da sind.« »Ist das für deine Eltern okay ? Ich meine, dass ich mitfahre?«

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»Na klar«, sagte Jesse. »Cool.« Phoebes Eltern waren weniger cool. Aber zum Glück waren sie noch bis zum nächsten Mittwoch in Amerika bei Phoebes Großeltern. Phoebe hatte ihnen erzählt, dass sie das Wochenende bei Hannah verbringen würde, um Mathe zu lernen. Dabei war das Schuljahr fast zu Ende und ihre Fünf stand ohnehin schon fest. Aber ohne die Lüge wäre es nicht gegangen. Ihre Eltern hätten Phoebe nie und nimmer nach Holland fahren lassen mit einem Typen, den sie gerade mal ein paar Wochen kannte. Waren sie und Jesse überhaupt zusammen? Sie hatten sich ein paarmal geküsst. Mehr war bisher nicht passiert. Aber am Wochenende würde mehr passieren, das war ihr klar. Eigentlich hieß er Jens. Aber alle nannten ihn Jesse. Anders als Phoebe war er schon fertig mit der Schule, im Herbst wollte er in Aachen ein Ingenieurstudium beginnen. Hannahs Freund Simon hatte ihn ihr vorgestellt, die beiden waren nämlich befreundet. Phoebe hatte Jesse von Anfang an toll gefunden, aber sie hatte ziemlich ackern müssen, bis er sie richtig bemerkt hatte. Kein Wunder, die Mädchen standen Schlange, um bei ihm zu landen. Da konnte man schon mal den Überblick verlieren. Jesse gähnte. Was sollte das denn, fand er sie jetzt schon langweilig?

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»Sorry.« Er hielt sich die Hand vor den Mund. »Aber ich hab heute Nacht total schlecht geschlafen.« »Echt? Ich auch.« »Na, so was. Haben wir Vollmond, oder was?« Vollmond? An ihrer schlaflosen Nacht war bestimmt nicht der Mond schuld. Sondern Jesse und die Vorfreude auf den Hollandtrip. »Kaffee wär nicht schlecht, oder?«, fragte Jesse. »Kaffee wär super.« »Ich fahr an der nächsten Raststätte mal raus, okay?« Kaffee. Als ob sie etwas Aufputschendes gebraucht hätte! Sie war doch schon aufgeregt genug. Kamillentee oder Baldriantropfen wären viel besser gewesen. Aber wenn Jesse Kaffee brauchte, dann wollte sie natürlich auch welchen. Bevor die nächste Raststätte kam, gerieten sie aber erst mal in einen Stau. Eine halbe Stunde bewegten sie sich im Stopand-Go-Tempo weiter. Als sie ihr Etappenziel dann endlich erreicht hatten, mussten sie feststellen, dass viele andere auf die gleiche Idee gekommen waren. Der Parkplatz war total voll. Erst kurz vor der Ausfahrt fanden sie einen Platz für das Cabrio. »Da drin ist jetzt bestimmt die Hölle los«, sagte Jesse und deutete auf das Restaurant. »Ich besorg uns zwei Coffee-to-go, okay? Kann aber ein bisschen dauern.« Phoebe blieb im Auto, legte den Kopf in den Nacken und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Im Autoradio lief »Wake me up« von Avicii. Überall waren Menschen, sie stan-

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den auf dem Bürgersteig und aßen Butterbrote und rauchten Zigaretten. Ein schwules Pärchen kämpfte mit einem verzogenen Setter. Ein schlaksiger Typ mit zerrissenen Jeans und einer Gitarrentasche steuerte auf den LKW-Parkplatz zu. An einem Picknicktisch verteilte eine Frau Sandwiches an ihre Kinder. Ihr blondiertes Haar leuchtete grell in der Sonne. Im Radio kam jetzt Werbung. Phoebe wechselte den Sender, aber die anderen Programme waren auch nicht besser. Sie blickte sich nach Jesse um. So langsam konnte er doch mal wiederkommen, er war jetzt bestimmt schon eine Viertelstunde weg. Und alles nur wegen dem blöden Kaffee. Dann klingelte ein Handy. Nicht ihr eigenes, das war nicht ihr Klingelton. Es war Jesses Telefon, das in der Mittelkonsole zwischen den Sitzen lag. Tessi ruft an, verkündete das Display. Tessi, welche Tessi? Sie nahm den Anruf nicht an. Natürlich nicht. Die Handys von anderen Leuten waren tabu. Aber das Telefon hörte nicht auf zu klingeln. Diese Tessi gab nicht auf. Vielleicht war es ja etwas wirklich Dringendes? Sie stellte sich vor, dass Jesse zurückkam und sie dann vorwurfsvoll fragte: Warum bist du denn nicht drangegangen ? Sie nahm das Handy und wischte über das Display. »Hallo ?« Verwirrtes Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Wer ist denn da?«

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»Ich bin Phoebe. An Jesses Handy.« »Ach so. Ja.« Tessi verstummte und schien scharf nachzudenken. Und Phoebe dachte ebenfalls nach. Tessi, dachte sie. Und Jesse. Das passte ja wie die Faust aufs Auge. »Jesse ist gleich wieder da«, sagte sie. »Soll ich ihm was ausrichten?« »Ich meld mich später noch mal«, sagte Tessi und legte auf. Phoebe starrte auf das Handy in ihrer Hand. Der Himmel war immer noch blau, die Sonne schien, ein sanfter Wind spielte in ihrem Haar. Aber mit einem Schlag war das Prickeln in ihrem Bauch weg. Stattdessen nagte etwas in ihr. Eine Unsicherheit, ein Zweifel. Quatsch, dachte Phoebe. Da ist sicher nichts. Diese Tessi ist bloß eins von den Mädels, die Jesse anhimmeln. Sie macht sich Hoffnungen auf ihn und war genervt, weil ich abgenommen habe. Sie strich erneut über das Display. Jesses Smartphone war nicht gesichert, das Display wurde sofort hell. WhatsApp, Messenger, Mail, Facebook, alles zugänglich. Das ist doch der beste Beweis, dachte Phoebe: Er hat nichts zu verbergen. Sonst hätte er sein Telefon gesperrt. Leg das Handy weg, sagte ihr Kopf. Vertrau ihm, entspann dich, genieß das Wochenende. Aber in ihrem Bauch rumorte der Zweifel. Und ihr Zeigefinger hörte nicht auf ihren Kopf, ihr Zeigefinger gehorchte ihrem Bauch und tippte auf das Whats-

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App-Logo, über dem eine rote Eins schwebte. Eine neue Nachricht. Sie brauchte nicht lange zu suchen: Tessi Bauer, der Name stand ganz oben, weil sie Jesse gerade eben geschrieben hatte. Phoebe vergrößerte das Profilbild. Tessi hatte lange pechschwarze Haare, einen knallroten Mund und machte eine Kuss-Schnute. Ein lustiges Foto. Sexy. Jetzt ist es genug, sagte Phoebes Kopf. Leg das Handy weg. Aber ihr Zeigefinger hatte Tessis letzte Nachricht schon geöffnet. Tessi schrieb: wer war das denn an deinem handy???

Phoebe scrollte ein Stück nach oben und las die letzten Nachrichten, die Jesse und Tessi ausgetauscht hatten. Wann sehen wir uns?, wollte Tessi wissen. Wochenende geht nicht, schrieb Jesse. Bin in holland, muss mal nach dem haus sehen. Vllt Montag? Bin abends im rossini, kellnern. Danach? Gegen 10 vllt? Gegen 10 im Rizzi. Wo bist du gerade? Im Bett, schrieb Tessi. Ich hab dein t-shirt an das duftet noch nach dir. Wär gerne bei dir, schrieb Jesse.

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Brandon Mull Spirit Animals Band 1: Der Feind erwacht ISBN 978-3-473-36915-7 Aus dem Amerikanischen von Wolfram Strรถle Mit s/w-Vignetten von Wahed Khakdan Ca. 256 Seiten Ab 10 Jahren 14,3 x 21,5 cm, Hardcover 3 14,99 (D) / 3 15,50 (A) / sFr. 24,90 Erscheint im Oktober 2015 Bei Antolin gelistet


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Spirit Animals – Band 1: Der Feind erwacht > > >

Inhalt

Spannende Tierfantasy-Abenteuer, in denen Kinder mit ihren Seelentieren ihre Welt Erdas retten Actionreich, fantastisch, gefährlich Für alle Fans von „Die Legende der Wächter“ und „Der Clan der Wölfe“

Wolf, Leopard, Panda und Falke – einst gab es sie nur in den Legenden von Erdas. Doch Connor, Abeke, Meilin und Rollan haben sie wieder zum Leben erweckt. Zusammen mit ihren Seelentieren wagen sich die vier Helden auf eine gefährliche Mission in den entlegensten Winkel von Erdas. Dort regt sich ein uraltes Wesen, das alle Menschen und Tiere unter seine Herrschaft zwingen will. Wird es den Gefährten gelingen, es zu besiegen? Brandon Mull ist Autor der Fantasyserien „Fablehaven“ und „Beyonders”, die beide auf Platz eins der New-York-TimesBestsellerliste kletterten. Schon als Kind haben ihn nicht nur zahme, sondern auch wilde Tiere fasziniert: Neben einem Hund, einer Katze und einem Goldfisch besaß er eine selbstgefangene Tarantel. Heute lebt er mit seiner Frau, seinen vier Kindern und dem Familienhund in Utah, USA.

