Erfinde dich selbst

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Foto Gert Postel (Privatarchiv)


erfinde dich selbst ! Peer Gynt sucht sich selbst und erfindet sich dabei immer wieder neu: Der Bauernsohn aus ärmlichen Verhältnissen wird Brauträuber und Trollprinz, Einsiedler und Sklavenhändler, Geschäftsmann, Prophet und Kaiser der Irren. Er ist ein Verwandlungskünstler, Tagträumer und begnadeter Lügner. Anlässlich von Stefan Bachmanns PEER GYNT-Inszenierung haben wir mit zwei von Deutschlands berühmtesten Hochstaplern gesprochen – mit dem Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi und dem falschen Psychiater Gert Postel.


einsvondrei |Erfinde dich selbst!

Er führte alle hinters Licht: Gert Postel, Hauptschulabschluss, Ausbildung zum Postboten, arbeitete mit gefälschten Unterlagen als stellvertretender Amtsarzt Dr. Dr. Clemens Bartholdy in Flensburg und später als psychiatrischer Oberarzt im sächsischen Zschadraß. Er hielt Vorträge, erstellte Gutachten und galt als erfolgreicher Psychiater – bis er aufflog und 1999 vom Landgericht Leipzig verurteilt wurde.

Interview Julian Pörksen

Herr Postel, was war Ihr Antrieb, dieses Spiel mit falschen Identitäten zu beginnen – war es die Lust an der Täuschung? Das Abenteuer? Das Schlüsselerlebnis ist der Suizid meiner Mutter, der für mich aus heiterem Himmel kam. Sie war Opfer einer Falschbehandlung. Sie hatte eine Depression und ihr wurden zwar antriebssteigernde, aber keine depressionslösenden Mittel verschrieben, mit der Folge, dass sie das Destruktive der Depression im Suizid ausagiert hat. Ich glaube, dass ich mich aus diesem Grund öffentlich über die Psychiatrie lustig machen wollte. Das ist mir auch gelungen. Ich habe der Psychiatrie einen Schlag versetzt, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Die Kernfrage, die niemand stellte, lautete doch: Wie ist das möglich gewesen? Da kommt einer von der Straße, Hauptschulabschluss, gelernter Postbote, mittelbegabt, höchstens, und wird Leitender Oberarzt, soll Professor werden, wird nur gelobt, überall. Das ist für mich der eigentliche Skandal: Dass ein Chefarzt der Psychiatrie und viele, teilweise habilitierte Oberärzte nicht in der Lage waren, einen Postboten von einem Oberarzt zu unterscheiden. Und: Wie war es möglich? Die Psychiatrie ist in der Nähe der Astrologie beheimatet, es ist keine Wissenschaft, sondern Scharlatanerie. Darum habe ich immer gesagt, ich war ein Hochstapler unter Hochstaplern. Und wie haben Sie sich auf den Beruf Oberarzt vorbereitet? Sie müssen sich ja mit dem Milieu, der Terminologie usw. auseinandergesetzt haben. Nein, nein, nein. Keine Vorbereitung? Keine Vorbereitung. Aber Sie hatten ja gefälschte Zeugnisse und dergleichen, nicht wahr? Ja, aber das waren Formalien, das war in zehn Minuten erledigt. Das ist das Uninteressanteste an der ganzen Angelegenheit. Ich habe mich beworben und hatte 40 Mitbewerber. Acht waren in der engeren Auswahl. Und diese acht mussten vor einer Berufungskommission einen Vortrag halten. Vorsitzender der Kommission war ein Professor der Psychiatrie, Lehrstuhlinhaber in Münster. Ich habe über die »Pseudologia phantastica« gesprochen, die Lügensucht im Dienste der Ich-Erhöhung am literarischen Beispiel der Figur des Felix Krull. Das fanden alle großartig und der Kommissionsvorsitzende fragte mich dann, worüber ich promoviert hätte. Meine Antwort: Über kognitiv induzierte Verzerrungen in der stereotypen Urteilsbildung. Das ist eine Aneinanderreihung leerer Begriffe. Daraufhin hat dieser Professor der Psychiatrie gesagt: »Ach, das ist ja interessant, Sie werden sich bestimmt wohlfühlen bei uns in der Klinik.«

