2017 /18
4er Karte
Bei Jacques und Britney Vier Abende in der AuĂ&#x;enspielstätte am Offenbachplatz. Nur 58 Euro.
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www.schauspiel.koeln
Liebes Publikum, am Anfang, als wir mit dem Schauspiel ins Depot umzogen, war der Vorplatz wüst und leer. So schufen wir eine kleine Oase und nannten sie CARLsGARTEN. Zwischen zwei Betonplatten aber hatte sich eine Birke ausgesät und sprießte nun im Schutz der Anlage aus dieser Lücke hervor. Wie es aussieht, wird das Schauspiel wohl noch ein paar weitere Jahre in Mülheim bleiben müssen, denn die Sanierung am Offenbachplatz verzögert sich. Aus einem Provisorium wird langsam – wie das in Köln nicht unüblich ist - eine ständige Einrichtung. Und natürlich tun wir alles, was wir können, um aus unseren anfangs noch sehr rohen Hallen attraktive Spielstätten zu machen. Das sind wir Ihnen, unseren Zuschauern, das sind wir uns, den Machern schuldig. Es ist ein stetiger Prozess des Nachbesserns, Aufrüstens und Weiterentwickelns. Den widrigen Umständen zum Trotz. Wie die Birke draußen, entwickelt sich das Theater an einem Platz, an dem man es eigentlich nicht vermutet. Was wird aber das Schicksal dieses Ortes sein, wenn das Schauspiel dereinst doch noch an den Offenbachplatz zurückgekehren wird? Ende, Aus, Kahlschlag? Ich finde, das Schauspiel sollte hier im Herzen von Mülheim eine rechtsrheinische Dependance behalten dürfen. An Ideen und Plänen dafür mangelt es nicht. Am Ende aber muss die Politik die Entscheidung fällen, ob sie diesen einzigartigen Standort der Kultur erhalten möchte - ein Stück urbanes Köln. Denn in diesem Stadtteil bildet sich beispielhaft die kulturelle Vielfalt ab, die das Leben in den Städten mittlerweile ausmacht. Hier treffen die unterschiedlichsten Mentalitäten, Charaktere und Temperamente zusammen
und treten auf vielfältige Weise in einen Dialog. Kritische Auseinandersetzung und das Gespräch sind Bedingungen für eine lebendige Zivilgesellschaft und dafür bietet das Theater die Plattform. Eines steht fest: Ohne das Schauspiel wäre Mülheim ein anderer Bezirk, genauso wie das Schauspiel ohne Mülheim ein anderes Theater wäre. Hier ist nicht mal eben ein Satellit der Hochkultur gelandet, der nach einer Weile wieder verschwindet, ohne Spuren zu hinterlassen. Hier haben sich ein Theater und ein Bezirk, die auf den ersten Blick gegensätzlicher nicht sein könnten, auf ganz einzigartige Weise verbunden. Mülheim ist stolz, das Schauspiel zu beherbergen und das Schauspiel wiederum hat hier Wurzeln geschlagen und dazu beigetragen, dass der Bezirk Mülheim eine andere Identität bekommen hat. Womit wir wieder bei der Birke wären, die inzwischen sicher schon drei Meter misst und wie ich gelesen habe, bis zu 30 Meter gross werden kann. Möge sie weiterwachsen dürfen, dieser Pionier unter den Bäumen und ihre schützende Kraft entfalten. In diesem Heft präsentieren wir Ihnen den Spielplan der kommenden Saison 17/18. Ich hoffe, ich kann sie so zahlreich wie bisher willkommen heißen. Wir treffen uns in einem Garten, wahrscheinlich unter einem Baum...
Herzlich, Ihr Stefan Bachmann Intendant Schauspiel Köln
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inhalt Das erste Magazin der Spielzeit 2017/18 ist dem Thema IDENTITÄT gewidmet. Wie facettenreich und brisant der Umgang mit dem eigenen ICH ist, zeigen die Beiträge in diesem Heft.
Der Spielplan 2017/18 Alle Premieren im Überblick.
Die ersten 10 von 20 Premieren Inhalte, Teams und Daten der ersten 10 Produktionen.
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Deutsche Lebenslügen »Unser Wohlstand«, »unsere Demokratie«, »nie wieder Krieg«: Diese drei Losungen beschreibt der Soziologe Stephan Lessenich als die Grundpfeiler der bundesrepublikanischen Identität. In seinem Essay wirft er einen Blick auf die Schattenseiten dieser Gründungsmythen.
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Erfinde dich selbst! Peer Gynt ist ein Verwandlungskünstler, Tagträumer und begnadeter Lügner. Anlässlich der Inszenierung von Stefan Bachmann, mit der die Spielzeit eröffnet wird, befragt Dramaturg Julian Pörksen zwei von Deutschlands bekanntesten Hochstaplern: den Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi und den vorgeblichen Psychiater Gert Postel.
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Offenbarung Mit Lukas Bärfuss‘ Schauspiel FRAU SCHMITZ eröffnen wir die Saison in der Außenspielstätte am Offenbachplatz. Das Stück ist eine Farce auf Geschlechterrollen und Zuschreibungen. Der Schweizer Romancier, Essayist und Dramatiker über die Magie von Verwandlung.
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Vom Verlassenwerden Romeo und Julia sind das berühmteste Paar der Weltliteratur, ihre Liebe bis in den Tod ist ein vielbeschworener Mythos, den die junge Regisseurin Pınar Karabulut in ihrer Lesart auf die Bühne des Depot 1 bringt. Wie steht es mit der Liebe zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Und was, wenn nicht der Tod, sondern ganz trivial das Leben und Neuverlieben zwei Menschen trennt? Der Philosoph und Autor Sven Hillenkamp über das Ende der Liebe und die zurückbleibenden Spuren im Selbstbild des Verlassenen.
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lt Von den Errettungen Der in Sofia geborene deutsche Schriftsteller Ilija Trojanow reflektiert über die Zumutungen einer Flucht, die Auswirkungen des Heimatverlusts auf die Identität und die Chancen eines Neubeginns.
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Auf dem Weg Mit HEIMWÄRTS kommt zum dritten Mal ein Stück von Ibrahim Amir am Schauspiel Köln zur Aufführung. Zeit für ein Portrait des aus Syrien stammenden und in Wien lebenden Autors.
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»Am Anfang sind sie klein und grün.« Die asphaltierte Fläche vor dem Depot entwickelte sich in den letzten Jahren zu einer blühenden Oase. Anlässlich des vierten Geburtstags des CARLsGARTEN interviewen die beiden Gründerinnen Melanie Kretschmann und Michaela Kretschmann die beiden Initiatoren der Berliner Prinzessinnengärten Svenja Nette und Robert Shaw.
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BRITNEY am Offenbachplatz Seit einem Jahr steht BRITNEY, die Außenspielstätte am Offenbachplatz, für ein innovatives Programm: Ur- und Erstaufführungen, Konzerte, Lesungen, Performances. Das bleibt auch in dieser Spielzeit so.
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Service und Impressum
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Ensemble Die Porträts der Schauspieler*innen sind von dem Hamburger Fotografen Krafft Angerer.
03
Der Spielplan 2017/18 Woyzeck
DEPOT 1
von Georg Büchner Regie Therese Willstedt Premiere 23. März 2018
Peer Gynt von Henrik Ibsen Regie Stefan Bachmann Premiere 22. September 2017
Winterreise Seite 06
Regie Stefan Bachmann Premiere März | April 2018
Romeo und Julia
Eine Übernahme vom Burgtheater Wien
von William Shakespeare Regie Pınar Karabulut Premiere 14. Oktober 2017
von Elfriede Jelinek
07
Don Quijote nach Miguel de Cervantes
Wilhelm Tell
Regie Simon Solberg Premiere Mai | Juni 2018
von Friedrich Schiller Regie Stefan Bachmann Kölner Premiere 10. November 2017 Eine Koproduktion mit dem Theater Basel
08
Eine Frau Mary Page Marlowe von Tracy Letts Regie Lilja Rupprecht Premiere 24. November 2017
Die Weber von Gerhart Hauptmann Regie Armin Petras Premiere 02. Februar 2018
Triple Bill (AT) von Richard Siegal / Ballet of Difference Choreografie und Regie Richard Siegal Uraufführung 22. Februar 2018 Eine Koproduktion mit Tanz Köln und dem Muffatwerk München
04
08
Gastspiele Battlefield Basierend auf der Mahabharata und dem Stück von Jean-Claude Carrière Regie Peter Brook / Marie-Hélène Estienne 18. | 19. November 2017 Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs von Milo Rau Regie Milo Rau 02. Dezember 2017 In Kooperation mit der Akademie der Künste der Welt The Civil Wars Konzept, Text und Regie Milo Rau 21. | 22. Dezember 2017 2666 Basierend auf dem Roman von Roberto Bolaño Regie und Adaption Julien Gosselin Ostern 2018 (in Planung)
DEPOT 2
AuSSenspielstätte am Offenbachplatz
Occident Express
Frau Schmitz
von Stefano Massini
von Lukas Bärfuss
Regie Moritz Sostmann Deutsche Erstaufführung 07. Oktober 2017
07
Regie Rafael Sanchez Deutsche Erstaufführung 23. September 2017
Hool
Alles, was ich nicht erinnere
nach dem Roman von Philipp Winkler in einer Bühnenfassung von Nuran David Calis
nach dem Roman von Jonas Hassen Khemiri
Regie Nuran David Calis Premiere 15. Dezember 2017
Regie Charlotte Sprenger Uraufführung 11. November 2017
08
09
Heimwärts
Endspiel
von Ibrahim Amir
von Samuel Beckett Regie Rafael Sanchez Premiere 12. Januar 2018
07
Regie Stefan Bachmann Uraufführung 09. Dezember 2017
09
09
Ein neues Stück von Import Export Kollektiv Regie Bassam Ghazi Premiere 10. März 2018
Wonderland Ave.
