INTERVIEW DER WOCHE
DIE SÜDOSTSCHWEIZ | SAMSTAG, 11. OKTOBER 2014
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«Wir müssen sie nur noch anzapfen» Der Atomausstieg biete für Graubünden ein grosses Potenzial, ist Kaspar Schuler überzeugt. Vor allem in der Fotovoltaik verfüge der Kanton über die besten Voraussetzungen, sagt der neue Geschäftsleiter der Allianz Atomausstieg. Mit Kaspar Schuler sprach Gion-Mattias Durband Herr Schuler, vom Älpler, der gegen den Pumpspeicher-Stausee im Madris ankämpfte, zum Mitbegründer der Alpeninitiative und zuletzt Geschäftsleiter bei Greenpeace Schweiz sind Sie nun der neue Geschäftsleiter der Allianz Atomausstieg. Auf höchster Ebene gegen die Atomenergie antreten – der Bubentraum eines Umweltschützers, der in Erfüllung geht?
Kaspar Schuler: Nein, das ist definitiv kein Bubentraum. Der war es eher, Romancier zu werden. Der neue Job ist ein anspruchsvoller umweltpolitischer Auftrag: Die schweizerische AntiAtomszene besteht aus 38 Organisationen von kirchlichen Kreisen über Parteien und Umweltorganisationen bis hin zu lokalen Gruppierungen. Die Frage ist, ob man sich einig wird, wie man zum Ergebnis der Ende November anstehenden Parlamentsdebatte zur Energiestrategie 2050 steht. Und ob nötigenfalls die Ausstiegsinitiative der Grünen in eine Abstimmung geführt werden soll. Die Energiewende, das ist der spannendste politische Krimi.
«Das ist kein Bubentraum» Eines ihrer früheren Kinder, die Alpeninitiative, hat trotz Annahme heute einen schweren Stand. Wie steht es da beim Atomausstieg? Sind wir da auf gutem Weg?
Sind wir nicht. Der Bundesrat hat im Mai 2011 gesagt: Die Schweiz steigt aus, mit einer schrittweisen Ausserbetriebnahme der AKW, alle mit einer maximalen Laufzeit von 50 Jahren. Das hiesse: Das jüngste AKW Leibstadt würde Ende 2034 abgeschaltet. Danach sieht es aber nicht aus.
ist kein schrittweiser Ausstieg bis 2035! Zudem liess das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat Ensi am vergangenen Montag verlauten, die Sicherheitstechnik der jüngeren AKW liesse eine Betriebsdauer von über 60 Jahren zu. Die Axpo denkt gar an 80 Jahre, was beim AKW Leibstadt ein Betrieb bis 2064 wäre. Das ist kein Ausstieg! Frau Leuthard hintergeht faktisch so auch die stromwirtschaftlichen Interessen des Landes. Denn sowohl die Politik wie auch die Energieunternehmen wissen somit nicht, welcher Schritt wann zu unternehmen ist. Sie bräuchten jedoch Planungs- und Investitionssicherheit. Solange aber niemand weiss, ob und wann die AKW tatsächlich abgeschaltet werden, scheuen alle neue Investitionen. Zudem entsteht ein sicherheitstechnisches Paradox.
«‘Laufen lassen, solange sicher’» Das müssen Sie erläutern.
Vor Fukushima galt die Logik: Wenn ein neues AKW erstellt wird, kommt dafür eines der älteren AKW vom Netz, die Sicherheit würde erhöht. Nun heisst es, dass keine neuen gebaut werden sollen – ohne dass die Abschaltung der bestehenden AKW terminiert wird. Stattdessen werden die Betriebszeiten laufend ausgedehnt. Die Bevölkerung muss im Stillen immer grössere Risiken tragen. Und Frau Leuthard kaschiert dies mit ihrem Bonmot «Laufen lassen, solange sicher», welches anstelle des ursprünglichen Ausstiegs getreten ist. Wenn Sie aussteigen wollen, müs-
sen Sie einen verbindlichen Fahrplan aufstellen. Wenn das Ensi die AKW als sicher erachtet, wieso nicht die bestehenden AKW noch ein paar Jahre weiterlaufen lassen und so einen Teil der Abbaukosten reinholen?
