Pit-Dieter Unmut Das Kartenspiel Motiv und Organisationsprinzip in Kunst, Film und Neuen Medien
Heft 7
DAS ABC DES KINOS Foto, Film, Neue Medien Winfried Pauleit (Hg.)
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Gegen Ende des Mittelalters kommt das Kartenspiel nach Europa. Bis heute erfreut es sich großer Beliebtheit. Inzwischen hat es auch digitale Formen angenommen. Was mich daran interessiert, ist zum einen das Motiv des Kartenspiels in den Künsten und zum anderen das Organisationsprinzip des Kartenspiels, das sich ebenfalls in den Künsten zeigt. Das Motiv werde ich an ausgewählten Beispielen der bildenden Kunst und des Films vorstellen. Das Organisationsprinzip werde ich im Kontext der Neuen Medien thematisieren, aber auch an Beispielen des Films. Denn – so lautet meine These – man kann den Film auch als Kartenspiel denken. Wenn man aber den Film als Kartenspiel begreift, so tut man dies vor dem Hintergrund einer spezifischen Konzeption von Film. Diese Filmkonzeption unterscheidet sich vom klassischen Film, der in erster Linie eine Geschichte erzählt. Sie knüpft an, an andere Formen des Films: Zum einen an das frühe Kino, und seine Ausformungen als Jahrmarktattraktion, wo einfach eine Attraktion nach der anderen gezeigt wurde.1 Meist nach dem Zufallsprinzip. Zum anderen an die Entwicklungen einer Ästhetik, die heute von den Neuen Medien und ihrer Hypertextualität wieder aufgegriffen wird. Meine Ausführungen gliedern sich in drei Schritte: Erstens werde ich mit allgemeinen Überlegungen zu Kunst, Film und Neuen Medien beginnen und an einigen Beispielen den problematischen Status einer Kunst der neuen Medien erläutern. Vergleichend werden medientheoretische Überlegungen zum Film herangezogen. Zweitens werde ich einige Facetten der Motivgeschichte des Kartenspiels darstellen. Und drittens wird es um das Organisationsprinzip des Kartenspiels in Kunst, Film und Neuen Medien gehen. Mein Ziel ist es, im Rahmen der gegenwärtigen kulturellen und technischen Entwicklungen – Stichwort Digitalisierung – eine neue Konzeption des Films zu entwerfen. Es geht mir darum, diese Konzeption von Film zu profilieren und anschlussfähig zu machen, zum einen im Hinblick auf die Diskurse der Neuen Medien und der Game Studies, in denen der Begriff Interaktivität eine zentrale Rolle spielt; zum anderen 1 Zum frühen Kino vgl. Gunning 1986; Schlüpmann 1990.
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im Hinblick auf eine Kulturgeschichte des Spiels mit Bildern, in der das Kartenspiel mein anschauliches Beispiel ist. 1. Kunst und Neue Medien Zunächst sei die Frage erlaubt, ob es eine Kunst der Neuen Medien überhaupt gibt? Oder anders gefragt: Was ist »Medienkunst«? Dieser Begriff wird oft synonym für die Kunst der Neuen Medien gebraucht. Natürlich gibt es künstlerische Produktionen, in denen Neue Medien eine zentrale Rolle spielen. Meistens sind damit künstlerische Arbeiten gemeint, die auf die eine oder andere Art auf dem Computer, auf Computernetzwerken oder Computerprogrammen basieren. Aber bilden diese Arbeiten eine eigene Kunst aus? Weiter lässt sich fragen: Ist die Kunst der Neuen Medien eine eigene Kunstgattung, also eine Kunst neben der bildenden Kunst, der Literatur, der Musik und dem Theater? Oder ist sie Teil der bildenden Kunst? Beginnt die Kunst der Neuen Medien mit dem Computer? Oder verläuft die Grenze zwischen neuen und alten Medien anderswo? Beginnen die Neuen Medien z.B. mit der Fotografie oder mit der Lithographie? Fragen über Fragen, für die bisher kaum eine verbindliche Systematik entwickelt wurde. Die Definitionen in diesem Feld sind durchaus vielfältig und nicht immer einleuchtend: Bei einigen Medienwissenschaftlern beginnen die Neuen Medien beispielsweise mit dem analogen Video. Die Begründung dafür ist, dass dort Bild und Ton auf demselben Magnetstreifen aufgenommen werden. Video sei damit schon ein synthetisierendes Medium wie der Computer. Solche Positionen lassen sich mit guten Gründen kritisieren, auf die ich an dieser Stelle aber nicht näher eingehen werde. Die Kritik, die ich gegen diese oder andere Definitionen der Neuen Medien vorbringen möchte, bezieht sich nicht auf eine genaue Datierung, die sich in den Fragen zusammenfassen lässt: Mit welchem Medium oder zu welchem 4