Ein neues Stück Regie Melanie Kretschmann Premiere 26. Januar 2018
Ein neues Stück Regie Moritz Sostmann Premiere 13. April 2018
von Sibylle Berg Regie Ersan Mondtag Uraufführung 08. Juni 2018
Wir sind die Affen eines kalten Gottes. Ein Abend von und mit subbotnik zum 200. Geburtstag von Karl Marx
wiederaufnahmen Depot 1 Arsen und Spitzenhäubchen | Regie Jan Neumann Tod eines Handlungsreisenden | Regie Rafael Sanchez Faust I | Regie Moritz Sostmann Hamlet | Regie Stefan Bachmann Cyrano de Bergerac | Regie Simon Solberg Geschichten aus dem Wiener Wald | Regie Stefan Bachmann Außenspielstätte am Offenbachplatz Geächtet | Regie Stefan Bachmann Wir wollen Plankton sein | Regie Melanie Kretschmann Mohamed Achour erzählt Casablanca | Regie Rafael Sanchez
Uraufführung 05. Mai 2018
Depot 2 Ansichten eines Clowns | Regie Thomas Jonigk Faust II | Regie Moritz Sostmann Istanbul | Regie Nuran David Calis Glaubenskämpfer | Regie Nuran David Calis Die Lücke | Regie Nuran David Calis Der gute Mensch von Sezuan | Regie Moritz Sostmann Habe die Ehre | Regie Stefan Bachmann Umbettung | Regie Jens Albinus Hit me Baby Vol. III | von und mit Stefko Hanushevsky und Christopher Brandt 05
Die ersten Zehn von zwanzig
10 20 Spieler, Verlorene, begnadete Lügner, Tagträumer, Heimatlose: Die ersten zehn Premieren gehören den Suchenden und Selbsterfindern.
Premiere 22. September 2017 | Depot 1
Peer Gynt von Henrik Ibsen
Peer Gynts Odyssee beginnt in dunklen, norwegischen Berglandschaften. Hier wächst der Bauernsohn mit seiner Mutter auf, verarmt, von der Dorfgesellschaft ausgestoßen und verlacht. Er flüchtet sich in seine Fantasie, in Tagträume und Lügenmärchen, glaubt sich zu Höherem berufen, Kaiser der Welt will er werden, und bald schon geht seine Reise los. Sie beginnt mit einem Hochzeitsgelage und dem Raub der Braut, führt ihn in die Gegenwelt der Trolle, er zeugt ein Kind, lebt als Einsiedler im Wald, lässt Mutter, Kind und seine Lebensliebe Solveijg zurück und macht sich daran, die Welt zu erobern. Es verschlägt ihn nach Afrika, er wird Großkapitalist und Prophet, Playboy und Kaiser der Irren – um schließlich, am Ende seines Lebens, wieder heimzukehren. Es ist das Drama des modernen Menschen, das Henrik Ibsen mit PEER GYNT entfaltet. Um sich selbst zu finden, erfindet sich Peer Gynt immer wieder neu. Mit Ibsens »dramatischem Gedicht« über einen Ich-Sucher und Fantasten eröffnet Stefan Bachmann die neue Spielzeit. Regie Stefan Bachmann Bühne Olaf Altmann Kostüme Joki Tewes ∙ Jana Findeklee Musik Sven Kaiser Choreografie Sabina Perry Dramaturgie Julian Pörksen
Premiere 14. Oktober 2017 | Depot 1
Deutsche Erstaufführung
Romeo und Julia
23. September 2017 | Offenbachplatz
von William Shakespeare
Frau Schmitz
von Lukas Bärfuss
Frau Schmitz ist ein höchst wandelbares Wesen: Aus der unscheinbaren Mitarbeiterin mit Allerweltsnamen kann nach Belieben ein Mann werden, der knallhart die Interessen der global agierenden Firma in Pakistan verhandelt. Noch mehr als sie selber interessiert alle anderen die Frage, wer oder was sie ist: ein Mann, der im falschen Körper geboren wurde? Eine Frau, die sich als Mann ausgibt? Was für flexible Firmenstrukturen von Nutzen sein mag, sorgt bei den Menschen in ihrem Umfeld für fortgeschrittene Irritation. Wer ist Frau Schmitz? Mit FRAU SCHMITZ hat der Schweizer Romancier, Essayist und Dramatiker Lukas Bärfuss eine Farce über die Arbeitswelt in Zeiten des Neoliberalismus geschrieben – über ihr unerbittliches Streben nach Verwertbarkeit und den Umgang mit menschlichen Ressourcen. Gleichzeitig ist das Stück eine komische wie böse Abrechnung mit Rollenbildern, Zuschreibungen und Vorurteilen. Regie Rafael Sanchez Bühne Simeon Meier Kostüme Sara Giancane Musik Cornelius Borgolte Dramaturgie Sibylle Dudek
Deutsche Erstaufführung 07. Oktober 2017 | Depot 2
Occident Express von Stefano Massini
Haifa flüchtet gemeinsam mit ihrer Enkelin Nassim über die Balkanroute nach Europa. Es soll die einzige und letzte Reise ihres Lebens sein. Sie lässt das vom Krieg verwüstete Land und drei Söhne im Kampf zurück. Über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, dem Kosovo, Ungarn, die Slowakei und Leipzig gelangen Großmutter und Enkelin schließlich »auf die andere Seite«. Der Text ist das poetische Porträt einer mutigen Frau, die vorangetrieben vom unbändigen Wunsch nach Leben einen fast unmöglichen Weg beschreitet. Nach LEHMAN BROTHERS. ist OCCIDENT EXPRESS das zweite Stück von Stefano Massini, das am Schauspiel Köln zu sehen ist. Die deutsche Erstaufführung inszeniert der Hausregisseur Moritz Sostmann. Regie Moritz Sostmann Bühne und Kostüme Klemens Kühn Dramaturgie Stawrula Panagiotaki
Eigentlich war Romeo nur in der Hoffnung zum Maskenball des verfeindeten Capulet-Clans gegangen, seine Angebetete Rosalinde dort zu sehen. Stattdessen begegnet er Julia – Nachname: Capulet –, verliebt sich haltlos, heiratet sie heimlich, ermordet ihren Cousin, geht in die Verbannung, kehrt zurück in seine Heimatstadt Verona, um sich in der Gruft der vermeintlich toten (in Wahrheit jedoch nur betäubten) Geliebten umzubringen. Und Julia folgt ihm in die Unterwelt wie Orpheus der Euridike. »Two star-crossed lovers« … in unausweichlichem Schicksal oder frei und mutvoll handelnd? Zwei jedenfalls, die inmitten einer identitätswütenden Umgebung begreifen, dass man die Welt auch »vom Unterschied aus erfahren kann« (Alain Badiou). Zwei Liebende. Die junge Regisseurin Pınar Karabulut eröffnete zuletzt die Außenspielstätte am Offenbachplatz mit ihrer Uraufführung von Dirk Lauckes Stück KARNICKEL. Mit dynamischen Inszenierungen, in denen sie klassische wie zeitgenössische Stoffe aus überraschenden Blickwinkeln betrachtet und mit großem szenischen Einfallsreichtum auf die Bühne bringt, hat sie sich innerhalb kurzer Zeit einen Namen in der deutschen Theaterlandschaft gemacht. Mit Shakespeares großer Liebestragödie ROMEO UND JULIA ist erstmals eine Arbeit Pınar Karabuluts im Depot 1 des Schauspiel Köln zu sehen. Regie Pınar Karabulut Bühne Bettina Pommer Kostüme Teresa Vergho Musik Daniel Murena Dramaturgie Nina Rühmeier
07
Premiere 24. November 2017 | Depot 1
Kölner Premiere 10. November 2017 | Depot 1
Wilhelm Tell von Friedrich Schiller
Freiheit, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit – darum kämpft in Wilhelm Tell ein ganzes Arsenal von Figuren. Allen voran Tell selbst: Der lebt zunächst weltabgewandt mit Frau und Kindern im Herzen der Alpen. Politik und Allgemeinwohl interessieren ihn nicht. Als er eines Tages dem Hut des Landvogts, der auf einer Fahnenstange mitten in Altdorf thront, die befohlene Achtung nicht erweist, ist der persönliche Friede zu Ende. Gessler, der Landvogt, erwischt Tell und zwingt ihn unter Todesandrohungen zum berühmten Apfelschuss. Tell trifft. Zeitgleich versammeln sich politische Vertreter aus Uri, Unterwalden und Schwyz auf dem Rütli und gründen eine Eidgenossenschaft. Aufbauend auf ihre alten und wahren Werte vereinigen sie sich gegen die Ungerechtigkeit und den Machtmissbrauch der Landvögte. Der aus seinem Paradies vertriebene Tell hingegen geht seinen eigenen Weg. Er rächt sich für den Angriff auf sein familiäres Glück und ermordet Gessler hinterrücks. Als unpolitischer Selbsthelfer vollbringt er so die politisch ausschlaggebende Tat und ebnet den Weg für den Erfolg der Eidgenossen. Regie Stefan Bachmann Bühne Olaf Altmann Kostüme Jana Findeklee ∙ Joki Tewes Musik Balthasar Streiff ∙ Singoh Nketia alias DJ Flink Choreografie Sabina Perry Dramaturgie Barbara Sommer Eine Koproduktion mit dem Theater Basel
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Uraufführung 11. November 2017 | Offenbachplatz
