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Should I stay or should I go?

von Luisa Bider

Auswandern oder bleiben? Die Frage, die sich fast jeder zweite Schweizer einmal in seinem Leben stellt, hat unsere Autorin Luisa irgendwann mit «Auswandern» beantwortet. Sie erzählt, wie es ihr dabei ergangen ist.

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Vor nicht allzu langer Zeit, da wachte ich jeden Morgen auf und fragte mich, was zur Hölle ich tun sollte: In der Schweiz bleiben oder auswandern? Meinen 20-minütigen Arbeitsweg verbrachte ich geistesabwesend auf meinem Fahrrad damit, mir verschiedene Szenarien durchzuspielen, während ich den See, neben dem ich her fuhr, kaum wahrnahm.

Soll ich in der Schweiz bleiben? Oder nach London ziehen?

Während ich im Büro eine Nespresso-Kapsel in die Maschine stopfte und auf meinen Kaffee wartete, fragte ich mich, ob ich das denn alles aufgeben wollen würde? War doch alles ganz nett hier. Und wenn mir am Abend wiedermal der Kopf schwirrte vor lauter Denken, vor lauter Fragen, vor DER FRAGE, da machte ich Pro-Kontra-Listen.

Wenn ich so zurückblicke, merke ich, dass ich schon zu dem Zeitpunkt eigentlich gar nicht mehr so richtig da war. Aber wie entscheidet man sich denn? Ob man jetzt auswandern soll oder nicht? Irgendwann nutzen alle Pro-Kontra-Listen nichts mehr, und da muss man einfach mal machen.

Soll ich in der Schweiz bleiben? Oder nach London ziehen?

Einfach mal machen

Ich habe einfach mal gemacht – und was kann ich sagen: Es ist hart. Es ist scheisse. Du wirst deine Freunde und deine Familie vermissen, du wirst komplett auf dich allein gestellt sein, du wirst diese kleine Scheissstadt, die dir sonst immer zu eng und klein war, hoch in den Himmel loben während du dein neues Zuhause verfluchst – aber du wirst es auch lieben. Die Freiheit, dich komplett neu zu erfinden, das Wissen, das du über den neuen Ort aufsaugen kannst, all die fremden Menschen, die dir nicht mit Griesgram und Missmut begegnen, die Distanz, die Verwunderung, die Erweiterung und Bereicherung, die du seltsamerweise immer dann am stärksten spürst, wenn du wieder in deiner Heimat bist. Es fühlt sich ein bisschen an wie Fahrradfahren mit geschärften Sinnen: Du fährst durch eine komplett fremde Landschaft und nimmst alles sehr intensiv wahr. Die schönen Farben etwa, aber auch die grosse Angst vor der unbekannten Silhouette da vorne.

Die Schweizer, die Auswanderer

Jeder zehnte Schweizer lebte 2018 im Ausland – und fast jeder zweite träumt gelegentlich vom Auswandern. Dies hat eine Umfrage des Link-Instituts im Jahr 2002 ergeben. Viele dieser Menschen haben sich einst wie ich die Frage gestellt, ob sie es tun sollen oder nicht – für den Job, das Abenteuer, das Projekt, den Wunsch, etwas zu verändern, die Liebe. Für mich war es letzteres: Die Schweiz bot nicht gerade einfache Einwanderungsbedingungen für meinen Mann, und als mein Arbeitsvertrag auslief, sah ich keinen Grund mehr, es nicht zu tun: Als Schweizerin habe ich schliesslich das Privileg, in Europa leben und arbeiten zu dürfen, ohne ein Visum zu benötigen. Doch wie sieht es beim Rest der Schweizer aus? Die Expat-Plattform Internations hat letztes Jahr 18'000 Auswanderer aus 187 Ländern gefragt, warum sie der Heimat den Rücken gekehrt haben, darunter auch 173 Personen aus der Schweiz. Daraus hat Internations sieben Typen definiert:

Mein Fazit nach vier Monaten?