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Sie haben also bei Ihrem Vortrag beschrieben, was Sie im Moment des Vortragens gemacht haben – ein Hochstapler, der sich als Psychiater ausgibt, spricht über die Psychopathologie des Hochstaplers und überzeugt damit ein Fachgremium, dass er ein geeigneter Oberarzt ist. Ja. Und dann bin ich diese ganze Oberarztzeit nur auf Händen getragen worden, nicht ein Wort der Kritik, nur Lob in höchster Vollendung. Mein Chef hat im Zeugnis geschrieben: Herr Oberarzt Dr. Postel übertrifft die Erwartungen. Und der Minister hat mich in eine Chefarztstelle gedrängt, die ich aber abgelehnt habe. Aber es ist ja doch eine Leistung, jeden Tag den Arzt zu spielen, oder nicht? Ich habe nicht gespielt. Nein? Nein. Wenn Sie spielen, dann sind Sie der Affe, der mit einem Stethoskop einen Patienten untersucht. Das erkennt jeder, dass der Affe nicht Arzt ist.

»Ich glaube, es gibt kein Ich.« Sie waren also Arzt? Ja. Mir war schon bewusst, dass ich formal nicht Arzt bin. Ich wusste allerdings nicht weniger über Psychiatrie als diese Ärzte, wahrscheinlich mehr. Die Regeln beherrschen, ohne sie zu kennen, das ist der Schlüssel. Eine extreme, fast pathologisch entwickelte Intuition. Menschen lesen, Situationen lesen, das bedeutet ja doch, dass man sich einen Habitus aneignet … Zuerst war ich etwas unsicher, aber das passte zu meiner Rolle als junger, dynamischer Oberarzt. Und wenn man das zwei Jahre lang macht, dann wird man dazu. Wenn Sie lange etwas heucheln, sind Sie es irgendwann, hat Nietzsche gesagt. Und das stimmt. Damit kommen wir zu Peer Gynt, der im Lauf seiner Reise immer wieder neue Rollen annimmt, sich immer wieder neu findet und erfindet. Seine Odyssee ist eine große Selbstsuche, eine Suche nach dem Ich. Ich glaube, es gibt kein Ich. Es gibt kein Ich? Je tiefer Sie in diese Frage einsteigen, desto weniger werden Sie dieses Ich antreffen. Ich glaube, es gibt nichts, was aus sich selbst heraus existiert.

Man ist nur das, was man in der jeweiligen Situation ist? Man ist eigentlich alles. Man ist der Ertrinkende im Mittelmeer, der Chefarzt, die Prostituierte – aber das führt jetzt sehr weit. Bitte, damit umkreisen wir das Kernthema des Stückes ... Wir denken im Westen in Dualitäten. Ich glaube, es gibt noch andere Denkweisen. Die buddhistische, zenbuddhistische Denkweise ist eine völlig andere: Ich bin nicht dies oder das, sondern ich bin sowohl dies als auch das. Sie haben Schopenhauer gelesen, im Gefängnis. Nicht gelesen, durchstudiert, unter Tränen und Freuden. Schopenhauer hat mir die Augen geöffnet. Das war wie eine Star-Operation für einen Blinden. Heutzutage Geheimwissen. Kann ich einer dummen Menschheit nur empfehlen. Wie haben Sie diese Zeit sonst erlebt? Es war eine großartige Zeit für mich, weil ich verstanden habe, dass die eigentliche Welt des Menschen seine innere Welt ist. Wie es da zugeht, ist für ihn entscheidend. Depressionen kann ich auch in einer Villa am Genfer See haben, glücklich sein kann ich auch in einer Plattenbausiedlung in Neubrandenburg. Im Bereich der Psychiatrie haben Sie verbrannte Erde hinterlassen … Diese Leute haben in den Spiegel geschaut und sahen hässlich aus. Und dann haben sie auf den Spiegel eingeschlagen, statt zu lernen. Das ist natürlich das Narrenschicksal, würde ich sagen, als Theatermensch. Ich beklage mich auch nicht. Aber es ist schon schwierig, wissen Sie. Sie werden nur gelobt und hofiert, und plötzlich werden Sie strafjustiziell gehetzt. Das ist nicht einfach. Und Sie wissen genau, viele Dummköpfe, die sind da immer noch ... Na ja, sehr komplex. Was denken Sie, wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken? Dass ich schon ein bisschen stolz darauf bin, dass ich Menschen davor habe warnen können, sich unkritisch einem malignen Gewerbe wie der Psychiatrie anzuvertrauen. Unterm Strich habe ich nur gewonnen. Ich habe natürlich auch Leid erlebt, schlechte Dinge, klar. Aber unterm Strich habe ich nur gewonnen. Ich habe unglaublich viel gelernt. Ich wäre heute nicht der, der ich bin, wenn ich das nicht gemacht hätte. Falls Sie mehr über Gert Postel erfahren möchten, folgen Sie ihm auf Twitter: @PostelGert

