AUF DEM WEG In der Spielzeit 2017/18 wird mit HEIMWÄRTS in der Regie von Stefan Bachmann zum dritten Mal ein Stück von Ibrahim Amir am Schauspiel Köln zur Aufführung kommen. Als Auftragswerk entstanden, ist das Stück eine Auseinandersetzung mit dem Thema Heimat und der eigenen Herkunft. Ein Portrait des aus Syrien stammenden und in Wien lebenden Autors.
Text Sibylle Dudek Fotos Mario Kiesenhofer
2600 Kilometer liegen zwischen Aleppo und Wien. Laut Routenplaner ist die Entfernung mit dem Auto in einem Tag und fünf Stunden zu schaffen oder zu Fuß in 21 Tagen und 22 Stunden. Der direkte Weg: Syrien, die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn, Österreich. Routenplaner wissen ganz offensichtlich nichts von einer Politik der Abschottung, von geschlossenen Grenzen, von hochgezogenen Zäunen und Lagern, in denen Menschen ihr Leben mit Warten verbringen. 2017 ist der direkte Weg nach Europa dicht. Und andersrum? Nach Syrien? Aber wer wollte schon in diesen Zeiten über die Balkanroute nach Syrien reisen? Hussein will. Es ist der letzte Wunsch eines Sterbenskranken. Mehr als sein halbes Leben war Wien sein Zuhause, aber sterben und begraben werden will er in seinem Heimatland. Und so macht sich ein Krankentransport nach Syrien auf. Mit dabei: Husseins Neffe Khaled, der Arzt Osman und die transsexuelle Sanitäterin Simone. Auf der Fahrt stirbt Hussein, und Ibrahim Amir lässt die Reisegesellschaft samt Leiche im türkischen Niemandsland stranden. Und dort lässt er sie zurück: in der tiefsten türkischen Provinz, konfrontiert mit einem ehrgeizigen Beamten, der in ihnen eine Ansammlung dubioser Individuen sieht. Erst recht, als im Land über Nacht der Ausnahmezustand ausgerufen wird. Jeder ist jetzt verdächtig. So geht es los, Ibrahim Amirs zweites Auftragswerk fürs Schauspiel Köln. Ein ausgebremster Roadtrip, eine Provinzposse, eine Heimatsuche, die in der fremdesten Fremde spielt. Das erste Mal treffe ich Ibrahim 2013 in Wien. Die deutsche Erstaufführung seines Stücks HABE DIE EHRE soll in der Regie von Stefan Bachmann am Schauspiel Köln herauskommen. Gerade ist das Theater umgezogen – vom Offenbachplatz in die neu geschaffene Spielstätte in Köln-Mülheim. Ibrahims »Parallelgesellschaftskomödie«, wie das Stück im Untertitel heißt, wurde an einem kleinen Theater in Wien uraufgeführt und ist dort schnell zum Publikumsrenner geworden. Es ist ein sehr lustiges, sehr böses Stück über Ehrenmord. Darf man über
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ein solches Thema eine Komödie schreiben? Und sie dann ausgerechnet in Köln Mülheim, unweit der Keupstraße, aufführen? Wird das in der türkisch geprägten Nachbarschaft nicht wie ein Affront aufgenommen werden? Spielt man damit nicht all jenen in die Hände, die den Untergang des christlichen Abendlandes prognostizieren – die Diskussionen um Sarrazins »Deutschland schafft sich ab« hallen 2013 noch nach. All diese Bedenken und gemischte Gefühle erzähle ich Ibrahim bei unserem ersten Treffen. Wir stehen vor seinem Lieblingscafé, dem Café Jelinek im 6. Bezirk, und er raucht Kette. Dabei sieht er sehr, sehr müde aus. Gerade kommt er von seiner Nachtschicht aus dem Krankenhaus, in dem er als Assistenzarzt arbeitet. Und jetzt also diese Dramaturgin aus Deutschland mit ihren Bedenken und gemischten Gefühlen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass er damit konfrontiert wird. Nein, es ist keine Komödie über Ehrenmord. Es ist ein Stück über patriarchalische Strukturen, über die perfide und zersetzende Logik des Begriffs der Ehre, über eine Parallelgesellschaft, die nach Regeln lebt, die keines ihrer Mitglieder mehr erfüllen kann und trotzdem niemand zu hinterfragen wagt. Und über eine Mehrheitsgesellschaft, die von den Zugezogenen vor allem eins will: dass sie ruhig und bestenfalls unsichtbar sind. Darf-man-das-Fragen stellt sich Ibrahim nicht. Vorsorgliche Selbstzensur aus