Zeitpunkt beginnen die Neuen Medien? Meine Kritik bei der Betrachtung einer Kunst der Neuen Medien bezieht sich zunächst viel allgemeiner auf die Rhetorik der Rede von alt und neu, die mit dieser Bestimmung verknüpft ist.2 Spricht man von Neuen Medien, dann sind das Gegenstück die alten Medien. Der rhetorische Schachzug der Rede von den Neuen Medien besteht darin, alle anderen für alt zu erklären, ohne dass man dies explizit sagen muss. Man positioniert sich damit meist selbst auf der Seite des Neuen, des Zeitgemäßen, des Aktuellen, des Zeitgenössischen, auf der Seite der Gegenwart – ein klassischer Marketing – Trick, um sich selbst als neu zu verkaufen. Ich möchte Ihnen ein Beispiel dafür geben: Im April 2005 veranstaltete die Kunsthalle Bremen ein Symposium. Titel: »Verschwinden die Bilder? Ins Universum der digitalen Kunst«. Der Titel gibt vor, aufs Ganze zu gehen und folgt dem digitalen Versprechen der Universalität. Was dort thematisiert wurde, waren aber in erster Linie digitale Zeichnung, digitale Grafik und deren Anfänge in den 1960er Jahren. Ein Beispiel hierfür ist »Hommage à Paul Klee, (13/9/65 Nr. 2)«, eine Computerzeichnung, Tusche auf Papier, 40 x 40 cm, 1965 – von Frieder Nake, einem Pionier der Computergrafik. Das besondere Merkmal dieser und ähnlicher Grafiken ist, dass es algorithmische Bilder sind. D.h. sie sind Teil einer Klasse, bzw. einer Serie von Bildern, die auf einer Computerformel beruhen. Es sind also gerechnete Bilder. An diesem Beispiel möchte ich einige Kriterien für eine systematische Bestimmung der Kunst der Neuen Medien herausstellen: Erstens, diese Grafik ist eine spezifische digitale Form der Zeichnung. D.h. sie bildet kein neues Feld aus, das sich als digitale Kunst bezeichnen lässt, sondern stellt eine Erweiterung des klassischen Bildmediums Zeichnung dar. Zweitens: die Computerformeln, die solche Zeichnungen generieren, könnten als eine neue Kunstgattung bezeichnet werden – z.B. als mathematische oder informatische Kunst, die dann neben der bildenden Kunst, der Musik, der 2 Vgl. hierzu z.B. den aktuellen Sammelband Die Figur des Neuen (Sohst 2008).
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Literatur steht; (eine Position, die von den Künstlern selbst, aber auch von Medienwissenschaftlern vorgetragen wird). Bezeichnend für die tatsächliche Rezeption dieser Computergrafik ist aber, dass sie im Kontext der bildenden Kunst erfolgt und dass die Programmierung – wie z.B. eine zu Grunde liegende Formel – gerade nicht ausgestellt wird. Die bisherige Rezeption der Computergrafik stellt sogar den Blick auf das auratische Einzelwerk in den Vordergrund und verhält sich damit gegenläufig zur seriellen Produktionsweise, die sich in der bildenden Kunst seit den 1960er Jahren mit Fotografie, Siebdruck und Multiples allgemein etabliert hat. Drittens: betrachtet man diese Grafiken allerdings im Kontext solcher seriellen Produktionen der bildenden Kunst der 1960er Jahre, so lassen sie sich als eine computergestützte Variante der seriellen Kunst oder der Konzeptkunst begreifen. Auf dem Hintergrund dieser Kunstproduktion wird ihr Charakter m.E. viel verständlicher, als unter dem Label einer »digitalen Kunst«. Was ich damit sagen will, ist folgendes: Man kann die Computergrafik der 1960er Jahre eher mit anderen Arbeiten der bildenden Kunst in den 1960er Jahren vergleichen, die ganz ohne den Einsatz des Computers auskommen. So z.B. mit den Arbeiten des amerikanischen Künstlers Sol Lewitt. Als Beispiel möchte ich eine Zeichnung von 1969 anführen mit dem Titel: »Lines in four directions, each in a quarter of a square« (zu dt.: Linien in vier Richtungen, jede in einem Viertel eines Quadrats). Sol Lewitt hat für diese Arbeit kein Computerprogramm geschrieben. Sein Konzept beruht gleichwohl auf einer Formel, auf einem Programm, das ebenfalls eine Klasse oder Serie von Zeichnungen hervorbringt bzw. hervorbringen kann. In dieser Arbeit gibt er mit einer einfachen Anweisung: »Lines in four directions, each in a quarter of a square«, ein Programm vor. Dieses Programm ist lediglich ein Satz und kann von Assistenten, aber auch von jedem beliebigen Menschen ausgeführt werden – im Grunde auch von einem Computer. Die Computergrafiken von Frieder Nake erscheinen in diesem Vergleich als eine 7
