Rundbrief 2-2004

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ISSN 0940-8665 40. Jahrgang / Dezember 2004 5,00 €

Rundbrief 2

2004

• Nachbarschaftsheime • Bürgerzentren • Soziale Arbeit • • Erfahrungen • Berichte • Stellungnahmen •

In dieser Ausgabe: • • • • • • • •

Vorschnelle Schlüsse - Gedanken zur Diskussion um die soziale Stadtentwicklung Weder Ghetto noch Slum - der Soldiner Kiez Die KiezAktivKassen - neue Impulse für bürgerschaftliches Engagement HartzIV und die MAE-Jobs Leben in Nachbarschaft bis ins hohe Alter - Community Care Eine Reise nach Wien Die IFS-Konferenz in Toronto Toynbee Hall und die deutsche Nachbarschaftsbewegung

Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.


Der Rundbrief wird herausgegeben vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. Tucholskystr. 11, 10117 Berlin Telefon: 030 280 961 03 Fax: 030 862 11 55 email: bund@sozkult.de internet: www.vska.de Redaktion: Herbert Scherer Gestaltung: newsign Werbeagentur GmbH Druck: Druckerei Alte Feuerwache GbR, Berlin Der Rundbrief erscheint halbjährlich Einzelheft: 5 € inkl. Versand

Das Titelbild zeigt eine Szene aus „Stell Dir vor ...“, Präsentation der Arbeitsergebnisse des ersten Jahrgangs der Bühnenkunstschule ACADEMY im Stadtteilzentrum Alte Feuerwache in Berlin. Mehr unter: http://www.alte-feuerwache.de/academy/ http://datenbank.spinnenwerk.de/vska/academy.htm


Inhalt

„Vorschnelle Schlüsse“

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Weder Ghetto noch Slum

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Partizipationsprojekt im Soldiner Kiez

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Fragestellungen und potentielle Standards

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Die Kiezaktivkassen

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Leben in Nachbarschaft bis ins hohe Alter

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Eine Reise nach WIEN im Mai 2004

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Internationale IFS-Konferenz Toronto 2004

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Toronto - IFS -Konferenz

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Die Auswirkungen von Besuchen deutscher sozialer Aktivisten im Londoner Settlement „Toynbee Hall“ auf Entstehung und Konzeption der deutschen Nachbarschaftsheimbewegung

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„Vorschnelle Schlüsse?“ Quartiersmanagement + Sozialstrukturatlas + Umverteilung = Soziale Stadt?

Entsprechend den Ergebnissen des Sozialstrukturatlasses sollen in Berlin die Finanzmittel von den „reichen“ Bezirken“ zu den „armen“ Bezirken umverteilt werden. Der eben ermittelte „Sozialindex“ der Bezirke soll dafür die Messgrößen liefern. Ein erstrebenswertes Ziel, ein vernünftiges Vorhaben! Auf den ersten Blick jedenfalls. Auf den zweiten auch noch? Der wievielte Sozialstrukturatlas im Lande Berlin mit dem wievielten Umverteilungsprogramm ist der gerade vorgelegte? Ist denn überhaupt bekannt, wie viele Personal und Finanzmittel in welchen Bezirk oder in welche Kieze derzeit fließen? Woher weiß die Politik dann, dass umverteilt werden muss? Gibt es nicht seit Jahren Programme, die „benachteiligten“ Stadtgebieten Unterstützung anbieten, etwa das Programm „Soziale Stadt“, das daraus entwickelte Quartiersmanagement und zahlreiche EU-Programme und Berlin-Sonderprogramme. Haben die wohl nach Hunderten zu zählenden speziellen Projekte für Kreuzberg diesem Bezirk und seinen Bewohnern geholfen und entscheidende strukturelle Verbesserungen bewirkt? Oder haben sie vor allem zahlreiche Stellen für Soziologen, Stadtplaner, Architekten, Sozialplaner und Projektträger geschaffen und sind ansonsten weitgehend wirkungslos verpufft? Und die Mittelschicht ist in derweil in die grünen Nachbarbezirke und in das Umland gezogen, weil ihr beispielsweise die Schulen für ihre Kinder nicht gefallen haben.

Öffentliche Dienste mit bürgerfreundlichen Öffnungs zeiten,, die gerne aufgesucht und vom Bürger um Rat gefragt werden, wenn sie Probleme haben.

Das ist keine abschließende, lediglich eine beispielhafte Aufzählung. Aber die oben genannten Institutionen und Einrichtungen könnten sozialräumlich zusammenwirken und lokale Prozesse in Gang setzen, die dazu beitragen, dass in den jeweiligen Stadtteilen ein soziales Gleichgewicht entsteht oder erhalten(!) werden kann. In dieser Stadt kann es solange nicht um Umverteilung von „reichen“ zu „armen“ Bezirken gehen, solange auch nicht ansatzweise erfasst ist, wie viel Finanzmittel zu welchem Zweck in welchen Bezirk fließen. Erst wenn diese Transparenz hergestellt ist, kann die Debatte beginnen. Es mutet schon merkwürdig an, dass diese Erstellung einer Bilanz bis heute nicht erfolgt ist und auch nie ernsthaft gefordert wurde. Zwar identifizieren wir mit dem Sozialstrukturatlas die sogenannten Problemgebiete, aber damit wissen wir weder, wie viel Ressourcen die Stadt in diesem Problemgebiet (was für ein Wort!) einsetzt, noch wissen wir, wie effektiv der Einsatz dieser Mittel ist! Woher aber, verdammt noch mal, weiß die Politik, dass dort Geld fehlt und anderswo zuviel Geld vorhanden ist?

Bescheidenheit und Zielstrebigkeit

Wie wäre es, wenn statt tausenderlei verschiedener Ansätze und Programme pragmatisch nachvollziehbare, konkrete und unmittelbaren Nutzen stiftende Vorhaben verwirklicht werden würden und zwar in jedem Bezirk dem Bedarf entsprechend und flexibilisiert?

Also: • • •

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ausreichend viele und gut ausgestattete, stadtteilorientierte Kindertagesstätten in allen Bezirken, Schulen, von denen man das gleiche sagen kann, Nachbarschaftszentren als Treffpunkte und zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements u.a. mit Selbsthilfe und Familienbildungsangeboten Kinder- und Jugendfreizeitzentren, die bedarfsgerecht attraktiv und interessant sind flexible Betreuungs- und Hilfeformen und eine effektive und zielgerichtete Zusammenarbeit aller Institutionen vor allem mit Schulen und Kindertagesstätten, die soziale, gesundheitliche und erzieherische Hilfen anbieten oder Angebote gemeinsam mit diesen vorhalten

Ich wünsche mir in der Politik (und bei manchen Stadt- und Sozialplanern) mehr Bescheidenheit einerseits und Zielstrebigkeit andererseits: Bescheiden und zielstrebig wäre, sicher zu stellen, dass jedes Kind, jeder Jugendliche, jeder Junge, jedes Mädchen in Berlin - in jedem Bezirk, in jedem Kiez - unter bestmöglichen Voraussetzungen aufwachsen kann: der Jugendliche in Schöneberg und in Steglitz hat das gleiche Anrecht auf ein für ihn angemessenes und förderndes Kindertagesstätten- und Jugendfreizeitangebot wie der Jugendliche in Neukölln und in Lichtenberg. Alle Eltern in allen Bezirken haben das gleiche Anrecht auf gute Schulen für ihre Kinder und ein Familienbildungsangebot für ihre Erziehungsfragen in ihrer Nachbarschaft, in ihrer Region. Die Mittel dafür sind in dieser Stadt ohne jeglichen Zwang zur Umverteilung vorhanden: Sie liegen aber teilweise brach, etwa - in einem exorbitanten Stellenüberhang, der z.B. im Bezirk Lichtenberg bei über 900 und in Pankow bei 800 Mitarbeitern liegt, während beispielsweise Steglitz-Zehlendorf und Tempelhof-Schöneberg so gut wie keine Stellen im Überhang aufweisen - in einer aufgeblähten Verwaltung mit Doppelstrukturen auf Senats- und Bezirksebene - in den hochsubventionierten, zum Teil fragwürdigen Vorhaben und in nicht gerade effizient arbeitenden öffentlichen Betrieben in dieser Stadt.

Ungelöste Hausaufgaben Ungelöste Hausaufgaben zuhauf für Berliner Politiker auf allen Ebenen, oft entstanden nach dem Grundsatz: viel hilft viel. Soll das jetzt auch das Motto für neue Umverteilungen sein? Strotzen unsere Bezirke im Südwesten so vor Kraft, dass wir abgeben können? Und wenn ja: was und wie viel und vor allem: an wen


und auf welcher Grundlage? Es gibt genug freie Träger im Bezirk, die enorme Kräfte mobilisiert haben, um die Infrastruktur in der Region zu erhalten oder sogar zu stärken. Sie arbeiten allzu oft am Rande ihrer Kraft. Aber mit dem festen Willen, fehlende oder verbesserungsbedürftige soziale Infrastruktur in diesem Bezirk zu stärken. Wie müssen sie sich fühlen, wenn ihnen nach Jahren von Kürzungen und immer neuen Kürzungen bedeutet wird, dass sie von ihren knappen Mitteln nun an sozialstrukturell benachteiligte Bezirke abgeben sollen? Wie sollen sie dies denen erklären, die auf ihre Angebote zurückgreifen und sie dankbar nutzen, ja sogar ehrenamtlich mitgestalten? Wie sollen sie künftig daran mitwirken, die bezirklichen Umstrukturierungen mitzugestalten, wenn sie selbst kaum noch Atem schöpfen können? Was sagen wir freie Träger den Familien, die hier wohnen geblieben und nicht ins grüne Umland gezogen sind, weil die soziale Infrastruktur für ihre Kinder und für sie selbst stimmt? Die Vorsitzende des Sozialausschusses im Abgeordnetenhaus, Frau Dr. Schulze (PDS), hat davor gewarnt aus den vorliegenden Daten „vorschnelle Schlüsse aus höchst komplizierten Sachverhalten und Prozessen zu ziehen. Dies wäre unseriös“. Sie plädiert dafür, dass sich die Politik in den nächsten Monaten damit be-

schäftigt, die vorhandenen Angebote und Maßnahmen sinnvoll miteinander zu verknüpfen und sie auf diese Weise zu effektivieren. Frau Dr. Schulze drückt damit aus, wozu sich auch Fachleute in Berlin bekennen: wir haben in Berlin eher zuviel, als zuwenig soziale Maßnahmen und Projekte, die nebeneinander her und uneffektiv arbeiten. Steglitz-Zehlendorf, beispielsweise, gehört aber nicht gerade zu den bevorzugten „Heimatbezirken“ dieser „Maßnahmen und Projekte“, was ja auch nicht unbedingt ein Nachteil sein muss.

Wir Nachbarschaftsheime und Stadtteilzentren sind seit Jahren diejenigen, die versuchen, soziale Dienste und Angebote regional und fachlich zu koordinieren, sie bürgernah zu gestalten und wir sind diejenigen die auch die Bürger einladen mitzuwirken und mitzugestalten. Widmen wir uns jenseits mancher Aufgeregtheiten also beharrlich und gemeinsam den Aufgaben, die sich in unserer Region stellen. Georg Zinner Geschäftsführer Nachbarschaftsheim Schöneberg, Berlin

Weder Ghetto noch Slum Schlechtes Image als Belastung für den Soldiner Kiez, ein Berliner QM-Gebiet

nem Kind ein Eis kaufen kann“, erzählt Erkan, ein 25jähriger, der mit Frau und Kind vom Amt lebt. Auch die Demütigungen am Sozialamt setzen ihm zu. Dabei ist er kein passiver Bezieher von Almosen, sondern ein aktiver junger Mann, der seine Arbeitskraft immer wieder anbietet und der mit der Unterstützung der weitläufigen Verwandtschaft und vieler Freunde gut beschäftigt ist. Nur die haben ebenfalls meist wenig, was sie ihm abgeben könnten. Mehmet gehört zu denjenigen, die aus dem Kiez praktisch nicht wegkönnten, weil sie anderswo keine Wohnung finden würden.

„Mir macht der Kiez keine Angst.“ Glaubt man den Berliner Boulevardzeitungen, dann ist der Soldiner Kiez ein Ghetto oder gar ein Slum, in den man besser nicht seine Nase steckt. Viele Menschen im Kiez fühlen sich aber ganz wohl hier und einige von ihnen wollten nun wissen, wie das ihre Nachbarn sehen. So taten sich einige Bewohner und ein paar Studenten im Juli 2003 zusammen, um eine kleine Untersuchung über den Stadtteil durchzuführen. Sie wollten keine ellenlangen Statistiken sondern den Orginalton der Bewohner. Also interviewten sie von Oktober 2003 bis März 2004 24 Menschen beiderlei Geschlechts aus verschiedenen Schichten, Altersgruppen und Nationen und trugen so zusammen, welches Bild sich die Einheimischen von ihrem Kiez machen. Die Interviews wurden mit einem halbstrukturierten Fragebogen mit 28 offenen Fragen geführt und dauerten im Schnitt etwa eine Stunde. Von März bis Juni 2004 dauerte die Auswertung, wobei nach einem Verfahren von Prof. Dr. Gerhard Kleining auf Gemeinsamkeiten analysiert wurde. (Kleining, Gerhard, Umriss zu einer Methodologie qualitativer Sozialforschung, in: Kölner Zeitschrift für Sozialpsychologie und Soziologie, Heft 34, 1982, S.224ff.)

Viele arme Menschen Sicher, im Soldiner Kiez leben viele arme Menschen, d.h. sie leben von der Sozialhilfe.„Da weiß ich manchmal nicht, ob ich mei-

Es leben aber auch noch Menschen aus der Mittelschicht im Kiez. So z.B. die Lehrerin Jutta (38), eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern. Die Behauptung, man könne als Frau im Soldiner Kiez nachts nicht auf die Straße, weist sie prompt zurück: „Mir macht der Kiez keine Angst.“ Sie ist vielmehr bewusst hierher gezogen, weil sie den ansprechenden Altbaubestand, das grüne Panketal, die niedrigen Mieten und die gute Verkehrsanbindung zum Zoo und zum Alexanderplatz schätzt. Die Mehrzahl der Befragten will aus solchen Gründen im Kiez bleiben. Auch die verschiedenen Nationen kommen im Soldiner Kiez leidlich miteinander aus. Etwa 40 Prozent haben einen ausländischen Pass und auch mancher mit deutschem Pass hatte vor nicht allzu langer Zeit einen aus Jamaika, Libanon oder der Türkei. Die größten Schwierigkeiten damit haben die Kinder, weil die Schulanfänger bis zu 80 Prozent ausländischer Herkunft sind und manche von ihnen nicht richtig Deutsch sprechen. Die meisten lernen das zwar noch spielerisch im Kindergarten. Aber wegen der hohen Gebühren lassen immer mehr Arme ihre Kinder zuhause. Deshalb ist man sich im Soldiner Kiez bei der Forderung nach einer kostenlosen Vorschule und einer besseren Ausstattung der Schulen einig. Mancher glaubt auch, dass der Wedding dabei gegenüber anderen Stadtteilen benachteiligt werde.„In Steglitz fällt bestimmt nicht so viel Schule aus wie hier,“ schimpft beispielsweise die dreifache Mutter Aya(35).

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Thema Ausländer Mancher Journalist lässt sich zum Thema Ausländer von einigen Deutschen einen Bären aufbinden. „Im Bus muss man nur mal oben sitzen und durch die Soldiner fahren, da kann man was sehen. Da kann man von oben in die verhängten Fenster von Spielhöllen sehen und wie da dicke Geldrollen auf den Tischen liegen.“, erzählt da etwa ein Aufschneider einem Schreiberling von der Berliner Zeitung. Das kann schon deshalb nicht stimmen, weil in der Soldiner Straße nur ein Gelenkbus verkehrt, aber keine Doppelstöcker. Auch die Legenden vom ausländischen Bandenkrieg verraten meist mehr über die ausländerfeindliche Gesinnung des Sprechers als über die Ausländer im Soldiner Kiez. Wenn im Soldiner Kiez die Wellen hoch schlagen und die Nachbarschaft aufhorcht, dann meist wegen einem Familienstreit. Allerdings wünschen auch die meisten Ausländer nicht, dass noch mehr Nicht-Deutsche in das Viertel ziehen. Die meisten träumen wie die Deutschen von einer gesunden Mischung der Nationen, Berufe und Altersgruppen. Doch damit tut sich eine Großstadt wie Berlin schwer, denn der Wohnungsmarkt überträgt die Ungleichheit der wirtschaftlichen Verhältnisse in den Raum. Also gibt es ärmere und reichere Viertel. Und da Ausländer meist arm sind, konzentrieren sie sich in den armen Vierteln. Und der normale Mittelschichtsdeutsche und seine Medien assoziieren Armut immer noch mit Schmutz, Gewalt und Verbrechen, bis es die Einheimischen selber glauben. Vor allem der Hundekot ist beliebter Aufreger. Den gibt es nur in Prenzlauer Berg oder Kreuzberg genauso.

Die „Kolonie-Boys“ Am schlimmen Ruf des Soldiner Kiezes sind auch die „KolonieBoys“ mit Schuld. Das ist eine Jugendgang, die im letzten Jahrzehnt von sich Rede machte. Was man von ihnen hört, müssen sie unangenehme Burschen gewesen sein. Von Drogen und Gewalt ist die Rede. Auch heute gibt es wieder eine Jugendgruppe, die sich nach den schlimmen Schlägern benennt. Als Spiegel-tv sie aber vorzuführen trachtete, konnten sie nicht verhindern, dass einzelne ihrem Wunsch nach einer bürgerlichen Karriere Ausdruck gaben, weil sie aus dem Armenviertel raus wollten. Was sie nicht sagten, war, dass sie von einem Häuschen im Grünen träumen wie Millionen Deutsche auch. Drogen und Gewalt sind bei der Mehrzahl der Jugendlichen im Soldiner Kiez out. Die ehemals rebellische Jugend träumt von materiellem Konsum und bescheidenem Wohlstand. Manchem sind sie eher zu brav. Selbst Drogenhandel findet im Soldiner Kiez nur in kleinem Umfang statt. Der Polizei ist das bekannt und sie sagt, sie hätte die Szene unter Kontrolle.

„Die Politiker haben doch eh keine Ahnung von der Lage vor Ort.“ Neben der Armut der Bewohner, die selbst auf die billigen Läden und Dönerbuden abfärbt, die sich ständig im Preis unterbieten oder gebrauchten Ramsch verkaufen, ist das größte Problem das schlechte Image des Kiezes. Das fängt damit an, dass viele Freunde nicht in das verrufene Viertel kommen wollen. Ständig müssen die Soldiner in andere Viertel fahren, wenn sie ihre Freunde von außerhalb treffen wollen. Das ist aber nur eine Unbequemlichkeit. Ernster ist, dass der unberechtigt schlechte Ruf bereits das Umzugsverhalten beeinflusst. Menschen aus der Mittelschicht beginnen deswegen und wegen der schwierigen Lage der Schule wegzuziehen, und es kommen auch neu kaum Bessergestellte hinzu. Das Image, so die Feststellung der Forschergruppe, wird zu einem eigenständigen Faktor beim Auseinanderdividieren der Schichten im Raum. Durch die schlechte Propaganda, die Kieze wie der Soldiner haben, wird sowohl der Verelendung der rund ums Stadtzentrum liegenden „Slums“ wie auch dem Ausweichen der Wohlhabenderen in den Speckgürtel das Wort geredet. Deshalb waren manche auch enttäuscht, als sich im Herbst letzten Jahres ausgerechnet der Bürgermeister von Mitte, Joachim Zeller (CDU), für diese Propaganda benutzen ließ. Aber die meisten winkten schon damals ab. „Die Politiker haben doch eh keine Ahnung von der Lage vor Ort.“ Hinweis: Sämtliche Namen sind geändert. Thomas Kilian, AG Kiezforschung im Soldiner Kiez e.V.

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Einleitung Soldiner Kiez - Projektbeschreibung 13 Studierende der Stadt- und Regionalplanung an der Technischen Universität Berlin führten Ende 2003/Anfang 2004 eine Studie mit Kindern aus dem „Soldiner Kiez“ durch, um herauszufinden, wie diese ihr Lebensumfeld wahrnehmen und welche Möglichkeiten der Beteiligung an Veränderungsprozessen im Kiez sinnvoll sein könnten. Über das Quartiermanagement wurde Kontakt zum arabischen Elternverein, Künstlern der „Kolonie Wedding“ und dem Nachbarschaftshaus Prinzenallee aufgenommen, wo schließlich mit 25 Kindern ein Doppel-Workshop stattfand, über den die Studenten hier berichten.