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Brandon Mull

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Briggan Hätte Conor die Wahl gehabt, er hätte wohl kaum den wichtigsten Geburtstag seines Lebens damit verbracht, Devin Trunswick beim Anziehen zu helfen. Freiwillig hätte er Devin Trunswick bei gar nichts geholfen. Aber Devin war der älteste Sohn Erics, des Grafen von Trunswick, und Conor war der dritte Sohn des Schäfers Fenray. Fenray hatte Schulden beim Grafen, deshalb half Conor als Devins Diener, die Schulden abzuarbeiten. So war es vor über einem Jahr vereinbart worden und so sollte es noch mindestens zwei Jahre weitergehen. Conor musste für die lästigen Haken auf dem Rückenteil von Devins Mantel die richtigen Ösen finden, sonst saß der Mantel schief und warf Falten. Und das bekam Conor dann monatelang zu hören. Der dünne Stoff war zwar schön anzusehen, aber unpraktisch. „Bist du dahinten endlich fertig?“, fragte Devin ungeduldig.

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„Verzeih, wenn ich dich aufhalte, Herr“, antwortete Conor. „Der Mantel hat achtundvierzig Haken. Ich schließe gerade den vierzigsten.“ „Das kann ja noch Tage dauern. Erleb ich das noch? Gib’s zu, diese Zahl hast du dir doch nur ausgedacht.“ Conor unterdrückte eine scharfe Erwiderung. Er hatte schon als Kind ständig Schafe gezählt und kannte sich mit Zahlen wahrscheinlich besser aus als Devin. Aber sich mit einem adligen Herrn anzulegen, brachte nur Ärger. Manchmal schien es so, als wollte Devin ihn bewusst herausfordern. „Nein, ich habe sie gezählt.“ Die Tür flog auf und Devins jüngerer Bruder Dawson stürmte ins Zimmer. „Bist du immer noch nicht mit dem Anziehen fertig, Devin?“ „Gib nicht mir die Schuld“, protestierte Devin. „Conor schläft beim Arbeiten ein.“ Conor begrüßte Dawson nur mit einem kurzen Blick. Je schneller er mit den Verschlüssen fertig war, desto früher konnte er sich selbst bereit machen. „Wie soll das denn gehen ?“, rief Dawson und kicherte. „Das würde mich wirklich mal interessieren, Bruderherz.“ Conor unterdrückte ein Grinsen. Dawson redete fast ununterbrochen. Er nervte einen oft, konnte aber auch sehr witzig sein. „Ich bin wach.“ „Bist du immer noch nicht fertig?“, schimpfte Devin. „Wie viele jetzt noch?“

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Conor hätte am liebsten zwanzig gesagt. „Fünf.“ „Glaubst du, du kannst ein Seelentier herbeirufen, Devin?“, fragte Dawson. „Ich wüsste keinen Grund, warum nicht“, antwortete Devin. „Großvater hat einen Mungo gerufen, Vater einen Luchs.“ An diesem Tag fand in Trunswick die Nektarzeremonie statt. In weniger als einer Stunde sollten die Kinder des Ortes, die in diesem Monat elf wurden, ein Seelentier rufen. Conor wusste, dass Bindungen an Tiere in manchen Familien besonders häufig vorkamen. Aber eine Garantie, dass einem ein Tier erschien, gab es nicht, egal welchen Familiennamen man trug. Heute sollten nur drei Kinder den Nektar trinken. Da war die Wahrscheinlichkeit, dass eines von ihnen Erfolg hatte, eher gering … Prahlerei im Vorfeld war also wenig ratsam. „Was für ein Tier bekommst du wohl?“, wollte Dawson wissen. „Das weiß ich genauso wenig wie du“, erwiderte Devin. „Was glaubst du?“ „Ein Backenhörnchen“, prophezeite Dawson. Devin stürzte sich auf seinen Bruder, der kichernd wegrannte. Er war nicht so festlich gekleidet wie sein älterer Bruder und konnte sich deshalb freier bewegen. Devin hatte ihn trotzdem schnell eingeholt, warf ihn zu Boden und hielt ihn dort fest. „Wahrscheinlich eher einen Bären“, sagte Devin und

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drückte dem Bruder den Ellbogen auf die Brust. „Oder eine Wildkatze wie Vater. Die soll dann zuerst dich fressen.“ Conor zwang sich zur Geduld. Als Diener durfte er sich hier nicht einmischen. „Vielleicht bekommst du gar keins“, sagte Dawson frech. „Dann bin ich später immer noch Graf von Trunswick und somit dein Herr.“ „Nicht, wenn Vater länger lebt als du.“ „Pass auf, was du da sagst, Kleiner.“ „Gott sei Dank bin ich nicht du.“ Devin drückte Dawsons Nase zusammen, bis Dawson schrie, dann stand er auf und strich seine Hose glatt. „Wenigstens tut mir nicht die Nase weh.“ „Conor trinkt den Nektar auch!“, rief Dawson. „Vielleicht ruft er ein Seelentier.“ Conor wäre am liebsten im Erdboden versunken. Natürlich machte er sich Hoffnungen. Er konnte gar nicht anders. Zwar hatte es in seiner Familie seit einem zwielichtigen Urgroßonkel keiner mehr zu einem Seelentier gebracht, trotzdem war grundsätzlich alles möglich. „Natürlich.“ Devin kicherte. „Und die Tochter des Schmieds wahrscheinlich auch.“ „Man weiß nie.“ Dawson setzte sich auf und rieb sich die Nase. „Was für ein Tier hättest du denn gern, Conor?“ Conor blickte zu Boden. Aber auf die Frage eines Adligen musste er antworten. „Ich bin immer gut mit Hunden zurechtgekommen. Ein Schäferhund wäre mir das Liebste.“

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„Was für eine Fantasie!“ Devin lachte. „Der Schäfer träumt von einem Schäferhund.“ „Ein Hund wäre toll“, sagte Dawson. „Aber gewöhnlich“, erwiderte Devin. „Wie viele Hunde hast du denn, Conor?“ „Du meinst meine Eltern? Zehn, als ich sie zuletzt gezählt habe.“ „Wie lange hast du deine Eltern nicht mehr gesehen?“, fragte Dawson. Conor versuchte, ganz ruhig zu klingen. „Über ein halbes Jahr.“ „Kommen sie heute auch?“ „Sie werden es versuchen. Hängt davon ab, ob sie zu Hause wegkönnen.“ Er tat gleichgültig für den Fall, dass sie es nicht schafften. „Na, da kannst du ja gespannt sein.“ Devin klang verächtlich. „Wie viele Haken noch?“ „Drei.“ Devin drehte sich um. „Dann Beeilung. Wir sind spät dran.“ Auf dem Platz hatte sich eine eindrucksvolle Menschenmenge versammelt. Schließlich rief nicht jeden Tag der Sohn eines Fürsten ein Seelentier. Gemeine und Adlige waren gekommen – Alte, Junge und alles dazwischen. Musiker spielten, Soldaten marschierten auf und ab und ein Straßenhändler verkaufte kandierte Früchte. Für den Grafen

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und seine Familie hatte man eine kleine Tribüne errichtet. Wie an einem Feiertag, dachte Conor. Einem Feiertag für alle außer ihm. Die Luft war kühl und klar, und in der Ferne hinter den blauen Dächern und Kaminen von Trunswick ragten die grünen Berge auf, durch die Conor jetzt am liebsten gestreift wäre. Er ging zur Mitte des Platzes. Die vielen Zuschauer machten ihn verlegen, und er wusste nicht, was er mit seinen Händen machen sollte. Plötzlich sah er seine Mutter, die ihm zuwinkte. Neben ihr standen seine älteren Brüder und sein Vater. Sogar Soldier hatten sie mitgebracht, seinen Lieblingshund. Conor hob kurz die Hand und winkte seiner Mutter zurück. Der künftige Graf von Trunswick schritt vor ihm zu der Bank in der Mitte des Platzes. Dort wartete bereits Abby, die Tochter des Schmieds. Bewegungslos und von dem Menschenauflauf sichtlich eingeschüchtert saß sie da. Sie trug für jedermann sichtbar ihre besten Kleider, Kleider, die freilich viel armseliger waren als das einfachste Kleid von Devins Mutter oder Schwester. Conor wusste, dass auch er neben Devin unscheinbar aussah. Vor der Bank standen zwei Grünmäntel. Isilla, die Frau mit dem blassen Gesicht, kannte er bereits. Sie hatte die grauen Haare mit einem glitzernden Netz zusammengebunden und der Goldzeisig Frida saß auf ihrer Schulter. Meist führte Isilla die Nektarzeremonie durch. Sie hatte auch seinen beiden Brüdern den Nektar gegeben.