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Die gesamte Kunstwelt ist ihm auf den Leim gegangen: dem Meisterfälscher Wolfgang Beltracchi. Jahrzehntelang schuf und verkaufte er Werke von Malern wie Max Ernst, Heinrich Campendonk, Fernand Léger oder André Derain. 2011 wurde er verhaftet und wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt. Interview Julian Pörksen Herr Beltracchi, Sie sprechen im Zusammenhang mit Ihrer Methode vom »Free Method Painting«, angelehnt an Lee Strasbergs Schauspieltechnik des »Method Acting«. Was kann man sich darunter vorstellen? Diese Form der Malerei entwickle ich aus meinem künstlerischen Vermögen, dem Studium des Werks, der Persönlichkeit und der Rezeption des Malers, in dessen Handschrift ich meine Aussage treffen möchte. Sich in das Werk zu vertiefen und ein neues Gemälde in seiner Handschrift zu malen kann nur gelingen, weil meine eigene künstlerische Erfahrung mich durch das intensive Studium zu ihm führt. Es entsteht während dieser Phase des ständigen Inputs eine Verbindung, man kann es eine »unio mystica« nennen, und daraus entsteht wiederum ein Gemälde. Wie kann man sich diese Arbeit vorstellen, das SichHinein-Versetzen in einen Maler? Wie sieht die Vorbereitung aus? Wie wird man zu – beispielsweise – Max Ernst? Zur Vorbereitung dient mir neben dem analytischen Vergleich kunsthistorischer Betrachtungen auch das Studium von Texten aus der historischen Zeit, dem kulturellen und politischen Umfeld. Veröffentlichungen von Personen aus dem Umfeld sind ebenso wichtige Informationsgeber über seine Persönlichkeit wie Aussagen des Malers selbst. Es geht neben der Erforschung des Werks um den Menschen. Bei Max Ernst ist es leichter als bei einem Maler aus früherer Epoche. Ernst kam aus dem Rheinland, sein Milieu und seine Zeit ist mir so vertraut wie es auch das Leben in Frankreich ist. Es gibt viele Foto- und Filmzeugnisse. Max Ernst sah übrigens meinem Vater sehr ähnlich. Ein Gemälde ist wie die Handschrift eines Menschen von vielen Einflüssen geprägt, es hat aber mehr Dimensionen. Es ist viel komplizierter, in der künstlerischen Handschrift eines Malers zu malen, weil der Duktus von der Bewegung und der Zeit bestimmt wird, in der ein Bild geschaffen wurde. Sind Sie ein Schauspieler in der Malerei, ein Darstellungskünstler? Ich spiele nicht den Maler, ich bin Maler. Mit meinen unbewussten wie bewussten Erfahrungen suche ich über die Erforschung des Werks und des Lebens eines Malers den Zugang zur emotionalen Ebene, die ich benötige, um in seiner künstlerischen Handschrift zu malen.

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Lange waren nicht Sie berühmt, sondern Ihre Bilder, die in aller Welt in den Museen hingen – hatten Sie nie das Bedürfnis, im klassischen Sinne als Künstler in Erscheinung zu treten? Ich bin mein ganzes Leben »in Erscheinung getreten«, dazu benötigte ich das Vehikel des Ruhms nicht. Heute nutze ich diese Transporthilfe, weil mein Behältnis Leben bereits sehr angefüllt ist und das Durchstarten beschwerlicher wird. Mit dieser Last ist man mehr Albatros als Phönix. Im Übrigen bin ich eher berüchtigt als berühmt, laut Daniel Kehlmann ist das die ultimativste Form des Ruhms.

»Das eigene Leben ist das größte Kunstwerk, das wir kreieren können.« Wir eröffnen diese Spielzeit mit einer Inszenierung von Henrik Ibsens PEER GYNT, ein Stück, dessen Hauptfigur ein großer Erfinder ist, von Geschichten, von Wirklichkeiten. Betrachtet man es negativ, so ist er ein Lügner, positiv gesprochen ist er ein Dichter seines Daseins. Ein Mensch, der verschiedene Masken anlegt, ein Suchender – waren Ihre Fälschungen auch solch eine Suchbewegung, ein Maskenspiel? Nein. Ich ziehe es vor, aus dem gesamten Reichtum unserer Kultur zu schöpfen. Mir stehen die zahllosen Welten unserer großen europäischen Künstler zur Verfügung. Hätte ich versucht, mit meiner Kunst unter meinem eigenen Namen Anerkennung zu finden, hätte kein Experte mir diese zugestanden. Nur durch mein klandestines Handeln wurde meine Kunst von der Kunstwelt geadelt. Ich weigere mich, in einem wiedererkennbaren Stil zu malen, meine Gemälde auf den Kopf zu stellen, stringente Konzepte zu entwickeln, meine künstlerischen Möglichkeiten zu limitieren, mich einer Strömung anzupassen, mir meine künstlerische Freiheit nehmen zu lassen, mein Herzblut in ein Gemälde zu vergießen, eine Aura zu produzieren, geheimnisvoll suggestiv zu sein, archaisch monumental aufzutreten, evolutionär zu spielen, Kunst zu diktieren, Theorien nicht darzustellen, nicht aus der gesamten Welt der bildenden Kunst schöpfen zu dürfen, einem nicht vorhandenen Mythos zu huldigen, Kunst einer


