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--- LESEPROBE ---
Auf der Jagd nach den R채ubern vom Balchaschsee Eine Forschungsexpedition nach Almaty und Balqasch in Kasachstan
Elsbeth Wasser
"„Auf der Jagd“ ist bei allem wissenschaftlichen Hintergrund ein sehr persönlicher und lesernaher Reisebericht, der die Erfahrungen im Kontakt mit einer fremden Kultur sympathisch und amüsant schildert." Roland S., Probeleser "Ich fand die Lektüre höchst interessant und vergnüglich, obwohl ich von erdölzersetzenden Bakterien nicht die geringste Ahnung habe. Insbesondere die Ausflüge in die kulturellen Hintergründe des kasachischen Alltags empfinde ich als große Bereicherung für das Buch." Cordula W. auf Facebook "Elsbeth Wassers Buch erzählt ihre Erlebnisse in Almaty so humorvoll und informativ - falls ich mal nach Kasachstan komme, nehme ich es als Reiseführer mit!" Renate D. per Email
Über das Buch Eine junge Doktorandin ohne Russischkenntnisse begibt sich zusammen mit einer Kollegin auf eine Forschungsexpedition in den Südosten Kasachstans nach Almaty. Auf der Jagd nach bakterienzersetzenden Mikroorganismen machen sie sich von dort aus mit dem Taxi auf die abenteuerliche Reise zum brackwasserhaltigen Balchaschsee. Sie knüpfen Kontakte zu kasachischen Wissenschaftlern und lernen das facettenreiche Kasachstan kennen. Sie erkunden die kasachische Metropole Almaty, wandern im verschneiten Tian Shan-Gebirge und steigen hinab in die Schlucht des Scharyn-Nationalparks. Hilfsbereite Menschen und Mut zur Improvisation verhelfen ihnen bei ihrem waghalsigen Vorhaben zum Gelingen der Probenentnahme aus dem brackwasserhaltigen Balchaschsee. Über die Autorin Bakterien faszinieren Elsbeth Wasser seit ihrem Studium. Für fast jede noch so lebensbedrohliche Situation haben sie die passende Strategie entwickelt. Und wenn die Bedingungen gut sind, können sie schier Unglaubliches leisten. Elsbeth Wasser wurde 1985 in Eisenach geboren und wuchs im Brandenburgischen Kyritz auf. Sie ist studierte DiplomBiologin und promoviert derzeit zum Thema „Charakterisierung bakteriolytischer Prokaryoten aus dem Brackwasser“.
Roman Verlag 207 Taaffe Place, Office 3A Brooklyn, New York – NY 11205, USA http://www.romanverlag.com © 2013 All rights reserved. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfältigung des Werkes, oder Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
DIE JAGD IST ERÖFFNET 24. September Sehr geehrte Frau Wasser, vielen Dank für die Hintergrundinformationen zu Ihrem Forschungsvorhaben. Die geplante Expedition können wir gerne mit Mitteln aus dem Projekt Biodiversity Research In Central Asia unterstützen […]. Das Vorhaben lässt sich gut mit der Idee eines Partnerschaftsaufbaus verbinden. Haben sie bereits Kontakt zu Wissenschaftlern an der Universität in Almaty aufgebaut? Am einfachsten wäre es, wenn Sie die Reise selbst organisieren. Die Kollegen vor Ort sind nach unserer bisherigen Erfahrung recht kooperationsbereit. Finanzielle Mittel würden für den Flug und in geringem Maße für Aufenthaltskosten zur Verfügung stehen. Die notwendige Logistik vor Ort müssen Sie aber selbst organisieren oder dort entsprechende Hilfe finden. Sprechen Sie ein wenig Russisch? […] Mit freundlichen Grüßen, Henriette Fehrling (Projektleitung BRICA) Ungläubig lese ich die Email ein weiteres Mal vom Laptop-Display ab, drücke mich dann unwillkürlich vom Schreibtisch weg und rolle mit dem Bürostuhl in die Mitte des Labors. Meine Freude über diese überraschende Nachricht treibt meinen Puls ganz plötzlich in die Höhe und ich stehe auf, will mich bewegen. Wegen der weichen Knie setze ich mich lieber wieder auf meinen Stuhl und lasse die neuen Gedanken langsam sacken. Ich werde also nach Kasachstan