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Den anderen Grünmantel kannte er nicht. Er war groß und hager und hatte breite Schultern und ein Gesicht, das so wettergegerbt war wie sein Mantel. Seine Haut war dunkler als die der anderen Anwesenden, als stammte er aus dem nordöstlichen Nilo oder dem Südwesten von Zhong – mitten in Eura bot er einen ungewöhnlichen Anblick. Sein Seelentier war nicht zu sehen, aber unter einem Ärmel lugte ein Tattoo hervor. Ein Schauer überlief Conor. Denn das Tattoo bedeutete, dass das Seelentier des Fremden sich zurzeit auf seinem Arm im Ruhezustand befand. Abby stand auf und machte einen Knicks vor Devin. Devin setzte sich auf die Bank und winkte Conor zu sich. Auch Conor und Abby nahmen Platz. Isilla gebot der Menge mit erhobenen Händen Schweigen. Der Fremde trat einen Schritt zurück, sodass sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Conor hätte gern gewusst, weshalb er gekommen war. Wahrscheinlich hatte seine Anwesenheit wie der restliche Aufwand mit Devins hoher Stellung zu tun. „Hört mich an, ihr braven Bürger von Trunswick!“, rief Isilla mit durchdringender Stimme. „Wir sind heute im Angesicht von Mensch und Tier hier versammelt, um den heiligsten Ritus Erdas’ zu vollziehen. Wenn Mensch und Tier sich verbinden, wächst ihnen daraus ein Vielfaches an Kraft zu. Vielleicht gelingt es einem der drei Kandidaten, diese Verbindung einzugehen – Lord Devin Trunswick,

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Abby, Tochter des Grall, oder Conor, Sohn des Fenray. Wir alle hier werden bezeugen, was nun geschieht.“ In dem lauten Beifall nach der Nennung Devins gingen die Namen der anderen beiden Kandidaten unter. Doch Conor achtete darauf, sich nichts anmerken zu lassen. Wenn er ganz still dasaß und Ruhe bewahrte, ging die Zeremonie am schnellsten vorbei. Devin durfte ehrenhalber zuerst vom Nektar trinken. Wer als Erster trank, so hieß es, habe die besten Aussichten auf Erfolg. Isilla bückte sich nach einer mit verschlungenen Mustern verzierten Lederf lasche, die mit einem Stöpsel verschlossen war. Sie hob die Flasche über den Kopf, damit alle sie sehen konnten. Dann zog sie den Stöpsel heraus. „Devin Trunswick, tritt vor.“ Unter dem Klatschen und Pfeifen der Menge trat Devin vor. Isilla legte den Finger an die Lippen und der Lärm erstarb. Devin kniete sich vor sie. In einer so demütigen Haltung hatte Conor ihn noch nie gesehen, denn in Eura knieten Adlige nur vor ranghöheren Adligen. Die Grünmäntel jedoch beugten das Knie vor niemandem. „Empfange den Nektar des Ninani.“ Conors Herz begann unwillkürlich zu klopfen, als die Flasche sich zu Devins Lippen neigte. Vielleicht würde er jetzt zum ersten Mal erleben, wie aus dem Nichts ein Seelentier erschien!

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Anna Herzog Ein Hoch auf den Herbstwind ISBN 978-3-473-36911-9 Mit vierfarbigen Illustrationen von Susanne Gรถhlich Ca. 144 Seiten Ab 8 Jahren 15,2 x 21,5 cm, Hardcover 3 12,99 (D) / 3 13,40 (A) / sFr. 22,90 Erscheint im September 2015 Bei Antolin gelistet


Anna Herzog

Ein Hoch auf den Herbstwind

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Ein Hoch auf den Herbstwind > > > Inhalt

Humorvolle, atmosphärische Alltagsgeschichte zum Vor- und Selberlesen „Wir Kinder aus Bullerbü“ in der Großstadt Poetische Erzählstimme

Wenn der Herbst die Tage golden anmalt und bunte Blätter tanzen lässt, ist Ami am liebsten draußen. Dann schnappt sie sich die Inlineskates und düst mit ihren Geschwistern los. Denn beim Durch-die-Stadt-Rollen findet man nicht nur neue Freunde, sondern stößt auch auf verlassene Gärten und viele Geheimnisse … Anna Herzog, 1964 in Hamburg geboren, ist Ärztin und hat unter anderem als freie Journalistin und Übersetzerin gearbeitet. Sie hat vier Kinder im Alter von acht bis sechzehn Jahren und arbeitet zurzeit als Schulärztin im Ruhrgebiet. Susanne Göhlich, geboren 1972 in Jena, lebt mit ihrer Familie in Leipzig. Neben dem Studium der Kunstgeschichte begann sie zu zeichnen. Inzwischen arbeitet sie als freie Illustratorin und Autorin für Kinderbuchverlage und Magazine. Wenn sie gerade nicht schreibt oder zeichnet, ist sie gern an der frischen Luft – sowohl bei Sommersonnenschein als auch bei Herbstwind.

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Nun trinkt trink das Jahr seinen allerletzten Schluck SSommer. Bald wird es anfangen, die Blätter v den Bäumen zu reißen, und die von G Grashalme unter den Stiefeln knistern lassen. Heute aber ist es noch warm. Weit hinten über den Dächern der Stadt ballen sich Wolken, und die Luft ist so dick, dass Ami das T-Shirt auf dem Bauch klebt. Ami und ihre allerbeste Freundin Hannah haben sich zum Inlineskaten verabredet. Das Schultor ist nachmittags offen und der Pausenhof eignet sich gut zum Inlinerfahren. Vorausgesetzt natürlich, man kann bremsen, es ist nämlich etwas abschüssig dort. Im allerschlimmsten Fall fängt einen im letzten Moment das Schultor auf, bevor man auf die Straße rollt. Ja, Ami und Hannah haben sich verabredet. Mine nicht. Keineswegs. Aber stört Mine das etwa? o an Ami dreht sich um. „Mann, musst du immer so e. uns kleben wie eine eklige Spinne?“, fragt sie. Rückwärts fahren ist gar nicht so einfach. Besonders für Hannah. Hannah rudert mit

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den Armen herum und sieht aus, als würde sie fliegende Fische fangen. Und natürlich müssen sie und Mine schrecklich kichern. Ami kichert nicht.

Auf dem Weg zur Schule schläft ein altes, graues, sehr benutzt aussehendes Parkhaus. Ami betrachtet es mit zusammengekniffenen Augen. Es sieht so aus, als müsse jemand dringend einmal ein paar Flicken draufkleben. Oder es in die Waschmaschine stecken. Am besten beides. Und wenn dieser Jemand schon dabei ist, dann kann er auch gleich die holprige Einfahrt bügeln, denkt Ami, als sie vorsichtig über die buckligen Steine stakst. Im trüben Sonnenlicht funkeln die Scherben zwischen den Steinen wie Juwelen; Ami bleibt stehen. Das müssen die Tränen sein, von denen Rosa neulich erzählt hat! Wie war die Geschichte traurig. Wer

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wohl nicht mehr weinen kann, weil seine Tränen hier auf der Einfahrt herumliegen? Doch da fährt Mine in Ami hinein und Ami fällt fast und Mine ganz hin. Mitten auf eine grüne Träne. Genau in diesem Moment will ein gewaltiges schwarzes Auto das Parkhaus betreten. Bremsen quietschen, irgendjemand ruft: „Achtung!“ Hannah schreit und Ami bleibt fast das Herz stehen. Mine liegt direkt vor dem Auto – und plötzlich ist sie keine lästige Spinne mehr, und Ami greift nach Mines Hand, aber die rutscht ihr durch die Finger und Ami zittert. Erst beim dritten Mal gelingt es ihr, Mine auf die Füße zu ziehen. Mine weint nicht, die Hand ist heil geblieben. Ein anständiger Sommer überzieht eben Fußsohlen und Handflächen mit einer Lederschicht. „Hallo, Kinder!“, ruft da jemand. Es klingt nach einem alten, hustenden Mann. Ami sieht hoch: Es ist ein alter, hustender Mann. Er winkt ihnen zu. „Ich habe gesehen, was passiert ist. Braucht ihr ein Pflaster?“ Ami schüttelt den Kopf, sie versucht, sich an die Familienregel zu erinnern: Wir gehen nicht zu alten,