Partizipationsprojekt im Soldiner Kiez Konzept und Umsetzung 1.1 Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an unserem Projekt -Entwicklung einer Konzeption 1.1.1 Einleitung Ein wichtiges Ziel unseres Projektes ist die Zusammenarbeit mit den im Soldiner Kiez lebenden Menschen. Allerdings ist die Durchführung von herkömmlichen Beteiligungsverfahren in einem Gebiet wie dem Soldiner Kiez nicht unproblematisch, da der das Gebiet charakterisierende Mix von Kulturen und Sprachen zum Entstehen von Kommunikationsbarrieren zwischen Planerinnen und Bewohnerinnen führen kann. Auch wenn keiner der Beteiligten einen Ausschluss bestimmter Bewohnergruppen intendiert, so ist dieser doch häufig das Ergebnis einer Form von Beteiligung, welche lediglich Mitbestimmungsrechte einräumt, ohne die Menschen ausreichend auf die Inanspruchnahme solcher Möglichkeiten vorzubereiten. Unabhängig von der besonderen Problematik der Integration von Migrantinnen in Planungsprozesse sind Kinder und Jugendliche eine Gruppe, deren Beteiligung schwierig ist und auch heute noch häufig vernachlässigt wird. Die Entscheidung unserer Gruppe, sich in Form einer Partizipationswerkstatt auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund zu konzentrieren, hat aber nicht allein mit der Tatsache zu tun, dass die Interessen dieser Gruppe aufgrund des Zusammenfallens beider Benachteilungsmerkmale ganz besonders häufig unter den Tisch fallen. In unserer Bestandsaufnahme wurden Jugendliche als eine Gruppe identifiziert, für die attraktive Angebote ganz besonders fehlen. Daneben spielten aber auch pragmatische Gründe bei der Festlegung der Zielgruppe eine Rolle: Aufgrund geringerer Sprachbarrieren und der Einbindung ausländischer Jugendlicher in Schulen und Einrichtungen der Jugendpflege erschien es uns einfacher, Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund zu erreichen als deren Eltern. 1.1.2 „Reale Beteiligung“ vs. „fiktive Beteiligung“ Die Idee, Kinder und Jugendliche in Planungsprozesse einzubinden, wurde zunächst in den Niederlanden praktiziert. Viele der dort entwickelten Instrumente und Methoden wurden später auch in einigen deutschen Städten eingesetzt. Im Rahmen unserer theoretischen Vorbereitung auf den Workshop haben wir auch einige Berichte über die hierbei gemachten Erfahrungen studiert. Allerdings stellte sich schnell die Frage, inwieweit sich die Erfahrungen dieser Workshops tatsächlich auf unser Projekt übertragen lassen. Dies hat vor allem mit einem zentralen Unterschied zwischen den von uns studierten Beteiligungsprojekten und unserem eigenen Projekt zu tun: Während es sich bei diesen ausnahmslos um Vorbereitungen für tatsächlich

geplante gestalterische oder städtebauliche Maßnahmen handelt, ist unser Projekt zunächst einmal nicht mehr als eine fiktive studentische Übung. Natürlich würden wir uns freuen, wenn von den Verantwortlichen in der Stadtverwaltung einige der von uns entwickelten Ideen aufgegriffen würden - letzten Endes liegt dies jedoch jenseits unseres Einflussbereichs. Dieser Unterschied ist für die Durchführung eines Workshops von zentraler Bedeutung: Im Gegensatz zu tatsächlichen Planungsprozessen können wir für unser Projekt nicht in Anspruch nehmen, dass die Beteiligung der Bewohner zu einer Berücksichtigung ihrer Interessen führen würde. Dies dennoch zu suggerieren, hieße die Beteiligten nicht ernst zu nehmen und würde bei den beteiligten Jugendlichen wohl nur die evtl. ohnehin vorhandene Skepsis gegenüber Bürgerbeteiligung und Politik („Am Ende kommt eh nichts bei raus“) stärken. Aus diesem Grunde war für uns schnell klar, dass wir gegenüber den zu beteiligenden Kindern und Jugendlichen auf keinen Fall der Eindruck erwecken wollen, dass das Einbringen ihrer Meinung zu realen Veränderungen im Kiez führen wird. Damit stellte sich die Frage, wie wir die Jugendlichen zum Mitmachen bewegen können würden ohne zu große Erwartungen zu erwecken. 1.1.3 Konzeption unseres Partizipationsworkshops „Kids im Kiez“ Unser Projekt hat aus dem in 1.2 skizzierten Dilemma vor allem den Schluss gezogen, dass der Workshop den zu beteiligenden Jugendlichen Spaß bereiten muss. Wir haben gleichzeitig beschlossen, alles zu vermeiden, was bei den Jugendlichen den Eindruck erwecken könnte, dass die von ihnen geäußerten Meinungen bzw. die von uns entwickelten Konzeptionen irgendwelche Konsequenzen für die Situation im Soldiner Kiez mit sich bringen könnten. Hierdurch stellte sich jedoch zugleich die Frage, wie aus der Durchführung eines solchen lern- und spaßorientierten Workshops Erkenntnisse für unsere eigenen Arbeit gewonnen werden können. Da wir selbst wenig Erfahrungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen haben, haben wir uns von Anfang an bemüht, unsere Ideen mit Kooperationspartnern abzustimmen, die Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Kiez haben. Die Nutzung von vorhandenen Strukturen und Netzwerken war zugleich die einzige realistische Möglichkeit, in kurzer Zeit eine größere Anzahl von Kindern und Jugendlichen zum Mitmachen zu bewegen. Auch wenn die Ergebnisse unserer eigenen Bestandsaufnahme eigentlich eine Konzentration auf ältere Jugendliche nahegelegt hätten, hat uns unsere Abhängigkeit von existierenden Strukturen zu der pragmatischen Entscheidung geführt, uns auf Kinder im

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Alter von 8 - 14 zu konzentrieren. Im Gegensatz zu älteren Jugendlichen waren diese durch Schulen und Jugendeinrichtungen relativ gut für uns erreichbar. Nach einer recht umfangreichen Recherche nach möglichen Partnern, hat sich das Nachbarschaftshaus in der Prinzenallee 58 als am besten geeignetster Partner herausgestellt. Dies lag nicht nur an der sich hier regelmäßig treffenden multiethnischen Kinder-Breakdance-Gruppe, sondern auch an der Aufgeschlossenheit der im Nachbarschaftshaus arbeitenden Erzieherinnen für unser Projekt. Im Verlauf des ersten Teils des eigentlichen Workshops sollten die Jugendlichen eine Dokumentation der Wahrnehmung ihres Kiezes erstellen. Hierbei werden die Workshopteilnehmer von uns dazu animiert, ihre Freunde vor Plätzen zu fotografieren, die diese besonders gerne, bzw. besonders ungern haben. Eine Woche später sollen dann die Gründe für diese Bewertung sowie andere Meinungen zu ihrem Kiez dokumentiert werden. An beiden Tagen ist die Motivation zum Mitmachen das Selbermachen: Nicht nur das Fotografieren am ersten Tag des Workshops, sondern auch das Dokumentieren der Bewertung („Interview-Spiel“) wird von den Kindern selbst durchgeführt. Ein zusätzlicher Anreiz ist der Einsatz von Medien (Fotoapparate, Tonbandgeräte) und die Aussicht für jedes Kind, sich am zweiten Termin durch einen professionellen Fotografen (von der Kolonie Wedding) portraitieren zu lassen. Diese Bilder sollen dann später, zusammen mit den anderen Workshopergebnissen (Fotos der Plätze, von der Kindern angefertigte Plakate) im Kiez öffentlich ausgestellt werden. Gleichzeitig sollen die Ergebnisse des Workshops unserer Gruppe helfen, die Nutzungsansprüche von Jugendlichen am öffentlichen Raum zu begreifen. Zusätzlich soll als Projektabschluss, basierend auf den Workshopergebnissen, einerseits eine „Mental Map“, anderseits ein städtebaulicher Entwurf entstehen.

1.2 Durchführung des Workshops Der Workshop „Kids im Kiez“ wurde in zwei Etappen in den Räumen des Nachbarschaftshauses an der Prinzenallee durchgeführt. Der erste Workshoptermin wurde auf Donnerstag, den 4. Dezember 2003, festgelegt. Bei der Bestimmung der Uhrzeit für den Workshopsbeginn spielte in erster Linie eine Rolle, wann an dem betreffenden Tag für die beteiligten Kinder die Schule enden würde. Bei der Zeitgestaltung waren wir flexibel, da man vermutete, dass die beteiligten Kinder nicht zeitgleich ankommen werden. Der Workshop wurde mit einer Begrüßung der Kinder durch einen der Studenten sowie einer Vorstellung unserer bisherigen Ergebnisse und bevorstehenden Ziele begonnen. Es wurden ebenfalls unsere Erwartungen hinsichtlich der zwei bevorstehenden Workshoptermines genannt und die Aufgaben definiert. Danach wurden Arbeitsgruppen mit jeweils zwei Kindern und zwei Projektteilnehmerinnen (in Ausnahmefällen drei Kinder) ausgelost. Jeder Workshopteilnehmer hat ein eigenes Namenschild erhalten. Jede Kleingruppe hat einen Kiezplan, ein Plus- und Minus-Zeichen sowie eine Fotokamera bekommen. Jedes Kind sollte jeweils zwei gute und schlechte Orte aufsuchen und sich dort mit einem Plus- oder Minus-Zeichen in der Hand von dem anderen Kind photographieren lassen. Die studentischen Betreuer sollten den zurückgelegten Weg zu den von den Kindern gewählten Standorten und die photographierten Orte in den Kiezplan einzeichnen. Danach sollte der Ort ein zweites Mal ohne das Kind photographiert werden. Nebenbei haben die Studenten den

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Kindern ein paar Fragen zum Aufenthalt im öffentlichen Raum gestellt. Für diese Aufgabe war maximal eine Stunde vorgesehen. Nach dem Rückkehr der Kleingruppen gab es im Nachbarschaftshaus Kuchen und Cola. An dem ersten Workshoptermin haben etwa 20 Kinder teilgenommen. Der zweite Workshop fand am Donnerstag, den 11. Dezember 2003, statt. Der Termin wurde mit einem Rückblick auf den ersten Aktionstag begonnen. Danach setzten sich die, vom ersten Termin beibehaltenen, Arbeitsgruppen an einem Tisch zusammen, um über die bereits entwickelten Fotos zu sprechen. Die Studenten sind einen erarbeiteten Fragebogen zum öffentlichen Raum mit den Kindern durchgegangen und haben die Antworten der Kinder mit Diktiergeräten aufgenommen. Danach haben die Kinder, gemeinsam mit ihren studentischen Betreuern, Plakate mit Fotos und Erläuterungen angefertigt. Anschließend wurden alle Plakate präsentiert. Parallel dazu wurde jedes Kind von dem Fotograf Daniel Sandorowski in einem separaten Raum fotografiert. Wie beim ersten Termin wurde der Aktionstag mit Kuchen und Cola abgeschlossen. An dem zweiten Termin haben 18 Kinder teilgenommen.

1.3 Analyse des Partizipationsworkshops 1.3.1 Methodische Analyse Es ist ein großer Erfolg, dass es gelungen ist, diesen Partizipationsworkshop erfolgreich durchzuführen. Viele der Kinder stammten aus Familien mit Migrationshintergrund, welche sich erfahrungsgemäß wenig an Partizipationsveranstaltungen der Stadtentwicklung beteiligen bzw. an solchen beteiligt werden. Diese arbeiteten angeregt mit und erzielten vorzeigbare Ergebnisse, die alle beteiligten Seiten zufrieden stellten. Weiterhin ist zu erwähnen, dass es gelungen ist, lokale Akteure, insbesondere das Nachbarschaftshaus, einen Künstler und die lokale Presse in die Durchführung des Partizipationsworkshops einzubinden. Diese erfreulichen Ergebnisse sind umso bemerkenswerter, als während der Planung Befürchtungen laut geworden waren, dass der Ablauf des Workshops im Chaos enden könnte. Dieses Chaos ist trotz einer Beteiligung von ca. 20 Kindern ausgeblieben. Gleichzeitig hat sich aber auch gezeigt, dass es nicht möglich ist, dem befürchteten Chaos dadurch entgegenzuwirken, dass im vorhinein jede Eventualität in der Planung berücksichtigt wird. Stattdessen ist es vor allem wichtig, flexibel und prozessorientiert vorzugehen und immer eine Alternative für den Fall parat haben, dass etwas nicht so abläuft wie geplant. Im Falle unseres Workshops hieß das zum Beispiel: Diktiergeräte benützen statt großer Reportergeräte, Kinder zu fotografieren statt sie malen zu lassen ... Planungstheoretisch gesprochen wurde also perspektivischer Inkrementalismus betrieben.

Empfehlungen Des weiteren lassen sich für die organisatorische Seite des Workshops folgende Empfehlungen ableiten: Die Partizipanten akzeptieren und ernst nehmen und eine gute Stimmung bzw. persönliche Beziehungen (wenn auch locker) aufbauen. Nach anfänglicher Scheu herrschte schon bald Sympathie und Aufgeschlossenheit zwischen Betreuern und den Kindern. Es gab viel Neugierde und kaum Kontaktschwierigkeiten


gegenüber den Studenten. Eingeschränkt wurde diese gute Arbeitsatmosphäre allenfalls durch vereinzelte Demonstrationen von „Coolness“ durch Kinder und Jugendliche männlichen Geschlechts. Auch war in einem Fall die Gruppenzusammenstellung etwas unglücklich, da sich die Kinder gegenseitig „beharkten“. Dies war jedoch durch das von uns durchgeführte Losverfahren zur Gruppenzusammenstellung nicht beeinflussbar. Eventuell müssten hier Strategien entwickelt werden, wie solche Gruppenzusammenstellungen verhindert werden könnten

Die zu Partizipierenden dort aufsuchen, wo sie sich befinden. In unserem Fall hieß das: Hingehen ins Nachbarschaftshaus und die Betreuer und Kinder aufsuchen, nicht etwa, Artikel in die Zeitung zu setzen oder einen Aushang zu machen.

Erkenntnisziel, Motivation und der Workshopablauf müssen sich nach der jeweiligen Zielgruppe richten. In unserem Fall bedeutete das die Schaffung eines niedrigschwelligen Angebotes, welches den Kindern Spaß und Abwechslung bot und zudem mit Kuchen und Getränken als „Belohnung“ endete. Sicher war für die Kinder auch unser Wunsch, etwas über das Leben der Kinder allgemein und insbesondere über ihre Nutzung der öffentlichen Räume zu erfahren, eine Motivation, da sie in dieser Rolle zu den Experten wurden, die selbst auch etwas anzubieten haben. Unserer Erfahrung nach sind Workshops, die „etwas anzubieten haben“, erfolgreicher als solche, die nur auf „Engagement für die Sache“ oder Idealismus setzen.

Die Methodik und Kommunikationsform anpassen: In unserem Fall : Einfache Sprache, Malen,„spannende Fotoserien“. Lange Erklärungen, Fachausdrücke und komplizierte Abläufe wäre den Kindern nicht gerecht geworden. Einige Kleingruppen machten dennoch die Erfahrung, dass nicht alle Fragen für die Kinder verständlich waren. Hier wäre es bei einer Wiederholung eines Workshops notwendig, darüber nachzudenken, wie sich einige Fragen noch anschaulicher formulieren ließen. Darüber hinaus lassen sich einige Lehren und Anregungen, aber auch offene Fragen für spätere Workshops und Beteiligungsverfahren formulieren: Der Arbeite- und Zeitaufwand für Konzeptionierung, Kontaktaufnahme, das Besorgen von Materialien und die Durchführung und Nachbereitung selbst ist nicht zu unterschätzen. Es bestätigte sich, dass vor Ort vorhandene Organisationen (lokale Akteure) unbedingt einbezogen werden sollten. Bei uns half besonders das Nachbarschaftshaus, das dem Vorhaben positiv gegenüberstand, den Aufwand für Kontaktaufnahme erheblich reduzierte und spezifische Informationen über die Bevölkerung vor Ort (notwendiges Vorwissen für Konzeptionierung) lieferte. Versuchen, andere Mitwirkende frühzeitig festzulegen: Grundsätzliches Interesse bekunden viele der Angesprochenen,

aber Künstler und andere müssen zu einem gewissen Termin fest zusagen, damit einige „feste Eckpunkte“ des Workshops stehen.

1,3.2 Inhaltliche Analyse Ziel unseres Partizipationsworkshops war es, weitere Informationen über die Zielgruppe, ihr Leben, ihre Wünsche und Prioritäten zu erhalten. Dies ist gelungen und wir sollten die erzielten Ergebnisse in unserer weiteren Planung ernst nehmen. Allerdings müssen die Ergebnisse des Workshops auch gewichtet werden, da die von uns Befragten - Kinder im Alter von 8-14 Jahren, größtenteils aus arabischen Familien - nur eine kleine Gruppe der Bevölkerung im Soldiner Kiez darstellen. Möglicherweise decken sich die Wünsche und Vorstellungen dieser Gruppe nicht mit den Wünschen und Vorstellung anderer Gruppen (z.B. Alte, erwachsene Arbeitnehmer, Gewerbetreibende, Alkoholiker, Kinder und Jugendliche türkischer Herkunft). Daher sind unsere Ergebnisse, wenn überhaupt, nur für die von uns befragte Gruppe als repräsentativ zu bezeichnen. Die Gebietekenntnis der Kinder ist sehr unterschiedlich. So kennen einige nur den Block, in welchem sie wohnen, den Block, in welchem sich das Nachbarschaftshaus befindet sowie den Schulweg. Andere wiederum kennen sich im gesamten Kiez gut aus; ältere berichteten gar, dass sie bis zum Alexanderplatz oder nach Kreuzberg fahren würden. Im Allgemeinen hängt die Ortskenntnis mit der Erlaubnis der Eltern zusammen, wie weit sich ihre Kinder von der eigenen Wohnung in ihrer Freizeit entfernen dürfen. Neben der Festlegung von Aktionsradien, verbotenen oder gefährlichen Gebieten (Pankeufer, Stellen mit Drogenabhängigen und -dealern bzw. Alkoholikern, verkehrsreiche Kreuzung Osloer Straße/Prinzenallee) sowie zeitlichen Grenzen durch die Eltern zeigt sich die große Rolle der Familie auch an den Antworten zur Frage über Kenntnisse von außerhalb des Soldiner Kiez liegenden Bereichen der Stadt. Sind solche vorhanden, handelt es sich hierbei in der Regel um die Wohnorte von Verwandten. Die Kinder, welche sich im gesamten Kiez gut auskennen, konnten den Studierenden viel über nicht sichtbare Nutzungsbarrieren der öffentlichen Räume berichten. Diese hängen in erster Linie mit der ethnischen Zugehörigkeit der Bewohner und einer für Ausstehende kaum erkennbaren Segregation zusammen:„Da geh‘ ich nicht so gern hin, das ist die Straße der Türken / Straße der Albaner.“ Probleme gibt es auch mit älteren Bewohnern, die den Spiel-Lärm der Kinder nicht haben wollen. Auf der anderen Seite wurde festgestellt, dass bestimmte physische Barrieren wie Zäune und Mauern unter Umständen keine Barrieren für die Kinder darstellen, weil diese über Zäune klettern, Durchschlupfmöglichkeiten kennen usw. Auf diese Weise entstehen inoffizielle Wege, welche ohne genaue Gebietskenntnis für Außenstehende nicht ersichtlich sind. Die meisten Kinder mögen Bäume. Allerdings wird der „baumreichste“ Ort, der Pankegrünzug, aufgrund der dort vorhandenen Probleme mit Alkoholikern als negativer Ort wahrgenommen. Dies hängt mit den dort wahrgenommenen Problemen (Drogenkonsum, Alkoholismus) zusammen. Der Konsum von legalen und illegalen Drogen und die potenziellen Konsumfolgeerscheinungen (z.B. Verschmutzung öffentlicher Räume, Gewaltbereitschaft der Drogenkonsumenten) im öffentlichen Raum werden von den

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Kindern auch an anderer Stelle wahrgenommen und als negativ bewertet. Er führt auch dazu, dass die Kinder bestimmte Orte zu bestimmten Zeiten nicht aufsuchen oder generell meiden. Daneben wurde auch die Verwahrlosung von Häusern und Hinterhöfen, von Straßen und Spielplätzen (z. B. Hundekot und kaputtes Gerät auf Spielplätzen), Leerstand und das „Kaputtmachen von Orten“ durch „Besoffene“ als negativ empfunden. Die meisten der Kinder nehmen ungepflegte/verwahrloste Häuser als unschön, moderne oder modernisierte Häuser mit farbiger oder heller Fassade hingegen als schön wahr. Dem „Charme bröckligen Putzes“ an Gründerzeitbauten scheinen die Kinder also nicht erlegen zu sein. Die Wahrnehmung funktioniert anders, als wir das vorausgesetzt hatten: So wird z. B. die Qualität von Räumen und Orten durch persönliche, auch zufällige Erlebnisse entscheidend definiert und nicht durch (vordergründig) objektive Kriterien wie Größe, Materialqualität, Proportionen, Zustand. Kinder, welche bereits einmal in die Panke gefallen sind, betrachten diese auch aus diesem Grund als negativen Ort, Weitere Gründe sind die Verschmutzung von Teilen des Pankeufers und die schlechte Wasserqualität, welche sich in dem von den Kindern beklagten Gestank bemerkbar macht. Dabei ist die Charakterisierung als positiver oder negativer Ort jedoch nicht statisch, sondern kann sich auch ändern, wenn sich der Charakter des Ortes ändert. Beispielsweise war das PkwWrack im dritten Hinterhof der Prinzenallee 58 früher für einige Kinder ein beliebter Spielplatz. Seit jedoch die Fensterscheiben des Wracks zerstört sind, wird der Ort als negativ bewertet. Das Nachbarschaftshaus mit seinen Freizeitangeboten wird von allen als positiver Ort gesehen. Seine Umgebung, die Hinterhöfe der Prinzenallee 58, zeigt, dass es bei einem „Makroort“ (hier die Prinzenallee 58) mehrere „Mikroorte“(hier die einzelnen Hinterhöfe und sogar einzelne Bereiche in denselben Hof ) gibt, welche entgegengesetzt bewertet werden.

Neben dem Nachbarschaftshaus werden auch andere soziale Einrichtungen wie die Remise und auch die Fabrik in der Osloer Straße gern und intensiv genutzt. Daneben spielen Sport, die Schule, Computer, Fernsehen und Spiel mit Freunden eine große Rolle. Spielorte sind zum einen die Spielplätze, deren Bewertung durch die Kinder oft ohne ersichtliche Systematik auseinander geht und sich häufig deutlich von der der Studierenden unterscheidet. Daneben werden aber auch Schulhöfe, Höfe von Wohnhäusern, Orte wie Bibliotheken, sowie, seltener, die Straße (zum Fahrradfahren oder Fußballspielen), als Spiel-und Aufenthaltsort genutzt. Der motorisierte Individualverkehr stört die Kinder in erster Linie als Sicherheitsrisiko beim Überqueren der Straßen, weniger als Lärmquelle. Unklar blieb, ob das eine Folge von Gewöhnung oder Akzeptanz des Unabänderlichen war oder ob die Empfindlichkeit von Kindern woanders liegt.