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reisen. In wenigen Wochen. Allein. Russischkenntnisse habe ich keine und die Wissenschaftler an der Al-Farabi Universität in Almaty bis jetzt noch nicht kontaktiert. Eine Menge Vorbereitungen sind zu treffen. Bewusst war mir der Planungsaufwand für so eine Expedition natürlich bevor ich die Bewerbung für die Finanzierung meines Vorhabens abgeschickt habe. Aber mit einer Bewilligung habe ich, ehrlich gesagt, kaum gerechnet. Für meine Doktorarbeit im Fachgebiet Bakterienphysiologie befasse ich mich mit Prokaryoten (also Bakterien), die in der Lage sind, andere Bakterien zu zersetzen. Bakterien mit dieser Fähigkeit sind „bakteriolytisch“ und manche unter ihnen leben räuberisch, indem sie Beutebakterien gezielt abtöten und anschließend auflösen, um sie als Nährstoffquellen zu nutzen. Bei der räuberischen Ernährungsform unter Bakterien spricht man auch von „Bakterivorie“. Die Stoffe und Enzyme, die die Bakteriolyse von toten oder lebenden Bakterienzellen bewirken, können für die Biotechnologie nützlich sein, weil man sie zur Zurückdrängung unerwünschter Mikroorganismen verwenden kann. Die Bakterien, die diese nützlichen Wirksubstanzen produzieren, isoliere ich für meine Arbeit aus dem Brackwasser der Ostsee und bekomme auf diese Weise gleich einen groben Überblick über die Verbreitung bakteriolytischer Bakterien in diesem Habitat. Da die Ostsee als Quelle zellzersetzender Bakterienarten aus Brackwasser gut innerhalb eines Tages erreichbar ist, habe ich über eine wissenschaftliche Auslandsexpedition im Rahmen meiner Dissertation nie nachgedacht. Letzte Woche habe ich dann eine Email von der Biologie-Fachschaft erhalten, in der auf die mögliche Förderung von Expeditionen zur Erforschung der Biodiversität, also der Vielfalt des Lebens, in Zentralasien aufmerksam gemacht wurde. Noch bis Jahresende sei die Finanzierung einer Zentralasienexpedition möglich. Ich habe das Schreiben überflogen und ein wenig wehmütig archiviert, denn für mich bestand kein Anlass zur
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Bewerbung. Kurze Zeit später entschieden mein Doktorvater und ich während einer Besprechung, erneut eine Isolation von bakteriolytischen und räuberischen Bakterien aus dem Brackwasser vorzunehmen. Da wir in der Ostsee mit unseren Methoden allerdings zumeist bekannte Vertreter, vor allem der Gattungen Bacillus und Pseudomonas vorgefunden hatten, würde eine Vergleichsprobe von einem brackwasserhaltigen Standort fernab der Ostsee die Arbeit vielleicht um einige unbekannte Bakterienarten bereichern und gleichzeitig einen Vergleich der Häufigkeit und Biodiversität von bakteriolytischen Mikroorganismen an den verschiedenen Standorten ermöglichen. Meine wissenschaftliche Arbeit ist jedoch nicht in ein entsprechendes Forschungsprojekt eingebettet, sondern wird durch ein Stipendium finanziert, das mir lediglich den Lebensunterhalt ermöglicht. Die Kosten für eine Forschungsexpedition können nicht abgedeckt werden. Es sei denn … Gibt es in Zentralasien nicht auch Seen mit einem gewissen Salzgehalt? Bei einem Salzgehalt zwischen 0,1 und einem Prozent spricht man von Brackwasser. Zu Hause stelle ich eine kleine Recherche an und werde bald fündig – ein salzhaltiger See, der Balchaschsee im Südosten Kasachstans, gar nicht so weit entfernt von der Universitätsstadt Almaty. Der über sechshundert Kilometer lang gezogene See ist mittig durch eine Einengung zweigeteilt, stark salzhaltig im Osten und nur leicht salzhaltig im Westen, wo er durch Zuflüsse mit Süßwasser gespeist wird. Im Bereich der Einengung, der 4,5 Kilometer breiten Uzun-Aral-Straße, ist das Seewasser brackig. Dieser Standort wäre ideal für Probenahmen. Hier in Zentralasien ist das Klima extrem kontinental, weshalb das Brackwasser im Balchaschsee eine an Extrembedingungen angepasste Bandbreite bakteriolytischer Prokaryoten enthalten sollte, die sich von unseren bisherigen Isolaten stark unterscheiden könnte. Ein Vergleich der Vielfalt solcher Bakterien mit dem uns bekannten Artspektrum in der Ostsee wäre sehr
