vom verlassenwerden Ein Essay von Sven Hillenkamp
Vor einem Jahr haben wir an dieser Stelle drei junge Regisseurinnen vorgestellt: Pınar Karabulut, Lilja Rupprecht und Therese Willstedt. Ihnen allen werden wir im Verlauf dieser Spielzeit wiederbegegnen. Den Anfang macht Pınar Karabulut, die diesmal auf der großen Bühne des Schauspiel Köln, im Depot 1, das Synonym aller Liebesgeschichten inszenieren wird: William Shakespeares ROMEO UND JULIA. Der Philosoph und Schriftsteller Sven Hillenkamp veröffentlichte mit seinem Buch »Das Ende einer Liebe – Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit« im Jahr 2010 einen Statusbericht der Liebe in der Gegenwart. Wir haben ihn gebeten, sich in einem Essay für uns noch einmal, fast zehn Jahre später, mit den Strukturen der Liebe im 21. Jahrhundert auseinanderzusetzen. 35
einsvondrei | Vom Verlassenwerden
»Weißt Du, sagte ich, ich habe ein Mädchen verloren – ich verstehe nichts mehr!« (Bernward Vesper)
»Und da wurde mir bewusst, dass ein verachteter Mensch Frieden weder finden kann noch darf … die Verachtung folgt ihm bis in das verborgenste Versteck, sie ist ihm in die Seele gedrungen und er trägt sie mit sich, wohin immer er sich wendet.« (Alberto Moravia)
Die Unmöglichkeit von Liebesverbindungen war über Jahrtausende ein Problem. Heute kommen, wo Liebe ist, die Liebenden auch zusammen. Das Drama ist nun das Ende der Liebesverbindung, das Verlassenwerden. Das, was R. und J. erspart bleibt, wovor der Tod sie bewahrt. Vielleicht ist alles die Fantasie eines Unglücklichen: So hätte es sein können, so schön! Es endet im Moment der Liebe, der Würde. Das wichtigste Wort im Titel dieser Fantasie ist UND. Wäre es doch bei diesem UND geblieben, anstatt dahinzukommen, dass ein UND undenkbar ist zwischen uns. Nicht mehr die Verliebtheit ist jetzt der Skandal, es ist deren stilles Erlahmen, deren bewusste Kündigung. Nicht das Wollen ist der Skandal, sondern das Nichtmehrwollen. Es ist ein Skandal ohne Skandal, denn in der Gesellschaft protestiert niemand, wenn ein Individuum das andere verlässt. Keiner schreitet ein, bestreitet die Legitimität des Schritts, weder der Betroffene selbst noch seine Nächsten. Die Familie des Verlassenen spielt keine Rolle in dem Drama, ihre Ehre ist nicht verletzt (sie hat gar keine Ehre), sie wird nicht mitverlassen, verteidigt nicht sich selbst, indem sie den Verlassenen verteidigt. Familien sind keine Verletztungskollektive und keine Verteidigungskollektive mehr, man wird als Einzelner verlassen und müsste sich als Einzelner verteidigen, verteidigt sich also nicht, geht als Einzelner unter (der Verlassene hat gewissermaßen nur einen Vornamen, keinen Nachnamen, wird als Wurzelloser umgeweht). Die Verheerung mag groß sein, doch sie lässt sich nicht in Protest verwandeln, nicht einmal in Klage. Warum, so die Frage, kann trotz offensichtlichen Leids das Leid nicht geäußert werden? Warum kann es nicht als Unrecht gedeutet, keinem die Schuld gegeben werden? Warum wird die Überwindung des Leids nicht für möglich gehalten? Die Lösung ist einfach. Der Vorgang verstößt nicht nur gegen keine Normen der Gesellschaft, er verwirklicht Normen. Er reproduziert dominante Diskurse, gängige Formeln: »auf
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seine Bedürfnisse achten«, »seine Grenzen wahren«, »sich entwickeln«, »unabhängig werden«, »man selbst bleiben« usw. Die Gewalt der Liebe besteht nicht mehr darin, Grenzen zwischen Familien, Klassengrenzen und Grenzen der Moral zu überwinden. Die Gewalt der Liebe besteht darin, dass sie, erlöschend, dem Nochliebenden den Boden entzieht, seine Grenzen überschreitet. Physikalisch gesprochen: Kontraktionen und Implosionen können ebenso großen Schaden anrichten wie Expansionen und Explosionen. Der Verlassene hat gewöhnlich den Fehler begangen, in der Verbindung nicht nur eine sogenannte Beziehung zu sehen, auch wenn er sich gelegentlich des Wortes bedient hat, da