Immanuel Lawendel Das Polaroid als Beutelbild MEMENTO (2000) von Christopher Nolan und die Post-Kinematographie
Heft 2
DAS ABC DES KINOS Foto, Film, Neue Medien Winfried Pauleit (Hg.)
Das Polaroid ist ein fotografisches Verfahren. Das Grundprinzip bildet die Camera obscura. Ähnlich wie die Fotografie bietet auch das Polaroid die Möglichkeit zur chemischen Fixierung des Bildes. Weiter ist es dem Automatenfoto ähnlich, dessen Apparate bis vor kurzem noch zur Erstellung von Passbildern im öffentlichen Raum aufgestellt waren. Wobei die Polaroidtechnik den Automaten sozusagen auf Kameragröße einschrumpfte. Schließlich handelt es sich auch um einen Vorläufer der digitalen Fotografie, zumindest in dem Sinne, dass die digitalen Kameras nahezu unmittelbar Bilder für ein vergleichendes Sehen im Kameradisplay zur Verfügung stellen. Dennoch hat das Polaroid eine eigene spezifische Medialität, die sich weniger aus der fotografischen Technik und Geschichte begründet, als dass sie sich vielmehr aus dem Kontext kulturellen Handelns erschließt. Um diesen letzten Punkt näher zu beleuchten, will ich im Folgenden versuchen, eine medientheoretische Klassifizierung der PolaroidFotografie als eine Form kulturellen Handelns vorzunehmen – und zwar im Sinne einer Neubestimmung auf dem Hintergrund der Erfahrung von Digitalisierung. Dazu werde ich in drei Schritten vorgehen: Erstens werde ich die Merkmale des Phänomens Polaroid im Kontext kulturellen Handelns beschreiben. Zweitens soll auf dem theoretischen Hintergrund von Giorgio Agambens »Noten zur Geste« die kulturelle Handlungsstruktur des Polaroid genauer skizziert werden. Drittens schließlich wird mit Bezug auf den Film MEMENTO das Polaroid als ein postkinematographischer Möglichkeitsraum neu gefasst.
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1. Die Merkmale des Polaroid Mit dem Polaroid ist es möglich, eine räumliche Struktur bildhaft im Jetzt zu verdoppeln. Dadurch begünstigt diese Technologie ein vergleichendes Sehen. Es setzt weniger auf die zeitliche Trennung, d.h. auf eine nachzeitige Existenz des Bildes, auf ein Überdauern, im Sinne einer Einbalsamierung wie die klassische Fotografie –, sondern vielmehr auf ein Nebeneinander von fotografiertem Bild und realer Handlungssituation. Das Medium Polaroid initiiert also eine vergleichende Sehübung, bei der man sich von der Kongruenz eines gerade im Erscheinen begriffenen Bildes und eines realen Handlungsraums überzeugen kann. Theoretisch gewendet heißt das: ich erkenne im Polaroid nicht einfach etwas Gesehenes wieder (jenes Es-ist-so-gewesen der Fotografie), sondern ich beobachte den Prozess des Bild-Werdens, das langsame Erscheinen des Bildes und vergleiche es mit den Erscheinungen in meinem Sichtfeld. Beim Wiederanschauen von Polaroid-Fotos bin ich nicht nur auf eine vergangene Wirklichkeit verwiesen, sondern ich erinnere auch das vergleichende Sehen zwischen einem Zugang zur sichtbaren Welt und dem Prozess des Bild-Werdens, der sich im Polaroid einmal vollzogen hat. Ein besonderes Merkmal des Polaroid ist schließlich, dass im fixierten Polaroid zwei unterschiedliche Momente festgehalten werden, die beide Teil von dynamischen zeitlichen Prozessen sind. Da uns im Bild-Werden des Polaroid auch die Welt als Bild erscheint, ließe sich davon sprechen, dass im Polaroid zwei Bewegungs-Bilder aufscheinen. Das fixierte Polaroid gewinnt damit den Status eines zusätzlichen Bildes oder eines Metabildes (Mitchell 1994), welches zwischen zwei Erinnerungsbildern vermittelt. Erstens, einem raumzeitlichen Bild der Welt; und zweitens, dem Bild-Werden als chemischem Prozess im Polaroid selbst. Zu den Qualitäten des vergleichenden Sehens und der Zusätzlichkeit kommt ergänzend noch die Magie des Sofortbildes hinzu, die darin besteht, dass das Polaroid uns innerhalb weniger Sekunden ein Bild zu sehen gibt. D.h. man 5