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hustenden Männern. Wir gehen überhaupt nicht zu Fremden. Deshalb bleibt sie sicherheitshalber stehen. Wie auch Mine und Hannah. „Kommt mal her!“, ruft der Mann jetzt herüber. „Meine Enkelin hat auch ihre Rollschuhe dabei. Ihr könnt mit ihr im Parkhaus laufen.“ „In-li-ner“, grummelt Mine. Sie rollen vorsichtig näher. „Aber wenn jetzt gar keine Enkelin da ist, rase ich davon, so schnell ich kann“, flüstert Hannah. Doch da kommt wirklich ein Mädchen aus dem Parkhaus heraus. Sie hat dunkle, kurze, borstige Haare und Augen so hell wie der Himmel und jede Menge Fäden und Loop-Armbänder um ihre Handgelenke gewickelt. „Habe ich etwas Falsches gesagt? Du hast doch deine Rollschuhe dabei, Zoe?“, fragt ihr Opa. „In-li-ner“, seufzen Zoe und Mine gleichzeitig. Und dann stehen sie dort und starren sich erst einmal gegenseitig an an, man kann ja nie wissen. Zoe ist die d Erste, die grinst. „Okay, sie können mitkommen“, m sagt sie und zuckt die SSchultern. Sperrst du dann das obe oberste Parkdeck, Opa?“

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Im Parkhaus ist es dunkel. Es stinkt na nach Öl und schlafenden Autos, als sie de Fahrstuhl einsteigen. in den „Was soll dein Opa sperren?“, fragt Mine und pult ein wenig Fahrstuhlfarbe ab. „Er sperrt das oberste Parkdeck“, sagt Zoe. „Damit uns kein Auto umfährt.“ Ihre Stimme klingt heiser, wie bei jemandem, der viel schreit. Und da ist der Fahrstuhl angekommen, die Tür geht auf und vor ihnen liegt: ein dunkler, windiger Himmel, so viel Himmel, und eine Fläche so glatt wie pures Eis. Ein Windstoß fährt in den Fahrstuhl hinein, als wolle er sie herausholen, und schon fliegt Mine hinaus und sie tanzt mit dem Wind und den ersten trockenen Blättern, die dort auf dem Boden herumkreiseln, Pirouetten. „Wo kommst du her?“, fragt Zoe Hannah, während sie ganz von selbst aus dem Fahrstuhl rollen. „Wieso? Von hier!“ „Nein, ich meine, weil du ein bisschen braun bist und diese coolen Zöpfchen hast.“ „Mein Vater ist aus Brasilien, wenn du das meinst“, sagt Hannah und sieht Zoe an wie eine Katze, die nicht gestreichelt werden will.

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Ami weiß, warum. Hannahs Vater ist nicht nur aus Brasilien, er ist auch in Brasilien, und niemand weiß, wo. Im Geheimen wissen Hannah und Ami, dass sie später nach Brasilien fahren werden und Hannahs Vater suchen. Und bis dahin breitet eben Amis Papa seinen Vaterschirm auch über Hannah aus, wenn Hannah bei Ami ist. Und umgekehrt legt Hannahs Mutter ihre Mutterflügel immer auch ein wenig um Ami. Obwohl Ami ja auch ihre eigene Mutter hat. „Cool“, sagt Zoe. „Aus Brasilien.“ Der Wind stemmt sich in ihren Rücken und die Inliner nehmen ganz von selbst langsam Fahrt auf. „Mein Opa ist nämlich Brasilien-Fan. Er hat so eine total riesige Fahne, die hängt er immer ans Parkhaus, wenn Fußball-WM ist.“ Und da fängt Ami an zu hüpfen, denn Ami springen Einfälle ja an wie nasse Frösche. „Mit so einer Fahne könnte man segeln“, schlägt sie vor. „Ohne Boot? Und ohne Wasser?“ Zoe zieht di die Augenbrauen hoch. Ami rollt mit den Augen Augen. „Inliner-Segeln.“ „Los „Los, komm!“, sagt Zoe plötzlich. Am Ami schaut zu Hannah hinüber – kurz

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wie ein Flügelschlag; dann rennt nt sie hinter Zoe her. Als Ami und Zoe mit der Fahne zurückkommen, ist der Wind d so groß geworden, dass sie alle Mühe haben, sich zur hintersten Ecke des Parkdecks vorzukämpfen. Und als sie Brasilien zwischen sich aufspannen, da verliert Ami beinahe zwei Arme, so sehr zerrt und zieht es an ihrem Segel. Aber jetzt, jetzt werden Hannah und Mine etwas zu sehen bekommen. Der Wind fährt knallend in Brasilien hinein und bläht es auf wie einen Fallschirm. Ami krallt ihre Finger in den Stoff, und dann … Sie segeln! Wirklich, sie fliegen. Oha, ohaaa! „Yihaaaa!“, schreit Zoe und in Amis Bauch tanzen die Frösche vor Glück.

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Info

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Fabian Lenk Die unglaublichen F채lle des Dr. Dark Band 1: Das Geheimnis der goldenen Stadt ISBN 978-3-473-40508-4 Mit vierfarbigen Illustrationen von Alexander von Knorre 144 Seiten Ab 8 Jahren 15,2 x 21,5 cm, Hardcover 3 9,99 (D) / 3 10,30 (A) / sFr. 17,90 Erscheint im Juni 2015 Bei Antolin gelistet


Fabian Lenk

Die unglaublichen F채lle des Dr. Dark Band 1: Das Geheimnis der goldenen Stadt

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Die unglaublichen Fälle des Dr. Dark – Band 1: Das Geheimnis der goldenen Stadt > > > Inhalt

Kombination aus Indiana Jones und James Bond mit einem ordentlichen Schuss Zukunftstechnik Spannender Serienauftakt mit zwei unglaublichen Fällen des Dr. Dark Bekannter und beliebter Autor Fabian Lenk

Dr. Dark und sein Team reisen nach Peru, um sich dort auf die Suche nach einer geheimnisvollen Inka-Stadt zu begeben. Auf fliegenden Motorrädern überqueren sie den Atlantik und Südamerika. Und auch die Lachgaspfeile schießende Spezialbrille, mit der das Team ausgestattet ist, erweist sich als äußerst nützliche Erfindung. Denn im Regenwald lauern viele Gefahren … Fabian Lenk, geboren 1963, studierte in München Diplom-Journalistik und war viele Jahre als Redakteur tätig. Zunächst veröffentlichte er Krimis für Erwachsene, doch mittlerweile sind bereits über 150 Kinder- und Jugendbücher von ihm erschienen, die in 14 Sprachen übersetzt wurden. Besonders mit seinen Reihen und Serien hat sich Fabian Lenk eine große Fangemeinde aufgebaut. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Bremen.

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Ein geheimnisvoller Gast „Puh, war das wieder hart!“, ächzte Leandro. Mit seiner Zwillingsschwester Luna hatte er gerade das Karatetraining absolviert und war völlig erledigt. Spätestens alle zwei Tage wurden sie von Quick Nick in der Kampfsportart unterrichtet. Nick war eigentlich der Gärtner im Schloss der Darks an Schottlands windumtoster Küste. Aber er war auch ein Ass in Karate. Leandro schlurfte in sein Zimmer, in dem neben einem ultraschnellen Rechner auch ein uralter, aber voll funktionstüchtiger Flipper stand. „Hallo!“, rief der kleine Tinnie. Der mit Solarenergie betriebene Roboter war gerade dabei, den Akku eines Laptops aufzuladen. Dafür hatte er seine schmalen Zeigefinger in das Gerät gesteckt und übertrug einen Teil seiner Energie auf den Rechner.

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„Britzel-britzel!“, kommentierte er die Aktion. Dann fragte er Leandro: „Na, wie war’s?“ „Richtig gut“, erwiderte Leandro und pfefferte seine Sporttasche in die Ecke. Er hatte den Roboter selbst konstruiert. Dabei war ihm allerdings der eine oder andere kleine Fehler bei der Programmierung unterlaufen. So konnte Tinnie kein „sch“ aussprechen, da wurde immer ein „s“ draus. Auch das „ch“ bekam Tinnie einfach nicht hin. Stattdessen sagte er „x“. Tinnie stellte sich vor Leandro und schwang die Fäuste. „Ix will aux mal mit! Tinnie ist ein supiguter Meisterkämpfer!“ Er sprang auf Leandros Schreibtisch und schnappte sich ein Lineal, das er durch die Luft sausen ließ wie ein Schwert. „Nimm das, Surke! Und das!“, keuchte er dabei. Blitzschnell duckte Tinnie sich, machte einen Schritt zur Seite und schlug auf den eingebildeten Feind ein. Diesmal senste er mit der Waffe einen Becher mit Leandros Stiften um. „Tinnie, pass doch auf!“, rief der Junge. Aber sein Kumpel war nicht zu stoppen. „Ha, ergib dix!“, rief er.