1.4 Fazit Zusammenfassend gesagt war der Partizipationsworkshop ein Erfolg für die beteiligten Akteure. Methodisch lässt sich durch das Untersuchen des Ablaufes und daraus ableitbaren Veränderungen eine Verbesserung für einen nächsten Workshop dieser Art erreichen, auch wenn bei jedem Partizipationsworkshop die Rahmenbedingungen und Zielsetzungen neu untersucht werden müssen und die Vorgehensweise daran angepasst werden muss. Inhaltlich diente der Workshop mit dazu, eine wichtige Zielgruppe der Planung im Soldiner Kiez kennen zu lernen und einen räumlichen und gestalterischen Rahmen für den Entwurf zu finden. Und nicht zuletzt war der Workshop auch für alle Beteiligten eine interessante persönliche Erfahrung. Verfasser: Aimo, Beata, Garsten, Jakob

Fragestellungen und potentielle Standards Betr. „Mehraufwandsentschädigung“ Von den verschiedenen Instrumenten, die bei der sog. Arbeitsmarktreform eingesetzt werden können, findet zur Zeit eines besondere Aufmerksamkeit: in der öffentlichen Debatte und in der Trägerlandschaft. Es handelt sich um die „Arbeitsgelegenheiten“, die nach dem Willen der Reformer mit 1-2 Euro pro Arbeitsstunde „Mehraufwandsentschädigung“ entgolten werden sollen.

500.000 Arbeitsgelegenheiten

Der Bundeswirtschaftsminister möchte im nächsten Jahr bundesweit 500.000 solcher Arbeitsgelegenheiten schaffen (und finanzieren), große Verbände wie Caritas und Rotes Kreuz haben ihre Bereitschaft erklärt, Tausende von Arbeitslosen in entsprechenden Maßnahmen zu beschäftigen. Im Vorgriff auf die zukünftigen Regelungen wird derzeit von der Bundesagentur für Arbeit ein Sofortprogramm aufgelegt, mit dem zum Stichtag 1. Oktober schon 100.000 solche Arbeitsgelegenheiten bundesweit geschaffen werden. Zielgruppe des Sofortprogramms sind Menschen, die zur Zeit noch Arbeitslosenhilfe beziehen und ab Januar zu den Empfängern von Arbeitslosengeld II gehören werden. •

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Die Nachbarschaftsheime/Stadtteilzentren sind in den letzten Tagen in unterschiedlichen Rollen angesprochen worden, sich an dem Programm zu beteiligen:

entweder von Beschäftigungsgesellschaften, die sich bei den Arbeitsagenturen als Vertragspartner zur Programmumsetzung beworben haben und die jetzt auf der Suche nach konkreten Einsatzmöglichkeiten sind, oder von den Arbeitsagenturen als potentielle Vertragspartner (Bedingung: Einsatzmöglichkeiten für mindes tens 50 Beschäftigte anmelden) oder von Bezirksämtern, die als Zwischeninstanz zwischen Arbeitsagenturen und Beschäftigungsträgern die Umsetzung des Programms beeinflussen wollen.

In einem ersten Schritt richtete sich die Ansprache insbesondere an Träger, die in der Vergangenheit schon Beschäftigungsmaßnahmen für Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger angeboten haben (ABM, SAM, LKZ, AfL, Hilfe zur Arbeit etc.).

Kleine Unterschiede mit großen Nebenwirkungen Oberflächlich betrachtet unterscheiden sich die neu zu schaffenden Arbeitsgelegenheiten nicht allzu sehr von den bisherigen gemeinnützigen Tätigkeiten für Sozialhilfe-Empfänger. Allerdings gibt es kleine Unterschiede, die schwerwiegende Nebenwirkungen haben können, wenn sie nicht mit bedacht werden! Zum einen ist es der Personenkreis, für den diese Arbeitsgelegenheiten angeboten werden, zum andern ist es die damit verbundene (potentielle) Perspektive:


Für die meisten Sozialhilfe-Empfänger war mit der Annahme einer gemeinnützigen zusätzlichen Beschäftigung die Möglichkeit verbunden, sich Schritt für Schritt (in der Regel über eine „Maßnahmen-Kette“) aus der Sozialhilfe herausarbeiten zu können, die Tätigkeit hatte also eine „Aufstiegsperspektive“. Eine Reihe der o.g. Fördermöglichkeiten scheint zur Zeit abgebaut zu werden. Die Beschäftigung im Rahmen der 1-2 Euro Jobs, die auch wieder nur auf 6-12 Monate befristet sein soll, verharrt insofern in einer Sackgasse. Für diejenigen unter den Arbeitslosenhilfebeziehern, für die das Arbeitslosengeld II eine massive Kürzung ihre Bezüge bedeutet, ist diese Art von Beschäftigungsangeboten neu, weil ihnen bisher das Arbeitsamt Beschäftigungsangebote nur in Form sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse gemacht hat (abgesehen von Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen.) Dabei gab es wenigstens theoretisch immer einen Bezug zur bisherigen Qualifikation und angedachten möglichen Beschäftigungen auf dem 1. Arbeitsmarkt. Dieser Zusammenhang entfällt bei den neuen Beschäftigungsmöglichkeiten. Es ist anzunehmen, dass das von vielen Arbeitslosen als eine Deklassierung empfunden wird, die auf sie (ausgerechnet) im gleichen Augenblick zukommt, in denen sich für viele auch ihre materielle Situation massiv zum Schlechteren verändert. In einem Punkt unterscheidet sich allerdings das aktuelle Sofortprogramm noch von den Regelungen, die ab 1.1.2005 gelten sollen: die Arbeitslosenhilfe-Empfänger, denen jetzt eine entsprechende Arbeitsgelegenheit angeboten wird, dürfen das Angebot ablehnen, ohne dass das zu Sanktionen (wie Kürzung der Bezüge) führt. Dafür gibt es zur Zeit nämlich keine Rechtsgrundlage, die wird erst mit dem Arbeitslosengeld II geschaffen.

Prinzip Freiwilligkeit

• •

wer eine der angebotenen Beschäftigungsmöglichkeiten nicht will, passt aus konzeptionellen Gründen nicht in eine Nachbarschaftseinrichtung. Deswegen ist die konzeptionelle Nicht-Übereinstimmung, die nicht zu Lasten des „Bewerbers“ geht, ein ausreichender Grund für die evtl. Ablehnung einer Zuweisung. Klärung der individuellen Perspektiven (welchen Nutzen kann jemand aus der Beschäftigung ziehen ?) Qualifizierungsanteile festlegen und garantieren (Bewerbungstraining wird nicht als Qualifizierung gewertet) Sprachsensibilität (wir „melden“ keinen „Bedarf an“ sondern wir „stellen Beschäftigungsmöglichkeiten zur Verfügung“)

Für Einrichtungen, die nicht selber Beschäftigungsträger und damit Vertragspartner einer Arbeitsagentur sind, sind diese Prinzipien leicht durchzuhalten. Sie sollten aber auch für Einrichtungen gelten, die Beschäftigte direkt von der Arbeitsagentur „zugewiesen“ bekommen und durch die fallbezogene Förderung der Trägerkosten (immerhin bis zu 300 Euro pro Teilnehmer und Monat) leicht unter Druck geraten können. Wenn wir hier eine klare Haltung beziehen, ist das nicht nur eine „Gewissensfrage“ sondern wird uns auf mittlere Sicht auch gegenüber Politik, Verwaltung und Arbeitsagenturen für den Fall nützen, dass die anvisierten großen Zahlen bei dem zu erwartenden Widerstandspotential der (subjektiv) deklassierten Arbeitslosenhi lfeempfänger/innen gegen alle Formen von „Zwangsarbeit“ nicht zu erreichen sind. Ohne Vermittlungsprozesse, die ein hohes Maß an Freiwilligkeit (auf beiden Seiten) zur Grundlage haben, wird es nicht gehen.

Damit ist in diesem Sofortprogramm noch ein Prinzip praktisch gewahrt, das für die Nachbarschaftseinrichtungen, die in diesem Feld tätig sind, von entscheidender Bedeutung ist, nämlich, dass eine freiwillige Entscheidung zur Aufnahme der Tätigkeit vorliegt.

Vorschläge zur Diskussion gestellt

Anders als für manche anderen sozialen Institutionen ist Freiwilligkeit der Beziehungen auf allen Ebenen das Grundprinzip der Arbeit der Nachbarschaftseinrichtungen. Bei der Beteiligung an den jetzt anlaufenden Programmen zur Schaffung von „Arbeitsgelegenheiten“ müssen die Einrichtungen dafür eintreten, dass dies Prinzip gewahrt bleibt.

Viele der bisher angedachten Tätigkeitsfelder liegen im Bereich der im weitesten Sinne sozialen Dienste, wo es vor allem um die Gestaltung von Beziehungen zu anderen Menschen geht. Das lässt sich mit Zwang nicht vereinbaren, insbesondere wenn solche Tätigkeiten in der Verantwortung von Nachbarschaftseinrichtungen stattfinden, deren Ansatz immer wieder einen Perspektivenwechsel erfordert: d.h. die Dinge aus der Sicht der Nutzer und ihrer subjektiven wie objektiven Interessen zu betrachten. Bezogen auf die „Kunden“ von ALG II bedeutet das, die subjektive Wahrnehmung des Zwangscharakters entsprechender Zuweisungen auch dann ernst zu nehmen, wenn sie objektiv nicht die ganze Wahrheit widerspiegelt. Diejenigen, die vom ALG II betroffen sind, sind u.a. auch Zielgruppe der Nachbarschaftseinrichtungen, Diese müssen mit ihnen gemeinsam Wege aus dem Dilemma finden, die für sie subjektiv und objektiv akzeptabel sind.

Standards beachten Das ist möglich, wenn in der konkreten Gestaltung einige Standards beachtet werden: • •

keine Beschäftigung von irgendjemand gegen seinen/ ihren Willen das Recht des Trägers zur Auswahl der Beschäftigten bleibt gewahrt

Dafür sollten wir eigene Vorschläge machen, wie sie z.B. vom Nachbarschaftshaus KiekIn zur Diskussion gestellt worden sind: Es wäre denkbar, dass zuweisungsberechtigte Erwerbslose einen Gutschein erhalten, auf dem der Förderzeitraum sowie eventuelle Stundenvorgaben vermerkt sind. Träger, die Arbeitsgelegenheiten anbieten wollen, müssten diese in Form eines Angebotskataloges präsentieren, der im Vorfeld mit der „ARGE“ abgestimmt wird. Der Gutscheininhaber könnte nunmehr innerhalb einer kurzen Frist selbständig das Angebot bei dem Träger auswählen, das ihn am meisten anspricht. Nach Kontaktaufnahme mit dem Träger könnte dann die individuelle Fördervereinbarung abgeschlossen werden.

Ein Ansatz, der auf diese oder ähnliche Weise auf zweiseitige Vereinbarungen statt auf einseitig ausgeübten Zwang setzt, hat gegenüber den bislang im Gespräch befindlichen Abläufen folgende Vorteile: • •

Die Arbeit entspricht dem Interesse der Erwerbslosen Diese übernehmen Verantwortung für sich selbst, eine Vorbedingung für die Überwindung jener Resignation, die jede Beschäftigungschance verhindert Die Träger treten in einen Wettbewerb untereinander ein, sie müssen die Arbeitsgelegenheiten möglichst attraktiv gestalten

Den offiziellen Zielsetzungen des Programms wäre damit besser gedient als mit der Vermittlung ungewollter Beschäftigungen: geht es doch darum, bei Langzeitarbeitslosen die „Beschäftigungsfähigkeit“ zu erhalten, bzw. Jugendliche und junge Erwachsene an eine reguläre Beschäftigung heranzuführen. Dafür ist alles von Vorteil, was Motivationen weckt und potentielle Stärken einbezieht.

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Die Kiezaktivkassen

Neue impulse für bürgerschaftliches Engagement

Die Bürgergesellschaft wird ständig in Reden, Aufsätzen und Debatten beschworen. Was verbirgt sich hinter diesem Verständnis von Gemeinwesen? Wie sieht die Bürgergesellschaft im lokalen Raum aus? Was für Projekte können dazu beitragen diese zu aktivieren? Diese Fragen sind der Ausgangspunkt für die KiezAktivKassen gewesen. In einem Hotel im Berliner Bezirk Köpenick sind sie im Jahr 2002 intensiv von Praktikern aus ganz Europa diskutiert worden. Die europäischen Gäste präsentierten im Rahmen dieser Veranstaltung Projekte, mit denen sie in ihren Heimatländern Bürgerinnen und Bürger für gesellschaftliches Engagement gewinnen. Die best-practice Beispiele reichten von Moderationsmethoden zur Engagementförderung bis zur Ausbildung von Jugendlichen als Organisationsberatern, die Vereine auf Jugendtauglichkeit prüfen. Eines der Projekte, die Youthbank aus Großbritannien, faszinierte durch Einfachheit und einen hohen Wirkungsgrad. In Großbritannien hat sich ein Netzwerk lokaler Youthbanks etabliert. Die „Banken“, die von Jugendlichen selber getragen werden, vergeben Geldbeträge an Gleichaltrige, die damit Projekte verfolgen, die jungen Menschen vor Ort zu Gute kommen. Die zu vergebenen Gelder werben die Jugendlichen bei Stiftungen oder der öffentlichen Hand ein. Dieses Projekt ging verschiedenen Teilnehmern der Tagung in Berlin nicht mehr aus dem Kopf. Es bildete die Grundlage für die KiezAktivKassen der Jugend- und Familienstiftung. In Kooperation mit der Landesgruppe Berlin des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit und der Bertelsmann Stiftung entstand ein Konzept, das die Zielgruppe der „Bank“ auf alle Menschen in einem Kiez erweiterte, aber ansonsten die Verantwortung für das Kassengeld an die Mitglieder der KiezAktivKassen übertrug - außer der Geldbeschaffung, denn das stellte die Jugend- und Familienstiftung bereit: mit 30.000 Euro wurden sechs KiezAktivKassen in sechs verschiedenen Berliner Bezirken gefüllt. Wie sie Ihre Arbeit organisiert haben und was für Projekte sie förderten, wird im Folgenden geschildert. Die KiezAktivKassen sind ein Beispiel dafür, wie mit einfachen Mitteln und dem Vertrauen in Bürgerinnen und Bürger im lokalen Raum Bürgergesellschaft entstehen kann. Es zeigt sich, dass die Menschen vor Ort sehr gut die Probleme Ihres Kiezes kennen und auch Ideen für deren Lösung haben. Wir hoffen, dass diese Beschreibung Interesse für KiezAktivKassen in anderen Teilen Deutschlands weckt. Wir würden uns freuen, wenn das Berliner Beispiel Schule macht und somit die Bürgergesellschaft um einen weiteren Aktivierungsbaustein bereichert werden kann. Michael Seberich Bertelsmann Stiftung - Projekt Erziehung zu Gemeinsinn und Gemeinschaftsfähigkeit

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Was ist das besondere an der KiezAktivkasse? Das Programm KiezAktivKasse wurde als ein spezielles Förderprogramm der Jugend- und Familienstiftung des Landes Berlin gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung und dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit entwickelt. Kerngedanke dabei war, dass lokale gemeinwesenorientierte Aktivitäten von Bürger/-innen für Bürger/-innen mit kleinen Förderbeträgen unterstützt werden. Ziel war es, anfänglich in sechs Kiezen verschiedener Berliner Bezirke das Zusammenleben der Generationen zu fördern und die Familienfreundlichkeit zu verbessern. In der KiezAktivKasse sollten Bewohnerinnen und Bewohner eines bestimmten Wohngebietes nach einem öffentlichen Aufruf eine Förderjury bilden. Die Jury sollte vor Ort nach eigenen Vergabekriterien einen Förderfond verwalten, an den alle Bewohnerinnen Förderanträge in einem Umfang bis maximal 750.- Euro richten können. Die Jury verfügte dabei zunächst jeweils über eine von der Jugend- und Familienstiftung des Landes Berlin bereitgestellte Fördersumme von 5.000.- Euro, die sie jedoch durch zusätzliche Einwerbung lokaler Mittel erweitern konnte. Eine Förderung durch die KiezAktivKasse sollte die Funktion einer „Initialzündung“ haben für weitere finanzielle und persönliche Unterstützung durch Dritte. Die Bürgerinnen und Bürger sollten somit als „Kassenaktive“ oder „Kiezaktive“ Verantwortung für ihr Wohngebiet übernehmen und auf der Grundlage ihrer örtlichen Sachkenntnis unbürokratisch über die Verwendung der Mittel entscheiden.

Die Kiezaktivkassen - Beschreibung und erste Auswertung eines Pilotprojektes Standorte finden Jede KiezAktivKasse benötigt ein Dach. Sie wird deshalb Gast bei einem Nachbarschafts- oder Stadtteilzentrum oder einer ähnlichen gemeinnützigen Einrichtung und erhält dort die nötige Unterstützung. Die Strukturen für einen reibungslosen und unbürokratischen Ablauf vom Programmstart bis zur Abrechnung wurden von der Jugend- und Familienstiftung in Zusammenarbeit mit entsprechenden Einrichtungen entwickelt. Bei einem Startworkshop wurden die Vorüberlegungen der Jugend- und Familienstiftung mit den Erfahrungen und Anregungen der Mitarbeiter/-innen von Nachbarschafts- und Stadtteileinrichtungen verbunden. Interessierte Einrichtungen konnten sich dann innerhalb eines Monats als Gastorganisationen bewerben. Daraus wurden 6 Träger für die Pilotphase der KiezAktivKasse ausgewählt. Leitbild war dabei, eine große Vielfalt zu erreichen. Große und kleine Träger sollten vertreten sein, innerstädtische ebenso wie solche mit Sitz außerhalb des Zentrums. Für die umfangreichen Aufgaben stand den Gastgeberorganisationen jeweils ein Etat von 300.- Euro zur Verfügung. Dies erscheint auf den ersten Blick vielleicht unangemessen. Allerdings müssen die Kosten in einem akzeptablen Verhältnis zum Umfang der Fördermittel stehen und die Gastgeberorganisationen profitieren auch auf andere Weise von ihrem Engagement:


• • •

Die Einrichtungen gewinnen an Bekanntheit und erreichen eine bessere Auslastung ihrer Angebote Sie können sich gegenüber öffentlichen Zuwendungsgebern als innovative Partner profilieren Sie gewinnen Zugang zu potenziellen Sponsoren auch für die eigene Einrichtung

In der Auftaktveranstaltung zur Einrichtung der Kiez-AktivKassen wurden folgende Vorschläge für die Öffentlichkeitsarbeit der Gast- bzw. Trägerorganisationen gesammelt: •

• •

Öffentliche Einladung zur Start- Veranstaltung durch Plakataushang sowie Verteilung und Auslage von Programmflyern im Stadtteil Gezielte Ansprache von Einzelpersonen Gezielte Information von Multiplikatoren in örtlichen Gremien wie Elternvertretungen, Mieterberatungen, Interessensverbänden von Gewerbetreibenden Nutzung öffentlicher Veranstaltungen (Podiumsdiskussionen, Straßenfeste etc.)

Die Kiezaktivkasse bekannt machen Interessierte Bürgerinnen und Bürger bekommen vor allem über persönliche Ansprache den entscheidenden Anstoß zur Mitarbeit in der KiezAktivKasse. Dennoch macht eine breite Öffentlichkeitsarbeit zur Werbung für die Mitarbeit Sinn, denn dadurch wird gleichzeitig über die Möglichkeit informiert, dass Förderanträge bei der Jury gestellt werden können. Außerdem zeigen Erfahrungen aus dem professionellen PR-Geschäft, dass eine Ansprache über mehrere Kanäle und Medien insgesamt immer den besten Erfolg bringt.

Die Jury zusammenstellen Die Zusammenstellung der Förderjury ist eine besonders sensible Phase bei der Einrichtung der KiezAktivKasse. Einerseits sollten die Kassenaktiven möglichst den Querschnitt der Bevölkerung im Einzugsgebiet abbilden. Andererseits muss auch auf eine arbeitsfähige Größe geachtet werden, bei der vielleicht nicht jede Interessensgruppe Berücksichtigung findet. Insbesondere in multikulturell geprägten Stadtteilen ist dies nicht immer eine leichte Aufgabe. Sie setzt voraus, dass die Verantwortlichen der Trägerorganisation mit den sozialen Netzwerken und Organisationen im Stadtteil vertraut sind. In benachteiligten Quartieren kann es vorkommen, dass Anwohner zögern, Verantwortung für die Verteilung von aus ihrer Sicht „großen Summen“ zu übernehmen. Hier können Finanzerfahrene dazu beitragen, die Hemmschwellen zu senken. Die meisten Kiezaktivkassen haben mit einer Größe von 5-7 Jurymitgliedern gute Erfahrungen gemacht. Weniger sollten es nicht sein, weil immer damit gerechnet werden muss, dass einzelne Jurymitglieder nicht alle Entscheidungstermine wahrnehmen können. Auch hat es sich als sinnvoll erwiesen, dass sowohl „lokales Urgestein“ als auch mehr und weniger frisch Zugezogene in der Jury vertreten sind. Grundsätzlich hat es sich als problematisch erwiesen, wenn Jurymitglieder selber auch Förderanträge stellen. Um Interessenskonflikte oder gar eine dauerhaft belastete Arbeitsatmosphäre zu vermeiden haben einzelne KiezAktivKassen sich von vornherein einstimmig für eine Geschäftsordnung entschieden, die Stimmenthaltung vorsieht, wenn persönliche Interessen mit Vorhaben verknüpft sind, für die ein Förderantrag gestellt wurde. Am meisten Erfolg bei der Drittmittelakquise hatten solche Akteure, die nicht nur von einem konkreten Projekt überzeugt waren und dies auch mit Selbstbewusstsein nach außen vertreten konnten, sondern für die Projekte auch Rückendeckung von örtlichen Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung bekamen. Entscheidend war aber vor allem, dass die geförderten Vorhaben, für den Stadtteil eine besondere Bedeutung hatten und von vielen Akteuren mitgetragen wurden Werbung zur Verstärkung

einer „anonymen“ KiezAktivkasse hatte meist weniger Erfolg als die Werbung zur Ko-Finanzierung eines konkreten Vorhabens, wie beispielsweise die Finanzierung von Bodenschwellen zur Verkehrsberuhigung einer Wohnstraße.