er kein besseres wusste. Für ihn ist der geliebte Mensch unersetzlich, das Ereignis dieser Verbindung unwiederholbar, nicht nur eine Erfahrung, die man »hinter sich lässt«, um die nächste zu machen. Er oder sie hat, gewissermaßen in einem heimlichen (und vielleicht auch in einem offiziellen) Akt der Ehe, sein oder ihr Herz vergeben, das eigene Leben an das Leben des Anderen gebunden. Verlassenwerden ist in diesem Akt nicht vorgesehen, kann nicht »verarbeitet« werden. Dabei geht es, wenn man die Gründe des Verlassenden betrachtet, meist gerecht zu. Der Verlassene hat in der Regel schwer zu ertragende Unzulänglichkeiten, hat entscheidende Fehler gemacht, er hat Dinge getan, die er moralisch nicht vertreten kann. Ja, er sieht es ein. Darum ist er ja so getroffen. Die Maßstäbe, denen er nicht genügt, sind seine eigenen. Dabei ist es oft nichts Spektakuläres. Keine Gewalt, keine Untreue, keine Perversion, kein Doppelleben. Nichts Wildes, Poetisches. Nicht einmal etwas, das man mit Bewusstsein getan hätte, das man tun müsste, weil sich darin das eigene Schicksal erfüllte. Es ist nur, dass man nicht ist, wie man sein sollte, wie man sein wollte. Weniger Untat als Unzulänglichkeit. Was den Umgang erschwert. Ein Schuldiger kann um Verzeihung bitten, doch was macht der Unwürdige, der Tropf? Was bleibt ihm, als sich zu verkriechen? Der Verlassene im Zeitalter von Empathie und Selbstreflexion – er singt nicht den Blues. Immer wieder rechnet er sich alle Schwächen und Fehler vor, deutet sie als Ursachen für das Verlassenwerden. So kommt er zu einem neuen Bild seiner selbst. Jeden Aspekt seines Verhaltens, seiner Gewohnheiten, seines Äußeren, sowohl der körperlichen Tatsachen wie der Kleidung, der Frisur, seiner Art, Gespräche zu führen, zu tanzen, seine Kenntnisse der Musik, der Kunst, der Literatur (bzw. seine Unkenntnis), Erfolge oder Erfolglosigkeit, seine Freunde, die Geschenke, die er gemacht hat – alles unterzieht er zum ersten Mal einer Prüfung, für die er alle seine geistigen und moralischen Ressourcen nutzen wird. Alles tritt ins Licht des Bewusstseins. So gelangt der Verlassene zu einem außerordentlichen Selbstbewusstsein als Selbstverachtung. Das Schlimmste
ist seine Lächerlichkeit, von der er nun weiß. Ein Trottel, Landarzt Bovary – mit dem Bewusstsein eines Flaubert. Wie leben als Idiot? Während im Fall der Unmöglichkeit einer Liebesverbindung die Sympathien des Publikums klar auf der Seite der Liebenden waren, man wünscht, die Liebe möge alle Widerstände überwinden, hat der Verlassene keineswegs die Sympathien des Publikums auf seiner Seite. Im Gegenteil, man versteht den Verlassenden, rühmt seine Entschlusskraft, klatscht ihm Beifall, weil er nicht mit einem solch Unwürdigen zusammengeblieben ist, sich »nicht mehr selbst verleugnet«, sich »endlich wehrt« usw. (Das Publikum war vielleicht sogar Akteur. Zwar sind heute verfeindete Familien selten, nicht selten dagegen ist, dass die subkulturelle Ersatzfamilie, die Clique eines Liebenden Feind des anderen Liebenden ist, dass den Liebenden eine gemeinsame Welt fehlt, weil die Welt des Einen die Aufnahme des Anderen verweigert, dass die kritische Rede langsam verfängt, die Respektlosigkeit des Umfelds zur eigenen wird, der Liebende endlich nicht mehr liebt, sich trennen will, auch um sich wieder ganz mit den Freunden, die an die Stelle von Vater und Mutter getreten sind, zu vereinen.) Der Verlassene erhält den Rat, sich die Sache eine Lehre sein zu lassen, an seiner »Beziehungsfähigkeit zu arbeiten«, »erwachsen zu werden«. Jene, die sich nicht erholen von dem Schlag, sich das Leben nehmen, die Geliebte töten, Amok laufen, sind pathologische Fälle, Unzeitgemäße – den Herausforderungen der modernen Gesellschaft nicht gewachsen. Die Liebesverbindung ist oft die einzige Bindung, die einen Menschen auf Grundlage gegenseitiger Beanspruchung und Bezeugung des alltäglichen Lebens mit einem anderen vereint. Ohne