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In diesem Moment summte das Telefon auf dem Schreibtisch. „Kommst du runter zum Essen?“, fragte Leandros Schwester. Leandro schaute auf die Uhr. Kurz vor sieben. Um diese Zeit gab es bei den Darks traditionell das warme Abendessen. Wegen Tinnie hätte er den Termin fast verschwitzt. „Klar, bin gleich da“, sagte er schnell. Der Wohnsitz der Darks war auf einer Felsnase an der Küste Schottlands errichtet worden und schon einige Jahrhunderte alt. Im Schloss gab es viele düstere Winkel, einen Keller voller verschachtelter Räume sowie jede Menge Falltüren und Geheim-

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gänge – aber auch einen pompösen Festsaal und unzählige Schlafzimmer. Außerdem hatte sich Dr. Dark ein hochmodernes Labor und weitere Arbeitsräume eingerichtet. Leandro kannte das Gebäude und das umliegende Grundstück wie seine Westentasche und so erreichte er im Nullkommanix den Speisesaal. Auf dem großen ovalen Esstisch standen silberne Kerzenständer. Die anderen waren schon da. Leandros Vater nickte seinem Sohn freundlich zu. Wie so oft trug Dr. Dark, der Privatermittler für besonders schwere Fälle war, einen feinen Anzug. Luna saß neben Rob, einem zwei Meter großen Riesen mit breiten Schultern. Auch er war elegant gekleidet. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass Rob kein Mensch war, sondern ein Roboter. Professor Fesser hatte ihn konstruiert und programmiert. Rob war eigentlich perfekt. Eigentlich … Denn Rob hatte eine große Schwäche: Gummibärchen. Vor allem liebte er die roten. „Hi, Leandro“, grüßte Rob. „Hi!“, sagte Leandro und setzte sich auf die andere

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Seite des Roboters. Abgesehen von Tinnie konnte er sich keinen cooleren Freund vorstellen als Rob. Im selben Moment öffnete sich die weiße Flügeltür und Paula Pain erschien. Die junge Frau war eine brillante Köchin und eine ebenso gute Messer-Artistin. „Dr. Dark, Ihr Gast ist eingetroffen“, sagte sie und verschwand, um kurz darauf mit einem älteren Herrn wieder aufzutauchen. Der Mann mit dem imposanten Schnauzbart hatte sich ebenfalls in Schale geworfen. Dr. Dark sprang auf. „Mister Canterbury!“ Er schüttelte ihm die Hand. „Nehmen Sie bitte Platz.“

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Nach dem Dessert kam Canterbury direkt zur Sache. „Ich bin der Vorsitzende des S.O.R.D.“ Dr. Dark nickte und ergänzte, als er die fragenden Blicke der Zwillinge bemerkte: „Es handelt sich um einen vornehmen Club, der Forschungsprojekte in aller Welt unterstützt.“ Aha, also ein Millionärsclub!, dachte Leandro. „Sie sagen es, Dr. Dark“, übernahm Canterbury wieder das Wort. „Wir wirken im Verborgenen und unterstützen Projekte, die uns wichtig erscheinen.“ „Was denn für Projekte?“, wollte Luna wissen. Der Gast schaute sie ernst an. „Das können Ausgrabungen im Interesse der Archäologie sein oder die Erforschung eines Antivirus, um eine gefährliche Krankheit zu stoppen. Wir stellen jeweils die nötigen Mittel zur Verfügung, die eigentliche Arbeit

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überlassen wir den Experten – etwa Biologen, Zoologen, Virologen, Archäologen oder Geografen.“ Canterbury nippte an seinem Glas. Dann fuhr er fort: „Derzeit haben wir ein Team in Peru in der Nähe von Cuzco. Und …“ „Cuzco?“, rief Leandro dazwischen. „Ja, es handelt sich um eine ziemlich berühmte Stadt mit heute etwa 350 000 Einwohnern. Sie wurde einst von den Inka gegründet“, erklärte Canterbury. „Von dort brach unser Team in Jeeps in Richtung Pantiacolla auf, eine abgelegene und kaum erforschte Region östlich von Cuzco.“ „Was wollte das Team dort?“, fragte Rob. Erneut trank der Gast einen Schluck Wein. Sorgfältig tupfte er sich die Mundwinkel ab, bevor er fortfuhr: „Die Experten sollten das nahezu unbewohnte Gebiet kartieren und die heimische Tier- und Pflanzenwelt erforschen.“ „Aber dann muss etwas passiert sein“, bemerkte Dr. Dark. „Etwas Unvorhergesehenes. Sonst wären Sie jetzt nicht hier, richtig?“ Canterbury seufzte. „Leider ja. Vor wenigen Tagen

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meldete sich der Zoologe Theophillus Etzel, einer der Experten vor Ort, bei mir. Er ist, nebenbei bemerkt, mein Schwiegersohn. Und Theo hatte eine sensationelle Nachricht: Von einem Dorfbewohner hatte er den Tipp bekommen, dass tief im Regenwald eine geheimnisvolle Stadt zu finden sei …“ Canterbury wurde plötzlich sehr ernst und senkte ehrfurchtsvoll die Stimme: „Angeblich handelt es sich um das legendäre Paititi!“ Ruckartig beugte sich Dr. Dark vor. Er wirkte wie elektrisiert. „Paititi? Das ist doch der letzte Zufluchtsort der Inka! Das Versteck, in dem sie sich samt ihren Goldschätzen vor den spanischen Angreifern in Sicherheit gebracht haben sollen!“ „Genau“, bestätigte der Schlossgast. „Zahlreiche Expeditionen brachen bereits ins schwer zugängliche peruanische Bergland auf, in der Hoffnung, diese Stadt zu finden – aber immer vergeblich. Viele glauben übrigens, dass Paititi gleichbedeutend ist mit El Dorado, dem berühmten Land des Goldes.“ Leandro und Luna schauten sich an. Ihre Augen blitzten. El Dorado! Der Name versprach Abenteuer pur!

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„Was geschah mit Ihrer Expedition?“, wollte nun Dr. Dark wissen. Canterburys Schultern sackten herab. „Theo brach allein auf, mit einem Boot über den reißenden Fluss Rio Pantiacolla. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen von ihm.“ Er schaute Dr. Dark direkt an und gab ihm ein Foto von Etzel. „Ich möchte zwei Dinge von Ihnen und Ihrem Team. Zum einen: Finden Sie Theo. Zum anderen: Überprüfen Sie, ob es Paititi beziehungsweise El Dorado tatsächlich gibt. Trauen Sie sich das zu?“ Sehr zur Freude der Zwillinge schlug Dr. Dark ein: „Selbstverständlich übernehmen wir den Fall!“

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Info

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Inge Meyer-Dietrich, Anja Kiel Ein Stern f端r Finja ISBN 978-3-473-36922-5 Mit vierfarbigen Illustrationen von Nina Dulleck 144 Seiten Ab 8 Jahren 15,2 x 21,5 cm, Hardcover 3 12,99 (D) / 3 13,40 (A) / sFr. 22,90 Erscheint im September 2015 Bei Antolin gelistet


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Ein Stern f端r Finja

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Ein Stern für Finja > >

> Inhalt

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Humorvolle Familien-Chaos-Geschichte über Tiere, Geschwisterliebe und Freundschaft Starkes inhaltliches Motiv, das besonders junge Mädchen begeistert: Sterne, Sternbilder, Sternzeichen, Sternkunde, Sterngedichte Zum Selberlesen und Vorlesen

Als Finja mit ihren Eltern und Geschwistern in das alte Haus der verstorbenen Großtante zieht, ahnt sie noch nicht, was sie erwartet. Das „Sternenhaus“, wie Finja ihr neues Heim liebevoll nennt, ist nämlich ein riesiger Abenteuerspielplatz! Es gibt einen Märchengarten mit verzaubertem Seerosenteich, einen Speicher voller verschlossener Koffer und Schränkchen und eine geheimnisvolle Sternwarte auf dem Dachboden …

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Erstes Kapitel, in dem Finja und Jo etwas entdecken, was ihr Geheimnis bleiben soll

Finja zupft sich die Kopfhörer von den Ohren. Sie mustert die Wände. Sie sind mit Pferdepostern tapeziert, genau wie in ihrem alten Zimmer. „Aber es fühlt sich trotzdem noch nicht wie Zuhause an“, sagt sie leise zu ihrem Hamster Flumm. „Und Kristina fehlt mir am meisten.“ Flumm schläft. Finjas beste Freundin Kristina hat ihr den Hamster neulich mitgebracht. Als Trost-Geschenk. Denn seit dem Umzug liegen vierzig Kilometer zwischen den beiden Mädchen. Da können sie sich nicht mal eben mit dem Fahrrad besuchen wie früher. Finja seufzt. Dann fällt ihr Blick auf ein Foto von Nando. Auf dem ist sie früher geritten! Wunderschön sieht er aus mit seinem hellbraunen Fell

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und den dunklen Augen. Wenn sie nur wieder reiten könnte … Plötzlich hört Finja ein Rumpeln. Was war das? Finja springt von ihrem Bett. Sie schaut erschrocken zur Decke und lauscht. Erneut rumpelt es. Das Geräusch kommt vom Dachboden. Ganz klar! Finja spürt, dass sie vor Aufregung einen heißen Kopf bekommt. „Der Dachboden ist gefährlich“, hat Papa gesagt. „Die Dielenbretter sind total morsch.“ Und dann hat er mit seinem strengsten Papa-Blick hinzugefügt: „Dass ihr mir da ja nicht alleine hochsteigt!“ Aber irgendwer ist jetzt dort oben! Die Handwerker können es nicht sein. Die sind schon weg. Papa? Unmöglich! Papa muss bis abends in der Klinik arbeiten. Mama ist vorhin mit Paulchen in den Park gegangen. Und Jo hat gerade noch mit sich selbst im Garten Fußball gespielt.