Alles, was ich nicht erinnere nach dem Roman von Jonas Hassen Khemiri
Samuel ist tot. War es ein Unfall oder Selbstmord? Ein namenloser Autor untersucht seine Geschichte, rekonstruiert Stück um Stück das Leben und die Beziehungen Samuels. In Gesprächen mit dessen großer Liebe Laide, seinem engsten Freund Vandad, mit Mutter, Großmutter, mit Freunden und Nachbarn des Verstorbenen sammelt er Erinnerungen und versucht, ein eigenes Bild zusammenzusetzen: Samuel – ein loyaler Freund, ein geliebter Enkel, ein naiver Liebhaber, ein Chamäleon, ein Blender? Immer mehr scheinen die Grenzen zwischen Autor und Protagonist zu verschwimmen, beide verbindet die Angst, zu vergessen und vergessen zu werden. ALLES, WAS ICH NICHT ERINNERE erzählt von Erinnerung, Liebe, von Wahrnehmung und von dem, was bleibt. Der schwedische Dramatiker und Autor Jonas Hassen Khemiri erhielt für seinen Roman den renommiertesten Literaturpreis Schwedens, den August-Preis. Mit einer Adaption des Buches inszeniert die junge Regisseurin Charlotte Sprenger bereits ihre zweite Arbeit in der Außenspielstätte am Offenbachplatz. Regie Charlotte Sprenger Bühne und Kostüme Aleksandra Pavlović Musik Jonas Landerschier Dramaturgie Julia Fischer
Eine Frau Mary Page Marlowe von Tracy Letts
Was ist der Mensch? Ist er die Summe seiner Erzählungen? »Welche elf Szenen würde Sie auswählen, wenn Sie die Geschichte Ihres Lebens erzählen sollten?«, fragt der amerikanische Dramatiker Tracy Letts, als er zu seinem ungewöhnlichen Porträt eines unauffälligen Frauenlebens interviewt wird. Es sind nicht nur die glücklichen und erfolgreichen Momente eines Lebens, von denen er in seinem neuen Stück erzählt. Es gibt auch die traurigen, die Momente des Scheiterns und die, in denen falsche Entscheidungen getroffen wurden. Und da das Leben kein Kontinuum ist, wie Letts sagt, auch wenn es sich so anfühlen mag, zoomt er in die unterschiedlichen Lebensphasen seiner Protagonistin Mary Page Marlowe, verlässt dabei die Chronologie, springt hin und her, von der Midlifecrisis in die Collegezeit, von dort an das Ende im Krankenbett, um wieder zum Anfang des Lebens zu gelangen. Letts, der international bekannt wurde durch sein preisgekröntes Drama Eine Familie (August: Osage county), zeigt die verschiedenen Identitäten im Verlauf eines Lebens. Er erzählt von einer Frau, die sich fremd in der Welt fühlt, die sich immer wieder die Frage stellt: Bin ich die, die ich zu sein scheine? In ihren verschiedenen Lebensphasen versucht sie, dieses Gefühl zu ergründen, zu verdrängen oder aufzulösen. Versuche, die mal in Therapien oder im Drogenmissbrauch enden – ein ganz unauffälliges Leben eben. Regie Lilja Rupprecht Bühne Anne Ehrlich Kostüme Annelies Vanlaere Musik Romain Frequency Video Moritz Grewenig Dramaturgie Beate Heine
einsvondrei | Die ersten zehn von 20
Premiere 15. Dezember 2017 | Depot 2
Hool Uraufführung 09. Dezember 2017 | Offenbachplatz
Heimwärts
von Ibrahim Amir
Mehr als ein halbes Leben war Wien für Hussein sein Zuhause. Nun aber, wo es ums Sterben geht, hat er nur noch einen Wunsch: zurück nach Syrien. Dort die letzten Atemzüge machen und begraben werden – in seinem Heimatland. Und so macht sich Hussein auf den Weg, begleitet von seinem Neffen Khaled, dem Arzt Osman und der transsexuellen Sanitäterin Simone. Ihre »Reise« entspricht der Route Millionen Flüchtender – nur eben in die andere Richtung. Bevor sie ihr Ziel erreichen, verstirbt Hussein und die drei Übriggebliebenen stranden mit einer Leiche im Gepäck im türkischen Niemandsland. Das Ausstellen der Todesurkunde sollte ein Routinevorgang sein, wäre da nicht der ehrgeizige und aufstrebende Beamte Bekir, der in der kleinen Reisegruppe eine Ansammlung von dubiosen Individuen sieht – erst Recht als im Land ein Ausnahmezustand ausbricht, der aus allen Verdächtige macht. Zum zweiten Mal schreibt Ibrahim Amir, der aus Syrien stammt und in Österreich lebt, ein Stück im Auftrag des Schauspiel Köln. Mit untrüglichem Gespür für aberwitzige Situationen und menschliche Abgründe thematisiert er die Bedeutung von Heimat und Zugehörigkeit.
nach dem Roman von Philipp Winkler Bühnenfassung von Nuran David Calis
Premiere Heiko ist Hooligan. Seine Freunde Jojo, Ulf und Kai auch. Regelmäßig fahren sie zu arrangierten Treffen, um sich mit Hools aus anderen Städten zu prügeln. Geschunden, adrenalingestärkt und glücklich kehrt die Truppe nach den Schlägereien zurück nach Hause. Das ist das Umland Hannovers, wo sein AlkoholikerVater und die neue thailändische Frau Mie wohnen und Heikos Onkel Axel das zwielichtige Wotan Boxing Gym betreibt. Doch die eigentliche Familie sind die Kumpels, mit denen Heiko in der alteingesessenen Kneipe »Timpen« abhängt. Als die Truppe eines Tages beschließt, gemeinsam nach Braunschweig zu fahren, um ein paar Fascho-Hools vor einer Kneipe aufs Maul zu hauen, nimmt die unheilvolle Geschichte ihren Lauf … Phillip Winklers Roman, mit dem der Autor 2016 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, ist eine energiegeladene und raue Comingof-Age-Geschichte, die mitreißende Einblicke in eine sich am Rande der Illegalität bewegende Jugend gewährt. Nuran David Calis, der in den vergangenen Spielzeiten am Schauspiel Köln DIE LÜCKE, GLAUBENSKÄMPFER und zuletzt ISTANBUL inszenierte, bringt diesen bemerkenswerten Text auf die Bühne. Regie Nuran David Calis Bühne Anne Ehrlich Kostüme Amelie von Bülow Musik Vivan Bhatti Dramaturgie Stawrula Panagiotaki
12. Januar 2018 | Depot 2
Endspiel von Samuel Beckett
»Es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende« – so heißt es gleich zu Beginn von Becketts düsterer Komödie. In einer schwindenden Welt sind sie übriggeblieben, Hamm, der Herr, Clov, der Knecht, sowie Hamms Eltern, die »verfluchten Erzeuger«. Sie können nicht fort, sie sind gefangen in gegenseitiger Abhängigkeit an einem trostlosen Ort. Und so spielen sie das unendliche Endspiel, sie reden an gegen die Hoffnungslosigkeit, die überall lauert. Es sind verzweifelte Clowns, die mit großem Witz und voller Boshaftigkeit gegen das Nichts ankämpfen: »Die Zone der Indifferenz drängt von innen nach außen« (Adorno). Die einzige Waffe, die bleibt, ist Humor. Das Stück, das 1956 uraufgeführt wurde, festigte Samuel Becketts Ruf als bedeutendster Autor des absurden Theaters. Eine bitterböse Komödie, ein existenzieller Text – in einer Inszenierung von Rafael Sanchez, Hausregisseur am Schauspiel Köln. Regie Rafael Sanchez Bühne Thomas Dreißigacker Kostüme Maria Roers Musik Cornelius Borgolte Dramaturgie Julian Pörksen
Regie Stefan Bachmann Bühne und Kostüme Jana Findeklee ∙ Joki Tewes
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Individuen und Nationen kämpfen um ihre Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung. Denn gerade in Zeiten von Krisen und gesellschaftlichen Umbrüchen werden Fragen nach dem eigenen Selbst wieder elementar. Von einem »apokalyptischen Lebensgefühl« spricht der Kultur- und Filmkritiker Georg Seeßlen: »Alles, was uns umgibt, ist fucking Krise. Finanzkrise, Staatskrise, Umweltkrise, EU-Krise.« »Was bin ich?« ist in dieser Atmosphäre einer zerfallenden Lebenswirklichkeit zu einer brisanten Frage geworden. Wir fürchten die Veränderungen, so der Münchner Soziologe Stephan Lessenich. »Wir wollen so bleiben, wie wir waren, wie wir sind, wie wir zu sein meinen.« So versuchen wir zu bewahren, was nicht mehr zu bewahren ist und uns erneut abzugrenzen. Viele rufen, seitdem Flüchtlingsströme nach Europa kommen, wieder nach geschlossenen Grenzen, nach dem Nationalstaat. Denn jetzt geht es um unseren Wohlstand, um unsere Kultur, unsere Identität. Stephan Lessenich weist in seinem Essay darauf hin, dass der Nationalstaat seine Versprechungen längst nicht mehr halten kann.
