Leseprobe - Insa Popken - Die Umarmung des Boxers

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--- LESEPROBE --Die Umarmung des Boxers

Insa Popken


„Ein tolles Buch, packend geschrieben, voller überraschender Wendungen, Spannung und Erotik. Und ganz anders, als ich es nach dem Klappentext erwartet hatte! Mehr wird nicht verraten ...“ Picasso auf Amazon „Ein sehr bewegender Roman, der mich schon auf den ersten Seiten in seinen Bann gezogen hat. Eigentlich wollte ich mir nur die Leseprobe ansehen... Aber als die zu Ende war, konnte ich nicht anders, als das Buch zu kaufen. Ich habe es nicht bereut - einfach durch und durch lesenswert!“ Anaya auf Amazon „Dieses Buch spiegelt die Gefühle vieler Menschen wider, die nach dem Sinn des Lebens suchen. Eine wirklich sehr gelungene Darstellung der widersprüchlichen Gefühle einer ganzen Generation. Hut ab, dieses Thema so interessant und packend zu präsentieren." Eine Leserin via E-Mail


Als mir 2006 ein Arzt der Neurologie in einem Berliner Krankenhaus eröffnete, ich hätte Multiple Sklerose, steckte ich gerade mitten in einer anstrengenden Theaterproduktion und lebte so wie ich es scheinbar immer gewollt hatte: Aufregend, atemlos, pausenlos. Aber hatte ich das wirklich immer gewollt? Die Ärzte rieten mir dringend „mich zu verändern“ – nur: Was sollte das heißen? In den folgenden Jahren ließ ich mich auf dieses Abenteuer ein: Anders zu leben, eine andere zu werden. Dieser Weg hat den Roman „Die Umarmung des Boxers“ inspiriert –auch wenn er nicht meine Geschichte erzählt, sondern die von Hannah und ihren Freunden. Es entstand das Porträt einer Generation, die - trotz größter Freiheiten – in Gefahr ist, an sich selbst vorbeizuleben … Ich hoffe, diese Geschichte kann den einen oder anderen dazu inspirieren, herauszufinden, wer er wirklich sein will!


Über das Buch Hannah Michehlsen glaubt seit ihrem 27sten Geburtstag – augenscheinlich grundlos – bald zu sterben. Am ersten Tag ihres 33sten Lebensjahres beschließt sie, dass es nun endlich Zeit sei, sich einen guten Platz für diese letzte Sache zu suchen. Sie blickt mit zynischem Humor auf die eigenen Befindlichkeiten. Dann beginnt ihre Wahrnehmung sich zu verschieben, und Hannah taucht ab. Hannahs Freunde machen sich auf, ihr Geheimnis zu lüften - und finden dabei einiges über sich selbst heraus… „Die Umarmung des Boxers“ ist das berührende Porträt einer Generation, die sich in den scheinbar unendlichen Möglichkeiten ihrer Zeit zu verlieren droht. Über die Autorin Insa Popken wurde 1974 als Tochter eines Seelotsen und einer Dolmetscherin geboren. Sie wuchs in der ostfriesischen Seehafenstadt Emden auf, wo sie auch heute wieder lebt. Seit frühster Kindheit schien ihr das Erfinden und Erzählen von Geschichten als die wichtigste Beschäftigung überhaupt. So entschied sie sich nach dem Abitur für ein Studium der Angewandten Theaterwissenschaften und arbeitete danach in verschiedenen Funktionen am Theater. 2006 wurde bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert. Sie vollzog einen radikalen Wechsel der Lebensumstände und widmete sich ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Schreiben.


Roman Verlag 207 Taaffe Place, Office 3A Brooklyn, New York – NY 11205, USA http://www.romanverlag.com © 2013 All rights reserved. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfältigung des Werkes, oder Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.