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kann wie bereits angedeutet dem Prozess des Bild-Werdens beiwohnen, welcher sich quasi ohne unser Zutun ereignet. Dieser Vorgang beginnt mit dem klassischen Akt der Fotografie, dem Drücken des Auslösers. Aber zur Entwicklung der klassischen Fotografie wird die Bildherstellung im Anschluss an einen Fotografen überantwortet oder an eine vergleichbare Institution, (an den One-Hour-PhotoShop an der Ecke zum Beispiel – oder im Falle digitaler Fotografie an den Fotodrucker des PC). Der belichtete Film wechselt den Ort, er verschwindet im Labor (oder der Datensatz wird vom PC an den Drucker übertragen). Genau diese Postproduktion der fotografischen Aufnahme wird beim Sofortbildverfahren in die Kamera verlegt und dort automatisiert. Die Automatisierung bleibt hörbar, und die Entwicklung des Bildes kündigt sich akustisch durch den motorisierten Bildauswurf an. In der sonoren Bewegung des Bildes heraus aus der Kamera, hinein in den realen Raum, wird uns das Polaroid-Foto, wie es scheint, von der Kamera selbst angeboten. Die Kamera hält dabei das Bild an seinem Rand noch fest und setzt damit die bevorstehende Übergabe in Szene. Und dann nehmen wir das Bild von der Kamera entgegen. Erst nach der Übergabe beginnt das eigentliche, das sichtbare Bild-Werden. Was man dabei sieht, ist aus der Dunkelkammer sehr wohl bekannt. Der Unterschied zur Dunkelkammer besteht darin, dass wir das Bild bereits in der Hand halten und dem Prozess des Bild-Werdens im Angesicht des gerade fotografierten Objekts zuschauen können – also gerade nicht an einem anderen Ort, bzw. nach einem Ortswechsel. Dieses Ereignis setzt eine besondere Konstellation des Bildträgers, bzw. eine besondere Ordnung des Bildes selbst voraus. Die technischen Bedingungen dieser Ordnung sind die Elemente: Negativ, Kapsel mit Entwickler, Fixiermittel und Positivpapier. Damit dieser Prozess funktionieren kann, muss man das Bild als einen Beutel konstruieren und die Elemente innerhalb des Beutels anbringen. Der Beutel 7
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enthält also das komplette Fotolabor und zudem ein Fenster, durch welches man den Entwicklungsprozess verfolgen kann. Dieses Fenster gewährt fortan auch den Blick auf das fixierte Bild. Die spezifische Materialisierung des Sofortbildes lässt sich daher mit dem Begriff Beutelbild charakterisieren. Im Gegensatz zu den unmittelbaren Bildern der digitalen Technologien weisen die Beutelbilder der Polaroid-Fotografie eine eigene, vom Apparat unabhängige Materialität auf. Sie sind selbst die Verkörperung einer inzwischen altmodischen apparativen Struktur, eines abgetrennten Raumes, in dem das Bild fortan fixiert und eingeschlossen bleibt und nur mehr den eigengesetzlichen Zerfallsprozessen seiner Materialitäten unterliegt. Neben dieser Konstitution besitzt das Beutelbild – in seiner spezifischen Gestaltung des Beutels mit Einsicht durch ein Fenster – auch einen eigenen Bildrahmen. Dieser in der Regel weiße Rahmen ist gleichzeitig ein Markenzeichen des Polaroid. (An diesem Bildrahmen erkennt man