Form der Konzeptkunst, was aus meiner Sicht ihre Bedeutung nicht schmälert, sondern sie vielmehr – angesichts ihrer bisherigen Rezeption als auratisches Einzelwerk – zunächst einmal ins rechte Licht rückt. Was ich an diesem Beispiel zeigen will, ist zweierlei: Erstens: Computer und Digitalisierung haben bis heute in erster Linie spezifische Erweiterungen von künstlerischen Einzelmedien hervorgebracht – und keine Universalität. Die Merkmale dieser digitalen Erweiterungen in Zeichnung, Architektur, Video usw. sind im Gegenteil bislang sehr heterogen. Es hat sich bisher auch keine überzeugende Systematik für eine eigene Ästhetik der Neuen Medien oder der »digitalen Kunst« herauskristallisiert. Zweitens: mit den Programmen von Lewitt oder Nake, seien es einfache Anweisungen oder komplexe Computerprogramme, werden in den 1960er Jahren Serien von Bildern erstellt: eine neue Produktionsweise in der bildenden Kunst. Die Serien sind Ausdruck eines Spiels von Möglichkeiten, das sich innerhalb von vorgegebenen Regeln entfaltet. Damit wird die Privilegierung des Einzelbildes in der bildenden Kunst zugunsten der Serie außer Kraft gesetzt.3 Selten allerdings wird in der bildenden Kunst allein das Konzept ausgestellt. Das Konzept für sich genommen stellt nur die Anleitung für ein Spiel von Möglichkeiten dar, dessen Ausführung dann auch anderen überlassen werden kann. Diese reine Beschränkung auf ein Konzept kollidiert mit der klassischen Vorstellung eines Werkes in der bildenden Kunst. Ein Kunstwerk muss als sichtbares, materielles Produkt von der Hand des Künstlers auftreten, sei es nun als gemalte Mona Lisa, als gerechnete Computergrafik, oder aber zumindest als Anleitung, die ein Künstler nachweislich – z.B. handschriftlich – auf einem Stück Papier hinterlassen hat. An diesem Punkt führe ich das Kartenspiel ein. Es dient mir als Kontrastfolie zur bildenden Kunst. Das Kartenspiel ist eine allgemeine, verbreitete kulturelle Praxis, die erstmal nichts mit der bildenden Kunst zu tun hat. Obwohl das Kartenspiel 3 Vgl. hierzu den Sammelband Sehbewegungen. Über die Folgen der Entprivilegierung des Einzelbilds in der zeitgenössischen Kunst (Lindner 1993).
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aus einer Serie von Bildern besteht, ist es in seiner Praxis als Spiel von der Hand und Intention eines Künstlers unabhängig. Gleichwohl ist das Kartenspiel auch mit der Konzeptkunst verwandt. Denn es stellt eine Anleitung zur Verfügung, durch die ein Spiel der Möglichkeiten in Gang gesetzt wird. Im Vergleich mit dem Kartenspiel erkennt man das Dilemma des Künstlers, der digitale Kunst herstellt. Entweder er schlägt sich auf die Seite des Kunstwerks und lässt sich mit seiner Computergrafik als Künstler feiern, was den Blick auf seine Anleitungen verstellt. Oder aber, er schlägt sich auf die Seite der Anleitungen. Dann wird er zum Spiele-Produzenten und verzichtet auf die Insignien der bildenden Kunst. Versucht man dennoch auf allgemeiner Ebene die Digitalisierung der bildenden Künste zu beschreiben, so bietet sich ein Vergleich mit einer Entwicklung an, die Walter Benjamin als technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks beschrieben hat.4 Für Benjamin war vor mehr als 70 Jahren der Tonfilm das Neue Medium. Ausgehend vom Tonfilm hat Benjamin seine Thesen entwickelt. Die besonderen Merkmale des damals neuen Mediums sind zweigeteilt: Zum einen erlaubt der Tonfilm die audiovisuelle Reproduktion von im Grunde allen bis dahin bekannten Künsten. Alle Bildkünste einschließlich der Architektur, aber auch Musik, Literatur, Theater, und schließlich auch die angewandten Bereiche, wie Design, Mode und die gesamte Alltagskultur können im Tonfilm wiedergegeben werden. Zum anderen hat der Film auf der Basis seiner Fähigkeit zur technischen Reproduktion eine eigene Ästhetik hervorgebracht. Diese ist gekennzeichnet von kultureller Vielfalt, unterschiedlichen Genres und Formsprachen, bei gleichzeitiger Standardisierung der Formate. Noch heute kann eine Filmrolle im 35mm Standardformat im Grunde überall auf der Welt vorgeführt werden. Medientheoretisch formuliert heißt das: der Film ist das erste technische Hypermedium. Wenn ich hier von Film spreche, dann meine ich nicht nur seine Ausformungen im engeren Sinne, den Mainstreamfilm, den Autorenfilm, den Dokumentarfilm 4 Benjamin 1936.