I Klebrige Dumpfheit schwappt mir mitten ins Hirn. Der Schleier will sich nicht lüften. Der Boden unter meinen Füßen trägt, aber er fühlt sich nicht fest an. Das Küchenfenster steht offen, stickige Luft bohrt sich in meine Augen und setzt den Schleier in Brand. Durch den brennenden Schleier werfe ich einen Blick hinaus. Ab dem dritten Stockwerk abwärts scheint Nebel den Hinterhof zu erfüllen. Seltsame Wettererscheinung im Mai. Ganz rosa ist der Nebel und dick wie Zuckerwatte. Das muss der Restalkohol sein. Trotz Zuckerwatte erkenne ich die Kinder, die da unten Verstecken spielen. Wie jeden Sonntagvormittag. Das hilft immerhin, mich zeitlich zu orientieren. Ich weiß, dass ich getrunken habe. Dann ist alles weg. Ich klappe die Augendeckel zu, um in der brennenden Dunkelheit ein paar Erinnerungen aufzutreiben. Karl, der neue Praktikant, stolpert über ein Kabel auf der Hinterbühne, und ich denke: Hoffentlich reißt der jetzt nicht, kurz vor Schluss, das Tonkabel raus. Die Abschlussrede zur Preisverleihungsgala kommt zum Ende. Meine Anspannung beginnt langsam nachzulassen. Ich werfe einen Blick zu Jochen hinüber, meinem Chef, und bemerke, dass es ihm genauso geht. Diese Veranstaltung ist die größte, die unsere EventAgentur je organisiert hat, und bisher ist alles optimal gelaufen. In Jochens Gesicht sehe ich aufkeimende Freude, während mir die ganze Sache im Grunde völlig egal ist. Darüber denke ich kurz nach.

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Dann die kurze Stille vor dem Schlussapplaus. Ich stelle mir vor, dass die Druckwelle vor der Detonation einer Bombe sich so anfühlt. Vorbote einer gewaltigen Energieausschüttung. Der Applaus rollt wie eine Welle über uns alle hinweg – und das ist der Moment. Der Moment der Entscheidung, auf den ich fünf Jahre lang gewartet habe: Es ist zu Ende. Ich öffne die Augen, der Brand hat nachgelassen, und die Dinge fallen an ihren Platz: Nachdem wir uns alle ausgiebig gratuliert hatten zu der grandiosen Arbeit, die jeder von uns geleistet hatte, waren alle zur After-Show-Party gegangen. Und ich hatte mir einen großen Gin-Tonic genehmigt. Ich trinke selten, weil ich vom Betrunkensein meistens traurig werde. Aber jetzt hatte ich Grund zu feiern. Nicht so sehr, weil ich an diesem Tag 32 Jahre alt geworden war, sondern weil ich endlich eine Entscheidung getroffen hatte. Und darauf trank ich. Der Gin-Tonic ging auf ex, dann bestellte ich noch einen, jemand gab die obligatorische Runde Tequila aus, die nächste ging auf mich, und das war’s, mehr weiß ich nicht. Da sind nur ein paar kreisende Bilder, Farben, Lachen und ein trockener Geschmack im Mund. Eine verschwommene Erinnerung an wachsende Übelkeit und Besorgnis in unerkannten Gesichtern. Ich tanzte. Und Black. Über alles, was danach kam, kann ich nur Vermutungen anstellen. Ich hatte seit dem FrühstücksCroissant nichts gegessen, wie oft, wenn der Stress meinen Magen zu einem klitzekleinen Paket zusammenschnürt. Wir alle hatten jede Minute zu tun gehabt, aber nur ich hatte keine einzige Pause gemacht. Dabei ging es mir nicht mal darum, jemanden zu beeindrucken. Ich werde zu solchen Anlässen, in