das Polaroid auf den ersten Blick – also sofort –, was eine weitere Sofortbildqualität darstellt). In vielen KameraModellen ist das Bild so ausgelegt, dass eine Seite des Rahmens, und zwar genau jene, die uns vom Apparat entgegengehalten wird, verbreitert ist zu einer weißen Fläche. Dieser Bereich enthält nicht nur die chemischen Substanzen für die Entwicklung des Bildes. Es ist zugleich die Stelle, an der man das Bild zuerst mit Daumen und Zeigefinger ergreift, um es in Empfang zu nehmen. Dabei setzt man seinen eigenen Fingerabdruck wie eine Signatur unter das Bild, welches gleich vor unseren Augen erst erscheinen wird. Wir haben es also beim Polaroid mit zwei Flächen unterschiedlicher körperlicher Einschreibungen zu tun, einerseits mit der lichttechnischen, chemischen des fotografischen Bildes; und andererseits mit einem direkten Fingerabdruck desjenigen, der das Bild – nicht (unbedingt) hergestellt –, sondern vielmehr in Empfang genommen hat. Das Polaroid nimmt also seine Einschreibungen auf zwei unterschiedlichen Ebenen vor: Es schreibt erstens eine Sicht ein, wie die 9
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Fotografie, und zweitens den Empfänger des Bildes. Gerade der letztgenannte Aspekt stellt eine konstitutive Eigenschaft des Polaroid dar: Die Ordnung (das Dispositiv) des Polaroid stellt den Empfänger des Bildes in einen spezifischen Handlungszusammenhang: Er muss das Bild annehmen. Mit dem einfachen Annehmen ist die Handlung aber noch nicht abgeschlossen. Man hält das Polaroid vielmehr fest zwischen Daumen und Zeigefinger und schüttelt es: So, als wollte man es trocknen, oder als könnte man den Herstellungsprozess des Bildes doch noch wie einen Würfelwurf beeinflussen. Gerade in diesem spezifischen Handlungsakt wird das Polaroid als menschliche Geste manifest. 2. Das Polaroid als Geste (mit Agamben gedacht) Giorgio Agamben skizziert in seinen »Noten zur Geste« einige grundlegende Überlegungen. Mit Rückblick auf die Gelehrten Varro und Aristoteles ordnet er die Geste dem Bereich des Handelns zu. Allerdings versteht Agamben die Geste nur als einen ganz spezifischen Bereich des Handelns, den er von zwei anderen Formen unterscheidet: Nämlich vom Handeln als »Praxis«, das einen Zweck ohne Mittel meint und vom »Hervorbringen« (poiesis), das ein Mittel im Hinblick auf das Ziel meint. Letzteres wird mit der Rolle des Dichters als Autor gleichgesetzt, ersteres mit der des Schauspielers, der eine Rolle spielt bzw. ausführt. »Was die Geste also charakterisiert« so Agamben (2004: 43), »ist der Umstand, dass man in ihr weder etwas herstellt noch ausführt, sondern an- und übernimmt.« Gerade dieses An- und Übernehmen charakterisiert auch den spezifischen Handlungszusammenhang der Polaroid-Fotografie. Auch beim Polaroid ist man im Grunde nicht der Autor des Bildes – und sofern man die Kamera nicht auf sich selbst richtet – auch nicht der Akteur, der zum Bildgegenstand wird. Das Annehmen des Polaroid verfolgt auch nicht allein den Zweck, dass man es anschauen kann, sobald man es in der Hand hält und die Chemie das Bild zur Erscheinung gebracht hat. Die Geste des Polaroid liegt vielmehr im besonderen 11