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und die Filmavantgarde, sondern die Kulturtechnik Film, die sich andere Künste und die Alltagskultur aneignet und diese in Form von Montagen oder Synthesen transformiert, und zu einem Amalgam zusammenfügt. Das, was ich hier kurz Film nenne, hat sich als Kulturtechnik weit verzweigt. Es umfasst im Grunde auch die Absolute Radiokunst der 1920er Jahre.5 Auch all das, was wir heute unter sound art verstehen, beruht auf der technischen Reproduzierbarkeit des Tons und wurde historisch gesehen explizit aus den Überlegungen zur Montage des Films entwickelt.6 Sicherlich gehören auch die Videokunst und die Performance zur Kulturtechnik Film, insofern Performances uns heute in Form von Film oder Video überliefert sind oder gleich für die Kamera aufgeführt werden. Zudem gibt es Rückwirkungen der Kulturtechnik Film in die klassischen Künste: Das postdramatische Theater ist nicht mehr ohne Film und Video zu denken, und die gegenwärtige Architektur basiert z.T. auf filmischen Visualisierungen, die am Computer errechnet werden. Und auch die Computerspiele, die gerne als neue Konkurrenz der Filmindustrie betrachtet werden, weil ihr Marktanteil inzwischen den des klassischen Films überflügelt hat, basieren in der Regel auf einer Verbindung von Audiovision des Films und Spiel. Das, was uns der Computer auf der Ausgabeseite, auf der Seite der ästhetischen Wahrnehmung als Kunstwerk liefern kann, ist nichts anderes als eine audiovisuelle Zeichenfolge, eine Produktion auf der Basis des Tonfilms, die allerdings nach Abschluss des Werks weiter prozessierbar ist. Und auf diese nachträgliche Prozessierbarkeit kommt es hier an. Glaubt man dem Medienwissenschaftler Hartmut Winkler, dann ist das einzige, was der Computer und die elektronischen Medien neues bringen, die Loslösung der Zeichen vom physischen Transport, also die Logik der Telekommunikation beim Speichern, Übertragen und Prozessieren von Zeichen.7 Hieraus gewinnt der Begriff der Interaktivität seine ent5 Vgl. Das Radio (Hagen 2005). 6 Ebd., S. 107ff., vgl. hierzu auch: Sound art. Zwischen Avantgarde und Popkultur (ThurmannJajes/Breitsameter/Pauleit 2006).
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scheidende Bedeutung für die Künste, der nichts anderes meint, als die Prozessierbarkeit von Zeichenfolgen auch nach Abschluss eines Werks. Beim interaktiven Video basiert die Interaktivität beispielsweise auf spezifischen Wahlmöglichkeiten aus einem vorgegebenen Archiv, bei algorithmischen Bildern sind es Bildserien oder Filme, die aufgrund von programmierten Rechenoperationen generiert werden. Für die Ästhetik bedeutet die Interaktion die Auflösung der klassischen Grenzziehung von Produktion und Rezeption. Diese Auflösung ist aber wiederum kein Privileg der Neuen Medien. Sie zeigt sich vielmehr auch im Happening und in anderen performativen Strategien der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Interaktion – und die mit ihr einhergehende Auflösung der Trennung von Produktion und Rezeption – findet sich aber ebenfalls im Film. Die Idee eines quasi interaktiven Films wird bereits sehr früh in filmtheoretischen Schriften vorausgeahnt, z.B. in den 1920er Jahren von Siegfried Kracauer.8 Später in den 1970er Jahren von Roland Barthes, Peter Wollen und Laura Mulvey.9 Mit Blick auf das ganz frühe Kino hat diesen Aspekt in jüngster Zeit der Filmhistoriker Paul Young herausgestellt.10 Beim Film nimmt die Auflösung der Bereiche von Produktion und Rezeption allerdings eine andere Form an. Sie folgt nicht der Präsenzlogik der Performance oder der des Happenings. Sie arbeitet vielmehr mit einer Schichtung und Kombination unterschiedlicher Zeit- und Raumebenen. Das ästhetische Modell für die Auflösung von Produktion und Rezeption ist der Schneidetisch des Films, an dem gleichzeitig produziert und rezipiert wird. Imaginär kann dies jeder Zuschauer zu seinem Rezeptionsmodus machen. Und der Computer liefert uns 7 Winkler 2004. 8 Kracauer 1927. 9 Zu Roland Barthes vgl. Pauleit 2004; zu Laura Mulvey und Peter Wollen vgl. den Beitrag von Miriam Irina Rimini in dieser Publikation, Heft 6. 10 The Cinema Dreams Its Rivals (Young 2006).