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DEUTSCHE LEBENSLÜGEN Text Stephan Lessenich
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einsvondrei | Deutsche Lebenslügen
Die gesellschaftliche Identität der Bundesrepublik wurde, in ihrer Bonner wie Berliner Gestalt, wesentlich von drei Überzeugungen geprägt. Zum einen war dies die Vorstellung, dass »unser Wohlstand« aus unserer eigenen Hände harter Arbeit resultiere: aus der wirtschaftlichen Produktivität, der unternehmerischen Innovationskraft und dem ordnungspolitischen Gestaltungssinn der »Sozialen Marktwirtschaft«. Zum anderen war es die – im postfaschistischen Deutschland allerdings nur langsam gewachsene – Deutung, dass »unsere Demokratie« eine institutionelle Errungenschaft sei, die als Orientierungsmodell und Wertmaßstab auch für andere, politisch weniger zivilisierte Gesellschaften dienen könne und solle. Schließlich kam man nach den Vernichtungsexzessen in Zeiten des Nationalsozialismus hierzulande überein, die Parole »nie wieder Krieg« und die normative Ächtung von Gewalt als den Gründungskonsens der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu bezeichnen. »Unser Wohlstand«, »unsere Demokratie«, »nie wieder Krieg«: Was gut klingt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine äußerst trügerische Erzählung. Als ein gesellschaftliches Wohlfühlnarrativ, das die strukturellen und funktionalen Voraussetzungen des Aufstiegs und der Stabilität nationaler Wohlstandsfriedensdemokratien, allen voran der deutschen, effektiv zu unterschlagen weiß. Denn das ist das peinliche Geheimnis des als so erfolgreich und erhaltenswert gefeierten »westlichen« Gesellschafts- und Entwicklungsmodells: Es funktionierte und funktioniert bis heute nur unter ganz bestimmten politischen und ökonomischen, ökologischen und sozialen Voraussetzungen. »Unser« Wohlstand, »unsere« Demokratie und »unser« Frieden beruhen auf Armut, Entrechtung und Gewalt – hierzulande, vor allen Dingen aber andernorts. »Unser« Wohlstand, das so erfolgreiche Wertschöpfungsund Umverteilungsmodell der Bundesrepublik Deutschland, beruht maßgeblich auf der Ausbeutung von Arbeit und Natur jenseits der deutschen Staatsgrenzen sowie auf der Auslagerung von ökologischen und sozialen Kosten in Naturund Sozialräume in unserer »Außenwelt«. Die hierzulande herrschenden Produktions- und Konsumweisen, Arbeits- und Lebensbedingungen sind nur denkbar und aufrechtzuerhalten, weil Bevölkerungsmehrheiten in den weniger privilegierten Gesellschaften, in den Armutsregionen und »Schwellenländern« des globalen Kapitalismus, unter für uns unvorstellbaren oder jedenfalls als unzumutbar geltenden Bedingungen arbeiten und leben. Die wohlstandskapitalistische Welt externalisiert die Kosten ihres politisch-ökonomischen Entwicklungsmodells – und setzt darauf, dass der Preis dieser Externalisierung von anderen bezahlt wird. Sicher: »Unser« Wohlstand ist äußerst ungleich verteilt, gerade in Deutschland hat die Ungleichheit der Lebenschancen zuletzt stark zugenommen. Doch die gesamte Ungleichheitsstruktur der Bundesrepublik platziert sich an der Spitze
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des Weltreichtums. Im globalen Maßstab und als sozialer Gesamtzusammenhang betrachtet, reproduziert sich diese Gesellschaft auf einem stofflichen Verbrauchsniveau, das nicht nur nicht »nachhaltig« ist, sondern als geradezu irrwitzig gelten muss. Auch die Unterdrückten und Unterprivilegierten in diesem Land sind in einen Produktions- und Reproduktionszusammenhang gestellt, der immer schon auf der Ausbeutung fremder Ressourcen und auf der Kostenauslagerung auf Dritte beruht. Ein Arrangement, das den Bürger*innen der reichen Gesellschaften nicht unmittelbar verfügbar ist, das sie individuell kaum beeinflussen können. Von dem sie aber, ob sie dies nun wahrhaben wollen oder nicht, in ihrer großen Mehrheit doch recht gut leben.
» ›Unser‹ Wohlstand, ›unsere‹ Demokratie und ›unser‹ Frieden beruhen auf Armut, Entrechtung und Gewalt.« Das wiederum hat wesentlich mit dem Charakter »unserer« Demokratie als Wachstumsdemokratie zu tun. In Deutschland mehr noch als in anderen westlichen Industriegesellschaften ist die Zustimmung zu demokratischen Normen und Institutionen ein Effekt der wirtschaftlichen Prosperitätskonstellation der langen Nachkriegszeit. Das »Wirtschaftswunder« des westdeutschen Wiederaufbaus nach 1945, der damit ermöglichte »Fahrstuhleffekt« eines stetigen Wohlstandszuwachses, schließlich der über wachstumspolitische Positiv-Summen-Spiele ermöglichte »soziale Frieden« zwischen Kapital und Arbeit: All diese gesellschaftlichen Erfahrungen stehen hinter der vielgerühmten und -beschworenen Stabilität einer demokratischen Ordnung, die bis heute in ihren Zustimmungswerten vom fortgesetzten wirtschaftlichen »Fortschritt« abhängt. Nicht auszudenken, wie es um die Demokratie in Deutschland bestellt wäre, wenn sie mit ökonomischen Krisenerscheinungen konfrontiert wäre, wie sie beispielsweise die griechische Gesellschaft seit nun bald einem Jahrzehnt zu spüren bekommt. Mit dem Verweis auf die wirtschaftliche Wachstumsdynamik ist der Stabilisierungsmechanismus reicher Demokratien allerdings noch nicht vollständig erfasst – und vor allen Dingen nicht deren Vollkostenrechnung. Denn das historisch nie dagewesene Maß an wirtschaftlicher Wertschöpfung in den westlichen Industrienationen, auf dessen Grundlage deren Demokratisierung einschließlich der sozialen Berechtigung breiter Bevölkerungsschichten überhaupt erst materiell möglich wurde, hing eng mit dem spezifischen Energieregime zusammen, das in diesen Ländern von machtvollen Interessen durchgesetzt wurde. Ein Energieregime mit verheerenden ökologischen Auswirkungen, die sich zunächst in den
Industrieregionen Europas und Nordamerikas selbst zeigten, von dort aber Zug um Zug in entfernte Weltgegenden ausgelagert werden konnten, wo die reichen Länder sowohl die Förderung fossiler Brennstoffe wie die Inanspruchnahme von Kohlenstoffsenken betrieben. Der »fossilistische« Kapitalismus, wie er im Westen geboren und gepflegt wurde, benutzte zunehmend die außerwestliche Welt zur Befeuerung seiner Wachstumsmaschinerie, zur Befriedigung seines Ressourcenhungers und zur Ablagerung seiner Emissionen. Daheim aber erwuchs aus dem erdölgeschmierten Industriekapitalismus die politische Parallelwelt der »Kohlenstoffdemokratie«. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg war hier eine Gesellschaft entstanden, die in fast jeder Hinsicht am Tropf der Bohrtürme, Pipelines und Öltanker hing: in ihrem Wohlstand, in ihren Alltagspraktiken – und eben auch in ihrem System sozialer Teilhabe und Partizipation. Die basalen, in jedem Sinne berechtigten Interessen der Arbeitsplatz- und Lohnabhängigen der westlichen Welt an einem besseren und vielleicht sogar guten Leben, an politischer Beteiligung und gesellschaftlicher Mitsprache, an sozialem Aufstieg und persönlicher Würde hingen gänzlich an einem System wirtschaftlicher Produktion und materieller Reproduktion, das seinerseits auf das Engste an massive Ressourcenausbeutung und extremen Energieverbrauch gekoppelt war.
»Friede den Palästen, Krieg den Hütten – das ist das zwischengesellschaftliche Lebensmotto des globalen Kapitalismus.« Blickt man auf die Gesellschaftsgeschichte namentlich der Bundesrepublik zurück, so lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass wir »unseren Frieden« gemacht haben mit diesen Verhältnissen: mit Industriekapitalismus und Kohlenstoffdemokratie, mit dem Reichtum der einen und der Armut der anderen. »Unser« Wohlstand ist uns lieb und teuer geworden. »Unsere« Demokratie hat den sozialen Frieden gesichert, indem das stetig steigende wirtschaftliche Wertprodukt durch sozialpolitische Intervention zumindest ansatzweise gesellschaftlich umverteilt worden ist. Die Kosten unseres gesamtgesellschaftlichen Wachstums- und Fortschritts-, Verteilungs- und Teilhabemodells aber wurden effektiv ausgelagert. Und auch »unser« Frieden beruht darauf, dass der Krieg anderswo stattfindet, mehr oder weniger weit weg von den heimischen Gefilden: als »Drogenkrieg« in Mexiko und auf den Philippinen, als »ethnisch-religiöser Konflikt« in Nigeria oder Pakistan, als »Bürgerkrieg« in Syrien und Libyen.