Drittmittel akquirieren Auch die begrenzten Mittel einer KiezAktivKasse können nach sorgfältiger Prüfung und Vergabe große Wirkungen im Stadtteil entfalten. Insbesondere dann, wenn es gelingt, das vorhandene Kapital der KiezAktivKasse durch Einwerbung von Drittmitteln aufzustocken. Erfahrungsgemäß ist die Bereitschaft zu ergänzender Förderung besonders groß, weil durch die bereits vorhandene Kapitalbasis ein gewisser Erfolg bereits garantiert ist, an dem Spendenwillige auch mit kleinen zusätzlichen Beträgen in vollem Umfang beteiligt sind. Im Übrigen gelten für Drittmittelakquise die gleichen Prinzipien wie für jede erfolgreiche Werbung um Unterstützung und Spenden: Es gilt vom Kleinen ins Große zu gehen, vom Bekannten zum Unbekannten. Von der Werbung im Freundes- und Bekanntenkreis über die Ansprache lokaler Gewerbetreibender bis hin zur Unterstützung durch Presse und Medien.

Förderkriterien entwickeln Soll eine KiezAktivKasse als „Förderinstanz“ dauerhaft etabliert werden, ist eine Festlegung von Förderkriterien unabdingbar. Je stärker sich die Anträge häufen, desto deutlicher wird das allen Beteiligten: Wird jeweils erst im Nachhinein oder im Einzelfall entschieden, so kann es zum Eindruck von Intransparenz oder gar Willkür kommen. Deshalb macht es Sinn, frühzeitig wenigstens einen Kriterienkatalog oder eine Prioritätenliste zu erstellen, die zumindest eine grobe Orientierung für Entscheidungen bieten, ohne eine inhaltliche Diskussion im Einzelfall ersetzen zu können. Kriterien könne beispielsweise sein: • • • •

Das Vorhaben soll generationsübergreifenden Charakter haben Das Vorhaben soll einen hohen Beteilungseffekt haben Die Ergebnisse des Vorhabens sollen allgemein öffentlich zugänglich sein Es soll erkennbar sein, dass Eigenarbeit bzw. Eigenmittel in das Vorhaben einfließen

Aus grundsätzlichen Erwägungen wird empfohlen, auf die Förderung von Vorhaben zu verzichten, bei denen der Eindruck überwiegt, dass es sich um eine Ersatzfinanzierung nach Mittelkürzungen für eine öffentliche oder öffentlich geförderte Einrichtung handelt. Vor Beginn der Antragsprüfung stellten die meisten Förderrjurys eine Geschäftsordnung auf, die nur wenige Punkte umfasst. So wurden beispielsweise Beschlüsse zu Antragsrecht und Grundsätze beim Abstimmungsverhalten der Jury-Mitglieder festgelegt oder Termine für die Abstimmung über Anträge verabredet. Differenzierte Förderkriterien wurden zunächst von den wenigsten Jurys aufgestellt. In der ersten Förderperiode war die KiezAktivKasse nur wenig bekannt und es gab deshalb oft gerade genug Anträge, über die überhaupt entschieden werden konnte. Entsprechend drehten sich die Diskussionen in der Jury dann meist eher um die Frage der Förderhöhe, als um die grundsätzliche Förderwürdigkeit der beantragten Vorhaben.

Wie weit geht mein Kiez? Im Zusammenhang mit Förderkriterien stellt sich auch die Frage, in welchem räumlichen Wirkungsbereich sich die KiezAktivKasse bewegen soll. Die Diskussion um die Wahrnehmung von Grenzen des Stadtteils hat jedoch nicht nur die Funktion, ein weiteres Förderkriterium aufzustellen, sondern auch: unterschiedliche Sichtweisen auf

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den Kiez offen zu legen und Erfahrungswissen der Kassenaktiven auszutauschen und für andere verfügbar zu machen. Die Erstellung einer Kiezkarte hat sich in unterschiedlichen Zusammenhängen als sehr wirkungsvolles Instrument der Mobilisierung und Beteiligung erwiesen. Als Medium der Öffentlichkeitsarbeit - ergänzt durch Fotomaterial oder „Spielgeld“ - sorgte die Kiezkarte im Schaufenster oder auf öffentlichen Veranstaltungen für Aufsehen und machte plastisch, um was es bei der KiezAktivKasse geht. Nicht zuletzt lernten sich die Kassenaktiven bei der Erarbeitung auch ein bisschen besser kennen. Gute Erfahrungen haben die Berliner KiezAktivKassen mit der Auslage und Verteilung von einfachen Antragsformularen gemacht. Die Nutzung dieser Formulierungshilfen war aber nie Fördervoraussetzung. Um das Risiko der Sprachbarriere zu vermindern wurden in einem Fall sowohl Informationen als auch Antragsformulare in die von MigrantInnen am häufigsten genutzten Muttersprachen übersetzt Um den Arbeitsaufwand möglichst gering zu halten, haben sich viele KiezAktivKassen dazu entschieden, den Antrag inklusive Projektbeschreibung auf 1-2 Seiten zu begrenzen und mehrere Anträge zu sammeln, bis darüber in einer gemeinsamen Sitzung entschieden wurde. Es wurde auch in den meisten Fällen auf eine persönliche Vorstellung des Vorhabens durch die Antragstellenden verzichtet. Einige haben sich jedoch auch viel Zeit für persönliche Gespräche und Vor-Ort-Besuche genommen. Öffentliche Beratungstermine haben, wenn alle Antragsteller eingeladen wurden, zu hilfreichen Kontakten unter Kiezaktiven beigetragen.

Antragstellung und Mittelvergabe organisieren Auch wenn im Stadtteil intensiv für die Antragstellung geworben wird, dauert es in der Regel mehrere Wochen, bis die ersten Anträge bei der KiezAktivKasse eingehen. Deshalb sollte mit der Werbung und Ankündigung eines ersten Entscheidungstermins nicht gewartet werden, bis alle Details der Förderkriterien oder der „Kiezgrenzen“ entschieden sind. Das Verfahren der Antragstellung soll keine bürokratischen Hürden aufbauen und die Mittelvergabe sollte zeitnah erfolgen. So kann gewährleistet werden, dass der Kreis der Antragsteller/innen nicht nur aus den üblichen „Akquisitionsprofis“ besteht. Eine klare Trennung zwischen Entscheidungsverfahren (durch die Kassenaktiven) und formaler Abwicklung der Förderung (Auszahlung, Abrechnung und Dokumentation durch die Gastorganisation) ist für das Funktionieren der KiezAktivKasse besonders hilfreich..

Erfahrungen austauschen Zur Weiterentwicklung der KiezAktivKasse sollten nach einer angemessenen Laufzeit die am Programm beteiligten Kiezbewohner/-innen zu einem Erfahrungsaustausch eingeladen werden. Hier können geförderte Aktivitäten vorgestellt, bisher Erlebtes ausgetauscht und ausgewertet werden. Bestimmte Themen, zum Beispiel Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising, können aus der Nähe betrachtet und bei Bedarf Fragen geklärt, benötigtes Wissen vermittelt und Tipps gegeben werden - und auch das gemeinsame Feiern sollte nicht zu kurz kommen.

Erfolge feiern Sehr positiv haben die Beteiligten in Berlin das Angebot zum Erfahrungsaustausch aufgegriffen. Nach einigen Erfahrungen mit Antragstellungen und Mittelvergabe wurde dazu im Mai 2004 eine weitere KiezAktivKassen - Werkstatt durchgeführt. Der Schwerpunkt lag bei Erfahrungen und Anregungen der Kassenaktiven. Außerdem wurden von einer PR-Fachkraft Informationen und Empfehlungen zur Öffentlichkeitsarbeit und zur Werbung von Partnern und Förderern vermittelt. Der von Michael Seberich moderierte Austausch machte folgen-

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des deutlich: Die Etablierung der Idee benötigt in der Regel ein halbes Jahr Vorlauf bis zur Umsetzung der ersten Projekte. Ein Start im Winterhalbjahr ist deshalb günstiger als im Sommer • In der Anfangsphase macht es Sinn auch bereits bestehende Initiativen zu fördern, um die Fördermöglichkeit bekannt zu machen. Später ist es sinnvoller neue Initiativen anzuregen · • Wird der Kiez zu weitläufig definiert steigt der Organisationsaufwand überproportional an und es besteht die Gefahr sich zu verzetteln. • In multikulturell geprägten Stadtteilen ist es sinnvoll, Infomaterialien in verschiedenen Sprachen zur Verfügung zu haben • Je mehr Menschen von einem Thema betroffen sind und sich bei einem Vorhaben einbringen können, desto leichter ist es zusätzliche Mittel für die Verwirklichung zu akquirieren • Aktivitäten zur Verkehrsberuhigung und zur Gestaltung bzw. Pflege öffentlicher Räume bzw. Freiflächen haben sich als besonders wirkungsvoll erwiesen • Unerfahrene Kassenaktive benötigen Coaching, um die Balance zwischen Autonomie der Jury und vorgegebenen Förderzielen zu entwickeln • Die Mitarbeit in der Jury bedarf der besonderen Anerkennung Die Einladung aller Beteiligten zu einem schmackhaften und reichhaltigen Buffet bildete einen angemessenen und gern angenommenen Abschluss der Pilotphase.

Perspektiven Als wichtigste Erkenntnis aus der Arbeit der KiezAktivKassen wurde immer wieder formuliert, dass schon mit wenig Mitteln viel in Bewegung gebracht werden kann. So bekam bei einer Befragung der Kassenaktiven das Verhältnis zwischen Aufwand und Nutzen sehr gute Noten. Die Befragung ergab auch, dass niemand die Teilnahme bereut hat und fast alle sich erneut daran beteiligen würden. Auch wenn in Bezug auf spezifische Wirkungen der geförderten Aktivitäten noch nicht viel ausgesagt werden konnte, außer, dass mit Sicherheit bestehendes Engagement gestärkt wurde, so waren sich die Beteiligten doch mehrheitlich darüber einig, dass die Wirkungen für den Stadtteil dauerhafter Natur sein werden. Neben der Motivation, sich für den Kiez zu engagieren spielt auch das Knüpfen neuer Kontakte im Stadtteil eine wichtige Rolle beim Engagement in der KiezAktivKasse. Das von den Jurybeteiligten selbst entwickelte Vergabeverfahren wurde einheitlich von allen als sinnvoll bezeichnet. Dies bestätigt die Herangehensweise der Jugend- und Familienstiftung, diesbezüglich möglichst wenige Vorgaben zu machen. Interessant war die äußerst ausgewogene Mischung von Alteingesessenen und neu oder erst vor wenigen Jahren Zugezogenen in den Jurien. Rund die Hälfte der Beteiligten Kassenaktiven hätte sich etwas mehr Unterstützung erhofft, vor allem im Bereich Information und Öffentlichkeitsarbeit sowie bei der Akquisition von weiteren Mitteln. In Einzelinterviews mit Kassenaktiven wurde aber auch deutlich, dass durch den Erfahrungsaustausch bereits viele Anregungen in die weitere Arbeit der Kiezaktivkassen eingeflossen sind oder zu weitergehenden Versuchen angeregt wurde. Als Konsequenz aus den guten Erfahrungen mit der Pilotphase hat die Jugend- und Familienstiftung beschlossen, das Förderprogramm zu verlängern und auf weitere Standorte auszudehnen. Die Bertelsmann-Stiftung hat sich darüber hinaus für eine Initiative zur Übertragung in andere Städte entschieden. Oliver Ginsberg (Dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung der Jugendund Familienstiftung einer ausführlicheren Projektdokumentation entnommen, die bei der JFSB - Kontaktadresse s.o. - zu beziehen ist)


Kontakt Jugend- und Familienstiftung des Landes Berlin Stiftung des öffentlichen Rechts Obentrautstraße 55 / 10963 Berlin Fon: 030-2175 1370 / Fax: -1372 kiezaktiv@jfsb.de / www.jfsb.de Bertelsmann Stiftung Carl-Bertelsmann-Straße 256 PF 103 / 33311 Gütersloh Fon: 05241-810 / Fax: -81 81 999 info@bertelsmann-stiftung.de www.bertelsmann-stiftung.de

Kiez-Aktiv-Kasse wird wieder gefüllt Stiftung fördert Aktionen in Weißensee Weißensee. Mit Mitteln aus der Kiez-AktivKasse wurden in diesem Jahr 13 Projekte gefördert. Im kommenden Jahr steht erneut Geld zur Verfügung.

Daten und Fakten Programmumfang: 30.000.- Euro Fördermittel je KiezAktivKasse: 5.000.- Euro Anzahl geförderter Aktivitäten: 82 Durchschnittliche Fördersumme: 365.- Euro Träger der KiezaktivKassen: • • • • • •

Frei-Zeit-Haus in Weißensee e.V. Kiez-Spinne FAS e.V. Nachbarschaftshaus Urbanstraße e.V. N.U.S.Z. - Nachbarschaftsund Selbsthilfezentrum ufafabrik e.V. Rabenhaus e.V. Verein für eine billige Prachtstraße Lehrter Straße e.V.

In der KiezAktivKasse bilden Bewohnerinnen und Bewohner eines bestimmten Wohngebietes nach einem öffentlichen Aufruf eine Förderjury. Alle die im Wohngebiet leben können bei der Jury Förderanträge bis maximal 750 Euro stellen für Vorhaben, die eine Verbesserung des Zusammenlebens der Generationen und der Familienfreundlichkeit zum Ziel haben. Anhand selbst aufgestellter Kriterien entscheidet die Jury über die Anträge, vergibt die Mittel und informiert sich später über die Ergebnisse.

Bei der Kiez-Aktiv-Kasse handelt es sich um ein Förderprogramm der Jugend- und Familiensti ftung des Landes Berlin, das in diesem Jahr zunächst in sechs Kiezen getestet wurde. 5000 Euro standen in Weißensee zur Verfügung. Im Kern geht es darum, dass lokale Aktivitäten zur Verbesserung der Wohn- und Lebensqual ität mit kleinen Förderbeträgen unterstützt werd en. Für jedes Projekt konnten 2004 bis zu 750 Euro beantragt werden. Über die Vergabe entschied eine achtköpfige Bürger-Jury „Unter anderem erhielten die Organisatoren der Afrika-Woche Unterstützung, eine Kita-Kunstaktion wurde gefördert, und ein Jugendklub bekam Geld für ein Gewaltpräventionsprojekt“, bericht Chris tof Lewek, der Geschäftsführer des Frei-Zeit-Hauses. Vorschläge willkommen Die Kiez-Aktiv-Kasse gibt es auch im kommende n Jahr. Bereits jetzt können Projekte für eine Förderung vorgeschlagen werden. Insgesamt 3500 Euro: stehen zur Verfügung. Wer ein Kiezprojekt umsetzen will kann sich im Frei-Zeit-Haus, Pistoriusstraße 23, informieren, ein Antragsformula r abholen und einen Antrag stellen. Weitere Informationen gibt es unter 92 79 94 63.

Berliner Woche, 13. Oktober 2004

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Leben in Nachbarschaft bis ins hohe Alter Community Care in einem urbanen Wohnquartier - Projektskizze -

Kurzfassung des Projekts: Die Gesellschaften in allen westlichen Industrienationen werden älter. Die hier vorgelegte Projektskizze beschreibt eine humane Strategie, wie ein Gemeinwesen durch die Nutzung nachbarschaftlicher Netze und ein intelligentes Care - Management in die Lage versetzt wird, seine älteren Mitbürger - auch in existenziell schwierigen Lebenslagen - zu integrieren und die Übersiedlung in Pflegeeinrichtungen zu verhindern. Nachbarschaftliche Netze bedeuten die Einbeziehung unentgeltlicher und geringfügig bezahlter nachbarschaftlicher Hilfeleistungen, Care - Management bedeutet in diesem Projekt die Vernetzung vorhandener Ressourcen und die Entwicklung neuer selbst organisierter Hilfeund Pflegeeinheiten. Das Projekt ist so angelegt, dass alle Altersgruppen von diesem Prozess profitieren können und dass sich letztendlich ein neues Bewusstsein von Altern und Nachbarschaft entwickeln kann. Last but not least wird deutlich werden, wie Community Care Selbstorganisation und bürgerschaftliches Engagement innerhalb eines Gemeinwesens befördern kann. Zukunftsweisend ist dabei die enge Kooperation mit einer Wohnungsbaugesellschaft und einer Vielzahl von Services. Geplanter Projektbeginn: Frühjahr 2005 Projektende: Frühjahr 2008, erste Evaluation Mitte 2006 Projektpartner: Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. - Freunde alter Menschen e.V.

Übersicht:

I.2. Die Infrastruktur ist nicht altenfreundlich

I. Problembeschreibung

Die Ursachen für diesen vermeintlichen Automatismus liegen auf vielen Ebenen: Wohnungen, die nicht (mehr) bedarfsgerecht sind, ein ausgedünntes Dienstleistungsangebot und eine zunehmend anonyme Nachbarschaftsstruktur verstärken Tendenzen zur Abhängigkeit von professionellen Hilfesystemen bei gleichzeitigem Verlust von Möglichkeiten der selbst bestimmten Lebensführung. Der betroffene alte Mensch und sein Umfeld sehen unter diesen Umständen häufig keine andere Lösung als den Umzug in eine Institution. Gewünscht ist dieser Umzug in den meisten Fällen nicht.

II. Ziele, Prinzipien und Essentials III. Bausteine IV. Organisation und Kooperation

I. Problembeschreibung I.1. Die Situation älterer Menschen in urbanen Gemeinwesen Immer mehr Menschen wollen dort alt werden, wo sie schon lange wohnen. Obwohl wünschenswert und nachvollziehbar, birgt der Wunsch, im vertrauten Wohnquartier alt zu werden, eine Reihe von Risiken. Bereits heute erhält ein großer Teil der Älteren keine Unterstützungsleistungen (mehr) von Familie, Freunden oder nachbarschaftlichem Umfeld - ein Trend, der durch die Zunahme von Single-Haushalten in die Zukunft verlängert und verstärkt wird. Durch den Ausbau ambulanter Pflegedienste konnte zwar die Zeit zu Hause erheblich verlängert werden, bei komplexen Problemlagen (z.B. einer demenziellen Erkrankung des alten Menschen) bleibt jedoch oft als scheinbar einzige Möglichkeit die Übersiedlung in ein Pflegeheim.

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I.3. Die Nachbarschaft ist überfordert Nachbarschaftliche und familiale Hilfeleistungen, die durchaus häufiger vorkommen als gemeinhin angenommen, können auf Dauer nur tragfähig bleiben, wenn keine Abhängigkeiten entstehen und die Last der Verantwortung nicht allein auf den Schultern einiger weniger ruht. Das gilt sowohl für die Familienmitglieder (meist Ehepartner oder Töchter/Schwiegertöchter) als auch für die Nachbarschaft. In Kombination mit einem verlässlichen professionellen Hintergrundsystem ist und bleibt familiale und nachbarschaftliche Hilfe (nicht nur) für alte Menschen eine tragende Säule im Gemeinwesen.

I.4. Neue Akteure sind gefragt Bis in die Gegenwart gelten Problemlagen alter Menschen als eine Sache, um die sich die Familie oder die Wohlfahrt kümmert. Wir haben schon festgestellt, dass beide damit längst überfordert sind. Die Wohnungswirtschaft - die den größten Teil der alten


Menschen beherbergt - wird zunehmend mit der Situation ihrer alten Mieter konfrontiert und ist gefordert, Aufgaben zu übernehmen, die nicht im Bereich ihrer Kernkompetenzen liegen. Aus der Verantwortung gegenüber den Mietern heraus aber auch zunehmend aufgrund wirtschaftlicher Zwänge (aktueller oder drohender Leerstand) müssen auch Wohnungswirtschaftsunternehmen nach Lösungen suchen, alt gewordenen Mietern das Weiterleben in ihrem Quartier zu ermöglichen. Sie werden damit zu neuen Akteuren/Partnern in einem Handlungsfeld, das bislang Wohlfahrtsorganisationen vorbehalten war.

I.5. Ein bedarfsgerechtes und barrierefreies Umfeld tut Not Unsere städtebaulichen Strukturen sind nicht für alte Menschen konzipiert. Einkaufsmöglichkeiten sind häufig nur mit dem Auto zu erreichen, Zugangswege sind nicht barrierefrei oder schlecht beleuchtet, Bewegungsflächen und Ausstattung der Wohnungen (vor allem der Bäder) sind nicht funktionsgerecht. Abhilfe ist mit relativ geringen Mitteln zu schaffen und es lassen sich Effekte erzielen, die durchaus auch für jüngere Mieter attraktiv sein können. Ein lebendiges und „sorgendes“ Gemeinwesen ist und bleibt ein Standortvorteil für jedes Wohnquartier. Ein barrierefreier Zugang zum Haus gefällt nicht nur dem gehbehinderten alten Menschen, sondern auch der Mutter mit Kinderwagen.

I.6. Die alten Nachbarn I.6.1. Die „Go-go‘s“ Die älteren Menschen selbst sind eine äußerst heterogene Gruppe. Je länger die dritte Lebensphase dauert, desto stärker differenzieren sich Unterschiede aus. Die agilen (die sog. Jungen Alten oder „go-go‘s“) suchen Chancen, den dritten Lebensabschnitt sinnvoll zu gestalten - und dies durchaus im Dialog mit jüngeren Generationen. Sie sind keine Adressaten von Angeboten, die einen „Sozialtouch“ haben, aber durchaus zugänglich für Service- und „Wellness“-Angebote. Wie bei den nachfolgend genannten auch, ist dieser Status nicht zwangsläufig an ein bestimmtes Lebensalter gebunden, findet sich naturgemäß aber häufiger bei jüngeren Alten.

