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Nicht aus der Luft gegriffen
from Kinderkram 212
by Rönne Verlag
„Diesmal wirst du sie wohl nicht auffangen können, falls es drauf ankommt“, denke ich und blicke in den Himmel. Irgendwo da oben hat sich meine große Tochter gerade aus einem Flugzeug geworfen und stürzt gen Erde. In zwei Tagen wird sie 14 Jahre alt und hat sich genau das zum Geburtstag gewünscht. Als sie so alt war wie ihre kleine Schwester jetzt ist, ist sie mit einer Freundin in den kitaeigenen Apfelbaum geklettert und hat dabei neben statt an den Ast gegriffen. Zufällig war aber gerade Abholzeit und die sechs Schritte von der Eingangstür bis zum Baum hab ich damals gerade noch rechtzeitig geschafft. Heute wird das wie gesagt nichts. Der Ire im Flughörnchenanzug, vor dessen Bauch sie geschnallt wurde, wirkte zwar sehr entspannt und zuversichtlich, aber manchmal frage ich mich schon, warum meine Kinder sich ausgerechnet die Hobbys gewählt haben, die sie ausüben. Mein Zwölfjähriger zieht zum Beispiel auf der immerwährenden Suche nach krasseren Abhängen für seine Fahrradstunts durch die Gegend. Oder er erklettert und überwindet beim Parkour in affenartiger Geschwindigkeit irgendwelche urbanen Strukturen. Gelegentlich fängt er sich dabei mit dem Jochbein auf und sieht zwei Wochen wie ein Dämon aus einer Fantasyromanverfilmung aus. Oder er sagt nachmittags Sachen wie: „Der und der Freund kann heute nicht – Trümmerbruch im linken Arm.“ Alles sehr beruhigend. Wobei – wenn ich ehrlich bin, frage ich mich eigentlich nicht, woher sie das haben. Dass sie mit einem Gleitschirm von einem Berg in Österreich geflogen sind, war die Idee ihrer Mutter, die das auch schon immer mal machen wollte. Die ganze Familie ist voller Bergsteiger und Kletterinnen. Und eine der letzten infantilen Freuden ihres alternden Vaters ist es, auf einem Tretroller für Erwachsene mit etwa 45 km/h einen Berg hinunter zu kacheln. In diesem Zusammenhang erklären sich auch meine Knieschmerzen, die ich habe, während ich darauf warte, dass meine Tochter unbeschadet am Fallschirm zu Boden schwebt. Ich bin tags zuvor mit meinem Sohn auf den Laufrädern seiner jüngeren Geschwister 1000 Höhenmeter ins Tal gerast. Die Handbremsen haben sich schon nach den ersten zwei Kurven verabschiedet und was man nicht im Kopf hat, sollte man bekanntermaßen in den Beinen haben. Meine Kinder sind also ziemlich aktiv. Neben diesen eher ausgefallenen Hobbys machen sie auch normalere Sachen. Sie lernen Gitarre und malen. Sie gehen zum Vereinssport oder zu den Pfadfindern. Sie sehen sich stundenlang den neuesten Unfug von irgendwelchen für sie und mich völlig uninteressanten Leuten auf YouTube an oder gehen shoppen. Aber sie kochen und renovieren eben auch gerne. Dinge also, die man jetzt nicht unbedingt mit den Interessen von Kindern in Verbindung bringen würde. All das und noch mehr macht sie aus. Manches davon ist gefährlich, manches davon kostspielig und manches davon einigermaßen befremdlich. Aber nichts davon ist überflüssig. Sicher, Eltern sollten nicht jeden Unfug mitmachen. Die doch sehr naiven Reisefantasien meiner Kinder kann und will ich nicht finanzieren. Es ist nicht meine Aufgabe, ihnen alles zu erlauben und alles zu bezahlen. Genauso wenig wie es ihre Aufgabe ist, sich klarzumachen, wie teuer und anstrengend Interkontinentalreisen mit einem Vier- und einer Dreijährigen sind. Aber wenn ich die Wahl habe, ihnen irgendwelche Sachen zu kaufen oder in Erfahrungen für sie zu investieren, dann entscheide ich mich meistens für letzteres. Kindheit hat heute in einem viel zu kleinen Rahmen stattzufinden, in dem viel zu viele Dinge verplant und mit Zielsetzungen versehen werden. Deshalb sollten wir aktiv dagegen halten, anstatt immer nur zu thematisieren, was Kinder alles tun müssen, um später im Erwachsenenleben bestehen zu können. Damit Kindheit nicht immer nur auf später wartet, sondern jetzt, genau jetzt großartig ist. So wie das breite Grinsen meiner Tochter nach der Landung.
Nils Pickert ist vierfacher Vater, Journalist und Feminist. Jeden Monat lässt er uns an seiner Gedankenwelt teilhaben.