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interessant und würde möglicherweise Rückschlüsse auf den Zustand der verschiedenen Ökosysteme erlauben. Da alles so schön zusammenpasst, entwerfe ich kurzerhand ein Motivationsschreiben für eine Forschungsexpedition nach Kasachstan zur Isolation von Bakterien aus dem Balchaschsee mit dem Primärziel, einen Überblick über die biologische Vielfalt zellzersetzender und räuberischer Bakterien zu gewinnen. Mein Wissen über dieses Land ist allerdings zum Zeitpunkt meiner Bewerbung eng begrenzt. Der Film „Borat“ fällt mir ein, in dem das heutige Kasachstan nicht gut wegkommt. Ein rückständiger ehemaliger Sowjet-Staat - die Einwohner sind stets bewaffnet, kriminell und intolerant gegenüber Minderheiten, außerdem skrupellos frauenfeindlich. Die Landschaft besteht nur aus Steppe. Infrastruktur wäre dort überflüssig, weil ohnehin alle Gefährte von Pferden gezogen werden. Eine Blödel-Satire auf den sprichwörtlichen Arsch der Welt. Nachdem ich nun die Bewilligung für meine Kasachstanexpedition erhalten habe, möchte ich erfahren, ob ich das Waffenarsenal und den künstlichen Schnauzbart daheim lassen kann. Ich trage also einige Eckdaten über Kasachstan zusammen und erfahre sehr viel Neues. Kasachstan ist riesig - das größte Binnenland der Erde und weltweit das neuntgrößte Land. Mit etwa sechszehn Millionen Einwohnern ist die Bevölkerungsdichte fast vierzigmal geringer als in Deutschland. Im Norden grenzt Kasachstan an Russland. Östlich, nicht weit von meinem Zielort Almaty entfernt, liegt China, südlich Kirgisien, Usbekistan und Turkmenistan. Steppe ist die häufigste Landschaftsform, aber die Gegend um Almaty besteht bei Weitem nicht nur aus trockenem Ödland. Almaty, die ehemalige Hauptstadt Kasachstans, liegt zu Füßen des Tian Shan-Gebirges mit seinen bis zu siebentausend Meter hohen Berggipfeln. Wie nach der Wende die deutsche Hauptstadt von Bonn nach Berlin wechselte, wurde Astana 1997 zur neuen Hauptstadt.
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Die futuristische Metropole verkörpert den Reichtum, den das Land insbesondere durch Ölvorkommen erlangt hat. Nur noch gut ein Monat bleibt für die Vorbereitung der Expedition. Während meiner Arbeit im Labor lerne ich mit Hilfe eines Audio-Podcasts ein wenig Russisch. Die Kontaktaufnahme mit der Arbeitsgruppe für Angewandte Mikrobiologie an der AlFarabi Universität gestaltet sich schwierig, da zunächst nur auf Faxsendungen reagiert wird. Ich sei herzlich willkommen und die Expedition zum Balchaschsee soll vor Ort gemeinsam organisiert werden. Aber an konkrete Pläne ist nicht zu denken und den meisten meiner organisatorischen Anliegen wird ausgewichen. Ich suche das Gespräch mit kasachstanerfahrenen Forschern. Von verschiedenen Seiten bestätigt man mir, dass bei einer Expedition nach Zentralasien in der Regel viele Planungsschritte flexibel an die Vorortbedingungen angepasst werden müssten. Da die meisten Kasachen kein Englisch sprechen, sollte die Fahrt von Almaty nach Balqasch in Begleitung eines Dolmetschers unternommen werden, am besten eines Studenten mit Eigeninteresse an der Expedition. Über die entsprechenden Kontakte an der Uni sei es zudem eventuell möglich, in Almaty eine kleine Wohnung für die Dauer meines Aufenthaltes zu mieten. Parallel zu der Arbeit für meine Promotion fällt mir der Organisationsaufwand zunehmend zur Last und meine Motivation für das vage Unternehmen schwindet mit der aufkeimenden Sorge um meine persönliche Sicherheit. Meine europäische Herkunft sieht man mir deutlich an und im Internet bin ich auf Gruselgeschichten gestoßen, in denen Touristen in Almaty Opfer von gewalttätigen Raubüberfällen wurden. Geschichten aus der Großstadt eben. Ich zaudere und spiele mit dem Gedanken, die ganze Unternehmung abzublasen. Planungsaufwand, Reisestress, zusätzliche Vergleichsuntersuchungen würden damit von jetzt auf gleich verfliegen und ich könnte mich wieder uneingeschränkt auf meine Laborarbeit konzentrieren.