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der Endphase eines Projektes, zu einer Maschine ohne Bedürfnisse. Manchmal vergesse ich sogar einen ganzen Tag lang, aufs Klo zu gehen. Ich habe mich gestern nicht das erste Mal betrunken. Aber noch nie hatte ich einen Filmriss. Ich wüsste gerne, wer mich nach Hause gebracht hat. Eigentlich kann es nur Jochen gewesen sein. Ausgezogen hat er mich offensichtlich nicht, denn ich trage dieselben Klamotten wie gestern. Aber warum stehe ich jetzt hier in der Küche, ohne mich an ein Aufwachen oder Aufstehen zu erinnern? Ich habe keine Kopfschmerzen. Dafür sehe ich rosafarbenen Nebel und mein Herz rast. Um wieder im Hier und Jetzt anzukommen, wende ich mich erst mal dem Abwasch zu. Er hat Zuwendung bitter nötig. Die letzte Woche war hektisch und voller Arbeit, keine Zeit für schmutziges Geschirr. Ich arbeite langsam, denn ich muss all meine Bewegungen durch diese dicke Luft pressen und das dauert… Außerdem will ich gründlich sein. Sorgfältig stelle ich jedes einzelne Geschirrteil an seinen angestammten Platz. Als ich beim Tellerservice ankomme, das meine Stiefmutter Monika mir geschenkt hat, schießt der Ärger ein paar Gramm Adrenalin in meine Blutbahn und ich fühle mich ein bisschen klarer. Meine Stiefmutter Monika ist gestorben, kurz nachdem sie mir dieses Tellerservice geschenkt hatte. Ich konnte es nicht leiden, von Anfang an nicht – aber nach ihrem Tod brachte ich es nicht mehr fertig, diese kotfarbenen Teller wegzuwerfen. Weil mich plötzlich die Vergeblichkeit ihres Bemühens rührte, Ähnlichkeiten zwischen uns heraufzubeschwören. Ähnlichkeiten, die es mit meiner Stiefmutter nie, mit meinem Vater aber sehr wohl gegeben hatte. Nur dass ihm offenbar nichts daran lag.

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„Schau, dieses Service hat mir so gut gefallen – und wir haben doch einen so ähnlichen Geschmack!“ Arme Monika. Mein Vater hielt nach ihrem Tod auch nicht mehr lange durch und nun sind beide tot und mir bleibt – zum zweifelhaften Trost – dieses Tellerservice, mit dem Monika total danebengelegen hatte. Wie so oft… Jetzt, da ich beschlossen habe mit dem Leben, in dem ich zu sterben glaube, aufzuhören, finde ich es hilfreich, dass sie beide schon unter der Erde liegen. Nebeneinander in einem Familiengrab, das ich, seit sie dort versenkt wurden, nicht ein einziges Mal besucht habe. Andere nähere Verwandte gibt es nicht, jedenfalls weiß ich nichts von ihnen. Und das bedeutet, ich muss niemandem mitteilen, was ich jetzt tun werde: Mir einen guten Platz zum Sterben suchen, an dem ich mich ungestört und ohne Ablenkung auf diese letzte Sache konzentrieren kann. Ich werde nicht nachhelfen müssen. Seit fünf Jahren spüre ich den Tod in mir wachsen, aber nie habe ich ihn als Aufforderung wahrgenommen, „Hand an mich zu legen“, wie man so sagt. Nein. Der Tod ist in mir aufgestanden und hat dafür gesorgt, dass ich mich an ihn gewöhne. Und jetzt wird er mich holen. Ich gehe ihm nur ein bisschen entgegen. Die Farbe des Nebels hat eine Wendung ins Purpurne genommen. Ich habe großen Durst und stürze drei Gläser Leitungswasser in mich hinein. Das versickert wirkungslos irgendwo, der Durst bleibt. Immer noch toben die Kinder im Hof herum. Ich denke an Agathe, meine leibliche Mutter. Unter anderen Umständen hätte ich sicher das Bedürfnis verspürt, mich von ihr zu verabschieden. Mich ihr zu erklären. Aber

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meine Mutter Agathe verschwand, kurz bevor ich mein fünftes Lebensjahr erreichte. Die Sehnsucht nach ihr ist längst ein Teil von mir, wird es bis zum Ende sein. Das ist nicht schlimm, denn meine sehnsüchtige, lückenhafte Erinnerung an sie ist bunt und heiter. Nach ihrem Verschwinden existierte meine Mutter nur noch als ein zerknittertes Foto, das mein Vater heimlich in seiner Pilotentasche herumtrug und als ein Flüstern hinter vorgehaltener Hand. Als ich älter wurde und nachzufragen begann, verstummte dieses Flüstern. Auch das Foto verschwand. Nur sehr selten tauchte der Gedanke an sie noch auf, wie ein Phantomschmerz. So, als die alte Hexe im kleinen Lebensmittelladen unseres Viertels keifte: „Du bist eine Hure, genau wie deine Mutter! Ein Mädchen ohne Moral! Dich werden sie auch einsperren!“ Das, als sie mich mit ihrem Sohn beim Knutschen erwischte – ich war zehn, er siebzehn. Moralisch oder nicht, es hatte uns beiden Spaß gemacht. War meine Mutter für einen ähnlichen Spaß eingesperrt worden? Wo? Als ich diese Frage am Esstisch stellte, wo wir in fester Ordnung saßen, mein Vater, Monika und ich, wurde meine Mutter Agathe endgültig zum Tabu. Meine Frage verklang in einer bleischweren Stille. Gesenkte Köpfe und erstarrte Kaumuskeln. Monika stand auf, zischte mit schmerzverzerrtem Gesicht: „Das ist der Dank!“, und verließ den Raum. Ein langer Blick von meinem Vater, der schließlich hart schluckte. „Deine Mutter hat uns verlassen und das ist alles, was du wissen musst. Ich will nicht darüber sprechen.“ Tränenglanz in seinen Augen, und zurück zur Suppe.