höheren Moral zuzuordnen, Künstlern etwas Göttliches abzugewinnen, mir Kunst diktieren zu lassen, Kunst als Glaubensbekenntnis zu zelebrieren, Verständnis für das Herrschaftswissen von Kunsttheoretikern aufzubringen, Kunst mit unzulänglichen Deutungen zu entfremden, auf die Einflüsterungen der Sachverständigen zu hören, dem Dogma der Undefinierbarkeit der Kunst zu folgen, meine Vielhaftigkeit aufzugeben ...

Verlust der Freiheit? Vermutlich das Schlimmste, was man einem Menschen wie mir antun könnte. Aber Freiheit ist in uns, sie ist eine innere Kraft, die wir besitzen. Wie soll man diesen inneren Wert verlieren? Verlust von Vermögen? = Dinge = kein Verlust = keine Reue. Selbstverständlich bereue ich = mea culpa, mea maxima culpa! Was ist im Leben unverzichtbar, was unverzeihbar? Unverzichtbar: Respektvoll mit den Menschen umzugehen, die man liebt. Unverzeihbar: Respektloser Umgang mit Menschen, die man liebt, Selbstverleugnung, Selbstbetrug.

Ist das Leben ein Spiel? Das eigene Leben ist das größte Kunstwerk, das wir kreieren können. Wer es als Spiel versteht, hat die Einmaligkeit nicht begriffen. Peer Gynt, der ein wildes, facettenreiches Leben hat, Reichtum, Macht, Anbetung erfährt, kehrt am Schluss verarmt in seine Heimat zurück. Und dann stellt er sich die berühmte Frage, was das Ich sei und sagt: eine Zwiebel. Zahlreiche Schichten, doch kein Kern. Was ist das Ich, Herr Beltracchi? Der arme Gynt hat sich in seinen Mythen verloren. Wenn er sich als Zwiebel ohne Kern versteht, hat er nie den Nährboden gefunden, der aus der Zwiebel einen Spross treiben lässt und der dann wiederum zu einer wunderschönen Blüte wird. Wenn wir beim Beispiel Zwiebel bleiben wollen, dann bin ich im Nährboden Kunst ein ganzes Feld solcher Tochterzwiebeln. Wie ein Feld junger Tulpen, die sich von Jahr zu Jahr ausbreiten, um vom Tod des kargen Winters und dem Erwachen der Frühlingskraft zu zeugen. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren Tulpenzwiebeln wertvolle Liebhaberobjekte. Mit ähnlichen Strukturen wie der heutige Markt für zeitgenössische Kunst wurden sie zu Investitionsgütern. Es kam zur Tulpenmanie, die als erste relativ gut dokumentierte Spekulationsblase endete und in die Geschichte einging.

Auch Sie haben viel gelebt und genossen und auch Sie haben viel verloren – Ihre Freiheit, Ihr Vermögen. Bereuen Sie, was Sie getan haben? Welchen Teil meines Lebens soll ich bereuen? Gelebt zu haben? Kann man nicht bereuen. Das Leben genossen zu haben? Ein Narr, der das bereut. Viel verloren zu haben? Dinge sind eben nur Dinge und somit verzichtbar. Meine Liebe habe ich nicht verloren, auch die Liebe meiner Frau und meiner Kinder nicht. Was habe ich also Großartiges verloren?

Foto Alex Mirsch

Was heißt es, man selbst zu sein? Weil ich »viele bin«, habe ich die Kraft zu teilen, mitzuteilen. Das ICH ist die innere Kraft, die uns antreibt und zum Sprühen bringt. ICH macht es möglich, zu kreieren und zu geben – bis zur Verschwendung und bis zum letzten Atemzug. ICH überdauert mich, und da bin ich SELBST.


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