I.6.2. Die „Slow-go‘s“ Alte Menschen mit eingeschränktem Aktionsradius aufgrund körperlicher Gebrechen (die „slow-go‘s“) laufen Gefahr zunehmend isoliert zu werden und haben häufig alltagspraktische Probleme. Vor allem die adäquate Versorgung mit Dienstleistungen (Einkauf, Reinigung von Wohnung und Kleidung, Arzt- und Frisörbesuch etc.) und Freizeitangeboten gestaltet sich häufig schwierig. Bei dieser Gruppe muss vor allem die Versorgung mit niedrigschwelligen Service- und Unterstützungsleistungen organisiert werden. In dem Lebensabschnitt, in dem solche Gebrechen drohen, sind besonders Frauen zudem häufig vom Verlust des Lebenspartners - und damit der wichtigsten Kontaktperson - betroffen. Damit drohen Isolation, Vereinsamung und entsprechende psychische Folgeerscheinungen (Depressionen). Bei diesen Menschen erlangt die (Re-) Aktivierung von familialen und nachbarschaftlichen Kontakten hohe Priorität. Auch hier gilt, dass dieser körperliche Status nicht automatisch an ein bestimmtes Labensalter gebunden ist, aber häufig bei den „mittleren Alten“, also den 70 - 80jährigen eintritt.

von Autonomie, Abhängigkeit und psychische Folgeerscheinungen wie Depressionen etc. Hiervon sind besonders die Hochbetagten oder solche alten Menschen betroffen, die einen Schlaganfall (Apoplex) hatten.

I.6.4. Die „No-know‘s“ Eine zahlenmäßig immer größer werdende Gruppe in allen westlichen Industrienationen sind die von demenziellen Erkrankungen betroffenen alten Menschen. Dieses Risiko betrifft vornehmlich Hochaltrige, ist aber nicht auf diesen Personenkreis beschränkt. Bei dieser Gruppe ist die Gefahr des Verlusts der eigenen Wohnung und der Institutionalisierung am höchsten. Das traditionelle ambulante Hilfesystem mit seinen sporadischen Einsätzen ist nicht in der Lage, diese Menschen adäquat zu versorgen. Mit Ihrem hohen Potential an Selbst- und Fremdgefährdung sind diese alten Menschen auch für Familie und Nachbarschaft eine Überforderung und nicht selten auch eine latente Bedrohung.

I.6.5. Die bedrohten Alten Dieses grobe Raster der Einteilung der älteren Generation wird deren Vielfältigkeit und ihren unterschiedlichsten Bedürfnissen nur annähernd gerecht. Es soll an dieser Stelle auch lediglich dazu dienen, die möglichen Zielgruppen gemeinwesenorientierter Interventionen zu identifizieren. Es liegt nahe, primär die beiden letztgenannten Gruppen (die „no-go‘s und die „no-knows“) in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Sie sind es, die am ehesten davon bedroht sind, ihre vertraute Nachbarschaft verlassen zu müssen. Die einen, weil Wohnung und Umfeld nicht mehr funktionsgerecht sind, die anderen, weil konventionelle Maßnahmen des ambulanten Versorgungssystems nicht mehr ausreichen, um eine verantwortbare und angemessene Versorgung zu gewährleisten. Beide Gruppen wären mit einer intelligenten und vernetzten (ambulanten) Versorgungsstruktur in der Lage (bzw. zu motivieren), in ihrem Quartier zu bleiben. Das nachfolgend beschriebene Konzept versucht, die Bausteine dieses Konzepts zu beschreiben und die Systemvoraussetzungen zu benennen, unter denen es erfolgreich intervenieren kann.

II. Ziel, Prinzipien und Essentials des Projekts II.1. Ziel des Projekts Ziel des Projekts „Community Care“ ist es, die verschiedenen Determinanten eines befriedigenden und selbst bestimmten Alterns in einem quartierbezogenen Ansatz „unter einen Hut“ zu bringen. Abhängigkeiten sollen vermieden bzw. reduziert werden, Autonomie soll gestärkt, Mobilität gefördert und die Unterbringung in einer Institution verhindert werden. „Quartierbezogen“ heißt auch, alle anderen Altersgruppen an diesem Konzept zu beteiligen. Ohnehin profitieren alle Generationen von den im Folgenden beschriebenen Prinzipien und Maßnahmen.

II.2. Prinzipien des Projekts II.2.1. Integration

I.6.3. Die „No-go‘s“ Eine dritte Gruppe schließlich, die von Pflegebedürftigkeit betroffenen oder bedrohten alten Menscheni, sind in besonderer Weise existenziell gefährdet. Ihnen drohen Rückzug von Freunden und Nachbarschaft (und damit Kontaktverlust und Isolation), Verlust

Oberstes Prinzip des Projekts ist der integrative Ansatz, d.h. alle anfallenden Bedarfslagen älterer Menschen am Wohnort zu befriedigen. Integrativ heißt auch, alle - auch nur am Rande - betroffenen anderen Mitbewohner an diesem Prozess zu beteiligen. Das sind in erster Linie Familien und Nachbarn, aber auch Ärzte, ambulante

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Pflegedienste, Therapeuten, Frisöre, Wäschereien, Bäckereien etc. müssen mit einbezogen werden, wenn integrative Versorgung funktionieren soll. Es soll möglich werden: * *

Möglichst viele Bedürfnisse „vor Ort“ befriedigen zu können Bei Hilfebedarf ein wohnortnahes Angebot zur Verfügung zur Verfügung zu haben

Diese Ziele einer „altenfreundlichen“ Gestaltung des Wohnumfeldes kommen auch allen anderen Generationen zu Gute. Es gilt der Grundsatz: Plane (sorge) für die Jungen - und du schließt die Alten aus Plane (sorge) für die Alten - und du schließt die Jungen ein

II.2.2. Kleinräumigkeit Gemeinsam mit ansässigen Mietern, Angehörigen der Älteren und kooperierenden Dienstleistern und Institutionen sollen Wohnungsbaugesellschaft und Nachbarschaftseinrichtungen Infrastrukturbedingungen schaffen, die ein Verbleiben im Wohnquartier in (fast) jeder Lebenslage ermöglichen. Dazu gehören: *

* * * * * *

* * *

Überblick verschaffen über Bedürfnis- und Problemlagen (besonders) der älteren Mieter. Hierbei ist die kostenneutrale Beteiligung von Universitäten und Fachhochschulen zu prüfen Unkomplizierte Erreichbarkeit eines „Hilfelotsen“ bei aktuellen Problemen Etablierung/Intensivierung von Nachbarschaftshilfe und hierfür notwendiger Strukturen Sensibilisierung der Nachbarschaft für Problemlagen Älterer Werbung und Begleitung von Freiwilligen/Ehrenamtlichen Generationsübergreifende Mieterbeteiligung Verfügbarkeit von Dienstleistungen, die geringere Mobilität und Unterstützungsbedarf von Mietern berücksichtigen. Dies sind vorrangig ältere Menschen, aber auch Behinderte, Akutkranke, Mütter mit Kleinkindern, Grundschulkinder etc. Barrierefreie, kommunikationsfördernde Gestaltung des Umfeldes. Einrichtung einer Beratungsstelle in der Nachbarschaftseinrichtung Realisierung von barrierefreien Wohnungen durch kostenträgerfinanzierte Maßnahmen - auch jenseits von DIN 18025.

III.1. Zentrale Anlaufstelle („Hilfelotse“) und Treffpunkt für Ältere Die zentrale Komponente der altenfreundlichen Gestaltung eines Wohnquartiers ist eine zentrale Anlaufstelle, die sich grundsätzlich erst einmal für Alles zuständig fühlt, d.h. jeden Unterstützungsbedarf erfasst, bei Bedarf weitervermittelt und jeden eingeleiteten Prozess bis zur Lösung im Auge behält und begleitet. Es ist sinnvoll, dass diese Anlaufstelle an eine bestehende Nachbarschaftseinrichtung „angedockt“ wird, weil diese alle Bewohner/innen des Stadtteils im Blick hat und deswegen in besonderem Maße dafür geeignet ist, integrativ zu wirken. Die Nachbarschaftseinrichtung kann die Bedingungen erfüllen, dass die Anlaufstelle * wohnortnah angelegt ist, so dass sie von Ratsuchenden, Nachbarn und Angehörigen schnell erreicht werden kann * Vertrautheit ausstrahlt und Sicherheit vermittelt * niedrigschwellig ist, d.h. auch von Menschen in Anspruch genommen werden kann, die keine speziellen Zugangsvoraussetzungen haben. Die Nachbarschaftseinrichtung ist als kiezbezogener Treffpunkt besonders für mobilitätseingeschränkte Menschen eine Möglichkeit,„unter Menschen zu kommen“. Die Einrichtung muss sich auf die besonderen Bedürfnisse dieser älteren Menschen einstellen und in ihrer Öffentlichkeitsarbeit um diese Besuchergruppe besonders werben, um ihrer neuen Zusatzfunktion gerecht zu werden. Die Gestaltung von „Events“, die der Einbeziehung dieser Zielgruppe in nachbarschaftliche Bezüge dienen, ist ein wichtiger Bestandteil der „Werbestrategie“. Solche Veranstaltungen, die neben ihrer Funktion als Kommunikationsgelegenheit auch als Frühwarnsystem für sich anbahnende Problemlagen genutzt werden können, brauchen eine sorgfältige Planung und eine durchdachte Transportlogistik. Nachbarschaftseinrichtungen und die Freunde alter Menschen e.V. können ihre langjährigen Erfahrungen auf diesem Gebiet einbringen und bringen gute Voraussetzungen für einen erfolgreichen Verlauf des Vorhabens mit.

Zusammengefasst übernimmt die Anlaufstelle folgende Funktionen: * * * * *

Koordinierungsstelle für Unterstützungs- und Sorgebedarf Grundsätzliche Zuständigkeit „für Alles“ Kommunikationsort für alle Menschen im Wohnumfeld Stützpunkt für beteiligte (Pflege-)Dienstleister Während der Dienstzeiten Zielort für Notrufe, eventuell Schlüsseldepot Koordinierungsstelle für freiwillige (nachbarschaftliche) Hilfeleistungen

Ein „sorgendes“ Gemeinwesen kommt über kurz oder lang an diesen Komponenten nicht vorbei. Welche der genannten Maßnahmen vordringlich realisiert werden sollen, sollte sich zum einen an den Bedürfnissen (vor allem) der älteren Mieter orientieren.

*

II.2.3. Selbstorganisation

Die Fortführung eines autonomen Daseins in der eigenen Wohnung scheitert bei vielen älteren Menschen an der Nicht-Erreichbarkeit alltäglicher Dienstleistungen. Ob Einkauf, Wäschepflege oder notwendige Behördengänge: es sind häufig die „Kleinigkeiten“, die in ihrer Summe den Entschluss zum Verlassen des vertrauten Wohnumfeldes herbeiführen. Eine bewährte Strategie, diesen Prozess zu verhindern oder zumindest zu verzögern, ist die Einbindung verschiedenster Services, die die benötigten Leistungen am Wohnort erbringen.

Wie die voran gegangenen Kapitel schon anzeigten, sollen die meisten Maßnahmen von Betroffenen, Familienmitgliedern und Nachbarn (mit) getragen werden. Wir haben (aus Erfahrung!) großes Vertrauen in das Selbsthilfe- und Selbstorganisationspotenzial. Es bedarf aber häufig einer ordnenden Instanz, die das Engagement in Erfolg versprechende Aktionen führt. Dies ist die vorrangige Aufgabe der Projektpartner. Begleitend braucht es eine gute Öffentlichkeitsarbeit und Nachbarschaft stiftende „Events“. Wie dies im Einzelnen geschehen soll, ist im nächsten Kapitel beschrieben, in dem die einzelnen Bausteine vorgestellt werden.

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III. Bausteine von Community Care

III.2. Einbindung externer Services

Beispiele hierfür sind:


* * * * * * * *

Einkaufsdienste, Wäscheservice etc. Wochenmärkte Vermittlung von Reinigungskräften (evtl. als bezahlte Nachbarschaftshilfe) Behördensprechstunden vor Ort Begleit- und Rollstuhlschiebedienste Handwerkerdienste Umzugshilfen ( z. B. bei Wohnungstausch) Ambulante Pflegedienste (bei Bedarf )

Es hat sich gezeigt, dass bei einer entsprechenden Schwerpunktsetzung im Wohnfeld die Anwerbung/Ansiedlung solcher Dienste möglich ist, weil sie „sich rechnen“, zumindest ist eine gezielte Vermittlung zu den Angeboten externer (auch außerhalb des Bereiches sozialer Dienste) für alle Beteiligten von Vorteil.

III.3. Etablierung/Intensivierung von Nachbarschaftshilfe Grundsätzlich gilt: Nachbarschaft ist besser als ihr Ruf! Die Erfahrungen mit nachbarschaftlichen Unterstützungsleistungen zeigen, dass die Bereitschaft zur Hilfeleistung zunimmt, wenn die Last der Verantwortung überschaubar bleibt und im Hintergrund eine Instanz zur Verfügung steht, die mit Rat und Tat die Nachbarschaftshilfe koordiniert und unterstützt. Nachbarschaftshilfe kann und will nicht Dienstleistungen ersetzen, ist aber häufig eine wichtige Ergänzung um Vertrautheit und Sicherheitsgefühl bei alten Mietern zu erhalten. Neben der vollständig freiwilligen und unentgeltlichen Nachbarschaftshilfe kann es auch kleine nachbarschaftliche Hilfeleistungen geben,„die sich auszahlen“; sei es, dass einzelne Hilfen (z.B. Wohnungsreinigung) mit Geld honoriert werden oder dass eine Leistung eine Gegenleistung (z.B. Baby - Sitting) nach sich zieht. Hier ergänzen sich der Wunsch der älteren Mitbürger nach sinnvoller Tätigkeit („gebraucht werden“) und dem Wunsch junger Familien nach einem zuverlässigen Menschen zum Hüten von Kind, Wohnung oder Haustier.

III.4. Wohnraumanpassung Eine funktionsgerechte Wohnung kann entscheidend zur Autonomie und damit zum Verbleib in derselben beitragen. Die Anlaufstelle braucht Kompetenz auf diesem Feld, um über die richtigen Maßnahmen beraten zu können und als Schnittstelle zu möglichen Kostenträgern zu fungieren. Es geht darum, im Interesse aller Beteiligten, den Zeitraum zwischen Planung, Finanzierungsklärung und Realisierung möglichst kurz zu gestalten. Jede dieser Maßnahmen bedarf einer engen Begleitung des betroffenen älteren Menschen, da die Angst vor Schmutz, Lärm und Übervorteilung durch ausführende Handwerker oft sehr groß sind. Neben möglichen Baumaßnahmen kommen in vielen Fällen verschiedenste technische Hilfsmittel in Betracht, die das Leben für gehandicapte alte Menschen enorm erleichtern können. Vor allem Hausnotrufsysteme und sonstige technische Features, die die Sicherheit verbessern, sollen den alten Mietern bekannt gemacht werden. Für die beteiligte Wohnungsbaugesellschaft haben diese Maßnahmen den Vorteil, dass sie immer den Wohnwert und die Funktionalität (oft auch die Ästhetik) erhöhen und die Gesellschaft selbst keinen Cent kosten. Solche Maßnahmen steigern zudem die Sensibilität für barrierefreies und damit menschenfreundliches Wohnen.

III.5. Selbstorganisierte „Care-Units“ In manchen Lebenslagen vermögen selbst alle vorgenannten Maßnahmen nicht den Verbleib eines alten Menschen in der eigenen Wohnung. Vor allem bei demenziellen Erkrankungen (bei denen die Wahrscheinlichkeit bei Hochaltrigen bei ca. 30% liegt!) kommt auch ein gut organisiertes ambulantes Hilfesystem an seine Grenzen.

Um dennoch einen Umzug in eine Pflegeeinrichtung und das verlassen der vertrauten Nachbarschaft zu vermeiden, werden wir bei Bedarf kleine „Care-Units“ (Wohngemeinschaften) organisieren, in denen sich eine kleine Gruppe alter Menschen in einer vertrauten Wohnumgebung von ambulanten Diensten rund um die Uhr versorgen lassen kann. Als „Pionier“ dieser Wohnform hat der Verein Freunde alter Menschen im Verbund mit dem Nachbarschaftsheim Schöneberg in Berlin hierfür profunde Erfahrungen. Wir legen sehr viel Wert auf diesen Baustein, weil erst mit ihm der Wunsch, in der vertrauten Nachbarschaft alt werden (und auch sterben) zu können, Wirklichkeit wird.

IV. Organisation und Kooperation IV.1. Welche Kompetenzen sind gefragt Die Realisierung dieses anspruchsvollen Maßnahmenbündels bedarf einer kontinuierlichen Präsenz und Begleitung. Wir präsentieren nachfolgend unsere Kompetenzen in diesem Feld. Die Nachbarschaftseinrichtungen im Verband für sozial-kulturelle Arbeit bringen die vielfältigen Erfahrungen ein, die sie erworben haben * durch die Organisation ehrenamtlicher Besuchsdienste * als Träger von Sozialstationen mit ambulanten Pflegediensten * als Anbieter von Familienpflege * als Träger von Tageseinrichtungen für Senioren * als Fortbildner von Ehrenamtlichen * als Anbieter hauswirtschaftlicher Dienste * als Kooperationspartner von Wohnungsgesellschaften * als Infrastruktureinrichtung für Tauschringe * als Träger von Selbsthilfekontaktstellen * als Anlaufstelle für Migrant/inn/en Der Verein Freunde alter Menschen bringt ein: * * * * * *

Ein eingespieltes Team von professionellen und freiwilligen Mitarbeitern Langjährige Erfahrungen im Umgang mit sorgebedürftigen Älteren Langjährige Netzwerkbeziehungen zu allen relevanten Partnern des Altenhilfesystems Neutralität; keine Bindung an bestimmte Services Professionelle Öffentlichkeitsarbeit; gute Beziehungen zu Presse, Funk und Fernsehen Langjährige Erfahrungen in der Organisation gemeindenaher Pflegeeinheiten

V. Abschlussbemerkung In diesem Konzept ist ein exemplarisches und zukunftsweisendes Modell des quartiersnahen Managements von Problemen älterer sorgebedürftiger Mieter angelegt. Der demographische Wandel und seine Auswirkungen auf die Mieterstruktur drängen die Gesellschaft und ihre Institutionen zu Reaktionen und Maßnahmen, die nicht ursprünglich in den Strukturen vorgesehen waren. Nach unserer Überzeugung sind integrative Konzepte akzeptierter als externe Formen des „Betreuten Wohnens“. Zudem sind wir der Überzeugung, dass eine entwickelte Bürgergesellschaft es sich auf Dauer nicht leisten kann (weder finanziell noch moralisch), ihre alten Mitglieder in speziellen Einrichtungen versorgen/entsorgen zu lassen.

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Eine Reise nach WIEN im Mai 2004 In partnerschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Wiener Hilfswerk und dem Nachbarschafts-und Selbsthilfezentrum in der ufafabrik Berlin wurde ein Wienaufenthalt für den Konzertchor Friedenau ( Chor des Nachbarschaftsheimes Schöneberg) organisiert und durchgeführt. .Sechzig der neunzig Mitglieder des erfolgreich unter professioneller Leitung von Rolf Ahrens jeden Mittwoch übenden mehrstimmigen Chores übernahmen zeitlichen Aufwand ( Himmelfahrtwochenende vom Mittwoch dem 19.05. bis Sonntag den 23.05.2004 ) und finanzielle Mühen um sich per Flugzeug ( 1 Std ), (Nachtzug 12 Stunden), oder mit dem Pkw auf den Weg von Berlin nach Wien zu machen.

Höhepunkt ein gemeinsame Auftritt Höhepunkt der Reise ist der gemeinsame Auftritt des Berliner Chores mit dem Ghana Minstrel Choir und dem Wiener Hilfswerkchor .

„International Voices of Neighbourhood, eine musikalische Reise durch 3 Länder“

Entstehung und Kreislauf des Wassers. Es ist auch als Regen machendes Lied bekannt. Das bekamen wir alle zu spüren. Am nächsten Tag regnete es in Strömen in Wien. Der Ghana Minstrel Choir (17 Frauen, 7 Männer) sang, begleitet von Saxophon, Rassel, Trommeln Amazing grace, Freude schöner Götterfunken und diverse Gospels, mit Inhalten zum Durchhalten der Apartheid in Südafrika und Dankeshymnen an Gott. Der Chorleiter erzählte zur Einstimmung, das Besondere an diesem Chor sei, dass er Lieder singe, die früher von Sklaven entwickelt wurden, die musikalisch ihren Dank an Gott auszudrücken wollten, ohne singen zu können. Wichtig war dabei die Kommunikation mit anderen Talenten - rythmischen Trommeln, Rasseln, dem Hin und Herwiegen ihrer Körper. Zum Abschluss sangen die drei Chöre gemeinsam Amazing grace und Freude schöner Götterfunken in zwei Sprachen. Der Schluß des Konzertes war der Auftakt zu einer wundervollen Begegnung zwischen Menschen zwischen 16 und 82 Jahren aus drei Nationen. Die Direktorin des Wiener Hilfswerkes hatte den ganzen Samstag mit einigen Mitarbeiterinnen und ihrer ehrenamtlich mittuenden Tochter ein reichhaltiges Buffet vorbereitet. Das ließen sich alle schmecken und an jedem Tisch gab es Esser aus drei Ländern.

Polka bis in die frühen Morgenstunden Anschließend tanzte der Student aus Ghana mit der Lehrerin aus Berlin Wiener Walzer und die Wiener Pensionärin mit dem Berliner Techniker Polka bis in die frühen Morgenstunden. Natürlich tanzten auch fast alle anderen Anwesenden nach den Klängen der schönen blauen Donau. Unter diesem Titel gestalteten die drei Chöre aus drei Ländern im SkyDome des Wiener Hilfswerkes ein wundervolles Konzerterlebnis. Den Ehrenschutz (in Berlin heißt das Schirmherrschaft) hatte der Bezirksvorsteher Herr Mag Thomas Blimlinger übernommen. Zur Begrüßung teilte uns die Direktorin des Wiener Hilfswerkes, Frau Ursula Weber-Hejdmanek. mit,„er sei leider mit Gipsfuß abwesend“. Dann startete der Nachbarschaftschor des Wiener Hilfswerkes unter der Leitung von Irene und Hannes Seidl mit fröhlichen und schrägen Liedern in Wiener Mundart.