Angst, die Political Correctness zu verletzen – das ist ein seltsamer Gedanke für ihn. Vielleicht weil er in seinem Leben schon hinreichend mit Zensur konfrontiert war, oder weil er einfach keine Furcht davor hat, sich zwischen die Stühle zu setzen. Das Dazwischen ist ein Ort, an dem er sich gut auskennt. Ibrahim Amir kommt 1982 in Aleppo zur Welt. Beide Eltern sind Kurden. Er hat drei ältere Schwestern, ein jüngerer Bruder kommt noch dazu. Die Familie lebt größtenteils in Aleppo, verbringt aber auch viel Zeit im Jahr in dem kleinen Heimatdorf der Großeltern, das in einem kurdischen Gebiet im Norden Syriens liegt. Das große Haus und Grundstück mit den Olivenbaumplantagen ist das Zuhause, in Aleppo zieht die siebenköpfige Familie ruhelos von einer Wohnung in die andere. Seine Mutter arbeitet seit ihrem siebten Lebensjahr als Schneiderin – eine Schule hat sie nie besucht. Der Vater, der einer wohlhabenden Familie entstammt, ist Landwirt. Sein Studium der Politikwissenschaft musste er gezwungenermaßen abbrechen, weil er sich aktiv für die Rechte der kurdischen Bevölkerung eingesetzt hat. Ibrahim lernt das von Anfang an, er wird damit groß: dass er einer Nation angehört, die rechtlich nicht anerkannt ist. Alles, was gemeinhin als »kurdisch« gilt, ist in Syrien verboten: öffentlich Kurdisch zu sprechen, sich politisch zu engagieren, die kurdische Kultur zu pflegen. Es braucht nicht viel in Syrien, um politisch in Ungnade zu fallen. Als Ibrahim elf Jahre alt ist, macht er die erste Begegnung mit Theater. Kurdische Aktivisten kommen ins Dorf und bieten für Kinder und Jugendliche ein Kulturprogramm an. Gemeinsam entwickeln sie ein Theaterstück und führen es vor der Dorfgemeinschaft auf. Es eröffnet sich dem Elfjährigen eine neue, wundervolle Welt. Eine Möglichkeit, die eigenen Gedanken
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und Gefühle auszudrücken. Diese Erfahrung hinterlässt einen tiefen Eindruck bei ihm. Nachdem er die Schule beendet hat, schreibt er sich in Aleppo an einer Fachhochschule für Theater und Schauspielkunst ein. Er spielt in Stücken mit, entwickelt mit anderen Theaterabende. Er ist am richtigen Platz, hellwach, mit einem feinen Sinn für Ungerechtigkeiten. Davon gibt es viele, zu viele, und er kann sie nicht ignorieren. Wie soll er sich nicht engagieren, politisch aktiv werden? Er schließt sich der kurdischen Studentenverbindung an und initiiert an der Universität eine Schweigeminute für die kurdischen Opfer des Giftgasangriffs im Nordirak. Eine Minute Schweigen, und er ist ein Dissident. Das bedeutet: Exmatrikulation, ohne Aussicht, jemals wieder in Syrien studieren zu dürfen. Er hat keine Zukunft in diesem Land, und er ist gerade mal zwanzig.
»Vorsorgliche Selbstzensur aus Angst, die Political Correctness zu verletzen – das ist ein seltsamer Gedanke für ihn.« Aus unserer Zusammenarbeit ist eine Freundschaft geworden. Inzwischen weiß ich einiges von Ibrahim. Ich weiß, dass er Wien sehr mag und die Wiener für ihren Sarkasmus schätzt. Ich weiß, dass er die offene Fremdenfeindlichkeit der FPÖ oder der Identitären in Österreich genau wahrnimmt, damit aber besser klarkommt als mit der Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft. Ich weiß, dass er nicht für »die Syrer« sprechen will. Er ist kein Stellvertreter, er will keine Stellvertreter-Stücke schreiben und auch keine Flüchtlingsdramen auf Bestellung. Ohne Humor geht es nicht. Das Schreiben nicht, das Leben nicht. Es ist bestimmt nicht immer ein Lachen aus purer Fröhlichkeit, manchmal ist es bitterböse, erschreckend unangebracht, aber es bleibt ein Lachen. Es ist der 29. September 2002, ein grauer Sonntag, als Ibrahim nach Wien kommt. Drei knappe Flugstunden liegt es von Aleppo entfernt. Die Straßen in Wien machen einen leeren, sehr sauberen Eindruck auf ihn, die Hausfassaden kommen ihm, größtenteils ohne Balkone, merkwürdig nackt vor. Zumindest