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Finjas Herz wummert wild. Wer macht dann so einen Krach da oben? Ratten? Einbrecher? Vielleicht will jemand das Fernrohr aus Großtante Helenes Sternwarte klauen! Die Tür zu dem Raum mit der Kuppel ist zwar fest verschlossen, aber Diebe kennen tausend Tricks. Nein! Bloß keine Einbrecher!, denkt Finja. Sie ist doch allein im Haus! Hastig sieht sie sich in ihrem Zimmer um. Das dicke Tierlexikon auf ihrem Schreibtisch, das könnte sie dem Dieb mit Wucht an den Kopf schmeißen. Da hört Finja einen Schrei. Aber … ist das nicht … Jo? Hat der Einbrecher ihn auf den Dachboden verschleppt? Reiß dich zusammen!, sagt Finja zu sich selbst. Als Älteste muss sie schließlich auch die Mutigste sein, wenn ihre Eltern nicht zu Hause sind. Wieder hört sie jemanden rufen: „Hilfe! Finja, Hilfe!“ Das ist Jo, gar kein Zweifel! Na warte, du Einbrecher! Finja schnappt sich ihre

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schwere Taschenlampe. Die ist besser als das Tierlexikon. Damit kann man nicht nur jemanden bewusstlos schlagen. Sie macht auch helles Licht. Die Leiter an der Luke zum Dachboden ist nach unten geklappt. „Jo?“, ruft Finja zögernd. „Hier oben“, ruft Jo zurück. „Eingeklemmt!“ „Allein?“, will Finja wissen. „Was denn sonst?“, knurrt Jo. Finja atmet erleichtert auf. Sie klettert die Leiter zum Dachboden hoch. Späht in den düsteren Raum. Nur eine funzelige Glühbirne gibt etwas Licht. Wie gut, dass Finja ihre Taschenlampe mitgenommen hat! Vorsichtig setzt Finja einen Fuß vor den anderen. Bei jedem Schritt knarrt

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und ächzt der Bretterboden. Überall stehen Pappkartons, Kisten und Truhen herum. Dazwischen entdeckt Finja eine Standuhr mit verbogenen Zeigern. Und einen verstaubten Spiegel mit goldenem Rahmen, wie im Märchen. „Wow, was Großtante Helene alles aufgehoben hat!“ Finja streicht über eine winzige Kommode mit kleinen Schubladen. „Jetzt hilf mir doch endlich!“, jammert Jo. „Damit du mir wieder klebrige Kaugummis in meine Turnschuhe stopfen kannst, so wie gestern?“, fragt Finja. „Ich werde dich nicht mehr ärgern. Versprochen! Mindestens eine Woche lang.“ „Mindestens vier Wochen!“, verlangt Finja. „Drei?“, fragt Jo. „Vier! Sonst lasse ich dich hier klemmen!“, sagt Finja.

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„Okay“, murmelt Jo. Finja sieht, dass er mit einem Bein zwischen zwei hohen Kisten aus dunklem Holz feststeckt. „Ich wollte zu dem braunen Koffer da hinten klettern“, erklärt Jo. „Es könnten doch richtig coole alte Sachen drin sein. Aber ich bin abgerutscht.“ Finja versucht, die vordere Kiste wegzuschieben. „Verflixt, das geht nicht! Ich probier’s mal mit Ziehen.“ Doch das schwere Teil bewegt sich nicht vom Fleck. Und die hintere Kiste? Ein Glück, die gibt nach! Jo ist frei! Aber er kommt aus dem Gleichgewicht und plumpst auf den Boden. „Hast du dir wehgetan?“, fragt Finja. „Nur ein bisschen“, sagt Jo tapfer. Finja hilft ihrem Bruder hoch. Puh, ganz schön schwer! Dabei ist er erst sieben. „Danke!“ Jo zieht den Schuh aus und reibt sich den Fuß. „Wieso bist du überhaupt hier oben?“, fragt Finja. „Ich wollte mir Großtante Helenes Sternwarte angucken“, erklärt Jo. „Die Tür hab ich gefunden.“

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„Du weißt doch, dass sie abgeschlossen ist.“ „Ich dachte, Papa sagt das nur so. Damit wir uns nicht auf den Dachboden trauen.“ „Also, ein bisschen gefährlich ist es schon“, sagt Finja. „Hör dir bloß mal an, wie die alten Dielenbretter knarren.“ „Aber wir sind doch vorsichtig! Machen wir jetzt den Koffer auf?“, fragt Jo. Gemeinsam bahnen sich die Geschwister einen Weg zur hinteren Wand. Finja kommt ins Stolpern. Krach! Jo zeigt auf Finjas rechten Fuß und fängt an zu lachen. Der Fuß steckt in einem kleinen Vogelkäfig. Der ist aus Holz und Draht und auf einer Seite kaputt. Jo kriegt sich nicht mehr ein. „Hör auf!“, grummelt Finja. „Das ist nicht lustig.“ „Sieht aber lustig aus“, gluckst Jo. Finja zieht den Käfig vorsichtig von ihrem Schuh. „Armer kleiner Vogel!“, sagt Jo. Da kann Finja nicht mehr ernst bleiben und muss auch lachen.

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Info

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Emily Gale Klara Krawumm – Mein explosives Tagebuch ISBN 978-3-473-36921-8 Aus dem Englischen von Katrin Weingran Mit s/w-Illustrationen von JoÍlle Dreidemy 128 Seiten Ab 8 Jahren 14,3 x 21,5 cm, Hardcover 3 8,99 (D) / 3 9,30 (A) / sFr. 16,50 Erscheint im August 2015 Bei Antolin gelistet


Emily Gale

Klara Krawumm – Mein explosives Tagebuch

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Klara Krawumm – Mein explosives Tagebuch > > > Inhalt

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Comicroman mit leicht zu erfassender Textmenge, aufgelockert durch viele Illustrationen Originelle und starke Heldin Super witzig und extrem frech

Klara Krawumm kommt aus einer Erfinderfamilie und hat selbst große Ambitionen. Dumm nur, dass ihre Erfindungen meistens explodieren oder völlig nutzlos sind. Aber wie sagt ihr Vater immer: Vor jeder guten Erfindung kommen 99 nicht so gute. Klara ist bei Nummer 92, also ganz nah dran. Zum Geburtstag ihrer Mitschülerin Zoe gelingt ihr endlich der große Coup – glaubt Klara jedenfalls, bis sie feststellen muss, dass ihre neueste Idee wohl die schlechteste von allen war …

Kinderbuch


SAMSTAGABEND Mein Labor, 19 Uhr Liebes Tagebuch, wir sind für imĚe ins Labor verbannt worden. Du wirst verstehen, warum, wenn ich dir von meiner neusten Erfindung berichte.

Das bin ich, Klara

Das ist mein Hund, Einstein

Emily Gale Klara Krawumm – Mein explosives Tagebuch

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Grund war Erfindung 92: Die Super-Ausspionier-Halsbandkamera.

Erfindung 92 (pr채sentiert von Einstein)

e Fu n k

l n d!

N체tzlic

Ge ni a l!

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h!


Das hier ist mit ihr passiert.

K R A ! KRAWUMM U M M!

Keine Angst, Einstein hatte sie in dem Moment nicht um. Dad sagt immer, jeder guten Erfindung gehen neunundneunzig nicht so gute voraus. Das hier war Nummer 92. Ich bin soÉŠnah dran, liebes Tagebuch.

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Mit meiner Familie war nach der Explosion nicht gut Kirschen essen. Nicht schon wieder, Klara!

Alice, meine Stiefmutter (wie immer super-sauer)

Dad (sauer) Kr端mel, meine kleine Schwester (sauer, aber trotzdem niedlich)

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Einstein hat mir als Einziger verziehen. Er versteht mich, selbst wenn niemand sonst es tut. Das ist er.

Mein bester Freund

Er f i nd et es t oll zu tra g , se i n e n La b o rk e n . Ech t wa h r it tel .

Ich habe ihn Einstein genannt, nach dem richtigen Einstein, der Wissenschaftler war. Jetzt ist er tot. Nicht mein Hund, der Wissenschaftler!