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heute den allgemeinen Zugriff auf das ästhetische Modell des Schneidetisches. Die Strategie besteht darin, Vergangenheit und Geschichte (in Form von fragmentierten Bild- und Tonaufnahmen) immer wieder neu zu bearbeiten und das gegebene Material immer wieder neu im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft anzuordnen. Das Prinzip, das hier zum Tragen kommt, ist mit der Dekonstruktion verwandt. Allerdings stützt es sich nicht auf Textlektüren und Textbearbeitungen. Es besteht vielmehr in einer kreativen Arbeit mit und am Film und zwar ästhetischpraktisch und theoretisch. Diese kreative Arbeit ist durch die Neuen Medien wesentlich erleichtert worden. Sie ist aber seit langem unter dem Begriff FoundFootage Teil der Filmgeschichte. 2. Das Motiv des Kartenspiels Das Kartenspiel ist ein klassisches Motiv in der bildenden Kunst und auch im Film. Ikonologisch betrachtet ist es Teil profaner Darstellungen des Alltags. Kulturhistorisch gilt das Kartenspiel jedoch auch als Gegenpol zur Bibel. Der Ursprung des Kartenspiels ist unbekannt. Gleichwohl wird vermutet, dass es aus dem arabischen Raum stammt. Es verbreitet sich gegen Ende des Mittelalters entlang der neuen Handelswege und wird schnell zu einem allgemeinen Zeitvertreib. Das Glücksversprechen des Kartenspiels ist dabei ein säkulares und unmittelbar an den Gewinn von Geld gebunden. Gleichzeitig werden mit dem Kartenspiel die Grundlagen von Buchhaltung und Rechnungswesen spielerisch zum Allgemeinwissen. Dem kirchlichen Heilsversprechen wird mit dem Kartenspiel eine neue Ordnung entgegen gesetzt, die auf weltliche Berechnung und kapitalistische Wirtschaftsweise gründet – aber eben auch auf die Hoffnung, im Spiel Glück und Gewinn zu finden. Schließlich wurde das Kartenspiel auch wegen seines Bildprogramms explizit als Teufelswerk angesehen, da es sich in Konkurrenz zur Darstellung der Heiligenbilder entwickelte. Gedruckt wurden Kartenspiele und Heiligenbilder nämlich von denselben Buchmachern. Zahlreiche bildliche Darstellungen des Kartenspiels sind von moralischen Vorbe12
halten gekennzeichnet, die auf Glücksspiel, Spielsucht, Betrügereien, Ausschweifungen gewalttätiger und sexueller Art verweisen.11 Am Ausgang des 19. Jahrhunderts jedoch – auf dem Weg in die Moderne – wird die Darstellung des Kartenspiels zu einem profanen Alltagsgenre: ein alltäglicher Zeitvertreib, gekennzeichnet von einer spezifischen Ikonografie. Häufig handelt es sich um eine Gruppe von drei Personen, die an einem Tisch sitzen und Karten spielen. Beim Spiel wird geraucht und getrunken. Oft steht eine Person im Hintergrund und bringt die Getränke. Manchmal befindet sich dort eine zweite, die einfach nur zuschaut. Die Betrachterperspektive ist so angelegt, dass ihr die vierte, offene Seite des Tisches vorbehalten ist. Paul Cézanne hat zwischen 1890 und 1900 gleich eine ganze Serie von Kartenspielern gemalt. Die ersten beiden Fassungen von ca. 1890 entsprechen der oben skizzierten Ikonografie mit drei Kartenspielern. Nur wenige Jahre später drehen die Gebrüder Lumière ihre ersten Filme. Eines ihrer Motive ist das Kartenspiel. Vergleicht man ihre Verfilmung mit den Darstellungen von Paul Cézanne, so kann man auf die Idee kommen, dass die Lumières hier einen Cézanne verfilmt hätten. Ihr Film, PARTIE D’ÉCARTÉ (Das Kartenspiel) von 1895, zeigt drei Kartenspieler mit all den ikonografischen Details dieser Bildtradition. Hinzugekommen ist nur die Bewegung. Die Kartenspieler spielen tatsächlich und legen ihre Karten nacheinander auf den Tisch. Danach wird eingeschenkt, einander zugeprostet, getrunken und geraucht. Der Kunsthistoriker Heinrich Dilly hat die These vertreten, dass Cézanne diesen frühen Film der Lumières gesehen haben könnte. Und weiter, dass er möglicherweise nach dieser Kinoerfahrung seine Komposition der Kartenspieler noch einmal verändert und überarbeitet habe.12 Die späteren drei 11 Vgl. Hoffmann 1972; Goggin 2006. 12 Vgl. Ging Cézanne ins Kino? (Dilly 1996).
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Fassungen Cézannes, die um 1900 entstanden sind, hat der Maler jedenfalls anders komponiert. Sie beschränken sich nun auf zwei Personen, die einander gegenübersitzen. Diese reduzierte Form wirkt im Ergebnis rätselhafter. Sie hat etwas von einem Duell. Gleichzeitig wirkt die Komposition der Zeit enthoben, so als hätte der Maler erkannt, dass nach der Erfindung des Films der Malerei eine andere Aufgabe zufällt. Was die Lumières mit ihrem Film vom Kartenspiel vorwegnehmen, ist auch der spielerische Umgang mit einer Bilderfolge, der sich symbolisch im Kartenspiel ankündigt. Diese spielerische Form ist aber gleichzeitig in den frühen Programmierungen schon realisiert, die mehrere kurze Filme in zufälliger Reihenfolge hintereinander zeigen. Der Film vom Kartenspiel ist darin nur ein kurzer Film von einer Minute, dem andere vorausgehen und folgen. In diesen frühen Programmen zeigt sich vielleicht erstmals im Film eine Ordnung des Spiels, die nicht von der Produktionsseite bestimmt ist, sondern die erst im Kino hergestellt wird und die sich in der Imagination der Zuschauer noch einmal neu zusammensetzt. Aber auch die Produktionsseite entwirft ihrerseits immer wieder Varianten dieses Motivs, die bereits auf das Spiel mit Anordnungen