einen Menschen kennt er in der Stadt – seinen Onkel. Er bewirbt sich für drei Studiengänge an der Universität, von denen er glaubt, dass es nicht so schlimm ist, dass er die fremde Sprache nicht beherrscht. Für Medizin bekommt er eine Zusage. Dann wird er also Arzt werden. Die ersten Monate sind hart: Er vermisst seine Familie, sein Zuhause. Er hat keine Freunde, nur seinen Onkel. Und die Versuche, sich mit seinen österreichischen Kommilitonen anzufreunden, wollen nicht glücken. Er hat das Gefühl, immer zeigen zu müssen, was für ein toller Ausländer er ist – tolerant und weltoffen und überhaupt ganz anders als andere Ausländer – damit sie seine Freundschaft akzeptieren. Das macht ihn müde. Und dann ist da ja
auch noch dieses Deutsch, fremd und unzugänglich. Er lernt die Sprache, indem er zu schreiben beginnt – von Anfang an auf Deutsch. Die Worte und Bilder kommen nicht einfach, es ist ein Kampf, anstrengend, aber auch lustvoll. Endlich hat er wieder die Möglichkeit, kreativ zu sein und gleichzeitig schreibend zu erkunden, wo er sich befindet. Am Anfang sind es vor allem Rückblicke: Fern von Zuhause erscheint ihm vieles in einem anderen Licht. Er erinnert sich an einen Ehrenmord in seinem Heimatdorf. Die Stimmung danach in der Gemeinschaft, die unterschiedlichen Lebensbedingungen von Männern und Frauen. Und er denkt an seine Mutter, die, aus armen Verhältnissen stammend, immer versucht hat, weiterzukommen, sich zu bilden. Viele Frauenfiguren in seinen Stücken haben Anteile von ihr. Ihr Mut, ihre Neugier und Kraft inspirieren ihn. Am Anfang entstehen vor allem Kurzgeschichten. Eine heißt IN JENER NACHT SCHLIEF SIE TIEF und handelt von dem blutigen Rachefeldzug eines jungen Mannes in Aleppo. Die Geschichte wird 2009 mit dem Exil-Literaturpreis der Stadt Wien ausgezeichnet, und er kommt in Kontakt mit den Wiener Wortstätten, einem interkulturellen Autorenprojekt. Ein Glücksfall: Hier findet er Unterstützung und die Ermutigung, ein Theaterstück zu schreiben. HABE DIE EHRE ist ursprünglich nicht als Komödie gedacht gewesen. Das Komische schleicht sich während des Schreibens ein und entsteht aus der Ausweglosigkeit der Situation, in der sich die Figuren befinden – vor allem aber aus der Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit. Wenn eine Figur in seinen Stücken als Verkünder einer Ideologie auftritt, ist ihr kein gutes Ende beschieden. Egal ob es sich dabei um einen selbstgerechten Prediger wie in STIRB, BEVOR DU STIRBST handelt oder um Aktivisten, die ihr Engagement für Flüchtlinge zur Stärkung ihres Egos brauchen wie in HOMOHALAL, das am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführt wurde. Nichts erregt bei Ibrahim mehr Misstrauen als ein geschlossenes Weltbild. Als in Syrien der Bürgerkrieg ausbricht, lebt Ibrahim schon fast zehn Jahre in Wien. Aus der Entfernung erlebt er die Zerstörung seines Landes, die gleichbedeutend ist mit dem Verschwinden der Orte seiner Kindheit und Jugend. Er verliert den Kontakt zu seinen Freunden in Aleppo. Ob sie noch leben? Die Stadt ist ein Trümmerhaufen, der Weg zurück abgeschnitten. Nur das Dorf der Großeltern ist noch da, gefährdet, aber da. Mit den Geflüchteten kommen viele Syrer nach Wien. Merkwürdig sei das, aber auch schön, sagt Ibrahim. Ein Stück Heimat gleich um die Ecke. Seine vier Geschwister leben jetzt in seiner Nachbarschaft. Im Januar ist sein Sohn als gebürtiger Österreicher zur Welt gekommen. Und er ist jetzt fertig mit seiner Ausbildung zum Arzt. Die nächsten Monate gehören ausschließlich dem Schreiben. Das Thema Heimat, die Suche nach Verwurzelung, Verortung hat er sich nicht ausgesucht. Es war immer schon da und findet zwangsläufig Eingang in seine Stücke. Ein Krankentransport fährt durch Europa, über die Balkanroute nach Syrien. Ibrahim lässt ihn nicht sein Ziel erreichen. Es gibt kein Ankommen, keinen glücklichen Abschluss. Aber es gibt die Suche danach.