Akt des Annehmens, welcher im Schwenken oder Schütteln des Bildes einen zusätzlichen Handlungsaspekt aufweist, der die Medialität des Polaroid jenseits des Fotografischen als kulturelle Handlung zur Anschauung bringt. Agamben beschreibt dieses zur Anschauung-Bringen der Medialität wie folgt: »…die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit, das Sichtbar-Werden des Mittels als eines solchen. Sie bringt das In-einem-Medium-Sein des Menschen zur Erscheinung und eröffnet ihm die ethische Dimension … Und jeder große philosophische Text ist der gag, der die Sprache selbst zeigt, das In-der-SpracheSein als gigantische Leere des Gedächtnisses, als unheilbaren Sprachfehler« (2004: 44f.). Für den Tanz fasst Agamben diesen Zusammenhang noch einmal konkret: »Wenn der Tanz Geste ist, so deshalb, weil er nichts anderes ist als die Austragung und Vorführung des medialen Charakters der körperlichen Bewegung« (2004: 44). Agamben bleibt in seiner Beschreibung der Geste aber nicht bei einer Analyse unterschiedlicher Handlungskategorien stehen. Er führt vielmehr gleich zu Anfang des Aufsatzes eine historische Dimension der Geste ein und beginnt mit der Bestandsaufnahme eines Verlustes: »Ende des 19. Jahrhunderts hatte das abendländische Bürgertum schon endgültig seine Gesten verloren« (2004: 39). Agamben spielt hier auf die Auswirkungen der Industrialisierung und die Entwicklung der Massengesellschaft an. Die Anstrengungen der Jahrhundertwende in den verschiedenen Künsten – Agamben nennt den Tanz, den Roman, die Lyrik und den Stummfilm, aber auch die wissenschaftlichen Beschäftigungen mit den Gesten, z.B. in der Kunstgeschichte die Arbeit Aby Warburgs, in der Psychiatrie die Untersuchungen Charcots und Gilles de la Tourettes – liest er als Versuche, die verlorenen Gesten wiederzugewinnen. Das Kino spielt hierbei eine zentrale Rolle, denn nur dem Kino gelingt es, als neuem Medium, die Gesten nicht nur wiederzugewinnen, sondern insgesamt die abendländische Bildgeschichte von der Dominanz des Standbildes mit seinen erstarrten Gesten 12
zu befreien: »Die mythische Starre der Bilder [wird] zerstört … Das Kino bringt die Bilder in das Land der Gestik heim« (Agamben 2004: 42f.). Agamben übernimmt hier die Vorstellungen vom lebenden Bild des Kinos – und den Begriff des Bewegungs-Bildes von Deleuze – und treibt die philosophische Verschiebung vom statischen Bild zum Bewegungs-Bild weiter zur Ersetzung durch die Gestik. Die Geschichte der statischen Bilder – und zwar weit über die Fotografie hinausgedacht, bis zurück zu den Standbildern der Antike – bezeugt eine Opposition zur Bewegung und konserviert die Fixierung des gestischen Spiels im Standbild. Der Gegensatz von Geste (im Sinne des lebendigen Spiels von Körperbewegungen) und fotografischer Fixierung im Bild zeigt sich auch in der Etymologie: Die Spur, die als Einschreibung auf der fotografischen Platte registriert wird (lat. re-gerere), steht in Opposition zur Geste, jenem Zur-SchauTragen im Sinne des Gebärdenspiels (lat. gerere). Agambens Lesart des Kinos als Heimbringen der Bilder ins Land der Gestik korrespondiert sowohl mit der Deleuzeschen Kinotheorie, als auch mit den Auffassungen der Filmtheorie André Bazins oder Siegfried Kracauers – letzterer fasste den Film als »Errettung der äußeren Wirklichkeit«. Agambens Ausführungen legen aber auch nahe, dass wir mit dem 20. Jahrhundert von einem bürgerlichen Zeitalter in ein Zeitalter der Massenkultur und Kinematographie gewechselt sind – und dass dieses Zeitalter des Kinos, dessen Basis die Fotografie bildet, nun seinerseits an ein Ende gelangt ist, insofern das Fotografische im Zuge der Digitalisierung sozusagen post-industriell überformt wird. Das Kino selbst spiegelt diese Entwicklung wider: Zum einen wendet es sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts verstärkt den neuen Medien und den digitalen Technologien zu; zum anderen wird es selbstreflexiv bzw. verliert sich in seiner eigenen Mythologisierung. Und genau an dieser historischen Schwelle, konkret im Jahr 2000, stellt Christopher Nolan in seinem Film MEMENTO (gewissermaßen als Symptom) die Geste Polaroid noch einmal aus. 13