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Was würde mir auch entgehen? Die ebenmäßige Weite des kasachischen Steppenhorizonts? Die unberührte Schönheit der schneebedeckten Tian Shan–Gipfel ... Die Bekanntschaft mit den Menschen an der Al-Farabi Universität in Almaty oder das Erleben ihrer Forschung. Bald steht für mich allen Bedenken und Planungshürden zum Trotz endgültig fest: Diese Expedition ist eine großartige Chance und ich möchte sie wahrnehmen. Ich werde mich auf mein Gespür verlassen und im Zweifelsfall für meinen gesamten Forschungsaufenthalt auf dem sicheren Campus Unterschlupf suchen. Am Tag, an dem ich mich zu der Entscheidung durchgerungen habe, kurz bevor ich Flug und Hotel buchen möchte, mache ich meiner wachsenden Aufregung in einem Gespräch mit einer befreundeten Kollegin Luft. Katrin arbeitet ebenfalls als Doktorandin am Institut, allerdings in der Forschungsgruppe Biotechnologie. Sie ermutigt mich in meiner Entscheidung, ja, beneidet mich sogar ein bisschen, wie sie offen gesteht. „Warum kommst du dann nicht mit?“ frage ich halb im Scherz. Katrin überlegt. Aber sie überlegt nicht sehr lange. Zu meiner Überraschung greift sie umgehend zum Telefonhörer und erkundigt sich beim geldgebenden Projektmanagement nach der Möglichkeit einer Teilnahme an meiner Expedition. Nach erstaunlich wenigen formalen Querelen bekommt Katrin tatsächlich grünes Licht. Wir können zu zweit nach Kasachstan reisen. Unsere Freude und meine Erleichterung darüber geben der weiteren Organisation wieder Aufwind.
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РАБОТАТЬ, РАБОТАТЬ, РАБОТАТЬ 06. November Heute Nachmittag treten wir unsere Expeditionsreise nach Kasachstan an. Doch bevor es soweit sein wird, fahre ich ein letztes Mal ins Labor. Ausnahmsweise mit dem Auto, weil ich einen Kuchen für die Mittagspause dabei habe und auf der Rückfahrt die Materialien für die geplante Isolation der bakteriolytischen Bakterien mitnehmen möchte. Versehentlich hatte ich keinen Wecker gestellt und daher um eine halbe Stunde verschlafen. Bei meiner verspäteten Ankunft am Institut stehe ich zum ersten Mal ohne Schlüssel davor und bin gezwungen, umzukehren, um ihn zu holen. Diesen chaotischen Start will ich mal der Aufregung zuschreiben, die sich in den letzten Tagen vor der Abreise angestaut hat. Schließlich war ich noch nie in Kasachstan, noch nie so weit weg und schon gar nicht mit dem Vorhaben, im Ausland mikrobiologisch zu arbeiten. Die letzten drei Nächte bin ich ganz entgegen meiner Art spät eingeschlafen, habe mich im Bett von links nach rechts gedreht und wurde vom unbarmherzigen Wecker viel zu früh aus den Kissen geholt. Zugegeben war ich in der traumreichen Nacht zum heutigen Abreisetag richtig aufgeregt. Ruhelos, wie ein kleines Kind vor dem Nikolaustag, das seine Stiefel zum ersten Mal selbst geputzt und vor die Tür gestellt hat und nun hofft, dass der Nikolaus die Schuhe hier auch wirklich finden wird und sie auch ausreichend geputzt sind. Nein, vermutlich genügt der Vergleich nicht - es sei denn das Kind hätte bereits genügend Vorstellungskraft und Besorgnisvermögen, alle
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Eventualitäten im Geiste durchzugehen, die beim bevorstehenden nächtlichen Besuch durch den Nikolaus eintreffen könnten. Dieses Kind würde hoffen, dass die vielen Treppenstufen bis zum dritten Stock seiner Wohnung den alten Mann nicht in seiner Körperkraft überfordern würden. Es würde sich fragen, welche Auswirkungen es hätte, wenn die jugendliche Nachbarin schräg unten wieder ihre Stolperfallen-Schuhe im Weg stehen ließe, sodass der Nikolaus, schwer beladen mit Süßigkeiten, über diese Schuhe ins Stolpern käme und sich beim Sturz