verweist. Während sich die ikonografische Darstellung des Kartenspiels im Film zunächst vornehmlich an der Dreiergruppe orientiert, liefert Tex Avery in seinen Reflexionen zum neuen Medium Fernsehen in einem Zeichentrickfilm eine andere Fassung. Er zeigt uns ebenfalls eine Dreiergruppe an einem Tisch. Die offene Seite des Tisches ist in diesem Fall aber nicht der Betrachterperspektive vorbehalten. Die vierte Seite des Tisches öffnet sich vielmehr – für die Zuschauer sichtbar – in einen Medienraum des Fernsehens hinein. Vom Fernseher aus teilt eine Person im fotografischen Schwarz/weiß-Look Karten an drei farbig gezeichnete Mitspielerinnen in einem Wohnzimmer aus. Tex Avery kombiniert in seinem Kartenspiel nicht nur die Zeichentrickwelt mit der Welt des Fernsehens. Er skizziert auch den medialen Traum von direkter Interaktion. 14
Neben der einfachen bildlichen Darstellung des Kartenspiels, die in vielen Genre-Szenen einen Nebenschauplatz bildet, gibt es auch Darstellungen, die dieses Motiv zu ihrem Hauptthema machen und sich gleichzeitig dem Thema mit einer explizit moralischen Botschaft widmen. Hierzu gehören die Darstellungen der Falschspieler. Ein anschauliches Beispiel ist das Gemälde des französischen Barockmalers Georges de la Tour, »Der Falschspieler mit dem KaroAss«, das im Louvre hängt und um 1620 entstanden sein soll. Die Ikonografie ist wiederum ähnlich: Drei Personen spielen an einem Tisch Karten. Allerdings wird hier nicht einfach ein Spiel gezeigt, sondern ein falsches Spiel, in dem die Person rechts auf dem Bild um ihr Geld gebracht werden soll. Die Person links und die in der Mitte betrügen offenbar gemeinsam und werden dabei noch unterstützt von einer Kellnerin. Im Hollywoodfilm THE LADY EVE (dt. Titel: Die Falschspielerin) von Preston Sturges aus dem Jahre 1941 wird genau diese Konstellation wieder aufgenommen. Rechts sitzt ein junger Mann, ein Millionär, der von einem anderen Mann und einer Frau ausgenommen werden soll. Allerdings nimmt der Film nach einigem Hin-und-her einen anderen Verlauf: Der Millionär und die Falschspielerin werden ein Paar. Die Motivgeschichte des Kartenspiels beschreibt aber nur eine Bedeutungsebene für die bildende Kunst und den Film. Eine andere Bedeutungsebene – insbesondere für den Film – lässt sich als Organisationsprinzip charakterisieren. 3. Das Kartenspiel als Organisationsprinzip Einen Film als Kartenspiel zu denken heißt, ihn grundsätzlich anders zu konzipieren. Und zwar nicht nur in der Praxis der Produktion, sondern in der Vorstellung von einem Film oder in der Vorstellung vom Film als einem allgemeinen Gegenstand. Die Fragen: Was ist Film? Was ist Kino? wurden in der Geschichte immer wieder gestellt. Heute stellen sie sich erneut, angesichts der Digitalisierung und in Abgrenzung zu den Computer- und Videospielen. Wenn man den Film als Kartenspiel denkt, dann ist der zentrale, neue Gedanke 19
dabei, den Film nicht als abgeschlossenes Werk zu begreifen, sondern als einen Prozess von Entscheidungen, als ein Handlungsfeld. Betrachtet man den Film von der Produktionsseite, so leuchtet dies sofort ein. Die Produktionsseite ist von vielen Unwägbarkeiten bestimmt, sodass die Herstellung eines Films nur allzu leicht zu einem gamble, zu einem Spiel werden kann, welches zu Geld und Ruhm oder in den Ruin führen mag. Auch hier geht es also um Gewinn und Verlust. Und man muss sich an die Regeln halten, oder falsches Spiel betreiben. Bewusst in Szene gesetzt wurde diese Idee von Film als Kartenspiel in einem Film von Agnès Varda aus dem Jahr 2007 mit dem Titel: DU COQ À L’ÂNE, DES MAINS ET DES OBJETS (zu dt. etwa: Vom Hahn zum Esel. Hände und Objekte).
Dieser Film setzt ein Gespräch zwischen Alain Bergala, Ann Huet und Agnès Varda in Szene. Es ist ein Film über die Kurzfilme von Agnès Varda. Kameraeinstellung und Mise en scène dieses Films sind außergewöhnlich. Agnès Varda kommentiert dies gleich zu Beginn des Films. (»Cette mise en scène, c’est fou!«). Die Kamera schaut senkrecht nach unten auf einen grünen Tisch, an dem die drei Personen sitzen. Allerdings sieht man die Personen nicht, und man wird sie auch während des ganzen Films nur reden hören. Was man sieht, sind ihre Hände, wenn sie in den Bildausschnitt hineinlangen und Dinge auf den Tisch legen. Oder aber, wie sie zu Anfang des Films zu den Gläsern greifen, die zur Begrüßung bereit stehen. Diese erste Einstellung setzt also die klassische Ikonografie des Kartenspiels und seine Verbindung zum Trinken fort. Man prostet sich zu wie zu Zeiten der Gebrüder Lumière. Der Film verwendet dazu aber eine ungewohnte Perspektive. In der zweiten Einstellung werden nur die Hände der drei Personen zu sehen sein. Gleichzeitig wird die Form des Films erklärt: Man hört den Satz: »Eine Konversation zu dritt«. Mit der dritten Einstellung beginnt das Gespräch über die Kurzfilme von Agnès Varda: Das Bild zeigt, wie Geldscheine und ein Bankscheck auf den Tisch gelegt werden. Auch diese Objekte gehören zur ikonografischen 20