Eine Kostprobe: Tröpferlbad ......Am vergaug‘nan Freitog woarn mia zwa im Tröpfelbod Dass Sie net dabeiwoarn, des is schod schod schod schod schod... Vom Zwanzigköpfigen Chor, mit Sängern zwischen 19 und 84 Jahren waren leider fünf statt auf der Bühne im Spital. Als zweiter Chor sang der Konzertchor Friedenau (Chor des Nachbarschaftsheimes Friedenau) unter der Leitung von Rolf Ahrens 12 Lieder aus 7 Ländern. Darunter ungewöhnlich und mit großer Leidenschaft vorgetragen, das Stück eines kanadischen Komponisten indianischer Herkunft“Miniwanka“ . Ein Stück über

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Einheitliche Meinung aller Teilnehmer: Das müssen wir wiederholen. Und so wird es hoffentlich 2005 in der ufafabrik in Berlin ein Konzert der Nachbarschaftschöre aus Berlin und Wien geben. Am nächsten Tag machte Frau Dr. Weber - Hejtmanek die Gäste aus Deutschland mit den Einrichtungen des WHW vertraut. Die Landesgeschäftsstelle, die sich auf ca. 4000 qm Räumlichkeiten in der Schottenfeldgasse 29 in Wien - Neubau verteilt, beherbergt die Geschäftsführung, die Abteilungsleitungen der sozialen Dienste (Heimhilfe, Pflegehelfer, Krankenschwestern, Essen auf Rädern, Tagesmütter, Haus - und Heimservice, Eventkoordination, etc. ), die Verwaltungseinheiten ( Lohnbüro, Controlling, Öffentlichkeitsarbeit, EDV, Facility Management, Sekretariat, Fundraising ) sowie das ‚‘ Nachbarschaftshaus 7 ‚‘ mit Cafeteria, Garten und Veranstaltungssaal und nicht zuletzt das Großlager für gespendete Güter für sozial Bedürftige. An Außenstellen besitzt das WHW ein Geriatrisches Tageszentrum mit Schwerpunkt Schlaganfallpatienten, ein Tagesstrukturzentrum ( EQUAL - Projekt für Langzeitarbeitslose ), sechs Seniorenwohngemeinschaften mit Betreuung, die `` Spielothek ´´ ( Frühförderungseinrichtung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen ) und 9 Nachbarschaftszentren in verschiedenen Wiener Bezirken.

Begleitet von Zeichen und Symbolen Die Direktorin war gerade dabei, die unter kundíger Anleitung von Zivildienern, haupt - und ehrenamtlichen Mitarbeitern zügig entstehende Innenhofterrasse zu begutachten und den mit der Unterschriftenmappe wartenden Assistenten immer wieder


warten zu lassen, weil parallel gleich auch anderes zu organisieren war. Die Gäste aus Berlin werden durch das Bürohaus geführt und bekommen staunend immer größere Augen . Die gepflegten Etagen machen einen von eigenverantwortlich tätigen Menschen belebten Eindruck ( Dorfplatz , Post ). Die strukturierte Arbeit wird begleitet von Zeichen und Symbolen. So erhalten Mitarbeiter eine EichhörnchenUrkunde für besonders sparsames Wirtschaften. Viele Einrichtungsgegenstände wurden als nicht mehr benötigtes Mobiliar aus anderen Unternehmen zusammengetragen. Dann wurden diese Teile so geschickt und überleitend in das Mosaik des Betriebs integriert, als wären sie für diesen Zweck angefertigt worden. Wieder schimmert ein Symbol des Hilfswerkes durch. Das abgedruckte vierseitige Leitbild des Wiener Hilfswerkes wird noch viel eindrucksvoller von den Flurwänden widergespiegelt: Da ist eine farbige Wandmalerei mit den assoziationsreichen Worten quer über dem Feuerlösch-Schlauchanschluß : Grün : Vielfalt, Vertrauen, Dunkelgrün : Zukunft, Prävention, Blau : Perspektive, Vision, Braun : Offenheit, Rot: Würde und Freude, Orange : Qualität, Freunde und die andere Begrenzung Gelb : Hand in Hand, Leben, Miteinander : einzelne Optionen für eben verschiedene Menschen ohne ihnen platt ein „ Hand in Hand miteinander Leben „ überzustülpen. Es folgen jeweils abgewandelte Zeichnungen des variierten Buchstaben H im Namen Wiener Hilfswerk: Wachsen lassen : eine lächelnde Person wird an den Händen gehalten von einem wachsenden Baum. Unterstützung : einer schiebt den Rollstuhl des Anderen.

Fotos Dann sind da Fotos mit stimmungsvoll aufnehmenden Bildunterschriften: Zwei Hände erfassen einander, darunter : Ich mache meine Sache und Du machst Deine Sache. Ich bin nicht in dieser Welt um Deine Erwartungen zu erfüllen und Du bist nicht hier, um Dich nach mir zu richten. Du bist Du selbst und ich bin ich. Sollten wir einander begegnen, so ist es schön. Eine alte Hand ergreift eine junge Hand : Verbunden sein das heißt : an die anderen denken, das heißt, geben, teilen, helfen. In einer Flurecke hängt ein eindrucksvoll gehäkeltes großes Netz, in welchem sich die Worte verfangen haben : Wir knüpfen ein Wissensnetz. Und wir Berliner Gäste nehmen wahr ein spontanes, freundliches soziales Netz, welches sich uns anbietet, obwohl wir noch nie hier waren. Die zuverlässige Organisation des Wiener Hilfswerkes erscheint auch in der Bildunterschrift von Clemens Fürst Metternich:

Stadtführung Zwischen den Chorproben der Gäste aus Berlin werden sie von dem Leiter des Nachbarschftszentrums Donaustadt, Marko Iljic, auf einer Stadtführung zu Fuss kenntnisreich begleitet. Sein vorbereiteter Routenplan enthält auch einen Geschichtsüberblick im Vergleich Wien - Berlin . So läßt sich Wien bereits 15 v. Chr. herleiten aus der Begründung des römischen Lagers Vindobona, Berlin wurde erstmals erwähnt 1237 (Cölln) und der Abzug der Alliierten geschah 1955 in Wien und 1994 in Berlin.

Museumsquartier : Die aus dem Jahre 1760 stammende Hofstallburg wurde 2001 ergänzt durch zwei riesige Museumskuben und einen dahinter liegenden Riegelbau. Der kalksteinweiße Würfel zeigt auf 5400 qm das umfangreiche österreichische Kunstschaffen des 19. und 20. Jahrhunderts aus dem Besitz des Sammlers Rudolf Leopold: Egon Schiele, Klimt, Ära der Wiener Werkstätten, Bilder der Zwischen-und Nachkriegszeit, auch afrikanische Kunst, Designerobjekte und Sonderausstellungen. Der mächtige graumelierte Basaltkubus auf der anderen Seite beherbergt auf neun Ebenen in Räumen der Höhlen - und Hallengröße die moderne Kunst wie z. B. Installationen, Gemälde, mystische Schiffsteile. Die Reithalle wird von zwei Theatern bespielt, die Kunsthalle dient als Werkstatt, Labor, Verhandlungsort. Es gibt ein Architekturzentrum, ein ZOOM Kindermuseum, das Tanzquartier mit Impulstanzveranstaltungen, das Tabakmuseum. Am Volkstheater vorbei mit Blick auf die riesigen Kunst- und Naturhistorischen Museen wandern wir zum Parlament. Deutlich sichtbar wird intensiv außen um das monumentale Gebäude der Ringstraßenantike renoviert. Zwischenruf : Leider wird nur außen an der Institution gearbeitet und wir mögen uns doch unsere Gedanken darüber machen, warum denn die eindrucksvolle Statue der Göttin der Weisheit Pallas Athene vor den Gebäude dem Parlament den Rücken zukehrt. Mit dem Abriss der Befestigungsanlagen bis 1857 entstehen sehr viele Gebäude mit der Anlage der Ringstraße in dem oben angedeuteten Stil.. 1866 die Staatsoper, 1888 das neue Burgtheater, 1883 das Parlament. Wir stehen nun auf dem Vorplatz des Rathauses, welches bis 1883 entstand. Das monumentale Gebäude erstreckt sich auf 20 000 qm mit einer fünftürmigen Hauptfassade und dem Mittelturm mit 98 m Höhe plus 5,50 m Rathausmann, um die Votivkirche ( 97 m) dann doch zu überragen. Am 1. Mai 2004 waren auf dieser riesigen

Wo alles wankt und wechselt, ist vor allem nötig, dass irgendetwas beharre, wo das Suchende sich anschließen, das Verirrte seine Zuflucht finden könne. Ursula Weber - Hejtmanek beschreibt den Anspruch an alle Mitarbeiter mit `` Haltung bewahren ´´. Sie möchte, dass alle eine Autobahn befahren, auch mal einzelne einen Rastplatz aufsuchen oder abseits die gleiche Richtung verfolgen aber bitte nicht eine andere Richtung einschlagen.

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Veranstaltungsanlage 100.000 Menschen aufmarschiert. In der Vorweihnachtszeit entsteht hier ein riesiger Markt. Vis a vis das konservative Burgtheater, welches großzügige staatliche Subventionen genießt. Nach dem Theatergenuß schreitet man über die linke prunkvollen Feststiege hinab direkt zum Cafe Landtmann über einem das Deckengemälde Gustav Klimts „ Vor dem Theater in Taormina „

An den Redoutensälen vorbei unter einer riesigen Kuppel hindurch ist am Ende des nächsten Durchganges der Eingang zur Spanischen Reitschule. Der Lipizzaner Stall befindet sich in einem Renaissensgebäude. Bei einem Großbrand im Redoutensaal im Jahr 1922 wurden die Pferde von Passanten in Sicherheit gebracht.

Dem Ring entlang folgt die Unversität - die früheste Gründung 1365 im heutigen deutschen Sprachraum -, deren Komplex an dieser Stelle 1883 fertiggestellt wurde. Durch den Volksgarten spazieren wir Richtung Hofburg vorbei am Bundeskanzleramt genannt Ballhausplatz. Im Leopoldinischen Trakt der Hofburg residiert heute der Bundespräsident. Bei der Vereidigung einer Bundesregierung mußten die neuen Minister schon einmal die Kellerverbindung zwischen Bundeskanzleramt und Präsidialamt wählen, weil Demonstranten den offiziellen Zugang blockiert hatten. Wir wenden uns über den Heldenplatz der neuen Hofburg zu. Von hier aus hat Hitler seine Rede nach dem Einmarsch gehalten. Nach neueren Recherchen hat niemand außer ihm an dieser Veranstaltung teilgenommen. Dort sind die Waffensammlung, die Sammlung alter Musikinstrumente, das Ephesosmuseum untergebracht. Im linken Bereich fanden die OPEC und OECD Sitzungen statt. Ein weiterer Blick über die Schulter der Geschichte im imposanten Halbrund der neuen Hofburg : Die Monarchie hat 90 % der geführten Krieg verloren und deshalb den Spruch geschöpft : Glückliches Österreich - heirate ! Wir wenden uns nun der alten Hofburg zu, tauchen ein in die zahllosen Durchgänge, schlendern an der Burgkapelle Mariae Himmelfahrt vorbei, wo die Haydn-,Mozart-oder Schubert-Messen der Sängerknaben zelebriert werden, zum Schweizer Hof, dessen Name herrührt von den Söldnern der Schweizer Wachsoldatengarde. Die Schatzkammer, die weltweit bedeutendste Sammlung ihrer Art mit dem einzigen Fast unversehrt erhaltenen Kronschatz des Mittelalters, lassen wir links liegen. Der Teil der geistlichen Schatzkammer assoziiert den Ausspruch des kürzlich verstorbenen Kardinal König, dass er der Kardinal der Katholiken sei aber nicht der Österreicher. Die Hofburg war die Winterresidenz und das Schloß Schönbrunn der Sommersitz der Könige. Während der Bombardierungen des II. Weltkrieges wurde ein Drittel der Innenstadt zerstört. Wien wurde 1945 von der roten Armee befreit, die Russen nahmen viele Industrieanlagen mit nach Hause. Im Jahr 1955 wurde der Österreichische Staatsvertrag zwischen Österreich und den vier Besatzungsmächten im Schloß Belvedere unterzeichnet. Inhalt : Souveränität und immerwährende Neutralität.

Wir passieren den schönsten Platz Wiens : auf dem Josefsplatz stehen die Paläste der wohlhabendsten Familien der Stadt mit einer Quadriga über der Nationalbibliothek ( www.onb.ac.at ) , die den Platz beherrscht. Der Augustiner Straße folgen wir bis zur Abertina. Das Gebäude mit Seidentapeten, Blattgold und Intarsienböden, mit barocken Kabinetten und klassizistischen Prunkräumen, Hollein Dachsegel und Rolltreppen beheimatet unter anderem eine der drei weltweit bedeutendsten Sammlungen an Handzeichnungen und Druckgrafiken. Auf einer der Eingangstreppen nimmt der gesamte Berliner Chor Platz für eine Pause und ein Gesamtbild. An der Rückfront der Staatsoper, am Hotel Sacher vorbei machen wir uns nun auf den Weg zum Stephansplatz, dem Ziel unseres Spazierganges. Ab 1792 wurde der dortige Platz neu geschaffen nachdem der Friedhof dort aufgelassen und alle Häuser rundherum abgerissen wurden. Eine Folge der Pestepidemie. Der Stephansdom ist mit seinem dritten gotischen Bau - begonnen 1304, einem Südturm mit 136,5 m aus dem Jahr 1433 und fertiggestellt 1455 - erhalten geblieben unter erheblichen Renovierungsmühen bis 1966 nach einem Brand im letzten Kriegsjahr 1945. Der Stadtführer Marko Iljic wird mit großem Applaus verabschiedet. Der Heurigenabend wird dem Chor spendiert durch die Stadt Wien. Angeregt durch eine weitere Chorprobe am Nachmittag, den faszinierenden Stadtspaziergang, diverse Sitzungen in den unnachahmlichen Kaffeehäusern fahren die Gäste mit der Bahn hinaus in ein Lokal, welches sicher nicht vielen Touristen bekannt ist. Der Wein , das Essen, die bisweilen schräge bis bittersüße Schrammelmusik regen zunächst die Teilnehmer des Wiener Hilfswerk Chores und dann den Friedenauer Konzertchor zu spontanen, geschulten Gesangsdarbietungen an. Die sind so gut, das Gäste von Nachbarveranstaltungen sich blicken lassen nach dem Verklingen der letzten Töne und mit feuchten Augen von dem gehörten Liedgut schwärmen. Da sind viele Funken übergesprungen. Renate Wilkening, Harald Hübner

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Internationale IFS-Konferenz Toronto 2004 Unter dem Thema „Building Inclusive Communities“ fand vom 18. bis 23. Juni 2004 in Toronto die 20. internationale IFS-Konferenz statt. Eins zu eins übersetzt heißt Building Inclusive Communities: „einschließende“ Gemeinden, Kommunen, Wohnorte aufbauen und errichten. Gemeint ist: Kommunen so zu gestalten, dass alle Menschen, die in ihnen leben, einbezogen sind in das kulturelle, soziale und politische Geschehen und es mit gestalten. Menschen unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe und -von hoher Bedeutung- unterschiedlicher Religion (siehe Diskussion über Muslime: „Nicht alle Muslime sind Terroristen, aber die meisten Terroristen sind Muslime“, Zitat eines führenden Moslems) Ob es möglich ist „Inclusive Communities“ zu schaffen, hängt von vielfältigen Faktoren ab. In erster Linie von den Menschen selbst: •

Wie weit sind sie bereit, sich zu engagieren, für ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen und für die Bedürfnisse und Interessen ihrer Nachbarn?

Welche Infrastruktur befördert verantwortliches Mitein ander? Was müssen Stadtplaner berücksichtigen, bevor neue Wohnviertel entstehen? Was muss umgestaltet werden in alten Wohnvierteln? Unter welchen Bedingungen engagieren sich Menschen und für was? Wie gehen Menschen mit Konflikten innen und außen um? Und.....welche Rolle spielen die Nachbarschaftshäuser, Settlements und Community Centers in diesem Prozess? Und zwar: überall auf der Welt?

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Diese Aspekte eines schier unerschöpflichen Themas diskutierten 360 Teilnehmerinnen aus insgesamt 36 Nationen und 4 Kontinenten in insgesamt 39 workshops und 8 Plenumsdiskussionen mit spannenden und anregenden Vorträgen. Zur Illustration hier die Titel und Kurzbeschreibungen einiger exemplarischer workshops: •

„Beyond words: shaping your images of inclusion“ hier wurden mit handwerklichen nonverbalen Methoden Vorstellungen der Teilnehmerinnen zu „Inclusiveness“ erarbeitet. oder:“ Changing the circumstances, not the people“: die Bedingungen ändern, nicht die Menschen, das spricht für sich! oder:„International lessons in community Building and Democracy.“ In diesem Workshop wurden Beispiele internationaler Zusammenarbeit von Nachbarschaftszentren in Amerika und Europa mit sozialen Akteuren in China, Rumänien und Lettland vorgestellt. Dabei ging es um ein breites Themenspektrum: von der Nutzung „sozialen Kapitals“, über die Einbeziehung von Frauen in politische Entscheidungsprozesse bis zum Aufbau des neuen erweiterten Europa - auf der Basis bürgerlicher Rechte und zivilgesellschaftlicher Strukturen.

Die Workshops wurden zum großen Teil geleitet von Aktiven der Nachbarschafts- und Gemeinwesenzentren aus den jeweiligen Ländern bzw. Städten. Das machte das Zuhören und Mitmachen anschaulich und praktisch. Der Deutsche Beitrag zu den WorkDer Bürgermeister shops lautete:„Artists as agents of change“ und verdeutlichte am Beispiel der ufafabrik Berlin, wie und mit welchen Möglichkeiten Künstler und Handwerker einen Beitrag zur Veränderung der Lebensbedingungen in einem Stadtteil leisten können. Mit dem Mut zu ungewöhnlichen Schritten (Besetzung eines Geländes) und der Begeisterung fürs Theaterspielen und Brotbacken haben 1979 ca. 100 Menschen für sich selbst und auch für andere eine liebens- und lebenswerte Stadtoase geschaffen, die heute noch dazu beiträgt, einen Stadtteil attraktiv zu machen für junge und alte Menschen, Familien und Singles jeder Herkunft. Teil der Konferenzprogramms war ein Empfang beim Bürgermeister von Toronto, David Miller. Neben einem Büfett mit Köstlichkeiten aus aller Herren und Frauen Länder war die politische „vision and mission“ des Bürgermeisters die Proklamation eines „Neighbourhoods First Day“, einem Tag, an dem künftig Jahr für Jahr am 22. Juni die Bedeutung der Nachbarschaft (und damit auch der Arbeit der Nachbarschaftszentren) gefeiert werden soll. Unser internationaler Dachverband IFS hat beschlossen, nach diesem Beispiel in allen Ländern die Bürgermeister oder andere Repräsentanten dazu zu bewegen, einen solchen Tag der Nachbarschaften auszurufen. .Die Delegierten des Verbandes, die in Toronto versammelt waren, nahmen den Auftrag mit in ihre Heimat, in diesem Sinne auf ihre jeweiligen Regierenden einzuwirken. Ein weiterer Bestandteil der Konferenz war ein internationales Jugendtreffen, an dem sich ca. 30 Jugendliche beteiligten, davon auch eine zweiköpfige Delegation aus der Hauptstadt von good old Germany. Die Jugendlichen erfuhren durch den Besuch diverser Nachbarschafts- und Jugendeinrichtungen, wie Jugendliche in Toronto leben, welche Ideen und auch welche Probleme es gibt. Was haben wir mitgenommen? Die Bestärkung, auf einem Weg weiter zu gehen, der heißt: Menschen sind eigenverantwortlich, sie benötigen keine besser wissenden Profis, die sie an die Hand nehmen und es für sie richten, sondern vor allem Mittel und Möglichkeiten, um ihr Leben selbst so gestalten zu können, wie sie es für richtig halten. Und für einander da zu sein und miteinander zu leben, zu arbeiten und zu genießen. Die Autorin selbst hat viel gelernt von den Beispielen der Kollegen und Kolleginnen aus anderen Ländern - und das war auch eine Übung in Demut und Respekt vor dem herausragenden Engagement der Akteure der Nachbarschaftsarbeit in Ländern, in denen kein Cent von staatlicher Seite für ihre Arbeit rollt (in Südamerika, China und einer Reihe von osteuropäischen Ländern).

Renate Wilkening Geschäftsführerin des Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrums (NUSZ) in der ufafabrik Berlin - und seit der Mitgliederversammlung in Toronto Mitglied des „board of directors“ (= Vorstand) von IFS

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Toronto - IFS -Konferenz

City of TORONTO Neighbourhoods First Day A Celebration of Neighbourhood Centres June 22, 2004

Whereas: Toronto is a city of diverse and vibrant neighbourhoods. It is the collective energy and enthusiasm of people in communities, working together that make our city an inclusive, equitable and safe and caring place to live, work and play; and Whereas: Neighbourhood Centres mobilize skilled staff and volunteers to shape locally-directed services and community education initiatives for all residents, with particular attention to the needs of vulnerable and marginalized community members; and Whereas: Neighbourhood Centres are important partners that work collaboratively with the City of Toronto to advance its social development, equity and access, health promotion and anti-discrimination objectives; and

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Whereas: the social support and connections fostered through Neighbourhood Centres are building blocks of our civil society. They provide foundations for mutual support, social cohesion and civic engagement in our democratic processes. Now therefore: I, Mayor David Miller, on behalf of Toronto City Council, do hereby proclaim June 22, 2004 as „Neighbourhoods First Day. A Celebration of Neighbourhood Centres“ to recoynize the invaluable contributions Neighbourhood Centres make to the life of our City. Mayor David Miller


Die Auswirkungen von Besuchen deutscher sozialer Aktivisten im Londoner Settlement „Toynbee Hall“ auf Entstehung und Konzeption der deutschen Nachbarschaftsheimbewegung Teil 2 unserer Archiv-/Geschichts-Serie (Dieser Beitrag ist die deutsche Fassung eines Referates, das auf „Ersten internationalen Konferenz zur Geschichte der Settlement-Bewegung“, im Juli 2004 in London (im Settlement Toynbee-Hall) gehalten wurde.)