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Wenig später erzählte mir Raffael von meiner Mutter. Raffael, von dem ich gern gerettet worden wäre. Aber er verschwand, bevor ich ihn darum hätte bitten können. Wie auch immer, ich werde meiner Mutter nicht fehlen, wo sie auch ist. Nicht mehr, als wenn ich lebte. Ich bin überzeugt in allen anderen Menschen, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin, nur oberflächliche Spuren hinterlassen zu haben. Leichte, federleichte Abdrücke. Sie werden kein halbes Leben lang nachwirken und so mache ich mir über die emotionalen Konsequenzen meines Verschwindens keine ernsthaften Sorgen. In allen Beziehungen bin ich verschwindend gewesen, ungreifbar. Niemand wird einen echten Mangel empfinden, höchstens eine Art kurzen Erstaunens. Als ob ein Duft, den man jeden Morgen im Hausflur wahrgenommen hat, plötzlich fehlt und man sich das erste Mal fragt, woher er einst gerührt haben mag. Ich schenke mir eine Tasse Frühstückskaffee ein und frage mich, wann ich ihn aufgegossen habe. Auch daran erinnere ich mich nicht. Nach dem ersten Schluck schütte ich ihn aus. In mir ist zu viel Unruhe für Kaffee. Ich setze mich aufs Fensterbrett. Was ist zu tun, bevor ich aufbreche? Immer noch spielen die Kinder unten im Nebel Versteck. Ich habe diese Hinterhöfe zwischen alten abgeschabten Häuserwänden, in denen Kinder Versteck spielen, gern. Und ich mag es, im vierten Stock auf dem Fensterbrett dieser Küche zu sitzen und ihnen zuzusehen. Viele Sonntage habe ich das in den vier Jahren getan, die ich hier lebe. Ich kann das Treiben der Kinder von hier aus so vollständig überblicken, dass ich dem dicklichen Jungen mit dem blassen Städtergesicht von hier oben jetzt leicht zurufen könnte, wo seine Spielkameraden sich vor ihm verstecken. Ich habe Lust, ihn auf mich aufmerksam zu machen und ihm

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per Zeichensprache zu helfen. Er könnte einen Triumph so gut brauchen. Immer ist es dieser bleiche, teigige 9-jährige Junge, der die anderen suchen muss. Das ist seine Eintrittskarte zum Spiel, seine Daseinsberechtigung inmitten der Anderen, seine einzige Chance. Irgendwie macht mich das wütend. Ganz sicher bin ich mir da allerdings nicht, denn solche Gefühle erscheinen mir meistens ausgeliehen, zweideutig. Nicht, dass es so immer gewesen ist. Ich bin mir sogar sicher, dass es einmal anders gewesen sein muss, dass ich irgendwann eindeutige und eigene Gefühle gehabt habe. In den letzten Jahren sind sie wohl langsam aus mir herausgewaschen worden. Wenn mich diese Hinterhofsituation wütend macht, dann weil sie mich an Jens-Uwe erinnert, einen Nachbarsjungen aus meiner Kindheit, ebenso dick und blass. Jens-Uwe durfte auch nur mitspielen, wenn er das tat, worauf sonst keiner Lust hatte. Auch ihm hatte das diesen resigniert-traurigen Blick gegeben, der mir ins Herz schnitt. Obwohl ich ihn am Ende am allerschlechtesten behandelte. Vielleicht behandelte ich ihn aber auch schlecht, weil mir seine Traurigkeit ins Herz schnitt. Und weil ich bei dem Versuch, ihn besser zu behandeln als alle anderen, feststellen musste, dass ich ihn einfach nicht mochte. Die Ungerechtigkeit, die in all dem lag, tat mir weh. Wenn ich sie bis zur Schmerzgrenze steigern würde, so dachte ich, dann würde sie sich vielleicht auflösen. Aber so funktionierte es nicht. Vielleicht habe ich deshalb jetzt Lust, dem Jens-Uwe da unten ein Erfolgserlebnis zu verschaffen. Als könnte ich damit eines meiner Kindheitsverbrechen sühnen. Eine neue Runde beginnt. Mit gebeugtem Rücken, wie von jahrelangen Demütigungen niedergedrückt, stellt sich der