Liebesverbindung lebt der Mensch mit ausschließlich anspruchsarmen Freundschaften und vorübergehenden Kontakten. Sein Leben bleibt unbezeugt. Die Wertverleihung, die nur unter Voraussetzung der vollen Beanspruchung und alltäglichen Bezeugung geschehen kann, entfällt. Was ist die Anerkennung eines Freundes wert, der nichts von mir fordern darf, weder meine Moral noch meine Gefühle auf die Probe stellt, mein Leben nur aus meinen einseitigen, vieles verschweigenden Berichten kennt, meine Stimmungen und Zustände nicht ertragen muss, weder die Last meiner Reden noch die Last meines Schweigens zu tragen hat, nie Opfer meiner Wut, meiner Kälte wird, mein Scheitern nur aus meinen Berichten kennt, nicht als der mit mir Lebende und von mir Abhängende auch die Konsequenzen meines Scheiterns zu ziehen hat, die Konsequenzen meiner Trägheiten und Geschäftigkeiten, meiner Geldnot, meiner Sucht, meines Größenwahns, meiner Hoffnungslosigkeit. Der Freund, mit dem ich nur im Gespräch bin, nie in einer Dynamik, Dialektik, Eskalation, dem ich paarstundenweise begegne, von dem ich mich jedes Mal rechtzeitig verabschiede, bevor er mich aufregt, ich ihn aufrege, dieser Freund kennt mich nicht, er kann mich also auch nicht anerkennen.
Doch der Geliebte kennt mich. Er ist im Besitz der Wahrheit. Sein Urteil, das er mit dem Verlassen ausspricht, gilt. Es ist nicht mehr die Flut der Verliebtheit, es ist die Ebbe der Verliebtheit, die heute eine ungeheuerliche Kraft ist. Wie die Flut einst die Grenzen zwischen den Familien, die Klassengrenzen und die Grenzen der Moral für ungültig erklärte, so erklärt die Ebbe die verlassene Person für ungültig, für wertlos. Das Sichverlieben mag auf einer Illusion beruht haben – das Ende der Verliebtheit ist ein Urteil, das in Kenntnis der Wirklichkeit gefällt wird und dem der Verlassene sich anschließen wird. Als Verlassener erfährt der Mensch die Wahrheit über sich selbst. Jeder, der verlassen wurde, trägt diese Wahrheit ein Leben lang in sich. Er wird für den Rest seines Lebens der Verlassene bleiben. Das Verlassenwordensein ist so etwas wie der Nährboden des modernen Individuums, ewig fruchtbares Substrat.
»Doch der Geliebte kennt mich. Er ist im Besitz der Wahrheit. Sein Urteil, das er mit dem Verlassen ausspricht, gilt.« Weder Vater noch Mutter noch Freunde noch Vorgesetzte sprechen diese Wahrheit aus, nur der Verlassende tut es. Er tut es sogar, wenn er nichts sagt, wenn er schweigend geht. Andere Verlassende sprechen, sind sehr beredt. Was immer getan und gesagt worden ist, was unterlassen und ungesagt geblieben ist, sie erinnern sich daran genau, sie benennen es. Sie sind in der Lage, ihre Gefühle für den, den sie verlassen, akkurat zu beschreiben, ihn aufgrund von Erfahrung meisterhaft zu porträtieren. Für manche wird es die erste Gelegenheit sein, ihre Beobachtungsgabe, ihren scharfen Verstand, ihre Wortgewalt der Welt zu offenbaren. Die Wahrheit bekommt ihr Gewicht, sie wird unvergesslich, weil sie die Ursache ist für das Verlassenwerden. Wie die Freiheit zu gehen, ist die Wahrheit ein unbestrittener Wert. Der Moment des Verlassenwerdens ist der Wahrheitsmoment schlechthin, vielleicht der wichtigste Augenblick im Leben der Heutigen. Der Verlassene ist ein sexuell, sozial und ästhetisch Durchgefallener, erfährt den échec social total, absolutes Scheitern. Wie wünschte er, er hätte vor dem Anderen bestanden. Der Andere lebt weiter. Kein Zorn, keine Bitterkeit. Weder beschäftigt der Verlassene sein Gefühl noch sein Denken. Nicht ein Fragezeichen. Das Vergessen tut sein Werk. Alle Sinne geöffnet; Neues strömt hinein. Keine Vorstellung wäre weiter von der Realität entfernt, als dass er sich tötete um meinetwillen. Man kann von ihm behaupten, was Kafka von dem Raubtier sagt, das den Hungerkünstler ersetzt: »Ihm fehlte nichts.« Dieser Text ist ein Originalbeitrag für das Magazin des Schauspiel Köln.
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