Das Gefühl, endlich eine Entscheidung getroffen zu haben, war ein Gefühl von purer Euphorie: Ich sah alles wieder klar, sah die grosse Entscheidung als Startpunkt von unglaublich vielen Chancen, und war stolz, mutig gewesen zu sein und den Schritt zu wagen. (Hätte ich ihn nicht gewagt, hätte ich doch sowieso jahrelang mit Was-wäre-wenn-Gedanken gelebt.) Die anfängliche Euphorie wurde aber relativ schnell wieder ersetzt durch die gleichen kleinen Alltagsprobleme und Zweifel, die ich bereits vorher hatte – und neue kamen dazu: Einerseits bringt die Entscheidung zum Auswandern eine Scheissmenge an administrativen Hürden mit sich (dazu gleich mehr), und andererseits ist eine riesige Umstellung nötig, um sich an die riesige Andersartigkeit einer neuen Stadt zu gewöhnen. Wo in Zürich 30 Minuten von A nach B als ewig lang wahrgenommen werden, rechnet man in London eigentlich mit immer mindestens einer Stunde. Für meinen Arbeitsweg habe ich ebenfalls, wenn der Verkehr gut läuft (und das tut er wirklich nicht oft), eine Stunde – und muss zweimal umsteigen. Und während ich in Zürich einen ziemlich guten Überblick darüber hatte, was es für Bars, Cafes, Läden und Kulturangebote gab, erschien mir das in London absolut unmöglich: Jedes noch so kleine Quartier bietet eine schier unendliche Auswahl an allem, was man nur brauchen könnte, und ich kann mir nicht vorstellen, mich jemals sattzusehen.

Es leben mehr Menschen in London als in der ganzen Schweiz

Erst bei dem Vergleich von Zürich und London in Zahlen merke ich, wie unrealistisch es ist, die beiden vergleichen zu wollen. Wenn immer mich jemand fragt, wie es mir seit dem Auswandern so ergeht, erzähle ich ihnen, wie ich wirklich auf die Welt gekommen bin wenn es darum geht, was es bedeutet, in einer Grossstadt zu leben, und dass Zürich keine Stadt mehr für mich ist. In Zürich leben 428’737 Personen, in London geschätzt 8.8 Millionen. Das sind 20-mal so viele – und fast 400’000 mehr als in der ganzen Schweiz. Auch die Fläche der beiden Städte zu vergleichen, hat mich umgehauen. Zürichs Fläche beträgt 87,88 km², die von London 1572 km²: London ist 17-mal so gross wie Zürich.

Die Fremde spiegelt sich aber nicht nur in der Grösse meines neuen Zuhauses wieder – sie macht sich auch in sprachlichen und kulturellen Hürden bemerkbar. In England gehört es zum Beispiel zum guten Humor, dass man sich ständig hochnimmt, ein wenig fertig macht. Dadurch sind alle sehr schlagfertig – ausser ich. Teilweise sitze ich schweigend in meinem Bürostuhl, weil ich entweder einem Witz nicht folgen konnte oder weil ich ihn einfach nicht lustig fand. Und das, obwohl ich wirklich überhaupt nicht schüchtern bin. Natürlich gibt es Menschen, die eher auf meiner Wellenlänge sind. Doch die muss man zuerst mal finden, eine Beziehung zu ihnen aufbauen – und das alles, während ich meine Freunde zuhause vermisse.

Es ist alles nicht immer ganz einfach – und eine Entscheidung, auszuwandern, sollte durchdacht sein. Denn irgendwann kriecht immer der Alltag in seiner ganzen Unglamourösität wieder herein, und der Alltag, der stinkt. Ich baue hier gerade mein Leben auf. Ich wache immer noch manchmal auf und habe keine Ahnung, was ich tue. Aber ich liebe mein Zuhause, meine Tomatenpflanze auf dem Balkon, und dass ich nicht mehr in einer Fernbeziehung lebe. Ich liebe die Parks, die Konzerte, die Vielfältigkeit, die täglichen Überraschungen, das günstige Essen, das Lächeln von Fremden. Und ich liebe, dass ich die Zügel zu dem allem ganz fest selber in der Hand halte. w

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