3. MEMENTO und die Post-Kinematographie MEMENTO ist noch ein richtiger Kinofilm. Er erzählt die Geschichte eines
Mannes, der sein Gedächtnis verloren hat. Soweit dreht es sich um ein klassisches Filmgenre, eine Art Neo-film noir. Allerdings erzählt der Film seine Geschichte nicht als Folge von Ereignissen. Er geht vielmehr von der Erfahrung eines Verlustes aus und konstruiert seine Erzählung vom Ende her. Er beginnt mit einer Polaroid-Fotografie und dieses Polaroid bildet den Referenzrahmen des Films und den Ausgangspunkt seiner rückwärts laufenden Handlung. Joachim Paech beschreibt den Film und seine Erfahrung für den Zuschauer wie folgt: »Der Film MEMENTO macht nun etwas vollkommen ›Verrücktes‹, …[es] entsteht nicht etwa eine erzählte Geschichte, sondern die Erinnerung daran, denn das, was sich ereignet, ist immer schon geschehen, und wir als Zuschauer müssen uns an die Wirkung von Handlungen erinnern, wenn wir deren Ursache beobachten. Leonard geht es in umgekehrter zeitlicher Folge der Ereignisse ganz genauso, auch er muss sich an das, was geschehen ist, als ein zukünftiges Ereignis erinnern können, um es in eine Ereignisfolge einordnen zu können. Beiden, Leonard und den Zuschauern, sind dabei die Polaroid-Fotos, die Leonard immer wieder macht, hilfreich. Wenn er das Hotel, in dem er wohnt, fotografiert, dann um in Zukunft dorthin zurückzufinden. Wir als Zuschauer erkennen umgekehrt im Foto den Ort wieder, an dem sich in Zukunft etwas bereits ereignet hat, an das wir uns dadurch erinnern. Die Fotos verbinden also nicht nur für Leonard die diskontinuierlichen Ereignisse zu einer wiedererkennbaren kontinuierlichen Handlungs- als Ereignisfolge, sondern sind auch für uns Zuschauer Markierungsbilder beim Zusammenfügen diskontinuierlicher Ereignisse zumal in zeitlich und logisch umgekehrter Abfolge.« (Paech 2004: 158) Man kann bei diesem Film viel Zeit mit Spekulationen darüber verbringen, wie es wirklich gewesen ist. Man folgt dann einem literarischen Dispositiv 14
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(Es-war-einmal), um die Erzählung zu rekonstruieren oder einem fotografischen Dispositiv (Es-ist-so-gewesen), um eine Rekonstruktion der fiktiven Wirklichkeit vorzunehmen. Die Glaubwürdigkeit dieser Dispositive wird aber innerhalb des Films noch einmal in Frage gestellt, denn die Hauptfigur war vor ihrem Gedächtnisverlust ein Versicherungsagent, der einen anderen Mann, der ebenfalls an Gedächtnisverlust litt, auf seine Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen hatte. (Der Versicherungsagent könnte hier gewissermaßen als Emblem einer Intermedialitätstheorie fungieren, aber das ist eine andere Geschichte.) Wir haben es mit einem verschachtelten Konstrukt von Verweisstrukturen zu tun, das die Sicherheit des fotografischen (oder auch des literarischen) Dispositivs im Sinne der Rekonstruktion einer Vergangenheit im Grunde unmöglich macht, auf jeden Fall aber fragwürdig erscheinen lässt. Der Film zielt also weniger auf die Rekonstruktion von Vergangenem, als auf eine andere Zeit- oder Modalitätsdimension. Nicht ohne Grund heißt die