Die Anfänge der Settlement-Bewegung Die explosionsartige weltweite Ausbreitung der Settlement-Bewegung in den ersten dreißig Jahren ihres Bestehens (1884-1914) ist ein faszinierendes Phänomen. Handelt es sich doch um einen radikal neuen und existenziell herausfordernden Ansatz, sich mit der sog.„sozialen Frage“ zu beschäftigen. Der Grundgedanke war, dass Menschen der höheren Klassen in den Wohnquartieren der Armen, der unteren Schichten, der neu Eingewanderten, der Arbeiter - heute würde man sagen in „Wohngebieten mit besonderem Erneuerungsbedarf“ oder kurz „QM“-Gebieten - siedelten („settelten“), also ihren Wohnsitz nahmen, um mit ihnen zusammen (als Nachbarn) zu leben und ihnen etwas von dem abzugeben, dessen Besitz ihr Privileg war: Wissen, Bildung, Lebensart. Trotz - oder gerade wegen - dieser Radikalität verbreitete sich der Settlement-Gedanke mit rasender Geschwindigkeit. Das erste

So war es auch in Deutschland: Die Adaption der Settlement-Idee in diesen ersten dreißig Jahren der weltweiten Bewegung sah zwei Startversuche von Bedeutung. Daneben gab es noch einige weniger bekannte und kurzlebigere Gründungen - z.B. in Berlin-Charlottenburg das Teilnehmeinnen und Teilnehmer auf der von Studenten ins Leben internatioalen Geschichtskonferenz vor gerufene „Siedlungsder Toynbee Hall 2004 heim“ (in dem u.a. Walter Benjamin und Gershom Sholem verkehrten) und das jüdische Volksheim im Berliner Scheunenviertel (in dem die Verlobte von Franz Kafka als ehrenamtliche Mitarbeiterin tätig war).

Deutsche Gründungen Zurück zu den gewichtigeren Gründungen, die die nach dem 2. Weltkrieg erneut ins Leben gerufenen „Nachbarschaftsheime“ gewissermaßen als ihre Vorfahren betrachten dürfen. Diese beiden größeren Startversuche wurden von verschiedenen Akteuren, in verschiedenen Städten, vor unterschiedlichem sozioökonomischen Hintergrund, mit unterschiedlichen Konzepten, aber mit einer Gemeinsamkeit unternommen: beide Gründer waren Besucher von Toynbee Hall gewesen und orientierten sich an dem, was sie dort gesehen und erfahren hatten.

Samuel Barnett und seine Mitstreiter vor der Toynbee Hall 1884

Settlement, Toynbee Hall, wurde 1884 gegründet, wenige Wochen später folgte Oxford House, ebenfalls in London. Nur ein paar Jahre später gab es Hunderte von Settlements in mindestens 12 Ländern - und fast alle hatten ihre Gründungsimpulse direkt oder indirekt von Toynbee Hall erhalten. Insbesondere die herausragenden Persönlichkeiten, die dabei eine Rolle spielten und die alle charismatische Führungsgestalten waren, sind direkte Besucher von Toynbee Hall gewesen und haben ihre Einrichtungen unter dem Eindruck des Besuchs in diesem Settlement gestartet. Das gilt für Stanton Cott, der 1886 das erste Settlement in New York gegründet hat, das zuerst den Namen Nachbarschaftsgilde („Neighbourhood Guild“) trug und später in University Settlement umbenannt wurde - unter diesem Namen besteht die Einrichtung übrigens bis heute . Das gilt für das Hull House in Chicago mit seiner Gründerin Jane Addams, langjährige Vorsitzende des später gegründeten Internationalen Verbandes der Settlements (IFS) und Trägerin des Friedensnobelpreises von 1931. Jane Addams

Beispiel 1: Walter Classen und das Hamburger Volksheim Der erste Pionier mit diesem Muster war Walter Classen aus Hamburg, ein junger Theologe, der von dem reichen Fabrikbesitzer und Politiker Heinrich Traun gesponsert wurde. Dieser ermöglichte es ihm, nach Abschluss seines Studiums 1899 in der Welt herumzufahren, um sich Anregungen für die Entscheidung zu holen, was er als nächstes in seinem Leben tun könnte. Auf dieser Reise kam er auch nach London, wo er für ein halbes Jahr in Toynbee Hall wohnte. Anschließend kam er nach Deutschland zurück und schrieb ein Buch mit dem Titel „Soziales Rittertum in England“, in dem er seine Toynbee-Hall-Erfahrungen verarbeitete und dieses Beispiel in den höchsten Tönen lobte. Ihn hatten insbesondere der „Geist wahren Christentums“ und die vornehme und ehrbare Haltung derjenigen Angehörigen der Oberklasse beeindruckt, die - wie es Samuel Barnett, der Gründer von Toynbee Hall ausdrückte - „ihr Bestes mit den Armen zu teilen“ bereit waren. In Hamburg versuchte Classen Mitstreiter für seine Idee zu finden, nach englischem Beispiel das erste Settlement auf deutschem

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Boden zu gründen. Aber Hamburg war nicht London, die Klassenwidersprüche waren sichtbar, aber nicht so extrem wie z.B. in Whitechapel. Die soziale Segregation hatte noch nicht so extreme Formen angenommen wie in London, wo zwischen dem unerhört reichen Westen und dem extrem verarmten Osten unsichtbare Grenzen lagen, die in beiden Richtungen kaum überquert wurden. In Hamburg gab es deswegen nicht diese unbändige Bereitschaft junger Intellektueller, einen solchen gewaltigen Schritt zu gehen wie die englischen Kollegen und sich tatsächlich in die Stadtviertel der Armen zu bewegen, um dort mit ihnen zu leben. Es gelang Walter Classen nicht, Anhänger für seine Idee zu rekrutieren. Seine Reaktion darauf war recht pragmatisch: Er änderte einfach das Konzept. Anstelle eines wirklichen Settlements (im Sinne von Ansiedlung) sollte es jetzt nur noch eine Art Gemeinwesenzentrum in einem Arbeiterviertel sein, dem er den Namen „Volksheim“ gab. Dies Zentrum sollte ein Ort der Erholung und Bildung sein - mit einem besonderen Schwerpunkt in der Kinderarbeit (Kindertagesbetreuung, Klubs, Ferienreisen etc.). Verglichen mit dem Toynbee-Hall-Beispiel hat Classen nur Teilaspekte des Vorbildes verwirklicht. Er war weniger idealistisch, mehr pragmatisch und kompromissbereit. Diese Grundhaltung hat sich auch auf andere Aspekte der Volksheimarbeit ausgewirkt, z.B. bei der Örtlichkeit. Samuel Barnett und seine Anhänger hatten sich bewusst und absichtlich für ihr Settlement die schlimmst mögliche Gegend in London ausgesucht. Der berühmt-berüchtigte Serienkiller Jack the Ripper hat nicht zufällig - etwa zur gleichen Zeit - all seine Morde in einem Umkreis von wenigen hundert Metern rund um Toynbee Hall begangen.

Bildungsbemühungen im Arbeiterviertel Das Engagement der Settler in dieser äußerst finsteren Gegend war durch den Erwerb eines Grundstückes und den Neubau eines Hauses von vornherein auf lange Dauer angelegt. Walter Classen hingegen legte großen Wert darauf, in einem Arbeiterviertel zu starten, in dem noch nicht Hopfen und Malz verloren wären, sondern in dem man auf eher besser situierte Teile der Arbeiterschaft stoßen würde, die man mit seinen Bildungsbemühungen besser erreichen zu können glaubte. Er schuf keinen Neubau, er kaufte kein Haus, ja er mietete noch nicht einmal ein Haus sondern begnügte sich mit der Nutzungserlaubnis für einige Räume in einem Geschäftsgebäude, das nicht voll vermietet war und das seinem Sponsor und Wohltäter gehörte, der bereit war, es kostenfrei zur Verfügung zu stellen, daran allerdings auch Bedingungen knüpfte, auf die man sich beim englischen Vorbild nicht eingelassen hätte. Die Finanzierungsgrundlage von Toynbee Hall bestand aus relativ kleinen Beiträgen einer großen Anzahl von Spendern. Das gab Toynbee Hall eine relativ große Unabhängigkeit. Das Hamburger Volksheim musste demgegenüber in erheblichem Maße auf die Wünsche seiner wenigen einflussreichen Sponsoren Rücksicht nehmen. Diese versuchten z.B. auf die Programmgestaltung Einfluss zu nehmen. Sie wollten verhindern, dass im Volksheim politische Debatten veranstaltet würden - ein wesentlicher Bestandteil der Toynbee-Hall-Kultur. Die Hamburger-Volksheim-Gönner, Fabrikbesitzer und Kaufleute, fürchteten, solche politischen Debatten könnten zur Verbreitung aufrührerischen sozialdemokratischen Gedankengutes führen und das wollten sie auf keinen Fall unterstützen. An diesem Punkt blieb Classens übrigens standfest und wehrte Versuche der Sponsoren zur direkten Programmbeeinflussung ab, aber er war sich ihrer Erwartungshaltung im Allgemeinen sehr bewusst und bemühte sich, alles zu vermeiden, was ihre Unterstützung gefährden konnte. Walter Classen hatte das Volksheim seit 1901 ehrenamtlich geleitet. Inzwischen hatte er seine Ausbildung abgeschlossen und ein Pfarramt übernommen. Jetzt, im Jahre 1906, schien es ihm an der Zeit, seine Kraft voll und ganz dem Volksheim zur Verfügung zu stellen und sein kirchliches Amt aufzugeben. Er war der Überzeugung, dass es ihm als nicht durch die Amtskirche gebundenen „Laien“ eher möglich sein würde, an die Arbeiter heranzukommen,

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die sich gegenüber allem, was mit der offiziellen Kirche zusammenhing, sehr ablehnend verhielten. Der Ansatz des Volksheims war zwar auf die religiösen Überzeugungen seiner Aktivisten gegründet, aber er war weder religiös noch missionarisch. Auf diese Weise konnte das Volksheim sehr viel wirkungsvoller auf das Denken und die Überzeugungen der einfachen Menschen einwirken. Von 1906 bis 1913 war Classen bezahlter hauptamtlicher Mitarbeiter des Volksheims. Das brachte neue Probleme mit sich, weil die finanzielle Situation des Volksheims durchgehend angespannt war und sich ab 1909 nach dem Tod seines Hauptsponsors weiter verschärfte. Von dem Gehalt allein, das das Volksheim zahlen konnte, war es nicht möglich, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. 1913 gab Classen auf und nahm eine Stelle im öffentlichen Dienst an, um später an die Schule zu wechseln und Lehrer zu werden. Er übernahm auch Lehraufträge an der Universität, wo er in der Ausbildung angehender Religionslehrer tätig war. 1927 wurde er aufgrund dieser Aktivitäten zum Ehrendoktor ernannt, 1931 wurde ihm darüber hinaus der Professortitel verliehen. Indirekt kam er durch seine Lehrtätigkeit wieder in den Wirkungsbereich der Amtskirche zurück, deren Reihen er zugunsten seines sozialen Engagements einmal verlassen hatte. Der einflussreiche konservative Flügel der Kirche war damit nicht einverstanden. Insbesondere Classens Idee, soziales Handeln ohne religiöse Vorbedingungen sei der beste Weg, dem Beispiel Jesu zu folgen, war für sie theologisch und politisch nicht akzeptabel. Die Stunde dieser Konservativen kam nach der sog. Machtergreifung der Nationalsozialisten. Sie konnten ihren Einfluss geltend machen und mit zu der Entscheidung beitragen, Classen alle Lehrgenehmigungen zu entziehen. Diese Entscheidung wurde als vorzeitige Pensionierung verbrämt, um sie weniger anstößig erscheinen zu lassen.

Weitere Volksheime orientiert am Hamburger Vorbild Auch wenn das Volksheim nicht von so starken und radikalen Überzeugungen geprägt war wie Toynbee Hall, konnte es doch eine vegleichsweise große Wirkung entfalten. Zuerst in Hamburg, wo sein Einfluss sich auf andere Stadtteile ausweite, in denen

IFS-Konferenz in Paris 1925. Im Vordergrund sitzend: Jane Addams

mehrere Zweigstellen des Volksheims entstanden. Aber auch in anderen Städten Deutschlands wurden Volksheime gegründet, die sich auf das Hamburger Vorbild beriefen (in Karlsruhe, Leipzig, Worms und Stuttgart). 1925 wurde das Volksheim Mitglied der „Deutschen Vereinigung der Nachbarschaftssiedlungen“, unseres Vorläuferverbandes. Als dessen Delegierter nahm Walter Classen an der Konferenz des Internationalen Dachverbandes (IFS) teil, die 1932 in Berlin stattfand. Die Organisation Volksheim überlebte die Nazi-Zeit, indem sie sich noch weiter von den Ideen entfernte, die einmal zu ihrer Gründung geführt hatten. Fragen der Sozialreform wurden gänzlich von der Tagesordnung gestrichen. Die Organisation konzentrierte sich ganz auf kulturelle Aktivitäten, die nicht im Konflikt mit dem


Regime standen. So waren es erst die Bombenteppiche des II. Weltkrieges, die zur Zerstörung der Besitztümer des Volksheims führten. Nach dem Krieg fanden sich einige alte Freunde und Mitglieder des Volksheims zusammen, um seine Aktivitäten wieder neu zu starten. Aber der Schwerpunkt des Volksheims blieb die Kulturarbeit. Das fand seinen sinnfälligen Ausdruck darin, dass die Organisation ihren Namen in „Kulturelle Vereinigung Volksheim“ änderte. Diese Organisation war noch bis mindestens in die siebziger Jahre hinein Mitglied unseres Verbandes (des Verbandes Deutscher Nachbarschaftsheime, später umbenannt in Verband für sozial-kulturelle Arbeit). Sie existiert noch heute - in der Selbstdarstellung vor allem als Träger des „Theaters in der Marschnerstr.“, eines sehr aktiven und gut ausgestatteten Amateurtheaters. Neben dem Theater betreibt der Verein noch zwei Kindertagesstätten und eine Ferieneinrichtung außerhalb der Stadt.

Vermittlung zwischen den „Volksklassen“ Walter Classen, Führungsgestalt und ideologischer Kopf der Organisation, hatte enge Verbindungen zum politischen Liberalismus. Er wurde Anfang des letzten Jahrhunderts Mitglied einer der liberalen politischen Parteien und trat nach dem II. Weltkrieg der neugegründeten Freien Demokratischen Partei bei. Seine Vorstellungen waren, wie das oft bei Liberalen der Fall ist, voller Widersprüche. Auf der einen Seite ist er offen für die Idee der sozialen Reform, auf der anderen Seite ist er darum bemüht, den unteren Volksklassen zu vermitteln, dass ihren Interessen dadurch am besten gedient sei, dass sie sich als Teil einer VOLKSGEMEINSCHAFT sähen: obere und untere Klassen bildeten zusammen das VOLK, sie sollten in Frieden miteinander leben und jeweils von ihrer Position aus für das gemeinsame Wohlergehen wirken. Die Idee einer solchen Volksgemeinschaft, in der die Klassengegensätze relativiert erscheinen, bekam einen gewaltigen Schub zu Beginn des ersten Weltkrieges - man denke an Kaiser Wilhelms II berühmten Satz „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“, mit der die Sozialdemokratie im wahrsten Sinne des Wortes hoffähig gemacht wurde und dessen Begleiterscheinung der Verzicht der Arbeiterbewegung auf ihre internationalistischen Bestrebungen sowie ihre Bereitschaft war, mit den oberen Klassen gemeinsam für die deutschen nationalen Interessen in den Krieg zu ziehen. Diese chauvinistische Wendung mutet wie eine Karikatur der Zielsetzungen des Toynbee-Hall-Gründers Samuel Barnett an, dem es auch darum gegangen war, die Gegensätze zwischen oberen und unteren Klassen zu überbrücken, aber der sich darunter vorstellte, die Klassengegensätze zu überwinden und nicht zu zementieren.

Beispiel 2: Friedrich Siegmund-Schultze und die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost. Friedrich Siegmund-Schultze war wie Walter Classen Theologe. Er hatte im Jahre 1908 gerade sein Studium beendet, als er in ein Austauschprojekt mit England einbezogen wurde. Eine Delegation von Kirchenleuten aus Deutschland war nach England Friedrich Siegmund-Schultze eingeladen worden und eine Delegation aus England sollte ein Jahr später zu einem Gegenbesuch nach Deutschland kommen. SiegmundSchultze wurde von der deutschen Seite die Verantwortung für Organisierung und Programmgestaltung dieser Besuchsreisen übertragen. Gleichzeitig machte er erste Erfahrungen als Pfarrer in einem Berliner Arbeiterbezirk.

Sein Londonbesuch 1908 brachte Siegmund-Schultze in Kontakt mit Toynbee Hall. Er war tief beeindruckt von dem, was er bei seinem kurzen Besuch sah und von dem, was er über die Arbeit von Toynbee Hall gelesen hatte, vor allem, weil er eine Menge Ähnlichkeiten zwischen der Situation der Armen in Ost-London und in Berlin sah, wie er sie durch seine Arbeit in Berlin-Mitte kennengelernt hatte. Insbesondere spürte er die gleiche Abwehr dieser Menschen gegen jede Art von Predigen. Er war überzeugt davon, dass die „Settler“ die richtige Konsequenz aus dieser Erfahrung geschlossen hatten und freundete sich in den nächsten drei Jahren mehr und mehr mit der Idee an, ein deutsches Settlement nach dem Vorbild von Toynbee Hall ins Leben zu rufen. Siegmund-Schultze galt als ausgesprochen begabter junger Theologe. Darüber hinaus hatte er sehr gute Beziehungen zu einflussreichen Leuten im Kaiserreich. Der Weg zu einer glänzenden Karriere in der offiziellen Kirche stand ihm weit offen. Nach zwei Jahren Pfarramtstätigkeit in Berlin-Mitte wurde er Pfarrer in Potsdam - in der Kirchengemeinde des Kaisers. Dieses Amt bekleidete er von 1910 bis 1911. Diese Position, in der er sich ausschließlich um das Seelenheil der Angehörigen der oberen Klassen zu kümmern hatte, stand für ihn in scharfem Kontrast zu den Erfahrungen, die er in den vorausgegangenen Jahren gemacht hatte. Er fand es unbefriedigend, sein Leben und seine Schaffenskraft ausschließlich diesen Menschen und den Ansprüchen, die sie an ihn hatten, zu widmen. Deswegen begann er neben seiner Tätigkeit in Potsdam damit, an den Voraussetzungen zu arbeiten, ein ‚wirkliches Settlement‘ in der dunkelsten und schwierigsten Gegend im Osten Berlins zu gründen. Er propagierte diese Idee und fand - anders als Walter Classen - genügend Menschen, die bereit waren, mit ihm zu gehen und genügend Förderer, um die Idee zu verwirklichen. 1911 entschied sich Siegmund-Schultze, sein Amt in Potsdam aufzugeben und mit seinen Anhängern in den Berliner Osten zu ziehen, nicht ohne vorher noch einmal über den Ozean zu fahren und Jane Addams im Hull House in Chicago zu besuchen und von den praktischen Erfahrungen dieses berühmten Settlements zu lernen, das ja auch von Jane Addams Besuch in Toynbee Hall im Jahre 1887 inspiriert worden war.

Ehrenamt statt Hauptamt Siegmund-Schultze lehnte es ab, eine bezahlte Position in seinem Settlement zu übernehmen. Es war ihm wichtig, diese Arbeit ehrenamtlich zu leisten. Das wurde ihm durch eine sehr großzügige Spende des damals reichsten Mannes der Welt, des amerikanischen Industriellen Carnegie, ermöglicht. Dieser war so interessiert an der Arbeit des sogenannten „Vereinigten Kirchenkomitees für Friedensbeziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland“, das als Ergebnis der gegenseitigen Besuche 1908 und 1909 gegründet worden war, dass er dessen Zeitung freigiebig unterstützte, deren Herausgeber Siegmund-Schultze wurde. So wurde dieser für seine Herausgeber- und Redaktionstätigkeit bezahlt und konnte der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft“ (SAG) als Ehrenamtlicher dienen. So nannte sich die 1913 förmlich gegründete Trägerorganisation des Settlements. Die konkrete Arbeit hatte viele Ähnlichkeiten mit der des Volksheims in Hamburg und mit der von Toynbee Hall in London: Bildungsveranstaltungen und -kurse, Klubs vor allem für Kinder und Jugendliche, Foren für Debatten (politische Debatten nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil besonders gewünscht, incl. der Einladung an Vertreter der Sozialdemokratie), kulturelle und Freizeit-Aktivitäten. Die Aktivitäten der Sozialen Arbeitsgemeinschaft waren nicht auf ein Zentrum beschränkt, sondern fanden in einer Reihe von Mietobjekten statt, die anfangs alle in der selben Straße lagen, später auch in anderen Straßen des gleichen Wohnbereiches.