Die reichen Gesellschaften des Westens sind befriedete Gesellschaften, die den Klassenkonflikt in Form von Tarifverhandlungen und Streikrecht institutionalisiert und die physische Gewalt bei rechtsstaatlichen Instanzen monopolisiert haben und damit aus dem sozialen Alltag ihrer Bürger*innen verbannen konnten. Von derartigen Verhältnissen kann die Mehrheit der Weltbevölkerung wiederum nur träumen – und dies nicht zuletzt, weil der aus unserem Leben verschwundene Unfriede in die ärmeren Gesellschaften exportiert worden ist. Ressourcenkonflikte und Klassenkämpfe, Bandenkriege und Staatsterrorismus in weiten Teilen der »unterentwickelten« Welt sind keineswegs bloß hausgemachte Phänomene. Vielmehr stehen sie in der Regel in mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang mit den ökonomischen »Wettbewerbsstrategien« und politischen »Steuerungsmodellen«, wie sie in der Welt des »hochentwickelten« Wohlstandskapitalismus gang und gäbe sind. Friede den Palästen, Krieg den Hütten – das ist das zwischengesellschaftliche Lebensmotto des globalen Kapitalismus, das sich in den abhängigen Ökonomien des globalen Südens auf ebenso unverblümte wie mitleidslose Weise innergesellschaftlich wiederholt. Doch jetzt, so will es scheinen, kehrt sie langsam wieder dahin zurück, von wo sie ausgegangen ist und ausgeht, die Gewaltsamkeit gesellschaftlicher Verhältnisse: in die wohlhabenden und wohlgeordneten Zentren des globalen Kapitalismus. Und sie kehrt zurück nicht nur in Gestalt der Kriegsflüchtlinge und »Wirtschaftsmigranten«, die nach existenziellem Schutz ihres Lebens oder auch »nur« ihr persönliches Glück in den reichen Gesellschaften suchen. Sie kehrt zurück als Gewalt in der Auseinandersetzung der politisch Verantwortlichen und breiter Bevölkerungsschichten in eben diesen Gesellschaften mit dem »sozialen Problem« der Kriegsflucht und Wirtschaftsmigration. Sie kehrt zurück in Form von militärischer Abschottung des europäischen Sozialraums und polizeilicher Kontrolle illegalisierter Zuwanderung, in politischen Strategien des Ausschlusses von Rechtsansprüchen und in Praktiken des latenten oder aggressiven, institutionellen und alltäglichen Rassismus. Und Letzteres keineswegs nur in »extrem« eingestellten, ökonomisch »abgehängten« Randsegmenten der Wohlstandsgesellschaft. Sondern teilweise bis weit in jene gesellschaftliche »Mitte« hinein, der in parteipolitischer Einmütigkeit als Produktivitätskern und Stabilitätsgarantin des demokratisch-kapitalistischen Gemeinwesens gehuldigt wird. In eben diesen Reaktionen aus der Mitte der Gesellschaft werden deren Lebenslügen überdeutlich erkennbar. »Unser Wohlstand« gefährdet, »unsere Demokratie« missbraucht, »unser Frieden« gestört: Wer solche Erschütterungen der Identität erleben muss, der kann schon mal aus der Haut fahren. Dieses Essay ist ein Originalbeitrag für das Magazin des Schauspiel Köln.
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Yvon Jansen
Nikolaus Benda
Mohamed Achour
Robert Dรถlle
Lou Zรถllkau
Melanie Kretschmann
Foto Gert Postel (Privatarchiv)
erfinde dich selbst ! Peer Gynt sucht sich selbst und erfindet sich dabei immer wieder neu: Der Bauernsohn aus ärmlichen Verhältnissen wird Brauträuber und Trollprinz, Einsiedler und Sklavenhändler, Geschäftsmann, Prophet und Kaiser der Irren. Er ist ein Verwandlungskünstler, Tagträumer und begnadeter Lügner. Anlässlich von Stefan Bachmanns PEER GYNT-Inszenierung haben wir mit zwei von Deutschlands berühmtesten Hochstaplern gesprochen – mit dem Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi und dem falschen Psychiater Gert Postel.
einsvondrei |Erfinde dich selbst!
Er führte alle hinters Licht: Gert Postel, Hauptschulabschluss, Ausbildung zum Postboten, arbeitete mit gefälschten Unterlagen als stellvertretender Amtsarzt Dr. Dr. Clemens Bartholdy in Flensburg und später als psychiatrischer Oberarzt im sächsischen Zschadraß. Er hielt Vorträge, erstellte Gutachten und galt als erfolgreicher Psychiater – bis er aufflog und 1999 vom Landgericht Leipzig verurteilt wurde.
Interview Julian Pörksen
Herr Postel, was war Ihr Antrieb, dieses Spiel mit falschen Identitäten zu beginnen – war es die Lust an der Täuschung? Das Abenteuer? Das Schlüsselerlebnis ist der Suizid meiner Mutter, der für mich aus heiterem Himmel kam. Sie war Opfer einer Falschbehandlung. Sie hatte eine Depression und ihr wurden zwar antriebssteigernde, aber keine depressionslösenden Mittel verschrieben, mit der Folge, dass sie das Destruktive der Depression im Suizid ausagiert hat. Ich glaube, dass ich mich aus diesem Grund öffentlich über die Psychiatrie lustig machen wollte. Das ist mir auch gelungen. Ich habe der Psychiatrie einen Schlag versetzt, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Die Kernfrage, die niemand stellte, lautete doch: Wie ist das möglich gewesen? Da kommt einer von der Straße, Hauptschulabschluss, gelernter Postbote, mittelbegabt, höchstens, und wird Leitender Oberarzt, soll Professor werden, wird nur gelobt, überall. Das ist für mich der eigentliche Skandal: Dass ein Chefarzt der Psychiatrie und viele, teilweise habilitierte Oberärzte nicht in der Lage waren, einen Postboten von einem Oberarzt zu unterscheiden. Und: Wie war es möglich? Die Psychiatrie ist in der Nähe der Astrologie beheimatet, es ist keine Wissenschaft, sondern Scharlatanerie. Darum habe ich immer gesagt, ich war ein Hochstapler unter Hochstaplern. Und wie haben Sie sich auf den Beruf Oberarzt vorbereitet? Sie müssen sich ja mit dem Milieu, der Terminologie usw. auseinandergesetzt haben. Nein, nein, nein. Keine Vorbereitung? Keine Vorbereitung. Aber Sie hatten ja gefälschte Zeugnisse und dergleichen, nicht wahr? Ja, aber das waren Formalien, das war in zehn Minuten erledigt. Das ist das Uninteressanteste an der ganzen Angelegenheit. Ich habe mich beworben und hatte 40 Mitbewerber. Acht waren in der engeren Auswahl. Und diese acht mussten vor einer Berufungskommission einen Vortrag halten. Vorsitzender der Kommission war ein Professor der Psychiatrie, Lehrstuhlinhaber in Münster. Ich habe über die »Pseudologia phantastica« gesprochen, die Lügensucht im Dienste der Ich-Erhöhung am literarischen Beispiel der Figur des Felix Krull. Das fanden alle großartig und der Kommissionsvorsitzende fragte mich dann, worüber ich promoviert hätte. Meine Antwort: Über kognitiv induzierte Verzerrungen in der stereotypen Urteilsbildung. Das ist eine Aneinanderreihung leerer Begriffe. Daraufhin hat dieser Professor der Psychiatrie gesagt: »Ach, das ist ja interessant, Sie werden sich bestimmt wohlfühlen bei uns in der Klinik.«
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Sie haben also bei Ihrem Vortrag beschrieben, was Sie im Moment des Vortragens gemacht haben – ein Hochstapler, der sich als Psychiater ausgibt, spricht über die Psychopathologie des Hochstaplers und überzeugt damit ein Fachgremium, dass er ein geeigneter Oberarzt ist. Ja. Und dann bin ich diese ganze Oberarztzeit nur auf Händen getragen worden, nicht ein Wort der Kritik, nur Lob in höchster Vollendung. Mein Chef hat im Zeugnis geschrieben: Herr Oberarzt Dr. Postel übertrifft die Erwartungen. Und der Minister hat mich in eine Chefarztstelle gedrängt, die ich aber abgelehnt habe. Aber es ist ja doch eine Leistung, jeden Tag den Arzt zu spielen, oder nicht? Ich habe nicht gespielt. Nein? Nein. Wenn Sie spielen, dann sind Sie der Affe, der mit einem Stethoskop einen Patienten untersucht. Das erkennt jeder, dass der Affe nicht Arzt ist.
»Ich glaube, es gibt kein Ich.« Sie waren also Arzt? Ja. Mir war schon bewusst, dass ich formal nicht Arzt bin. Ich wusste allerdings nicht weniger über Psychiatrie als diese Ärzte, wahrscheinlich mehr. Die Regeln beherrschen, ohne sie zu kennen, das ist der Schlüssel. Eine extreme, fast pathologisch entwickelte Intuition. Menschen lesen, Situationen lesen, das bedeutet ja doch, dass man sich einen Habitus aneignet … Zuerst war ich etwas unsicher, aber das passte zu meiner Rolle als junger, dynamischer Oberarzt. Und wenn man das zwei Jahre lang macht, dann wird man dazu. Wenn Sie lange etwas heucheln, sind Sie es irgendwann, hat Nietzsche gesagt. Und das stimmt. Damit kommen wir zu Peer Gynt, der im Lauf seiner Reise immer wieder neue Rollen annimmt, sich immer wieder neu findet und erfindet. Seine Odyssee ist eine große Selbstsuche, eine Suche nach dem Ich. Ich glaube, es gibt kein Ich. Es gibt kein Ich? Je tiefer Sie in diese Frage einsteigen, desto weniger werden Sie dieses Ich antreffen. Ich glaube, es gibt nichts, was aus sich selbst heraus existiert.