Tradition des Kartenspiels. Und im Verlauf des 20minütigen Films werden immer wieder Objekte auf den Tisch gelegt, die an die ikonografischen Darstellungen des Kartenspiels anschließen. Besonders deutlich wird dies, wenn es um Fotografien und Postkarten geht, also um Bilder, die auf dem Tisch ausgelegt und angeordnet werden. Diese durchgängige Spieltisch-Anordnung der Kamera wird unterbrochen von Filmausschnitten aus den unterschiedlichen Kurzfilmen von Agnès Varda. D.h. der Film arbeitet nicht nur dokumentarisch, er setzt sein Filmmaterial auch neu zusammen. Er betreibt ein Spiel mit seinem Material. Im Grunde tut dies jeder Film, aber nur selten wird dies in so direkter Weise vorgeführt und auf den Punkt gebracht. Wenn man dies allgemeiner formuliert, lässt sich sagen: Jeder Film eröffnet ein Handlungs- und Spielfeld, bei Agnès Varda wunderbar mit drei Paar Händen inszeniert. Und es lässt sich ergänzen: Jeder Film eröffnet ein Handlungs- und Spielfeld in dem ganz einfachen Sinn, dass er einen Raum erschließt, in dem Zeichen und Körper zueinander in Beziehung treten.13 Dass dies nicht nur für Autorenfilme gilt, sondern auch für Hollywood-Produktionen, möchte ich am Beispiel des bereits erwähnten Films THE LADY EVE erläutern. Auch THE LADY EVE greift die Ikonografie des Kartenspiels auf und weist im deutschen Titel ausdrücklich darauf hin. Der Film zeigt eine ganze Reihe von Kartenspielszenen, ganz in der Motivtradition, die sich in der bildenden Kunst entwickelt hat: drei Kartenspieler an einem Tisch, aber auch einmal zwei Kartenspieler. Darüber hinaus aber reflektiert der Film auch seine Form und sein Organisationsprinzip mit der Metapher des Kartenspiels. Eine der ersten Szenen des Films zeigt einen gesellschaftlichen Abend an Bord eines Ozeandampfers. Diese Szene wird von einem Walzer begleitet. Der Film 13 Georg Seeßlen (2008) hat diesen Bild-Raum in einem »grammatischen Modell« gefasst, das einer einfachen Matrix entspricht. Bei ihm ist dieser Bildraum als Handlungsraum einerseits zwischen Angst und Lust (Horizontale) und andererseits zwischen Vergangenheit und Zukunft (Vertikale) angesiedelt.
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hat die zwei zentralen Schauspieler in seinem Vorspann bereits angekündigt. Und wenn sich Barbara Stanwyck und Henry Fonda bereits an dieser Stelle zum Tanz einfänden, könnte der Film gleich zu Ende sein und in den Abspann übergehen. Aber zunächst tanzt niemand. Stattdessen sehen wir, wie eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Frauen auftritt, um mit dem einzigen Millionär an Bord des Ozeandampfers Kontakt aufzunehmen. Weiter sehen wir, dass dieses Treiben von Barbara Stanwyck durch einen Handspiegel beobachtet wird. Und dann hören wir auch ihre boshaften Kommentare. Die indirekte Perspektive und die Kommentare transformieren die Szene in ein Casting: Barbara Stanwyck ist die Leading Lady des Films, die aber hier so tut, als ob sie ein Casting durchführt: Sie sucht das passende weibliche Pendant zur männlichen Hauptfigur. Von Barbara Stanwyck und ihrer Rolle in diesem Film – Jean Harrington – kann man lernen, wie man in betrügerischer Absicht von der Schauspielerin zur Zuschauerin und von der Zuschauerin auf die Seite der Regie wechselt. Jean Harrington ist eine Falschspielerin und zwar nicht nur im motivischen Sinne des Spiels mit falschen Karten, das sie und ihr Vater professionell beherrschen – das kommt erst später. Sie ist zu allererst eine Falschspielerin, weil sie als Zuschauerin die Regie eines Geschehens übernimmt, erst nur in Kommentaren, um sich dann tatsächlich eingreifend als die »falsche Herzdame« zu präsentieren. Die Lektion des Films – im Hinblick auf seine Organisationsform als Kartenspiel – ist also die: Jeder Zuschauer und jede Zuschauerin kann ein falsches Spiel spielen, kann das, was er oder sie sieht, kommentieren – und dann in den Verlauf der Handlung eingreifen. Sicher, man kann an dieser Stelle einwenden, gerade das kann man ja als Zuschauer nicht wirklich. Allerdings genau das behauptet auch der Film: Die handelnde Einmischung bleibt ein Betrug, ein falsches Spiel. Wenn man wirklich eingreifen würde, um sich den Film als Zuschauer anzueignen, um sich selbst an die Stelle der Hauptfigur zu setzen, dann entsteht ein ganz anderer Film. Man wäre selbst der Regisseur eines 24