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Dicke vor die gelb verwaschene Hauswand. Er hält beide Hände fest auf die Augen gepresst, um zu zeigen, wie genau er die Sache nimmt. Ich finde es erstaunlich, dass in einer so unbewegten, banalen Haltung so viel Anbiederung liegen kann – so viel Bereitschaft, das eigene Selbst für ein bisschen Zugehörigkeit auszulöschen, ganz tief nach innen zu pressen. Die Chancen stehen ziemlich gut, dass er im Umdrehen genau in meine Richtung blicken wird. Dann kann ich mein rotes Küchenhandtuch schwenken, um ihn auf mich aufmerksam zu machen und mit geschickten Kopfbewegungen auf die Verstecke hindeuten, die ich von hier aus erkenne. Ich lenke mein Augenmerk auf die Bewegungen der anderen Kinder. Ich beobachte, wie sie zu einem kleinen Häufchen zusammenkommen, tuscheln und gehässige Blicke werfen, um dann geschlossen, ihr Lachen unterdrückend, den Hinterhof zu verlassen. Man kann ihnen ansehen, was für eine machtvolle Genugtuung es ihnen verschafft, den Dicken dort an der Hauswand, die Hände auf den Augen, zurückzulassen. Wie sie sich die nächste halbe Stunde an der Vorstellung ergötzen würden, dass der Verratene sie erst eifrig, schließlich verzweifelt suchen wird, irgendeinen Test argwöhnend, den zu bestehen lebenswichtig wäre. Bis ihn dann in einem Augenblick die Erkenntnis trifft, dass er einfach nur verlassen worden ist, verschmäht, abserviert. Ein Mädchen ist dabei, ein Mädchen in einem lustigen roten Rock mit weißen Tupfen, das unglücklich aussieht. Es würde lieber dableiben, es wäre lieber nicht dabei. Aber die anderen wollen, dass es mitkommt, zu ihnen gehört und das Mädchen will auch, dass es zu ihnen gehört und es entscheidet sich, mitzugehen. Gerade ist das Grüppchen

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durch die runde Toreinfahrt verschwunden, als der dicke Junge sich umdreht und mir direkt in die Augen sieht. In seinem Blick glänzt die Entschlossenheit, seine Sache möglichst gut zu machen. Seine Kameraden geduldig, ausdauernd aufzuspüren – nicht zu schnell, nicht zu langsam. Hoffnung liegt in diesem Blick. Denn wird er nicht einmal belohnt werden für seine Ausdauer? Dafür, dass er einfach ein guter Kumpel ist, auf den man zählen kann, der keine Zicken macht, tut, was man von ihm verlangt? Vielleicht sehen wir uns vier Sekunden so an, und ich schwenke mein rotes Küchenhandtuch nicht, um ihm zu bedeuten, dass seine Kameraden ihn im Stich gelassen haben. Ich gebe gar nichts zu erkennen, ich lächele nicht einmal. Ich entferne mich vom Fenster, lasse den Dingen ihren Lauf, hänge das rote Küchenhandtuch an den weißen Kunststoffhaken im Küchenschrank, setze mich an den Tisch und wende mich meiner „To do list“ zu, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie begonnen hatte. Aber da liegt ein Zettel mit doppelt unterstrichener Überschrift: Was erledigt werden muss, bevor ich sterbe: Die Wohnung, die ich in Berlin seit vier Jahren bewohne, ist nicht direkt von mir angemietet. Hauptmieterin ist ein Mädchen, das für fünf Jahre nach Australien gegangen ist und mir die sparsam möblierte Wohnung überlassen hat. Alles ist weiß in dieser Wohnung, sogar der Holzfußboden ist weiß gestrichen, alle Möbel sind weiß und ich habe das sehr gern. Die einzige, durch Farbe definierte Sache innerhalb dieser vier Wände bin ich selbst, sofern ich da bin. Mir gefällt der Gedanke, dass, sobald ich die Wohnung verlasse, nichts mehr