die Treppe herunter die Beine bräche oder gar ums Leben käme. Wer trüge bei so einem Unfall die Verantwortung? Natürlich nur prinzipiell und rein hypothetisch – das Kind wüsste natürlich, dass der Nikolaus so erfahren wie alt ist und nach seinem Kenntnisstand noch nie in einen ähnlichen Unfall geraten ist. Aber ein Restrisiko besteht und einmal ist es immer das erste Mal. Heute Morgen kann ich nicht mehr sagen, ob ich für eine Stunde oder nur Minuten wach gelegen und so gegrübelt habe. Die Aufregung ist fürs Erste verflogen und ich muss eher über meine nächtlichen Geistesanstrengungen schmunzeln. Im Labor erledigt die Routine auch noch die letzte Anspannung. Wieder daheim verpacke ich die eben fertiggestellten Isolationsmedien sicher und verstaue sie zusammen mit allen nötigen Labormaterialien im großen Reisekoffer, der daraufhin (wie sollte es anders sein) das zulässige Gewicht für den Flug überschreitet. Auspacken, umpacken, wiegen und jetzt ist das Handgepäck zu groß. Wieder packe ich von einer Tasche in die nächste. Nun entspricht das Handgepäck zwar der Größenvorgabe, ist aber zu schwer. Dasselbe Spiel noch einmal. Schließlich sehe ich es ein: Da hilft nicht Umsortieren, sondern Auspacken. Tschüss Regensachen? Nein, lieber die Zweitjacke hierlassen. Nein. Am Ende entscheide ich, mit übergewichtigem Handgepäck abzureisen. Ein letzter Kaffee mit Johannes, meinem Freund, den das fast dreiwöchige Abenteuer des sturmfreien Wohnens erwartet. In den vier
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Jahren, die wir zusammenleben, waren wir nie länger als zwei Tage voneinander getrennt. Hannes begleitet mich nach dem Kaffee zum Bahnhof, wo wir uns mit Katrin treffen. Weil der Flieger morgen sehr zeitig geht und wir uns nicht auf die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn verlassen wollen, haben wir eine Übernachtung in Berlin eingeplant. Natürlich rechnen wir nicht ernsthaft mit einer Verspätung, aber man weiß ja nie. Und es kommt wie es kommen muss; unser Zug stoppt seine Fahrt zum Flughafen kurz vor Erreichen des Ziels. Nach einer Weile gibt eine freundliche Lautsprecherstimme zu verstehen, dass der Zug einen Wildunfall hatte. So was aber auch … Warten. Minuten später erklingt wieder die Stimme des freundlichen Bahnangestellten aus der Sprechanlage, diesmal jedoch ein wenig konfus und abgehackt: „Die Lok … ist defekt. Sie kann vielleicht … nicht repariert werden. Möglicherweise … muss der Zug … evakuiert werden.“ Diese Lautsprecheransage wird uns Insassen mit sehr viel Sinn für Dramatik vorgetragen. Sofort greifen die Fahrgäste zu ihren Telefonen, auch wir. Mit dem Satz „Möglicherweise muss der Zug evakuiert werden“ ist der Mann aus dem Lautsprecher sicher der meistzitierte Mensch in diesem Zug. Telefonierende Bahnreisende wiederholen ihn im Wortlaut, als sie Angehörige über ihre verspätete Ankunft informieren. Im Abteil knistert die Aufregung und alle Bahnreisenden warten gespannt. Die Evakuierung des gesamten Zuges ist bald beschlossene Sache. Auf dem Nachbargleis hält der Zug, der planmäßig nach unserem in dieselbe Richtung fahren soll. Unter Hilfestellung von mehreren Feuerwehrmännern werden wir Passagiere mitsamt unserer schweren Gepäckstücke in den Waggon auf dem parallelen Gleis herübergerettet. Dieser zweite Zug muss natürlich warten, während wir zusteigen (oder besser gesagt herüberspringen) und verspätet sich nun ebenfalls. Unfallopfer war übrigens ein Wildschwein. Zum Glück haben wir Laptops und genug Arbeit dabei, um die lange Fahrtzeit auszufüllen. Spät am
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Abend treffen wir wohlbehalten in Berlin ein, wo wir die Nacht bei ehemaligen Kommilitonen von mir verbringen.