neuen Films. Und erst dann entsteht Interaktivität oder zumindest das Versprechen von Interaktivität. Und in genau dieser Richtung nimmt der Film seinen Lauf. Er zeigt, wie das falsche Spiel zu einem echten wird. Wie der Film seine Richtung wechselt. Und wie die Falschspielerin tatsächlich die Hauptrolle bekommt und zwar nicht nur durch Betrug, sondern der Film zeigt, dass der anfängliche Betrug an einer bestimmten Stelle umschlägt in Authentizität. Und gerade in diesem Sinne zeigt sich der Film als Kartenspiel, bei dem man weder weiß, wie der Film verlaufen wird, noch, ob es sich um Betrug handelt oder nicht. Nicht wirklich, aber imaginär können wir von diesem Film als Zuschauer lernen, die Regie zu übernehmen. 4. Ausblick Interaktivität wird im Allgemeinen als Eigenschaft des Computers und der Neuen Medien begriffen. Ich habe jedoch gezeigt, dass sie ebenso gut in der seriellen Zeichnung der 1960er Jahre zu finden ist, z.B. bei Sol Lewitt. Sie ist sogar in der klassischen Malerei denkbar. Wenn jeder Besucher an einem Gemälde im Museum weitermalen dürfte, wäre die Malerei ein interaktives Medium – allerdings wäre dann unser Kunstbegriff, der sich trotz aller Dekonstruktionen immer noch auf den Künstler als Autor stützt, endgültig entwertet. Wenn man die Idee des Weitermalens ernst nimmt, die Marcel Duchamp an einer Reproduktion der »Mona Lisa« ausführte, dann hätte man sogar einen Kompromiss gefunden zwischen unserem Kunstbegriff, der die Autorität des Künstlers voraussetzt, und dem Wunsch des Betrachters nach Interaktion. Zahlreiche zeitgenössische Produktionen der bildenden Kunst eröffnen dem Betrachter aktive Formen der Partizipation und verfolgen damit ähnliche Strategien. An Duchamp und Lewitt zeigt sich jedoch, dass zunächst auf der Basis der Reproduktion Interaktion in der bildenden Kunst möglich wird. Erst mit Hilfe der Reproduktion kann spielerisch eine neue Ordnung formuliert werden, ohne die etablierte Kultur und ihre Kunstwerke tatsächlich zu zerstören. Und Lidia Filippi hat mit ihren Reflexionen 25
zum Film TEKNOLUST skizziert, wie diese spielerische Form der Interaktivität inzwischen in den Bereich der Gen-Reprotechnologie und des Klonens übertragen wird.14 Fotografie und Film haben aus der technischen Reproduzierbarkeit schon sehr früh ein ästhetisches Verfahren entwickelt. Schon in den 1920er Jahren hat Siegfried Kracauer den Film als interaktives Spiel gedacht, in dem das fotografische Material immer wieder neu angeordnet werden muss.15 Kracauer verwendet nicht den Begriff interaktiv, und er meint auch nicht das Video- oder Computerspiel unserer Tage. Es geht ihm vielmehr um das spielerische Anordnen von Geschichte, – um ein Handeln, mit dem sich eine säkulare Gesellschaft selbst bestimmt und sich aus ihren Imaginationen selbst formt und in ihren Bildern reflektiert. Wenn man mit Kracauer den Film als Spiel, als interaktives Kartenspiel begreift, dann bekommt der Begriff Interaktion eine andere, eine soziale und gesellschaftliche Dimension. Interaktiv wäre ein Medium immer dann, wenn es tatsächlich gesellschaftlich wirksame Verbindungen aufbauen hilft, d.h. wenn es soziale und technische Aspekte miteinander verbindet. Der Film als Kartenspiel zeigt sich in dieser Perspektive schließlich als Modell, von dem eine Ästhetik der Neuen Medien ihren Ausgang nehmen könnte. Der Computer wäre in dieser Konfiguration sowohl Werkzeug, welches das ästhetische Verfahren des Films weiter entwickelt, als auch Medium, das das Organisationsprinzip des Kartenspiels im Sinne sozialer und kultureller Interaktivität weiter radikalisiert.
14 Vgl. Heft 8 dieser Publikation. 15 Kracauer 1927, vgl. auch Heft 3 dieser Publikation.
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Frage Den Film als Kartenspiel betrachten, d.h. eine neue Konzeption vom Film als Spiel zu entwickeln. So habe ich Sie verstanden. Welchen Spielbegriff legen sie dabei zu Grunde?
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Antwort Mir geht es nicht in erster Linie um einen Spielbegriff, sondern um eine spielerische Praxis mit Bildern. Die Bildpraxis des Kartenspiels ist eine zutiefst säkulare. Sie grenzt sich von der religiösen Bildtradition ab. Im Zentrum stehen der Mensch und die Bilder, das Glück im Diesseits. Kracauer formuliert dies sehr eindrücklich für den Film. Die Menschen sind auf sich gestellt. Sie können aber im Spiel mit Bildern ihre Gesellschaft entwerfen und sich dabei ihre Geschichte aneignen
– nicht als Story oder als Computerspiel, das wäre naiv –, sondern vielmehr als Erkenntnis der eigenen Biographie. Es geht darum, sich selbst in dieser Form von Kartenspiel zu erkennen und gleichzeitig immer wieder neu zu entwerfen. Oder in größerem Maßstab gedacht: sich selbst als Teil einer Kultur und Gesellschaft zu erkennen, die sich gleichzeitig immer wieder neu gestaltet.
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Gestaltung Sabine Hartung