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definiert ist. Alles sich im Weiß auflöst, nichts sich gegen etwas anderes abhebt, solange die Schränke geschlossen bleiben. Und wer sollte sie öffnen, wenn ich nicht da bin?

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* Am Tag, da ich diese Wohnung das erste Mal betrat, fühlte ich mich sofort zu Hause. Das Mädchen, das mich empfing, war ruhig und auf eine Weise hübsch, die zu der Wohnung passte. Aber wahrscheinlich war es umgekehrt, sie hatte die Wohnung für sich passend gemacht. Ich habe die Leute immer beneidet, die dazu in der Lage sind, die äußeren Dinge an sich selbst anzupassen. Ich bin Spezialistin für das Andersherum. Ich kann mich selbst derart perfekt an die äußeren Dinge anpassen, dass man mich immer und überall gern in der Nähe hat. Was nicht heißt, dass ich keine eigene Persönlichkeit besäße. Im Gegenteil, sie ist sogar ziemlich ausgeprägt. Wenn ich allein bin, habe ich viel zu viel mit ihr zu tun. Sie kann sich aber sehr gut zurückhalten, wenn es sein muss. Das Mädchen, dass diese Wohnung so vollkommen weiß gemacht hat, ist einer dieser Menschen, die sich die Dinge passend machen. Einer dieser Menschen, die immer genau wissen, worauf sie gerade Lust haben, was ihnen gut täte und dann dafür sorgen, dass sie es bekommen. Einer dieser Menschen, die ohne ein Drama daraus zu machen, eine halbe Stunde zu spät zu einer Verabredung kommen und mitteilen, dass sie plötzlich Lust gehabt hätten, in einem ganz bestimmten Café ein ganz spezielles Plunderteil zu essen, und zwar allein. Und die es sogar so mitteilen, dass man nicht umhin kann, zu erkennen, dass sie vollkommen richtig gehandelt haben. Auch wenn man selbst deswegen eine halbe Stunde lang dachte, man hätte sich im Tag geirrt. Annas Wohnung strahlt aus, dass hier jemand lebt, der gut für sich selbst sorgt. Und ich, die ich nicht viel Zeit und

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Energie darauf verwende, in diesem Sinne für mich selbst zu sorgen, mochte den Gedanken, in ihrer Wohnung zu leben. „Ich hab gerade einen Ingwer-Honig-Tee gemacht, willst du eine Tasse?“, fragte Anna mich, kaum hatte ich meinen dunkelroten Mantel an den weißen Garderobenständer gehängt. „Gerne.“ Ich hatte noch nie Ingwer-Honig-Tee getrunken. Aber ich wusste auf den ersten Blick, dass ich diese Wohnung wollte und hielt es für förderlich, mit angemessener Begeisterung jeden mir angebotenen Tee zu trinken. Entspannt plauderten wir miteinander. Auch das eine meiner Spezialitäten, mit so ziemlich jedem entspannt plaudern zu können. Wir tranken mehrere Tassen Ingwer-Honig-Tee und ich erfuhr, warum Anna nach Australien gehen wollte. „Weil in diesem riesigen Land einfach für alles Raum sein muss“, sagte sie mit einem sehnsüchtigen Blick aus dem Küchenfenster, der nicht sehr weit kam, sondern an der zehn Meter entfernt liegenden Hausmauer brutal abprallte und flatternd zu mir zurückkehrte. Ich konnte nicht behaupten, dass ich genau verstand. Aber der Raum von dem sie sprach, musste etwas mit der Sehnsucht in ihrem Blick zu tun haben und so verstand ich es vielleicht doch. „Verstehe“, sagte ich. „Ich will mich neu erfinden und dafür brauche ich eben Platz“, fügte sie in etwas trotzigem Ton hinzu und nahm einen Schluck Tee. Vorsichtig nickend signalisierte ich erneut mein Verständnis. Ich spürte, dass es nicht darauf ankam. Ihr Ton sagte mir, dass sie selbst es ganz genau verstand, dass sie