Man ist nur das, was man in der jeweiligen Situation ist? Man ist eigentlich alles. Man ist der Ertrinkende im Mittelmeer, der Chefarzt, die Prostituierte – aber das führt jetzt sehr weit. Bitte, damit umkreisen wir das Kernthema des Stückes ... Wir denken im Westen in Dualitäten. Ich glaube, es gibt noch andere Denkweisen. Die buddhistische, zenbuddhistische Denkweise ist eine völlig andere: Ich bin nicht dies oder das, sondern ich bin sowohl dies als auch das. Sie haben Schopenhauer gelesen, im Gefängnis. Nicht gelesen, durchstudiert, unter Tränen und Freuden. Schopenhauer hat mir die Augen geöffnet. Das war wie eine Star-Operation für einen Blinden. Heutzutage Geheimwissen. Kann ich einer dummen Menschheit nur empfehlen. Wie haben Sie diese Zeit sonst erlebt? Es war eine großartige Zeit für mich, weil ich verstanden habe, dass die eigentliche Welt des Menschen seine innere Welt ist. Wie es da zugeht, ist für ihn entscheidend. Depressionen kann ich auch in einer Villa am Genfer See haben, glücklich sein kann ich auch in einer Plattenbausiedlung in Neubrandenburg. Im Bereich der Psychiatrie haben Sie verbrannte Erde hinterlassen … Diese Leute haben in den Spiegel geschaut und sahen hässlich aus. Und dann haben sie auf den Spiegel eingeschlagen, statt zu lernen. Das ist natürlich das Narrenschicksal, würde ich sagen, als Theatermensch. Ich beklage mich auch nicht. Aber es ist schon schwierig, wissen Sie. Sie werden nur gelobt und hofiert, und plötzlich werden Sie strafjustiziell gehetzt. Das ist nicht einfach. Und Sie wissen genau, viele Dummköpfe, die sind da immer noch ... Na ja, sehr komplex. Was denken Sie, wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken? Dass ich schon ein bisschen stolz darauf bin, dass ich Menschen davor habe warnen können, sich unkritisch einem malignen Gewerbe wie der Psychiatrie anzuvertrauen. Unterm Strich habe ich nur gewonnen. Ich habe natürlich auch Leid erlebt, schlechte Dinge, klar. Aber unterm Strich habe ich nur gewonnen. Ich habe unglaublich viel gelernt. Ich wäre heute nicht der, der ich bin, wenn ich das nicht gemacht hätte. Falls Sie mehr über Gert Postel erfahren möchten, folgen Sie ihm auf Twitter: @PostelGert
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einsvondrei |Erfinde dich selbst!
Die gesamte Kunstwelt ist ihm auf den Leim gegangen: dem Meisterfälscher Wolfgang Beltracchi. Jahrzehntelang schuf und verkaufte er Werke von Malern wie Max Ernst, Heinrich Campendonk, Fernand Léger oder André Derain. 2011 wurde er verhaftet und wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt. Interview Julian Pörksen Herr Beltracchi, Sie sprechen im Zusammenhang mit Ihrer Methode vom »Free Method Painting«, angelehnt an Lee Strasbergs Schauspieltechnik des »Method Acting«. Was kann man sich darunter vorstellen? Diese Form der Malerei entwickle ich aus meinem künstlerischen Vermögen, dem Studium des Werks, der Persönlichkeit und der Rezeption des Malers, in dessen Handschrift ich meine Aussage treffen möchte. Sich in das Werk zu vertiefen und ein neues Gemälde in seiner Handschrift zu malen kann nur gelingen, weil meine eigene künstlerische Erfahrung mich durch das intensive Studium zu ihm führt. Es entsteht während dieser Phase des ständigen Inputs eine Verbindung, man kann es eine »unio mystica« nennen, und daraus entsteht wiederum ein Gemälde. Wie kann man sich diese Arbeit vorstellen, das SichHinein-Versetzen in einen Maler? Wie sieht die Vorbereitung aus? Wie wird man zu – beispielsweise – Max Ernst? Zur Vorbereitung dient mir neben dem analytischen Vergleich kunsthistorischer Betrachtungen auch das Studium von Texten aus der historischen Zeit, dem kulturellen und politischen Umfeld. Veröffentlichungen von Personen aus dem Umfeld sind ebenso wichtige Informationsgeber über seine Persönlichkeit wie Aussagen des Malers selbst. Es geht neben der Erforschung des Werks um den Menschen. Bei Max Ernst ist es leichter als bei einem Maler aus früherer Epoche. Ernst kam aus dem Rheinland, sein Milieu und seine Zeit ist mir so vertraut wie es auch das Leben in Frankreich ist. Es gibt viele Foto- und Filmzeugnisse. Max Ernst sah übrigens meinem Vater sehr ähnlich. Ein Gemälde ist wie die Handschrift eines Menschen von vielen Einflüssen geprägt, es hat aber mehr Dimensionen. Es ist viel komplizierter, in der künstlerischen Handschrift eines Malers zu malen, weil der Duktus von der Bewegung und der Zeit bestimmt wird, in der ein Bild geschaffen wurde. Sind Sie ein Schauspieler in der Malerei, ein Darstellungskünstler? Ich spiele nicht den Maler, ich bin Maler. Mit meinen unbewussten wie bewussten Erfahrungen suche ich über die Erforschung des Werks und des Lebens eines Malers den Zugang zur emotionalen Ebene, die ich benötige, um in seiner künstlerischen Handschrift zu malen.
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Lange waren nicht Sie berühmt, sondern Ihre Bilder, die in aller Welt in den Museen hingen – hatten Sie nie das Bedürfnis, im klassischen Sinne als Künstler in Erscheinung zu treten? Ich bin mein ganzes Leben »in Erscheinung getreten«, dazu benötigte ich das Vehikel des Ruhms nicht. Heute nutze ich diese Transporthilfe, weil mein Behältnis Leben bereits sehr angefüllt ist und das Durchstarten beschwerlicher wird. Mit dieser Last ist man mehr Albatros als Phönix. Im Übrigen bin ich eher berüchtigt als berühmt, laut Daniel Kehlmann ist das die ultimativste Form des Ruhms.
»Das eigene Leben ist das größte Kunstwerk, das wir kreieren können.« Wir eröffnen diese Spielzeit mit einer Inszenierung von Henrik Ibsens PEER GYNT, ein Stück, dessen Hauptfigur ein großer Erfinder ist, von Geschichten, von Wirklichkeiten. Betrachtet man es negativ, so ist er ein Lügner, positiv gesprochen ist er ein Dichter seines Daseins. Ein Mensch, der verschiedene Masken anlegt, ein Suchender – waren Ihre Fälschungen auch solch eine Suchbewegung, ein Maskenspiel? Nein. Ich ziehe es vor, aus dem gesamten Reichtum unserer Kultur zu schöpfen. Mir stehen die zahllosen Welten unserer großen europäischen Künstler zur Verfügung. Hätte ich versucht, mit meiner Kunst unter meinem eigenen Namen Anerkennung zu finden, hätte kein Experte mir diese zugestanden. Nur durch mein klandestines Handeln wurde meine Kunst von der Kunstwelt geadelt. Ich weigere mich, in einem wiedererkennbaren Stil zu malen, meine Gemälde auf den Kopf zu stellen, stringente Konzepte zu entwickeln, meine künstlerischen Möglichkeiten zu limitieren, mich einer Strömung anzupassen, mir meine künstlerische Freiheit nehmen zu lassen, mein Herzblut in ein Gemälde zu vergießen, eine Aura zu produzieren, geheimnisvoll suggestiv zu sein, archaisch monumental aufzutreten, evolutionär zu spielen, Kunst zu diktieren, Theorien nicht darzustellen, nicht aus der gesamten Welt der bildenden Kunst schöpfen zu dürfen, einem nicht vorhandenen Mythos zu huldigen, Kunst einer
höheren Moral zuzuordnen, Künstlern etwas Göttliches abzugewinnen, mir Kunst diktieren zu lassen, Kunst als Glaubensbekenntnis zu zelebrieren, Verständnis für das Herrschaftswissen von Kunsttheoretikern aufzubringen, Kunst mit unzulänglichen Deutungen zu entfremden, auf die Einflüsterungen der Sachverständigen zu hören, dem Dogma der Undefinierbarkeit der Kunst zu folgen, meine Vielhaftigkeit aufzugeben ...
Verlust der Freiheit? Vermutlich das Schlimmste, was man einem Menschen wie mir antun könnte. Aber Freiheit ist in uns, sie ist eine innere Kraft, die wir besitzen. Wie soll man diesen inneren Wert verlieren? Verlust von Vermögen? = Dinge = kein Verlust = keine Reue. Selbstverständlich bereue ich = mea culpa, mea maxima culpa! Was ist im Leben unverzichtbar, was unverzeihbar? Unverzichtbar: Respektvoll mit den Menschen umzugehen, die man liebt. Unverzeihbar: Respektloser Umgang mit Menschen, die man liebt, Selbstverleugnung, Selbstbetrug.
Ist das Leben ein Spiel? Das eigene Leben ist das größte Kunstwerk, das wir kreieren können. Wer es als Spiel versteht, hat die Einmaligkeit nicht begriffen. Peer Gynt, der ein wildes, facettenreiches Leben hat, Reichtum, Macht, Anbetung erfährt, kehrt am Schluss verarmt in seine Heimat zurück. Und dann stellt er sich die berühmte Frage, was das Ich sei und sagt: eine Zwiebel. Zahlreiche Schichten, doch kein Kern. Was ist das Ich, Herr Beltracchi? Der arme Gynt hat sich in seinen Mythen verloren. Wenn er sich als Zwiebel ohne Kern versteht, hat er nie den Nährboden gefunden, der aus der Zwiebel einen Spross treiben lässt und der dann wiederum zu einer wunderschönen Blüte wird. Wenn wir beim Beispiel Zwiebel bleiben wollen, dann bin ich im Nährboden Kunst ein ganzes Feld solcher Tochterzwiebeln. Wie ein Feld junger Tulpen, die sich von Jahr zu Jahr ausbreiten, um vom Tod des kargen Winters und dem Erwachen der Frühlingskraft zu zeugen. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren Tulpenzwiebeln wertvolle Liebhaberobjekte. Mit ähnlichen Strukturen wie der heutige Markt für zeitgenössische Kunst wurden sie zu Investitionsgütern. Es kam zur Tulpenmanie, die als erste relativ gut dokumentierte Spekulationsblase endete und in die Geschichte einging.