Es gibt in einem AKW sicherheitsrelevante Bestandteile, die nicht erneuert werden können, ohne das gesamte AKW neu zu errichten. Und diese Teile sind das Problem, sagt auch das Ensi.Alle Schweizer AKW wurden für eine Laufzeit von 30 bis 40 Jahren konzipiert. Dabei wurde eine Sicherheitsmarge einkalkuliert, die aber nicht für diese Betriebsverlängerungen gedacht war. Wir zehren heute von diesem Puffer, den Ingenieure der Sechzigerjahre eingerechnet haben. Das ist ein Sicherheitspoker, den man nicht kleinreden darf. Wenn das Ensi diese Risiken kennt, wieso greift es bei den Betreibern nicht durch?
Ein Beispiel: Das Ensi hat für das AKW Mühleberg bereits vor mehreren Jahren die Erstellung einer zweiten Kühlwasserleitung verlangt. Die Frist wurde erst auf Ende 2015 hin verlängert, dann bis 2017. Letzten Herbst verkündete die Betreiberin BKW, Mühleberg bereits 2019 abzustellen statt wie vorgesehen 2026 – und deswegen würde auch die zweite Leitung nicht erstellt. Nun würde man erwarten, dass das Ensi sagt: «Stopp. Gnueg Heu dune! Das AKW wird jetzt abgeschaltet und erst wieder hochgefahren, wenn diese Leitung steht.» Stattdessen gibt es seither neue Verhandlungen mit der BKW.
«Das ist ein Sicherheitspoker» Woran liegt das?
Es gibt zwei Gründe. Einerseits geht es um unscharfe Bestimmungen im Kernenergiegesetz und den Verordnungen. Dort heisst es etwa, das Ensi könne sicherheitstechnische Veränderungen verlangen «soweit angemessen». In solchen Formulierungen liegt die Krux. Denn «angemessen» heisst nicht nur sicherheitstechnisch, sondern auch betriebswirtschaftlich. Das
zwingt das Ensi dazu, mit den Betreibern zu verhandeln. Es fehlt ihm am direktiven Durchgriffsrecht. Der zweite Grund: Das Ensi ist kulturell zu nahe bei den Betreibern: Es hinterfragt die Betreiber zu wenig und geht zu stark auf diese ein. Und das wurde von verschiedenen Gerichtsurteilen bestätigt. Wenn das Ensi konsequent durchgreifen würde, hätte Frau Leuthard regelmässig Besuch von reklamierenden AKW-Betreibern. Aber das geschieht nicht. Die Kompromisse werden bereits zwischen Ensi und den Betreibern ausgehandelt.
«Man will die Quittung nicht sehen» Hinter den AKW-Betreibern stehen auch die Kantone, in deren Hand die AKW-Betreiber zum Teil sind. Spielt das beim harzigen Atomausstieg mit?
Ja. In der Marktwirtschaft besteht die Möglichkeit des Konkurses. In diesem Fall aber stellt sich auch die Frage, wie sich dieser Konkurs auf die Volkswirtschaft, sprich das Aktienkapital der Kantone auswirken würde. Hier wird der Fehlschluss gezogen, dass das einfach nicht passieren dürfe, also «Laufen lassen, solange sicher». Die Stilllegungs- und Entsorgungskosten für AKW sind extrem hoch, und die dafür nötigen Rückstellungen wurden nicht vorgenommen. Die schmerzhafte Einsicht und der ebenso schmerzhafte Entscheid, wann abgestellt werden soll, wird deswegen hinausgeschoben, weil man die Quittung nicht sehen will. Aber die erhalten wir sowieso. Wenn etwa die Axpo die Stilllegung und Entsorgung nicht stemmen kann, kommen die neun Ostschweizer Kantone zum Handkuss, welche hinter der Axpo stehen. Und dann steigt entweder der Strompreis oder der Steuersatz. Die Angst, die Energiewende voranzutreiben, hat aber auch einen anderen Grund: Je mehr Leute mit Solarenergie selber zu Stromerzeugern werden, desto schwieriger wird es, den Strompreis zu heben. Je dezentraler unsere Stromproduktion wird, desto weniger Macht haben die Konzerne – und somit auch die Kantone – gegenüber dem Kunden. Deswegen geht es mit der Förderung der neuen erneuerbaren Energien nicht vorwärts.
Was heisst das?