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selbst haargenau wusste, warum sie nach Australien und nicht irgendwo anders hin gehen musste, und das war schließlich die Hauptsache. „Ich denke fünf Jahre sollte man sich dafür geben, wenn man sich neu erfinden will, was denkst Du?“ „Sicher“, entgegnete ich. Anna schenkte uns Tee nach, lehnte sich zurück und blickte erneut aus dem Fenster. „Ich mag, wie weiß hier alles ist“, bemerkte ich nach einer kleinen Stille, in der wir beide dem weiten Raum nachgespürt hatten, nach dem sie sich sehnte. Sie sah mich an, ihre Augen leuchteten. „Echt?“, fragte sie. „Echt“, beteuerte ich. „Das ist gut. Die Leute, die vor dir da waren meinten, es würde sie irre machen. Sie fragten, ob sie es anstreichen könnten.“ „Und?“ „Das würde wiederum mich wahnsinnig machen. Selbst wenn sie es hinterher wieder weiß machen. Ich meine, ich brauche einen Zwischenmieter, weil ich die Wohnung nicht verlieren will. Aber es muss doch meine Wohnung bleiben. Wenn ich zurückkomme und die Farbe dieser Anderen ist unter dem Weiß – das würde mich irre stören.“ Und so bekam ich die Wohnung.

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Keine zwei Stunden nachdem ich Anna verlassen hatte, rief sie mich an. „Ich hab überlegt. Da sind zwar noch andere Anwärter, die morgen kommen wollten, aber ich sage ihnen ab. Du kriegst die Wohnung für fast nichts, aber dafür musst Du in jedem Fall die ganzen fünf Jahre zahlen. Dass ich alle Möbel stehen lassen kann, und Du nichts verändern wirst hat den Ausschlag gegeben. Wenn Du Zeit hast, machen wir morgen den Vertrag.“ Die ganze Sache war in jeder Hinsicht perfekt. Denn in den Jahren, seit ich aus meinem Elternhaus ausgezogen war, hatte ich praktisch nichts angesammelt, außer dem Tellerservice meiner Stiefmutter und ein paar FlohmarktGeschirrteilen. Dann gab es noch zwei Kisten mit Büchern und eine Tasche mit allerlei unnützen Gegenständen, die ich aus unerfindlichen Gründen hatte behalten wollen. All das hatte ich bei einem alten Schulfreund untergestellt, als ich nach Beendigung meines Kulturwissenschaftsstudiums für längere Zeit nach London gegangen war, wohin ich nichts als einen Rucksack mit Kleidern mitgenommen hatte. Irgendwer hatte mir gesagt, in den Eventagenturen Londons würde man lernen, wie es geht. Er hatte es genauso formuliert, dieser Mensch, an den ich mich ansonsten nicht erinnern kann: „Nur da lernst du, wie es geht.“ Wobei nicht näher definiert war, was „es“ eigentlich war. Aber dieser Satz hatte so absolut geklungen, ohne Zweifel oder Einschränkung, dass ich das zwingende Bedürfnis hatte, dahin zu gehen, wo man lernen konnte, wie es geht. Und das

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Ganze traf sich zu jener Zeit gut mit dem ebenso dringenden Wunsch nach einer umfassenden Luftveränderung, nachdem nur ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Stiefmutter, der mich nicht sonderlich aus der Bahn geworfen hatte, auch mein Vater schlapp gemacht hatte. Was umso unverständlicher für mich gewesen war, weil ich gerade erst begonnen hatte zu begreifen, dass die neue Situation eine Chance barg, auf die ich bis dahin sehnsüchtig gewartet hatte. Aber noch bevor ich diese Chance ergreifen konnte, ja noch bevor ich wusste, wofür es eigentlich eine Chance war – kurz, bevor irgendeine Veränderung hätte eintreten können, hatte der Nachbar meinen Vater aufgehängt in unserer Garage gefunden. ***

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