Emily Gale Klara Krawumm – Mein explosives Tagebuch

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Wisst ihr, was am meisten wehgetan hat? Als Dad sagte:

Geh sofort in dein Klara!

Zx m ,

Er weiß genau, dass ich kein Zimmer habe. Ich habe ein L`b r. In einem Zimmer schläft man nur. Dazu komme ich vor lauter Erfinden gar nicht!

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Dad hat auch ein Labor. Es ist als Gartenschuppen getarnt.

ie n a ch ch u ppen n S n e in e e t te ile n . M a n soll ße re n b e u r u Ä m e in se

Dad ist ein voll ausgebildeter Erfinder, der nützliche Geräte für Spi Ġe herstellt, und ich bin seine Assistentin. Mir gefällt es, Assistenzerfinderin zu sein, aber irgendwann wäre ich auch gerne Spionin. Ich sehe nicht ein, warum je bĠdɊbĠdm s den ganzen Spaß mit Ěein Erfindungen haben sollte! Emily Gale Klara Krawumm – Mein explosives Tagebuch

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Wo wir gerade beim Thema Erfindungen sind: Warum ist die Sache mit der Super-AusspionierHalsbandkamera so schief gegangen? Wir hätten damit wu k bbr herausfinden können, wo Einstein unsere Sachen verbuddelt …

Das bin ich, wie ich die Super-AusspionierHalsbandkamera erfinde

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… zum Beispiel Alices Schuhe,

… Krümels Spielzeug B A

D

… und sogar Dads Werkzeug, das normalerweise in seinem Werkzeuggürtel steckt.

Emily Gale Klara Krawumm – Mein explosives Tagebuch

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Ich habe Alice gestern meine mega Erfindung gezeigt, bevor sie explodiert ist. Alice h채tte eigentlich megabeeindruckt sein m체ssen, aber sie hat die Kamera nicht mal angeschaut. Das war so was von 체berhaupt nicht mega von ihr.

Guck mal, die hab ich ganz allein gemacht!

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Blah, blah, Petunien, blah, blah, Gras.


Niemand interessiert sich für meine Erfindungen – vor allem Alice nicht. Sie interessiert sich nur für ihren Garten. Deswegen hat sie mir Erfindung 91 einfach weggenommen: Die Spionagerakete, die ich letzte Woche erfunden habe. Sie versteht mich und meine Erfindungen einfach nicht. Alice, Ober-Erfinderin langweiliger Rosensträucher

Erfindung 91 (nach der Bruchlandung)

Emily Gale Klara Krawumm – Mein explosives Tagebuch

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Petra Kasch Mia und das Wolkenschiff ISBN 978-3-473-36912-6 Mit s/w-Illustrationen von Carola Sieverding Ca. 256 Seiten Ab 8 Jahren 14,3 x 21,5 cm, Hardcover 3 12,99 (D) / 3 13,40 (A) / sFr. 22,90 Erscheint im Juli 2015 Bei Antolin gelistet


Petra Kasch

Mia und das Wolkenschiff

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Mia und das Wolkenschiff > > > Inhalt

Mut- und Freundschaftsgeschichte mit wunderschönem Küstensetting Ein Mädchen übernimmt das Ruder Liebevoll illustriert von Carola Sieverding

Ein Haus am Meer! Das neue Zuhause von Mia und ihren Eltern hat sogar einen eigenen Leuchtturm und eine Veranda direkt am Wasser. Eigentlich würde es Mia hier gut gefallen – wenn sie nur nicht so wasserscheu wäre. Ihre neuen Mitschüler sind nämlich richtige Wasserratten und zählen auf Mias Teilnahme am Schwimmwettbewerb. Doch dann taucht auf einmal ein alter Käpt’n auf. Und genau wie Mia hat er ein Geheimnis … Petra Kasch wurde 1964 in Königs Wusterhausen geboren und studierte Literatur- und Bibliothekswissenschaft. Sie schreibt Erzählungen und Drehbücher für Erwachsene und seit einigen Jahren auch Bücher für Kinder und Jugendliche. Sie geht gern ins Kino und verreist gern – am liebsten ans Meer. Carola Sieverding, geboren 1989, malt, seit sie einen Stift halten kann. Als Kind liebte sie vor allem Farben und Katzen. Ein Berufswunsch war schnell gefunden: Katzenzeichnerin! Seit ihrem Abschluss in Design mit Schwerpunkt „Illustration“ zeichnet Carola Sieverding zum Glück noch vieles anderes. Besonders gern auch die Küste und das Meer.

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Mia erwacht von einem seltsamen Geräusch. Neugierig schaut sie sich um. Sie liegt in einem fremden Zimmer, um sie herum ein Gebirge aus Umzugskisten. Da hat sie gestern Nacht doch tatsächlich die Ankunft in ihrem neuen Zuhause verschlafen! Aufgeregt kriecht sie aus dem Schlafsack und schaut aus einem der runden Bullaugenfenster. Keine zehn Meter vor ihr stürzt das Meer mit brodelnden Wellen ans Ufer. Und so weit Mia schauen kann, gibt es nichts als weißen Strand! Als sie nach unten blickt, bleibt ihr fast das Herz stehen. Das Haus scheint zu schweben! Sie kann den Boden gar nicht sehen. Hastig schlüpft sie in ihre Turnschuhe und rennt aus dem Zimmer. „Mama!“, ruft sie laut. Mia steht in einem langen Flur mit vielen Türen. Als sie die erstbeste aufreißt, sieht sie eine Reihe grüner Regenmäntel an einer Garderobe hängen, darunter stehen lauter Gummistiefel. Verwundert wirft sie die Tür wieder zu.

Petra Kasch Mia und das Wolkenschiff

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„Mama! Papa!“, ruft sie noch einmal. Aber niemand antwortet. Hinter der nächsten Tür entdeckt sie eine Kammer voll mit Büchern und Papierstapeln. Am Fenster steht ein alter Schreibtisch vollgekramt mit seltsamen Landkarten. Über dem Stuhl hängt eine grüne Strickjacke. Mia erstarrt. Die ausgefransten Jackenärmel beginnen auf einmal sich zu bewegen. Ganz langsam schwingen sie hin und her. Und da ist auch wieder das unheimliche Geräusch, das sie aus dem Schlaf gerissen hat. Es klingt wie ein fernes Stampfen, das aus dem Fußboden zu kommen scheint und alles vibrieren lässt. Mia hält sich am Türrahmen fest. Das ganze Haus wackelt! Plötzlich fällt etwas klackernd vom Schreibtisch. Es ist ein blaues Glasauge. Stück für Stück rollt es ihr entgegen. Schließlich bleibt es genau vor ihren Schuhen liegen und starrt sie stumm an. Blitzschnell dreht Mia sich um und rennt über den Flur davon. Atemlos landet sie in einer runden Diele. Von der niedrigen Holzdecke baumelt eine alte Glocke. Aufgeregt versucht sie, die schwere Eingangstür zu öffnen. Doch die bewegt sich kein Stück. Erst als sie sich mit aller Kraft an die verrostete Klinke hängt, gibt die Tür nach. Erleichtert schlüpft Mia ins Freie.

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Petra Kasch Mia und das Wolkenschiff

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Hastig steigt sie die Stufen einer wackeligen Holztreppe hinunter, die an den Strand führt. Auf einmal hört sie ein Schnappen. Die schwere Eichentür hinter ihr ist ins Schloss gefallen. Über der Tür steht ein Name: Ellis Island. Von außen hat Ellis Island aber keine Klinke. Was für ein seltsames Haus. Jetzt hat es sie auch noch ausgesperrt. Nach ein paar Metern am Strand versinkt Mia in kniehohem Dünengras. Ratlos betrachtet sie das Haus, das auf dicken Holzpfosten im Ufersand steht. Schön ist es nicht gerade, denkt sie und mustert die verwitterten Bretterwände. An einer Seite wächst sogar Moos. Und dann sieht sie ihn: Keine zehn Meter vom Haus entfernt steht ein Leuchtturm. Ein richtiger Leuchtturm mit rot-weißen Streifen! Was für ein Ort für eine Nichtschwimmerin. Weit und breit nichts als Strand und Meer. In der Ferne schimmern ein paar rote Dächer. Das muss Rabenhorst sein, wo Mia zur Schule gehen wird. Sie kehrt dem Dorf den Rücken zu und läuft ein Stück durch die Dünen. Plötzlich hört sie jemanden rufen. „Bist du neu hier?“

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Oben auf dem Deichweg steht ein blonder Junge mit einem grünen Damenfahrrad. Auf seinem Gepäckträger klemmt eine Schulmappe. Mia winkt ihm zu und nickt. „Dachte ich mir. Nur die Urlauber rennen durch die Dünen.“ Das ist ja eine nette Begrüßung. Verärgert stopft Mia ihre Hände in die Hosentaschen. Doch der Junge grinst sie an. Dabei leuchten in seinem Gesicht hundert Sommersprossen. „Ich renne, wo ich will“, sagt Mia.