Dieses Versprechen ist im Sinne eines Gesetzes nicht mehr gegeben. Die zuständige Bundesrätin Doris Leuthard redet tunlichst nur noch von der Energiewende und nicht mehr vom Atomausstieg. Denn sie weiss: Im vorliegenden Vorschlag der Energiekommission des Nationalrats Urek steht nichts mehr von einem Ausstieg per 2035. Er besagt lediglich, dass für AKW alle zehn Jahre ein neues Langzeitbetriebskonzept vorzulegen ist. Das
Bild Marco Hartmann
Wie stehen Sie zur Energiestrategie 2050 des Bundes?
Sie ist weder Fisch noch Vogel. Sie will die erneuerbaren Energien stärker fördern, ohne den Umbau der Stromwirtschaft
wirklich an die Hand zu nehmen, sprich: ohne verbindlich terminierte Ausserbetriebnahme der AKW. Den Betreibern gegenüber signalisiert man «Nur keine Hast!», während der Bevölkerung gesagt wird: «Macht vorwärts mit den Solaranlagen!» Man versucht, beide Seiten halbwegs zufriedenzustellen. Die Energiestrategie «Energy (R)evolution» von Greenpeace setzt grosses Gewicht auf die Fotovoltaik.
Die Fotovoltaik ist vielversprechend, weil die Schweiz gut besonnt ist und vor allem in den Berggebieten viele Gebiete über der winterlichen Nebeldecke liegen. Zudem haben wir eine dichte Besiedlung, welche Millionen Dachflächen zur Verfügung stellt. Hier muss angesetzt werden, wenn das Landschaftsbild geschont werden soll. Bei der Schliessung der Energielücke nach dem Ausstieg könnte auch Graubünden eine wichtige Rolle spielen.
Graubünden ist mit der wichtigsten und umweltverträglichsten Energieform grosszügig ausgestattet: der Sonne. Wir müssen sie nur noch anzapfen. Das Engadin hat Sonneneinstrahlungsraten wie Südspanien. So könnten in ganz Graubünden Solaranlagen auf Lawinenverbauungen angebracht werden, wie dies in St.Antönien geplant ist. Und es würde wohl auch keine Landschaftsschützer stören. Und hier bin ich mit der Bündner Regierung noch nicht zufrieden. Wieso?
2012 verfasste sie einen stromwirtschaftlichen Bericht. Sie wusste weder, welches Solarenergie-Potenzial besteht, noch wie viel Solarenergie bereits produziert wird. Man ist unglaublich Wasserkraft-orientiert. Bitter ist auch, dass sich der gleiche Kanton, der sich immer wegen zu tiefer Wasserzinsen beklagte, nicht bereit ist, die Goldgrube der Solarenergie selber auszuheben. Aber auch hier ist es das bekannte Problem: Der Bündner Hausbesitzer würde plötzlich zum Stromlieferanten und die Marktmacht etwa der Repower geschwächt – und hinter Repower steht wiederum als Mehrheitsaktionär der Kanton. Die Schlange beisst sich da wieder in den Schwanz. Zurück zum Älpler Schuler. Böse gefragt: Stehen Sie ihm vielleicht bald selber gegenüber, wenn es etwa um ein neues Windrad geht?
Meine Position hat sich geändert, das ist mir bewusst. Wenn Graubünden die Energiewende etwa mit neuen Grosskraftwerken oder Pumpspeicherseen bewerkstelligen wollte, könnte das sein. Wenn der Kanton aber vernünftig vorgeht und etwa bei der Wasserkraft sich auf die Sanierung und Erweiterung bestehender Anlagen konzentriert und dies noch mit Wind- und Sonnenenergie kombiniert, dann kann Kaspar Schuler auch seinem alten Hirtendasein gefasst ins Auge schauen.
Kaspar Schuler … … ist seit Anfang dieses Monats der neue Geschäftsleiter der Allianz Atomausstieg. Seine Karriere als Umweltaktivist startete der ausgebildete Kaufmann und Journalist in Graubünden, wo er als Älpler gegen den Pumpspeicher-Stausee im Madris ankämpfte. Der in Zürich aufgewachsene Schuler war auch Mitbegründer der Alpeninitiative, Chef der Vereinigung Bündner Umweltorganisationen und Vizepräsident des WWF Schweiz. Zuletzt arbeitete der heute 56-Jährige für 13 Jahre bei Greenpeace Schweiz, davon acht Jahre als Geschäftsführer. Kaspar Schuler ist verheiratet und Vater zweier Kinder und lebt seit 2004 mit seiner Familie in Malans. (gmd)