Hauptfigur Leonard Shelby (sprich: Leonard shall be). Mister Shelby symbolisiert die lautbildliche Verschiebung des fotografischen Dispositivs, dessen neuer Indexpfeil entweder eine Zukunft markiert – Leonard shall be = Leonard wird sein –, wobei die Indexikalität der Fotografie in die Zukunft gewendet ist. Diese Lektüre der verschobenen Indexikalität korrespondiert mit der paradoxen Struktur des Films, der seine Geschichte vom Ende her erzählt. Darin offenbart sich eine Anordnung, in der sich die Polaroidfotografien erst in der Zukunft decodieren lassen, woraus ein unauflösbarer, schicksalhafter, zumindest aber ein rätselhafter Seinsbezug entsteht, eine Form vollendeter Zukunft. Oder aber es handelt sich um eine Verschiebung in Richtung eines Konjunktivs oder Imperativs:1 Leonard shall be = Leonard, möglicherweise – oder: Sei Leonard! Beide korrespondieren mit dem Motiv des Gedächtnis- und Identitätsverlusts der Hauptfigur, die sich nur noch über Indizien in einem niemals zweifelsfreien Möglichkeitsraum ihrer Existenz bewegt (Konjunktiv); und die sich zum Selbsterhalt ständig neu als Leonard setzt bzw. setzen muss (Imperativ). Diese Struktur der Selbst19
schöpfung wird erst mit dem Medium Polaroid möglich und von weiteren Aufträgen begleitet, die Leonard sich selbst ständig erteilt und als schriftliche Befehle auf seinen Polaroids notiert, z.B.: »Don’t believe his lies!« oder »Find him and kill him!«. Die postmoderne Identitätskonstruktion des Mr. Shelby entpuppt sich jenseits filmischer Fiktion als ein medientheoretischer Paradigmenwechsel: Wenn die Polaroidfotografie die ausgestellte Garantie fotografischer Authentizität als einmalige Spur darstellt und auf die Spitze treibt, so geht die Geste Polaroid (im Film MEMENTO) darüber hinaus und stellt ihrerseits das Abhandenkommen jenes fotografischen Weltbezuges (jener Spur des Es-ist-so-gewesen) aus. Das Medium, welches an dieser Stelle sichtbar wird, ist dann nicht eigentlich das Polaroid als fotografischer Abdruck, sondern das Polaroid im Kontext kulturellen Handelns. In der Beutelstruktur erscheint das Polaroid zudem als Fragment zweier Bewegungs-Bilder, die erst von dem Menschen, der sie »annimmt«, autorisiert werden. Die Geste Polaroid wird damit auch zu einem Eingedenken im Sinne der Wortbedeutung des Filmtitels: ein Memento im doppelten Sinne von Bittgebet für das Bild-Werden als realem Handlungsraum – und als Erinnerung an die Kinematographie, die sich gleichsam (in dieser Geste) als Möglichkeitsraum der Post-Kinematographie (im Sinne eines paradigmatischen nach dem Film) neu bestimmt. Agamben denkt in seinem Aufsatz das Kino, welches die Bilder heimbringt, als Institution und Aufgabe der Regisseure. Dieser Gedanke orientiert sich noch an einer Vorstellung des modernen Kinos und seiner Politik der Autoren. Die Geste Polaroid im Film MEMENTO zeigt uns das Kino aber nicht mehr als einen Handlungsraum der Regisseure, sondern als einen post-kinematographischen Raum, der sich vom Zuschauer her gestaltet, also von demjenigen, der das Bild annimmt. Das Memento des Polaroid bezieht sich dann nicht mehr auf die Kinematographie als Bewegungs-Bild im Sinne des Filmemachens, sondern 20
zeigt sich als eine Form des Filme-Annehmens. Die Geste Polaroid macht darin die Schwelle zur Post-Kinematographie sichtbar und verweist auf eine neue Politik des Kinos, die sich in Differenz zum modernen Kino (mit seiner Politik der Autoren) benennen lässt als eine Politik der Zuschauer.