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Da zeigt der Junge ins Hinterland, wo auf einer weiten Wiese ein einzelnes Schilfdachhaus steht. „Wenn du den Deich kaputt machst, gehen wir alle baden.“ Verlegen macht Mia ein paar Schritte aus der Düne heraus. Der Junge ist fast einen Kopf größer als sie. Grinsend steigt er wieder auf sein Rad. „Schönen Urlaub noch.“ Mia beißt sich auf die Unterlippe. „Ich bin keine Urlauberin. Ich wohne hier!“ „Wirklich?“ Er mustert sie neugierig. „Wo denn?“ Zögernd zeigt sie in die Richtung, aus der sie gekommen ist. „Auf Ellis Island? Das Geisterhaus wird doch bald abgerissen, sonst zieht es der nächste Sturm in die Ostsee. Dann kannst du bei den Flundern schlafen.“ Mia will nicht bei den Flundern schlafen. Aber Angst machen lässt sie sich auch nicht. „Und wer sagt das?“, fragt sie und stellt sich vor sein Rad. Der Junge zeigt auf die roten Dächer in der Ferne. „Alle.“ Mia hält das Haus auch nicht gerade für sturmtauglich. Vielleicht haben alle ja Recht. Aber jetzt ist Ellis Island ihr Zuhause und das beleidigt niemand. Und ihre Familie auch nicht.

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„Meine Mama baut Brücken“, sagt sie und kickt einen Stein gegen sein Vorderrad. „Deine Mama, soso.“ Der Junge grinst wieder. „Und mein Papa arbeitet im Krankenhaus. Er ist Arzt.“ „Ihr seid wohl eine ganz schlaue Familie.“ Mia schaut ihn unsicher an. Was ist denn auf einmal in sie gefahren? „Und du“, fragt er auf einmal, „kannst du auch was?“ Sie spürt, wie sie rot wird, und schaut aufs Meer. „Ich kann schwimmen“, schießt es plötzlich aus ihr heraus. „Ich war die Beste in meiner Klasse!“ Dann rennt sie mitten durch die Dünen davon.

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Info

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Jochen Till Einfach ungeheuerlich! Band 1: Rotzschleimtorte f端r alle! ISBN 978-3-473-36439-8 Mit vierfarbigen Illustrationen von Zapf Ca. 100 Seiten Ab 7 Jahren 15,2 x 21,5 cm, Hardcover 3 8,99 (D) / 3 9,30 (A) / sFr. 16,50 Erscheint im Juni 2015 Bei Antolin gelistet


Jochen Till

Einfach ungeheuerlich! Band 1: Rotzschleimtorte f端r alle!

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Einfach ungeheuerlich! – Band 1: Rotzschleimtorte für alle! > > Inhalt

Freddie und seine Ungeheuerfamilie werden die Menschenwelt gehörig aufmischen Ungeheuerlich leichter Lesespaß für Jungs

Freddie, jüngster Spross einer Ungeheuerfamilie, ist etwas aus der Art geschlagen. Er sieht nämlich fast aus wie ein ganz normaler Menschenjunge. Und nun soll er auch noch auf eine Menschenschule gehen! Bereits an seinem ersten Schultag kann er sich nur wundern: Alle Kinder verschmähen seinen Froschaugen-Kuchen. Dabei hat den seine Mutter gebacken! Stattdessen essen sie in der Pause Äpfel. Igitt! Äpfel! Die schmecken doch nach Obst! Ob Freddie hier einen Freund finden wird? Jochen Till wurde 1966 in der Menschenwelt geboren. Sein erster Kontakt zur Familie Ungeheuerlich fand im Juni 1988 statt, als er Papa Ungeheuerlich vor einem anbrausenden Bus rettete. Seitdem verbringt der Autor jeden Sonntag bei den Ungeheuerlichs, verputzt eine halbe Rotzschleimtorte und lässt sich dabei ungeheuerlich witzige Geschichten erzählen, die er jetzt aufgeschrieben hat. Zapf, angeblich 1980 in Berlin geboren (in Wirklichkeit schon 835 Jahre alt), durchstreifte schon als Kind gerne Flohmärkte, Ruinen und Abwasserkanäle. Schließlich zog er mit einem Zirkus durch die Welt. Dort versteckten sich auch Ungeheuer und brachten ihm bei, welche Buntstifte am besten schmecken, wie man den Mond fängt und womit man Bilder malt. Seit sechs Jahren ist er wieder zurück und ununterbrochen damit beschäftigt, das Erlebte in Bilder zu fassen.

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Das bin ich, Freddie Hallo! Ich bin Freddie. Ja, ich weiĂ&#x;: Ich sehe

komisch aus.

Ich bin aus der Art geschlagen. Das sagt mein Papa manchmal. Alle anderen in meiner Familie sehen normal aus.

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Meine Eltern, zum Beispiel. Oder mein Bruder Floyd. Oder meine Schwester Herbert. Selbst unsere Pudelkatze Pinkel. Sie alle sehen aus wie ganz normale Ungeheuer.

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Nur ich nicht. Ich sehe aus wie ein Mensch. Das ist ganz schรถn blรถd. Aber es hat auch Vorteile.

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Wir wohnen nämlich seit Kurzem in einer Menschenstadt. Wir mussten umziehen, weil unser altes Haus leider explodiert ist.

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Floyd hat Gummib채rchen gegessen. Ungeheuer vertragen keine Gummib채rchen. Davon m체ssen wir schrecklich viel pupsen. Im Schlaf. Aus der Nase. Hochexplosives Dynamitgas!

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Und morgens ist es dann passiert, als Herbert ihren Schweißbrenner angeschaltet hat. Damit glättet sie immer ihre Brauen, weil sich sonst ständig dicke darin verfangen.

Melonenkäfer

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Das kann Herbert gar nicht leiden. Obwohl Melonenkäfer sehr lecker sind, besonders die dicken. Die explodieren im Mund, wenn man draufbeiĂ&#x;t. So wie unser Haus.

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Deswegen wohnen wir jetzt bei den Menschen. Das dürfen die Menschen aber nicht wissen, sagt mein Papa. Menschen mögen nämlich keine

Ungeheuer.

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Wir machen ihnen Angst. Warum das so ist, weiß ich nicht. Vor Ungeheuern muss man eigentlich keine Angst haben. Außer vor Opa Oger vielleicht. Der ist nämlich taub und auf allen Augen blind. Und darum tritt er immer auf meine Spielsachen. Oder auf mich. Das macht mir Angst. Weil seine Füße so fürchterlich stinken.

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Aber sonst ist Opa Oger ganz lieb. Wie die meisten Vor uns muss man echt keine Angst haben. Noch nicht einmal nachts. Da schlafen wir nämlich tief und fest. Schlafen ist toll. Außer wenn man geweckt wird. So wie ich heute Morgen …

Ungeheuer.

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Ravensburger Bücher Verschwörung im Elite-Internat

Lauren Miller

Eden Academy Du kannst dich nicht verstecken

Rory kann ihr Glück kaum fassen: Sie hat eine Zusage von der berühmten Eden Academy! Doch schon ihre ersten Tage an dem Elite-Internat werden von merkwürdigen Zwischenfällen überschattet. Rory wird das Gefühl nicht los, dass sie jemand verfolgt. Und dann ist da noch der rätselhafte North, der ihr nicht aus dem Kopf geht und der eindeutig mehr weiß, als er zugeben will.

HC_14_023

ISBN 978-3-473-40120-8

www.ravensburger.de



ISBN: 978-3-473-40127-7 The School for Good and Evil

ISBN: 978-3-473-40130-7 Solange wir lügen

ISBN: 978-3-473-58481-9 Splitterlicht

ISBN: 978-3-473-40129-1 Wie ich in High Heels durch die Zeit stolperte

ISBN: 978-3-473-40126-0 Press Play

ISBN: 978-3-473-40125-3 Dove Arising – Im Herzen des Feindes

ISBN: 978-3-473-40131-4 Herz Slam

ISBN: 978-3-473-40128-4 Der Fluch von Cliffmoore

ISBN: 978-3-473-58480-2 Verliebt in Amsterdam

ISBN: 978-3-473-36915-7 Spirit Animals – Der Feind erwacht

ISBN: 978-3-473-36911 -9 Ein Hoch auf den Herbstwind

ISBN: 978-3-473-40508-4 Die unglaublichen Fälle des Dr. Dark

ISBN: 978-3-473-36922-5

ISBN: 978-3-473-36921-8 Klara Krawumm – Mein explosives Tagebuch

ISBN: 978-3-473-36912-6 Mia und das Wolkenschiff

ISBN: 978-3-473-36439-8 Einfach ungeheuerlich

Ein Stern für Finja

www.ravensburger.de ISBN: 978-3-473-95155-0

L E S E P R O B E N H ER BST 2015

LESEPROBEN HERBST 2015

R AV E N S B U R G E R B U C H V E R L A G

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