Auch Sie haben viel gelebt und genossen und auch Sie haben viel verloren – Ihre Freiheit, Ihr Vermögen. Bereuen Sie, was Sie getan haben? Welchen Teil meines Lebens soll ich bereuen? Gelebt zu haben? Kann man nicht bereuen. Das Leben genossen zu haben? Ein Narr, der das bereut. Viel verloren zu haben? Dinge sind eben nur Dinge und somit verzichtbar. Meine Liebe habe ich nicht verloren, auch die Liebe meiner Frau und meiner Kinder nicht. Was habe ich also Großartiges verloren?
Foto Alex Mirsch
Was heißt es, man selbst zu sein? Weil ich »viele bin«, habe ich die Kraft zu teilen, mitzuteilen. Das ICH ist die innere Kraft, die uns antreibt und zum Sprühen bringt. ICH macht es möglich, zu kreieren und zu geben – bis zur Verschwendung und bis zum letzten Atemzug. ICH überdauert mich, und da bin ich SELBST.
Bruno Cathomas
Sophia Burtscher
Niklas Kohrt
Peter Miklusz
Justus Maier
Simon Kirsch
OFFENB Mit FRAU SCHMITZ wird erstmals ein Stück des Schweizer Autors Lukas Bärfuss am Schauspiel Köln zu sehen sein. Das Schauspiel spitzt die Frage nach der Geschlechtsidentität und die damit verbundenen Zuschreibungen und Rollenbilder bis ins Groteske zu. In seinem Essay beschreibt Lukas Bärfuss seine Beziehung zum Theater und den Zauber der Verwandlung.
Ein Essay von Lukas Bärfuss
Woher meine Liebe zum Theater kommt, weiß ich nicht, und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht einmal, ob es überhaupt Liebe ist. Mein Verhältnis gleicht einer Gewohnheit, einer Lebensroutine, einer gewissen Art und Weise, etwas über das Leben zu erfahren. Es sind selten grundsätzlich neue Erkenntnisse, die ich bei der Arbeit am Theater gewinne. Ich lerne, was ich einmal wusste, aber irgendwann wieder vergessen habe: Dass es im Theater und im Leben keine Abkürzungen gibt. Dass Theater zwar mit erfundenen Elementen arbeitet, aber selbst keine Fiktion ist. Dass vollkommene Stille im Theater ein Geschenk ist und niemals planbar. Oder die immer wieder erschreckende Tatsache, dass im Theater alles zum Zeichen wird und niemand diese Zeichen beherrschen kann. Und auch die schwierigste Lektion, wenigstens für einen Schriftsteller: Man kann im Theater nicht blättern. Nicht nach vorne, nicht nach hinten. Das Verpasste kommt nicht wieder. Durch die Ödnis des Augenblicks führt nur die Zeit. Das alles würde kaum genügen, um mich bei dieser Kunst zu halten, gäbe es nicht dieses Geheimnis, das, so fällt mir jetzt auf, etwas zu tun haben muss mit dem erwähnten Wiedererlernen des einst Bekannten. Jorge Luis Borges hat in seinem Essay über Shih Huang Ti und die chinesische Mauer geschrieben: »Die Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte wollen uns etwas sagen oder haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten verlieren dürfen, oder schicken sich an, uns etwas zu sagen; dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt, ist vielleicht der ästhetische Vorgang.« »Gewisse Dämmerungen, gewisse Orte«. Ich stamme aus einer Kleinstadt am Fuß der Alpen, einer Garnison, wo die Rüstungsindustrie und die Soldaten den Ton angaben und Kultur kaum eine Rolle spielte. Zwei-, dreimal im Jahr verirrte sich ein deutsches Tourneetheater in unseren Ort und zeigte Minna von Barnhelm oder Das Käthchen von Heilbronn. Jede Schulklasse der Umgebung wurde in die Vorstellung gezerrt, was manch einem den letzten Rest Theaterliebe ausgetrieben haben mag.
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BARUNG Ich hatte Glück. Die Schule, die ich besuchte, war lausig und wir Schüler waren renitent. Unsereins schickte man nicht ins Theater. Uns schickte man in die Bergdörfer, wo wir den Bauern die Steine von den Weiden zu tragen hatten. Statt unsere Sitten durch Kunstgenuss zu verfeinern, steckte man uns in die Schule der körperlichen Ertüchtigung. Ich erlebte ein anderes Theater, jenes, das vom Kunsttheater immer bekämpft wurde, jedenfalls in meinem Land, das Bauern- oder Volkstheater, von Laien gespielt, in der schweizerischen Mundart, auf den Bühnen der Gasthofsäle mehr getanzt und geschrien als gesprochen oder deklamiert, im Stumpenrauch, zwischen dem Geklirr der Gläser und der Teller, nach den Gesängen der Jodlerchöre und vor der Tombola, bei der es Schinken im Brotteig und Brezeleisen zu gewinnen gab. Die Stücke waren plumpe Verwechslungskomödien, grob gezimmerte Schwänke, die ihren hauptsächlichen Reiz aus der Tatsache bezogen, dass sich vernünftige Menschen auf der Bühne zum Hanswurst machten. Mein Großvater, ein Sattlermeister, verwandelte sich in den Giiztüfel, den Geizteufel; mein Onkel, ein braver Ehemann, in einen ungeschickten Liebhaber, der überdies das französische Wort »Cortaillod« nicht richtig aussprechen konnte, worüber sich meine Mutter während der ganzen Probenzeit und lange Jahre danach ärgerte, bis sie schließlich doch noch darüber lachen konnte. Sie war als junges Mädchen als »jeune fille« bei einer vornehmen Familie in Vevey gewesen und hielt sehr viel auf die korrekte Aussprache.
nur in Strumpfhose und Unterhemd, aber schon frisiert und geschminkt. Das Parfüm, Shalimar von Guerlain, vermischte sich mit dem ordinären Geruch der Teddy-Bügelstärke. Eine Verwandlung, ja, aber ich wurde niemals Zeuge ihrer vollständigen Metamorphose. Denn erst wenn Mutter hinter dem Tresen jener mondänen Bar in der Innenstadt stand, wo sich die Halbwelt mit den Honoratioren vermischte, die Windeier Seite an Seite mit den Ehrbaren tranken; erst zwischen den Gin-Fizz und den Manhattans, zwischen den steifen Käppis der höheren Offiziere und den fettigen Krawatten der konkursiten Kleingewerbler, erst dort war die Hausfrau restlos in dieses Wesen verwandelt, von dem ich nur ein unvollständiges Abbild zu Gesicht bekam. Wenn sie mir beim Abschied einen Kuss gab, war hinter dem Kostüm und der Maske immer noch etwas von meiner Mutter erkennbar, jene Person, die das Essen kochte, die Wäsche machte und die Hausaufgaben kontrollierte. Etwas von dieser gewöhnlichen Frau blieb sichtbar, wenigstens für mich, und ich hätte die Welt darum gegeben, einmal die Königin in ihrem Reich zu sehen, um diese Zaubergestalt im Mittelpunkt der Nacht vollständig und vollendet zu erleben, und vielleicht ist es »dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt«, was sich mir wiederholt, im Theater und in der Dichtung. Erstmals erschienen in: Lukas Bärfuss: Stil und Moral, Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
Darin liegt kein Geheimnis, höchstens die Erinnerung an ein Gefühl. Vielleicht ist das Geheimnis in jenen Nachmittagen kurz vor vier Uhr zu finden, wenn ich in unserem Badezimmer in den Genuss eines Schauspiels kam, für mich größer und erhabener als alles, was auf den Brettern der näheren Umgebung zu sehen war: In der Hauptrolle meine Mutter, die sich für ihre Arbeit in der American Bar umzog und sich von einer gewöhnlichen Hausfrau in die Königin der Nacht verwandelte. Sie besaß die wunderbarsten Kostüme. Ich erinnere mich an Hosenanzüge in goldgrünem Wechselspiel, an weinrote Plisseekleider und an Blusen mit unendlichen Rüschenkragen, und ich erinnere mich, wie sie am Bügelbrett stand und jede Rüsche einzeln bügelte, in Dampfschwaden und
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Thomas Brandt
Sabine Orléans
Philipp Pleßmann
Nicolas Handwerker |
| Elisa Schlott | Elias Reichert | Robin Meisner | Nicolas Frederick Djuren | Marlene Tanczik | Nils Hohenhรถvel | Kristin Steffen
vom verlassenwerden Ein Essay von Sven Hillenkamp
Vor einem Jahr haben wir an dieser Stelle drei junge Regisseurinnen vorgestellt: Pınar Karabulut, Lilja Rupprecht und Therese Willstedt. Ihnen allen werden wir im Verlauf dieser Spielzeit wiederbegegnen. Den Anfang macht Pınar Karabulut, die diesmal auf der großen Bühne des Schauspiel Köln, im Depot 1, das Synonym aller Liebesgeschichten inszenieren wird: William Shakespeares ROMEO UND JULIA. Der Philosoph und Schriftsteller Sven Hillenkamp veröffentlichte mit seinem Buch »Das Ende einer Liebe – Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit« im Jahr 2010 einen Statusbericht der Liebe in der Gegenwart. Wir haben ihn gebeten, sich in einem Essay für uns noch einmal, fast zehn Jahre später, mit den Strukturen der Liebe im 21. Jahrhundert auseinanderzusetzen. 35
einsvondrei | Vom Verlassenwerden
»Weißt Du, sagte ich, ich habe ein Mädchen verloren – ich verstehe nichts mehr!« (Bernward Vesper)