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WO DIE ZEIT IM FLUGE VERGEHT 07. NOVEMBER Ich habe zwar so fest geschlafen wie Dornröschen, aber bei Weitem nicht so lange. Im Flieger muss ich unbedingt Schlaf nachholen. Das Frühstück ist klasse. Vor allem die große Tasse Kaffee tut gut. Wir wiegen nach dem Essen im Badezimmer noch einmal das Handgepäck ab und stellen fest, dass Katrin darin noch mehr Übergewicht trägt als ich. Hoffentlich müssen wir nicht zuzahlen. Busfahren in der Großstadt. Wir steigen zunächst an der falschen Station aus dem Bus und verlaufen uns auf kleinere Distanzen, kommen dann aber pünktlich in Tegel an. Am Check-in gibt neben uns einer sein Gepäck ab, der wie Mads Mikkelsen aussieht. Er könnte ein perfektes Filmdouble abgeben. Und dann sehe ich, dass er erster Klasse eincheckt. Also muss es doch der echte Schauspieler sein und ich zeige ihn Katrin, die ihn nicht erkennt. Dann mache ich unauffällig zwei Beweisfotos mit dem Handy. Mads Mikkelsen. Eigentlich erkenne ich Filmschauspieler selten und kann mir ihre Namen schlecht merken, aber wenn ich einige Lieblingsschauspieler nennen müsste, wäre Mads Mikkelsen sicher dabei. Auf dem Flug nach Frankfurt sitze ich getrennt von Katrin in der letzten Reihe ganz außen am Gang. Dort möchte ich es mir bequem machen und schlafen. Doch leider ist die Toilette gleich nebenan und verströmt einen unfeinen Fäkalgeruch. Und ausgerechnet kurz vor Start und Landung, gerade als ich mich angeschnallt und in angenehmer Schlafpositur für den Flug eingerichtet habe, drängt es meinen Sitznachbarn auf das stinkende stille Örtchen und ich muss
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solange die improvisierte Koje räumen. Während wir auf Flughöhe sind, schnattert neben mir eine Schar von aufgekratzten chinesischen Schülern in Uniformen lautstark durcheinander. Sie rümpfen hin und wieder die Nase über den Fäkalgeruch. Schlafen ist in diesem Flieger nicht möglich, außer vielleicht für Mads Mikkelsen in der ersten Klasse. Ob er dort wohl gerade nach „Dänischen Delikatessen“ verlangt? In Frankfurt machen wir Zwischenlandung. Wir finden uns ganz gut zurecht, bestaunen die Größe des Flughafens, die wir kaum überschauen können und wechseln in den Anschlussflieger. Die Leute von der Passkontrolle freuen sich über Mads Mikkelsen, der nicht wie wir nach Kasachstan fliegen wird. Die Zeit im Flugzeug nach Almaty verbringen wir mit der Vorbereitung eines Vortrags, den wir an der Al-Farabi Universität in Almaty halten möchten. Unseren Besuch und das Expeditionsvorhaben zum Balchaschsee haben wir zwar in Emails an den Leiter der Abteilung für Angewandte Mikrobiologie und an die Fakultätsleitung der Biologie angekündigt, bisher haben wir allerdings noch keinen festen Termin an der Uni bekommen. Wir sind daher sehr gespannt auf das erste Zusammentreffen: Nicht über Türschwellen die Hand geben, schon gar nicht einem Mann, und in der Öffentlichkeit nicht die Nase putzen. Diese Verhaltensregeln haben wir einem Reiseführer entnommen, um uns nicht zu blamieren. Wir fragen uns, ob wir uns ohne Weiteres mit den kasachischen Wissenschaftlern verständigen können, denn unsere Russischkenntnisse sind rudimentär. Katrin kann noch aus ihrer Schulzeit ein wenig russisch sprechen und die kyrillische Schrift lesen. Ich habe einen Monat vor Abflug damit begonnen, mir mit Hilfe eines Internet-Podcasts ein paar russische Vokabeln und nützliche Sätze anzueignen. Lesen und Schreiben kann ich die kyrillischen Zeichen jedoch nicht. Da die internationale Wissenschaftssprache heute praktisch Englisch ist, hoffen wir aber zuversichtlich, an der
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Universität mit weiterzukommen.