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Siegmund-Schultze und bis zu zwanzig seiner Anhänger, vor allem junge Akademiker in der Abschlussphase ihres Universitätsstudiums oder in der ersten Zeit nach ihrem Examen, folgten Samuel Barnett in seiner Grundidee, nämlich tatsächlich ihren Wohnsitz im Elendsquartier zu nehmen und mit den notleidenden Menschen als ihre Nachbarn zu leben und den Gegensatz zwischen oberen und unteren Klassen durch unbedingtes persönliches Engagement zu überbrücken. Diese Haltung ihrer Aktiven war für die Wirkung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft sehr viel wichtiger als die Einzelheiten ihres Programms. Das Programm wurde nicht als Selbstzweck gesehen, sondern als eine Methode, durch die der persönliche Kontakt der Arbeitsgemeinschaftsmitglieder mit den Nachbarn ermöglicht werden sollte. Das war auch der Grund, weshalb die SAG eine sogenannte Kaffeeklappe aufmachte, einen niedrigschwellige offene Einrichtung mit keinem speziellen Programm, deren Angebot sich vor allem an die am schlechtesten bezahlten Arbeiter richtete, die sich keine eigene Wohnung leisten konnten, sondern als „Schlafburschen“ nur die Miete für die stundenweise Benutzung eines Bettes aufbringen konnten, das sie sich schichtweise mit anderen Nutzern teilen mussten. Diese Menschen hatten sonst keinen Ort, an dem sie ihre begrenzte freie Zeit verbringen konnten, außer den unzähligen Kneipen mit ihrer ungesunden Kultur von Alkoholund Tabakkonsum. In der Kaffeeklappe gab es die Möglichkeit, seine Zeit bei nicht-alkoholischen Getränken und einem kleinen Imbissangebot zu verbringen, ohne jede Verpflichtung. Darin unterschied sich diese Einrichtung auch von ähnlichen Angeboten der Heilsarmee, wo zumindest ein gewisses Maß an christlichen Lippenbekenntnissen gefordert wurde.

Exkurs: Die Kinder- und Jugendarbeit der SAG und die Rolle von Wenzel Holek Besonderen Wert legte die SAG auf Kinder- und Jugendaktivitäten in Form von Gruppenarbeit. Klubs wurden ins Leben gerufen, die aus 10 bis 15 Kindern oder Jugendlichen bestanden, die jeweils von einem Erwachsenen angeleitet wurden, meistens einem der jungen Akademiker, die in der Wohnung der SAG lebten. Die Jugendarbeit hatte eine besondere Bedeutung für die SAG, weil die „Siedler“, diese neuen Nachbarn, mit einigem Argwohn und einer Menge Skepsis von den Menschen beobachtet wurden, denen zuliebe sie in den Arbeiterbezirk gezogen waren. Es war sehr viel leichter, an die Kinder und Jugendlichen heranzukommen und so entstand die Idee, die Beziehung zu ihnen auszubauen, um auf diesem Wege die Eltern zu erreichen.

Folgen des 1. Weltkrieges 1914 Jedoch der 1. Weltkrieg, der 1914 ausbrach, hatte eine Nebenwirkung, die sich massiv auf die weitere Entwicklung der Jugendarbeit in der SAG auswirken sollte: Junge Akademiker standen fortan nicht mehr zur Verfügung, sie wurden eingezogen und in den Krieg geschickt. Um dennoch mit der strategisch wichtigen Jugendarbeit fortzufahren, entschied sich Siegmund-Schultze abweichend vom ursprünglichen Konzept, einen bezahlten hauptamtlichen Jugendarbeiter einzustellen, der eine außergewöhnliche Persönlichkeit war und der später eine führende Rolle in der SAG spielen sollte als lebendiges Beispiel dafür, dass die Kluft zwischen den Klassen überbrückt werden könnte. Der Name dieses Jugendarbeiters war Wenzel Holek, 1916, als er zur SAG kam, schon 52 Jahre alt. Holek stammte nicht nur aus einer Arbeiterfamilie - sein Vater war ein Tagelöhner aus Böhmen, damals Teil des Österreich-Ungarischen Reiches, er war auch selbst für den größten Teil seines Lebens als ungelernter „Wanderarbeiter“ durch die Welt gezogen und hatte das Schicksal der untersten Schichten der Arbeiterschaft am eigenen Leibe erlebt.

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Holek war in intellektuellen Kreisen, sofern sie sich für das Denken und die Psychologie der Arbeiterklasse interessierten, sehr bekannt, weil es ihm ermöglicht worden war, im Jahre 1909 seine Autobiographie zu schreiben und zu veröffentlichen (Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters). Durch Vortragstätigkeit im Anschluss an diese Veröffentlichung war Holek mit dem Leipziger „Volksheim“ in Kontakt gekommen, in dem man ihn mit dem Aufbau einer Jugendarbeit betraut hatte. Vor dieser Zeit war Holek ein Aktivist in der Arbeiterbewegung gewesen und der sozialdemokratischen Partei beigetreten, deren Mitglied er bis an sein Lebensende blieb, auch wenn er sich von der Idee des Klassenkampfes abwandte und sich die Settlement-Vorstellung zu eigen machte, das gegenseitige Verständnis und die Zusammenarbeit von Mitgliedern der oberen und unteren Klassen anzustreben. Das war möglich auf der Basis seiner christlichen Grundüberzeugungen. Unter Nutzung von Holeks doppeltem Hintergrund wurde es der SAG sehr erleichtert, Kontakt zu den Arbeitern im armen Osten Berlins aufzunehmen. Er sprach ihre Sprache, er kannte ihre Haltungen. Er stellte schon in seiner eigenen Person die Brücke zwischen den Klassen dar, die die Settlements in der ganzen Welt sich zu bauen bemühten, eine enorme Aufgabe, die für die meisten Settlements nur sehr schwer zu bewältigen war.

Soziale Arbeitsgemeinschaften (SAG) Die SAG war sehr einflussreich in Berlin, sie wuchs schnell und wurde in immer mehr Aspekte der Wohlfahrtsarbeit einbezogen. Ihre Ideen verbreiteten sich über ganz Deutschland, und in wenigen Jahren gab es ähnliche Soziale Arbeitsgemeinschaften in vielen anderen Städten in Deutschland (Barmen, Bielefeld, Breslau, Frankfurt/Main, Görlitz, Halle, Jena, Leipzig, Marburg, Nieski, Stettin, Vlotho und Wernigerode). Friedrich Siegmund-Schultze blieb der Leiter der Organisation bis 1933, aber das war nicht die einzige Aufgabe, der er sich widmete und die ihren Ursprung in dem deutsch-britischen Kirchenaustausch der Jahre 1908 und 1909 hatte. Zwei weitere Tätigkeitsfelder leiteten sich aus diesen Anfängen ab: die Friedensarbeit (Siegmund-Schultze wurde der Sekretär des Versöhnungsbundes) und die ökumenische Verständigung zwischen Christen unterschiedlicher Bekenntnisse. 1932 war die SAG Gastgeber der 4. Internationalen Konferenz des Internationalen Verbandes der Settlements (IFS) im Ulmenhof in Berlin-Wilhelmshagen. Die Tagung stand unter dem Motto:„Der Einfluss der gegenwärtigen Krise auf die Arbeit der Settlements“. Friedrich Siegmund-Schultze hatte den Vorsitz dieser Konferenz, deren Teilnehmer sich der näher rückenden Bedrohung für alle Formen friedlicher sozialer Reform und friedlichen Zusammenlebens der Völker bewusst waren angesichts der aufkommenden faschistischen Gefahr in Europa und besonders in Deutschland.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933, kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, wurde Siegmund-Schultze verhaftet und ins Exil gezwungen - wie viele andere führende Aktive der Sozialen Arbeitsgemeinschaften. Die Außenstellen dieser Organisation in den anderen deutschen Städten brachen schnell zusammen und stellten ihre Tätigkeit ein. In Berlin konnte die Soziale Arbeitsgemeinschaft etwas länger überleben, indem sie ihren Tätigkeitsbereich auf eine reine Wohltätigkeitsarbeit, vor allem mit behinderten Menschen, einschränkte. Darüber hinaus schloss sie sich der Inneren Mission an, die als christliche Wohlfahrtsorganisation auch unter dem neuen Regime legal blieb, das ansonsten keinerlei Aktivitäten außerhalb seiner eigenen direkten Kontrolle zuließ. Im Jahre 1940 wurde die SAG schließlich doch verboten, ihr Besitz wurde konfisziert. Nur das


Archiv konnte gerettet werden, das Siegmund-Schultze in weiser Voraussicht der Schwedischen Botschaft übereignet hatte. Friedrich Siegmund-Schultze kam nach dem II. Weltkrieg nach Deutschland zurück. Während seiner Jahre im Schweizer Exil war er weiterhin aktiv in der christlichen Bewegung für Frieden und Versöhnung. Er hatte in der Folge großen Einfluss auf die Entwicklung der professionellen Sozialarbeit im Westen Deutschlands, insbesondere durch die Gründung einer Sozialarbeitsakademie in Dortmund, die später in die Universität integriert wurde. Das kurz nach dem Krieg an ihn ergangene Angebot einer Professur an der Berliner Humboldt-Universität hatte er vorher abgelehnt, als ihm klar wurde, dass es ihm von der sowjetischen Besatzungsmacht nicht erlaubt werden würde, die Soziale Arbeitsgemeinschaft in Berlin-Ost wieder zum Leben zu erwecken.

Beispiel 3: Werner Picht Nun zum dritten Beispiel, Werner Picht, dem deutschen Besucher von Toynbee Hall, der sich am intensivsten mit diesem MusterSettlement auseinandergesetzt hat. Das von ihm verfasste Buch über „Toynbee Hall und die englischen Settlements“ stand auch im Bücherschrank von Siegmund-Schultze. Es wurde 1913 in deutscher Sprache und 1914 in englischer Übersetzung veröffentlicht. Werner Picht hat Toynbee-Hall zwei Mal besucht, einmal für einen kurzen Aufenthalt im Jahre 1910 und ein zweites Mal neun Monate lang, von Oktober 1911 bis Juli 1912. Bei diesem zweiten Besuch hatte er den Status eines „Residents“, also eines regelrechten Mitglieds des Settlements. Nach seinem ersten Besuch war Picht begeistert von den Errungenschaften dieser Einrichtung, nach dem langen Aufenthalt fiel sein Urteil sehr viel zurückhaltender aus. Werner Picht war wie Walter Classen und Friedrich Siegmund-Schultze von Hause aus Theologe. Sein Denken war stark beeinflusst von John Ruskin, dem universitären Lehrer von Arnold Toynbee. Das war der Grund, weshalb Werner Picht bei einem Englandbesuch mehr über das Settlement in Erfahrung bringen wollte, das diesen Namen trug.

Im Originalton liest sich seine Einschätzung so: „Toynbee Hall hat unter allen englischen Settlements die beste Tradition. Es ist, wie kein anderes, unmittelbar herausgewachsen aus der Einflußsphäre der sozialen Idealisten, ja es bildet, wenigstens in seiner Konzeption, den kongenialsten Versuch zur Verkörperung ihrer Ideale. Hier war ihre Forderung an die Gebildeten erfüllt, sich nicht mit Geld von ihren Verpflichtungen den unteren Volksklassen gegenüber loszukaufen, sondern das eigene Leben einzusetzen. Hier wurden praktische Sozialreformer herangebildet, welche aus persönlicher Erfahrung die Schäden kannten, die sie zu bessern suchten. Hier waren Menschen, die ohne Scheu den Abgrund der Klassengegensätze überschritten und wie niemand zuvor vermittelten zwischen hüben und drüben, Vorurteile zerstreuten, und jenseits aller sozialen Kämpfe ein gemeinsames Menschlichkeitsideal aufrichteten.“ (Picht S. 77)

Weiter heißt es: „Die ganze Settlement-Arbeit berut auf der Tatsache, dass sie von einer Gemeinschaft getan wird, welche gleiche Ziele zusammenbinden. Man liebte es, vor allem in den ersten Jahren der Bewegung, die Settlements mit den franziskanischen Bruderschaften auf eine Linie zu stellen.“ (ebd. S. 79) Das ist ein interessanter Vergleich, aber Picht weist ihn selbst als eher unpassend zurück, weil das Leben im Settlements nicht asketisch-mönchisch konzipiert ist, sondern durchaus von Lebensfreude geprägt sein darf. Außerdem hat es nicht so eine enge ideologische, bzw. glaubensmäßige Grundlage.

Picht fährt fort: „Wer den Vorzug hat hat, in Toynbee Hall aufgenommen zu sein, der weiß, dass er damit in einen Freundeskreis eingetreten ist, dem anzugehören, ganz abgesehen von aller sozialen Arbeit, eine menschliche Bereicherung bedeutet. Wie aber, muß gefragt werden, ist diese Gemeinschaft sozialer Arbeiter dem menschlichen Teil ihrer Aufgabe gerecht geworden, der bezeichnet wird durch das Wort ‚Nachbarschaftsidee‘? Und hier hat die Kritik einzusetzen. Es ist fraglos vieles geleistet worden (...) Aber Nachbarn ihrer Nachbarn zu werden haben sie nicht verstanden. Bei der Kritik der Settlement-Bewegung als ganzer wird zu erörtern sein, wie weit dieses Ideal unter den Lebensbedingungen eines Settlements überhaupt zu verwirklichen ist. Hier muß nur gesagt werden, daß Toynbee Hall - im Gegensatz zu einer ganzen Reihe anderer Settlements - mit Whitechapel nicht in der Weise verwachsen ist, wie es seiner Idee und den Absichten seiner Gründer entspricht.“ (ebd. S. 79/80) „Toynbee Hall ist, um es einseitig auszudrücken, zum ‚politischen Settlement‘ geworden. Es ist mehr interessiert an Fragen des öffentlichen Lebens als am Leben des einzelnen Menschen. Das System seiner Klassen und der damit verbundenen Vereinigungen, das wertvoll war als neutraler Boden, auf dem bei gemeinsamer Tätigkeit Resident und Arbeiter sich finden konnten, hat diesen Sinn völlig verloren. Kaum eine Klasse wird von einem Mitglied des Settlements unterrichtet; diese Arbeit wird fast ganz von bezahlten oder unbezahlten Hilfskräften geleistet. Und an den Studienvereinen nehmen Residents auch nur gelegentlich Anteil.“ (ebd. S. 80) Picht spekuliert über die Gründe, die zu dieser Entwicklung geführt haben und sieht sie in dem zu unspezifischen Geist der Humanität, der Denken und Handeln von Toynbee Hall leitet. Gegenbeispiele sieht er in den stärker religiös ausgerichteten Settlements, die die Arbeit mit dem einzelnen Menschen nie aus dem Auge verloren hätten und diese Hauptaktivität immer als Basis für weitergehendes gesellschaftliches Engagement gesehen hätten. Aus seiner Wahrnehmung, dass Toynbee Hall eher einen Fremdkörper in seiner Umgebung darstellt, wofür er ja strukturelle Gründe gefunden zu haben glaubt, zieht Picht schließlich Schlüsse, die die ursprüngliche Settlement-Idee radikal in Frage stellen: „Es ist die Frage, ob es nicht besser ist, wenn der Besitzende in seiner gegebenen Umgebung bleibt, als wenn er sein Heim mitten unter Elend und Not in ihren sichtbarsten und ans Herz greifendsten Formen aufschlägt, ohne die natürlichen Pflichten des Nachbarn zu erfüllen.“ (ebd. .S.81) (...) „Ein Settlement ist eine Niederlassung Gebildeter in einer armen Nachbarschaft. Damit ist gesagt, daß das Settlement mit der Nachbarschaftsidee unlöslich verbunden ist. Man kann es nicht von ihr trennen, ohne es in seinem Wesen zu zerstören.“ (S. 82)

Kritische Distanz zum Vorbild Toynbee-Hall Die deutsche Fassung von Pichts Buch enthält eine Passage, die in der englischen Version fehlt. Nachdem er das Hamburger Volksheim mit noch härteren Worten als das englische Vorbild kritisiert hat, spricht er sich entschieden dagegen aus, dem Vorbild von Toynbee-Hall in ganzheitlicher Weise zu folgen. Statt dessen solle man sich lieber auf den einen oder andern Aspekt seiner weit gespannten Tätigkeitsfelder konzentrieren, wo man durchaus auf den Ansätzen und Erfahrungen dieses Settlements aufbauen könne. Er selbst folgte seinem eigenen Vorschlag und beschränkte sich fortan auf das Gebiet der Erwachsenenbildung. Auf diesem Feld wurde er in den Jahren der Weimarer Republik ein wichtiger und einflussreicher Akteur.

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In Toynbee Hall war man über die Kritik von Werner Picht nicht erfreut - und wie ich bei der Konferenz in diesem Sommer feststellen konnte, hat sich der Unmut über seine Äußerungen bis heute nicht gelegt. In der regelmäßigen Zeitschrift von Toynbee Hall, den Toynbee Records, hat es im März 1914 eine Kritik seines Buches gegeben, die wohl ein Verriss war. Leider fehlt der entsprechende Band im Archiv von Toynbee-Hall, sodass ich über Details dieser Kritik der Kritik leider nichts herausbekommen konnte. Aber in einer späteren Ausgabe der Toynbee Records aus dem gleichen Jahr wird unter Bezug auf diese Kritik ein Brief aus Deutschland an den Herausgeber veröffentlicht. Dieser Brief stammt von Friedrich Siegmund-Schultze und liest sich wie ein lebendiger Gegenbeweis gegen die Warnung von Werner Picht, dem Beispiel von Toynbee-Hall zu folgen: Siegmund-Schultze berichtet in dem Brief darüber, dass mit der Gründung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost in Deutschland ein Settlement entstanden sei, dass sich strikt am Beispiel von Toynbee-Hall orientiere und damit großen Erfolg habe.

Traditionslinien Was hat das alles mit uns heute zu tun? Wo sind die Verbindungslinien von dem, was vor 100 Jahren geschehen ist und nach 1933 weitgehend zum Erliegen kam, zu den heutigen Nachbarschaftshäusern und dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit? Da gibt es zum einen die ideengeschichtliche Verbindung, die in der Mitgliedschaft im Internationalen Verband (IFS) auch einen organisatorischen Ausdruck gefunden hat. Da gibt es zum anderen aber auch eine direkte Kontinunität, die über Personen vermittelt ist, die vor 1933 und nach 1945 in der Nachbarschaftsheimbewegung eine Rolle gespielt haben. Von den Mitgliedern und Freunden des Hamburger Volksheims war schon die Rede. Jetzt noch zwei Beispiele aus dem Zusammenhang der Sozialen Arbeitsgemeinschaft. Da ist vor allem Herta Krauss zu nennen, die als junge Frau in der Berliner Sozialen Arbeitsgemeinschaft unter Siegmund-Schultze mitgearbeitet hat, bevor sie vom damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer im Jahre 1922 als Sozialdezernentin nach Köln geholt worden ist. Herta Kraus hatte einen jüdischen familiären Hintergrund und war während des I. Weltkrieges zum Quäkertum konvertiert. Den Nazis galt sie weiterhin als Jüdin, was zur Folge hatte, dass sie 1933 Deutschland verlassen musste. Sie ging in die USA, wo sie bald eine wichtige Rolle an der Quäkeruniversität bekam, wo sie angehende Sozialarbeiter/innen unterrichtete. Herta Kraus verfasste während des zweiten Weltkrieges jenes Memorandum an die amerikanische Regierung, in der der Aufbau von Nachbarschaftsheimen im künftigen Nachkriegsdeutschland vorgeschlagen wurde. Und sie war es auch, die u.a. gegenüber dem in Berlin residierenden General Clay hartnäckig darauf

bestand, dass die entsprechenden Beschlüsse der amerikanischen Regierung auch wirklich umgesetzt wurden, als es soweit war. Dafür kam sie mit einer Quäker-Delegation nach Deutschland. Im übrigen blieb sie nach dem Krieg in Amerika. Ohne die Aktivitäten von Herta Kraus gäbe es wahrscheinlich unseren Verband heute nicht!

Elisabeth von Harnack Eine zweite Person möchte ich noch erwähnen: Dr. Elisabeth von Harnack. In der Weimarer Zeit war sie wie ihre Schwester Agnes ehrenamtliche Mitarbeiterin der SAG gewesen. 1932 taucht sie auf der Teilnehmerliste der Internationalen Nachbarschaftsheim-Konferenz in Berlin auf. Von allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Konferenz ist sie die einzige, die auch an der Konferenz von 1956 teilnimmt, die 1956 im Nachbarschaftsheim Urbanstr. stattfindet. Elisabeth von Harnack ist nämlich zu diesem Zeitpunkt Vorstandsmitglied dieses Nachbarschaftsheims, nachdem sie zuvor mit den zu Begründerinnen des Nachbarschaftsheims in Neukölln und des Nachbarschaftsheims Schöneberg gehört hatte. Von ihr, die sich nach Zeitzeugenberichten, in der Regel ziemlich still im Hintergrund aufgehalten hat, ist überliefert, dass ihre ständige Redewendung war, die Nachbarschaftsheime müssten sich ein Beispiel an den Engländern nehmen. Der familiäre Hintergrund von Elisabeth von Harnack ist interessant. Sie ist die Tochter von Alfred von Harnack, einem bekannten Theologen und Wissenschaftler, der als geistlicher Lehrer von Walter Classen und als väterlicher Freund und Gönner von Friedrich SiegmundSchultze gilt. (Die beiden haben zusammen Boccia gespielt). Arvid Harnack von der Widerstandsgruppe Harnack/Schulze-Boysen alias „Rote Kapelle“ ist ihr Vetter. Ihr Bruder Erich gehörte als von den Nazis aus dem Staatsdienst entfernter Jurist dem sozialdemokratischen Widerstand an und wurde nach dem 20. Juli 1944 verhaftet und hingerichtet. Erich von Harnack war familiär mit der Familie Bonhöffer verbunden und so liefen über ihn wichtige Kontakte zwischen dem protestantischen und dem sozialdemokratischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Familie von Harnack war mit Albert Schweitzer befreundet und Elisabeth von Harnack setzte sich später im Nachbarschaftsheim Urbanstr. erfolgreich dafür ein, dass dort jährliche Kleidersammlungen für dessen Urwaldhospital in Lambarene durchgeführt wurden. Und so schließt sich mehrfach der Kreis: Mit Albert Schweitzer persönlich befreundet war nämlich auch die Mutter von Werner Picht. Und dieser schrieb das vielbeachtete und auch ins Englische übersetzte Buch „Leben und Denken von Albert Schweitzer“. Und Albert Schweitzer, wir erinnern uns, bekam den Friedensnobelpreis genau 21 Jahre später verliehen als Jane Addams, nämlich im Jahre 1952.

Herbert Scherer

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Gl端cksSpirale Der Rundbrief erscheint mit finanzieller Unterst端tzung der Gl端cksspirale


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