1 Das Concise Oxford Dictionary (1995: 1272) weist auf einen ungenauen Gebrauch der Form shall und will im Gebrauch für Zukunfts- und Konjunktiv- bzw. Imperativformen hin: »There is considerable confusion about when to use shall and will. The traditional rule in standard British English is that shall is used for the first person singular and plural (I and we) to form the future tense … When expressing a strong assertion or command the traditional rule is that – shall [is used] for the second and third persons … In practice, however, shall is often used for the first person singular and plural … and will for the second and third persons … These usages are now fully acceptable.«
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Literatur Agamben, Giorgio (2004) »Noten zur Geste«, in: Ausstellungskatalog Dass die Körper sprechen, auch das wissen wir seit langem (Hg. Hemma Schmutz, Tanja Widmann), Wien und Köln, S. 39–48. Mitchell, W.J.T. (1994) Picture Theory, Chicago University Press, Chicago ll. Paech, Joachim (2004) »Erinnerungsbilder – MEMENTO von Christopher Nolan und der postmoderne Film«, Vortrag auf dem 23. Bielefelder Symposium über Fotografie und Medien 8./9.11.2002, in: Anna Zika (Hg.) (2004) the moving image – das bewegende und bewegte Bild, Weimar, S. 151–163.
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Frage Vielen Dank für den sehr anregenden Vortrag. Vor allem interessiert mich die Verbindung zwischen Polaroid und digitaler Fotografie. Auf den ersten Blick betrachtet, eine sehr überraschende Verbindung. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist der Clou des Polaroid nicht die Technik, sondern die damit verbundene kulturelle Handlung. Was heißt das dann für die digitale Fotografie? Ist sie auch vor allem eine kulturelle Handlung? Antwort Technologie und kulturelles Handeln spielen immer zusammen. Dazu kommt noch eine Art Glaubensbekenntnis, der post-theologische Glaube einer Gesellschaft, der etwa seit der frz. Revolution mehr und mehr säkulare Formen annimmt und sich mit den Medientechnologien verbindet. Jüngste Form dieses post-theologischen Glaubens ist die Videoüberwachung, die von oben als technisches Auge auf uns herabschaut – Fidel Täufer hat in seinem Vortrag davon berichtet. Für die Fotografie hat Roland Barthes diesen Glauben als ein »Es-istso-gewesen« benannt. Die digitale Fotografie unterscheidet sich von der analogen darin, dass sie die Erfahrung der Irreversibilität nicht kennt, die mit einer spezifischen Materialität verbunden ist. Einen belichteten Film oder ein belichtetes Fotopapier kann man zwar mehrfach belichten, die Spuren lassen sich aber nicht tilgen. Die analoge Fotografie ist darin unserer Biografie und unserem Leben verwandt, das auf ein Ende ausgerichtet ist. Beide sind an ihre Körper gebunden. Das ist bei der digitalen Fotografie nicht so. Sie präsentiert ihre Information auf unterschiedliche Weise und kann unterschiedliche Leih-Körper dafür benutzen. Die kulturelle Handlungsform der digitalen Fotografie ist daher eher ein Spiel ohne Ende – und das kulturelle Handeln mit der Digitalkamera simuliert einen Handlungsraum der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem alles revidierbar erscheint. 23
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Bildnachweis Cover ©mustertussi 2008. Fotos und Grafiken S. 2, 4, 6, 8 und 10 MEET THE COLORPACK II, How to make good pictures with your Polaroid Land camera, U.S.A. 1969. S. 15–18 Filmstills aus MEMENTO.