unseren
Englischkenntnissen
Der Flug nach Almaty geht über Astana. Nach dem Tankstopp in der Hauptstadt schickt mich der Akku meines Laptops in den Feierabend und ich sehe mir daraufhin auf dem kleinen Bildschirm im Flieger die Neuverfilmung von „Total Recall“ an - ziemlicher Schrott und zu dick aufgetragen für meinen Geschmack und den Miniaturbildschirm im Flieger. Der Landeanflug auf Almaty beginnt etwa zwei Uhr nachts Ortszeit. Unsere Isolationsmedien im Koffer sorgen zum Glück während der Gepäckkontrolle nicht für Aufsehen. Nach einigen zähen Minuten in der Wartezone für ankommende Fluggäste bezweifelt Katrin skeptisch, dass wir vom Flughafen abgeholt und zu unserem Hotel gefahren werden. Aber ich bleibe optimistisch und glaube fest daran, dass binnen Kurzem ein Taxifahrer mit unseren Namen auf einem hochgehaltenen Schild aufkreuzt, sich freundlich für seine Verspätung entschuldigt und in sein gelbes Auto bittet. Denn schließlich haben wir diese Dienstleistung über ein verlässliches deutsches Reisebüro gebucht. Zudem sind wir nicht die einzigen Ankömmlinge, die ohne Fahrschein dastehen wie bestellt und nicht abgeholt. Das sind wir noch nicht – aber bald, denn leider behält Katrin mit ihren Zweifeln recht und wir sind die Einzigen. Irgendwann geben wir das Warten auf und vertrauen uns und unser Gepäck einem der zahlreichen kasachischen Taxifahrer an, die schon seit unserer Ankunft wie Bussarde bei der Weizenernte um uns kreisen und Bestpreisangebote garantieren. So sammeln wir unsere ersten Erlebnisse auf kasachischem Boden. Wir düsen für etwa zwanzig Minuten in einer kleinen alten Taxikiste ohne Gurte auf den hinteren Sitzen durch die Nacht. Ich bin aufgeregt und fotografiere, denn für Videoaufnahmen ist es zu dunkel. So richtig vertrauenswürdig erscheint mir der Fahrer nicht, zumal auch das Auto nicht wie ein typisches Taxi aussieht. Meine leisen Befürchtungen, gleich nach der Ankunft im fremden Land im vermeintlichen Taxi auf einem abgelegenen Parkplatz zu
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landen, um vom Fahrer und wer weiß welchen düsteren Komplizen ausgeraubt zu werden, ersticke ich im Einfangen von unscharfen Schnappschüssen. Ich frage mich, ob Katrin auch ein wenig mulmig zumute ist. Gott sei Dank werden wir bald heil vor der imposanten Treppe zur Flügeltür unseres feinen Hotels abgesetzt. Dort, im Hotel Sunkar, soll der Taxifahrer durch die Angestellten an der Rezeption entlohnt werden. Er verlangt aber nach einem höheren Betrag und beginnt eine unangenehme Verhandlung. Als der Fahrer schließlich uns, die hochgeschätzten Hotelgäste aus Europa, anpumpt, werden wir von einem Portier auf unser Zimmer gebracht. Das Hotel ist einigermaßen luxuriös. Besonders edel wirkt die prunkvoll orientalisch eingerichtete Eingangshalle mit ihrer aufwendigen Decken- und Wandgestaltung. Von all den Mustern und Verzierungen, all dem Goldschimmer und Prunk fühlen wir uns fast ein wenig erschlagen. Wie es sich für ein solches Hotel gehört, sind auch die Zimmer groß und teuer eingerichtet. Nur leider ist das Duschwasser in diesen frühen Morgenstunden kalt. Als Belohnung für die kalte Dusche gibt es dann zu meiner Überraschung Internet auf dem Zimmer. Die Freude über das WLAN gipfelt für mich in einem kurzen Chat mit Hannes daheim. Wir sind heil angekommen! ***
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