»Und da wurde mir bewusst, dass ein verachteter Mensch Frieden weder finden kann noch darf … die Verachtung folgt ihm bis in das verborgenste Versteck, sie ist ihm in die Seele gedrungen und er trägt sie mit sich, wohin immer er sich wendet.« (Alberto Moravia)
Die Unmöglichkeit von Liebesverbindungen war über Jahrtausende ein Problem. Heute kommen, wo Liebe ist, die Liebenden auch zusammen. Das Drama ist nun das Ende der Liebesverbindung, das Verlassenwerden. Das, was R. und J. erspart bleibt, wovor der Tod sie bewahrt. Vielleicht ist alles die Fantasie eines Unglücklichen: So hätte es sein können, so schön! Es endet im Moment der Liebe, der Würde. Das wichtigste Wort im Titel dieser Fantasie ist UND. Wäre es doch bei diesem UND geblieben, anstatt dahinzukommen, dass ein UND undenkbar ist zwischen uns. Nicht mehr die Verliebtheit ist jetzt der Skandal, es ist deren stilles Erlahmen, deren bewusste Kündigung. Nicht das Wollen ist der Skandal, sondern das Nichtmehrwollen. Es ist ein Skandal ohne Skandal, denn in der Gesellschaft protestiert niemand, wenn ein Individuum das andere verlässt. Keiner schreitet ein, bestreitet die Legitimität des Schritts, weder der Betroffene selbst noch seine Nächsten. Die Familie des Verlassenen spielt keine Rolle in dem Drama, ihre Ehre ist nicht verletzt (sie hat gar keine Ehre), sie wird nicht mitverlassen, verteidigt nicht sich selbst, indem sie den Verlassenen verteidigt. Familien sind keine Verletztungskollektive und keine Verteidigungskollektive mehr, man wird als Einzelner verlassen und müsste sich als Einzelner verteidigen, verteidigt sich also nicht, geht als Einzelner unter (der Verlassene hat gewissermaßen nur einen Vornamen, keinen Nachnamen, wird als Wurzelloser umgeweht). Die Verheerung mag groß sein, doch sie lässt sich nicht in Protest verwandeln, nicht einmal in Klage. Warum, so die Frage, kann trotz offensichtlichen Leids das Leid nicht geäußert werden? Warum kann es nicht als Unrecht gedeutet, keinem die Schuld gegeben werden? Warum wird die Überwindung des Leids nicht für möglich gehalten? Die Lösung ist einfach. Der Vorgang verstößt nicht nur gegen keine Normen der Gesellschaft, er verwirklicht Normen. Er reproduziert dominante Diskurse, gängige Formeln: »auf
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seine Bedürfnisse achten«, »seine Grenzen wahren«, »sich entwickeln«, »unabhängig werden«, »man selbst bleiben« usw. Die Gewalt der Liebe besteht nicht mehr darin, Grenzen zwischen Familien, Klassengrenzen und Grenzen der Moral zu überwinden. Die Gewalt der Liebe besteht darin, dass sie, erlöschend, dem Nochliebenden den Boden entzieht, seine Grenzen überschreitet. Physikalisch gesprochen: Kontraktionen und Implosionen können ebenso großen Schaden anrichten wie Expansionen und Explosionen. Der Verlassene hat gewöhnlich den Fehler begangen, in der Verbindung nicht nur eine sogenannte Beziehung zu sehen, auch wenn er sich gelegentlich des Wortes bedient hat, da er kein besseres wusste. Für ihn ist der geliebte Mensch unersetzlich, das Ereignis dieser Verbindung unwiederholbar, nicht nur eine Erfahrung, die man »hinter sich lässt«, um die nächste zu machen. Er oder sie hat, gewissermaßen in einem heimlichen (und vielleicht auch in einem offiziellen) Akt der Ehe, sein oder ihr Herz vergeben, das eigene Leben an das Leben des Anderen gebunden. Verlassenwerden ist in diesem Akt nicht vorgesehen, kann nicht »verarbeitet« werden. Dabei geht es, wenn man die Gründe des Verlassenden betrachtet, meist gerecht zu. Der Verlassene hat in der Regel schwer zu ertragende Unzulänglichkeiten, hat entscheidende Fehler gemacht, er hat Dinge getan, die er moralisch nicht vertreten kann. Ja, er sieht es ein. Darum ist er ja so getroffen. Die Maßstäbe, denen er nicht genügt, sind seine eigenen. Dabei ist es oft nichts Spektakuläres. Keine Gewalt, keine Untreue, keine Perversion, kein Doppelleben. Nichts Wildes, Poetisches. Nicht einmal etwas, das man mit Bewusstsein getan hätte, das man tun müsste, weil sich darin das eigene Schicksal erfüllte. Es ist nur, dass man nicht ist, wie man sein sollte, wie man sein wollte. Weniger Untat als Unzulänglichkeit. Was den Umgang erschwert. Ein Schuldiger kann um Verzeihung bitten, doch was macht der Unwürdige, der Tropf? Was bleibt ihm, als sich zu verkriechen? Der Verlassene im Zeitalter von Empathie und Selbstreflexion – er singt nicht den Blues. Immer wieder rechnet er sich alle Schwächen und Fehler vor, deutet sie als Ursachen für das Verlassenwerden. So kommt er zu einem neuen Bild seiner selbst. Jeden Aspekt seines Verhaltens, seiner Gewohnheiten, seines Äußeren, sowohl der körperlichen Tatsachen wie der Kleidung, der Frisur, seiner Art, Gespräche zu führen, zu tanzen, seine Kenntnisse der Musik, der Kunst, der Literatur (bzw. seine Unkenntnis), Erfolge oder Erfolglosigkeit, seine Freunde, die Geschenke, die er gemacht hat – alles unterzieht er zum ersten Mal einer Prüfung, für die er alle seine geistigen und moralischen Ressourcen nutzen wird. Alles tritt ins Licht des Bewusstseins. So gelangt der Verlassene zu einem außerordentlichen Selbstbewusstsein als Selbstverachtung. Das Schlimmste
ist seine Lächerlichkeit, von der er nun weiß. Ein Trottel, Landarzt Bovary – mit dem Bewusstsein eines Flaubert. Wie leben als Idiot? Während im Fall der Unmöglichkeit einer Liebesverbindung die Sympathien des Publikums klar auf der Seite der Liebenden waren, man wünscht, die Liebe möge alle Widerstände überwinden, hat der Verlassene keineswegs die Sympathien des Publikums auf seiner Seite. Im Gegenteil, man versteht den Verlassenden, rühmt seine Entschlusskraft, klatscht ihm Beifall, weil er nicht mit einem solch Unwürdigen zusammengeblieben ist, sich »nicht mehr selbst verleugnet«, sich »endlich wehrt« usw. (Das Publikum war vielleicht sogar Akteur. Zwar sind heute verfeindete Familien selten, nicht selten dagegen ist, dass die subkulturelle Ersatzfamilie, die Clique eines Liebenden Feind des anderen Liebenden ist, dass den Liebenden eine gemeinsame Welt fehlt, weil die Welt des Einen die Aufnahme des Anderen verweigert, dass die kritische Rede langsam verfängt, die Respektlosigkeit des Umfelds zur eigenen wird, der Liebende endlich nicht mehr liebt, sich trennen will, auch um sich wieder ganz mit den Freunden, die an die Stelle von Vater und Mutter getreten sind, zu vereinen.) Der Verlassene erhält den Rat, sich die Sache eine Lehre sein zu lassen, an seiner »Beziehungsfähigkeit zu arbeiten«, »erwachsen zu werden«. Jene, die sich nicht erholen von dem Schlag, sich das Leben nehmen, die Geliebte töten, Amok laufen, sind pathologische Fälle, Unzeitgemäße – den Herausforderungen der modernen Gesellschaft nicht gewachsen. Die Liebesverbindung ist oft die einzige Bindung, die einen Menschen auf Grundlage gegenseitiger Beanspruchung und Bezeugung des alltäglichen Lebens mit einem anderen vereint. Ohne Liebesverbindung lebt der Mensch mit ausschließlich anspruchsarmen Freundschaften und vorübergehenden Kontakten. Sein Leben bleibt unbezeugt. Die Wertverleihung, die nur unter Voraussetzung der vollen Beanspruchung und alltäglichen Bezeugung geschehen kann, entfällt. Was ist die Anerkennung eines Freundes wert, der nichts von mir fordern darf, weder meine Moral noch meine Gefühle auf die Probe stellt, mein Leben nur aus meinen einseitigen, vieles verschweigenden Berichten kennt, meine Stimmungen und Zustände nicht ertragen muss, weder die Last meiner Reden noch die Last meines Schweigens zu tragen hat, nie Opfer meiner Wut, meiner Kälte wird, mein Scheitern nur aus meinen Berichten kennt, nicht als der mit mir Lebende und von mir Abhängende auch die Konsequenzen meines Scheiterns zu ziehen hat, die Konsequenzen meiner Trägheiten und Geschäftigkeiten, meiner Geldnot, meiner Sucht, meines Größenwahns, meiner Hoffnungslosigkeit. Der Freund, mit dem ich nur im Gespräch bin, nie in einer Dynamik, Dialektik, Eskalation, dem ich paarstundenweise begegne, von dem ich mich jedes Mal rechtzeitig verabschiede, bevor er mich aufregt, ich ihn aufrege, dieser Freund kennt mich nicht, er kann mich also auch nicht anerkennen.
Doch der Geliebte kennt mich. Er ist im Besitz der Wahrheit. Sein Urteil, das er mit dem Verlassen ausspricht, gilt. Es ist nicht mehr die Flut der Verliebtheit, es ist die Ebbe der Verliebtheit, die heute eine ungeheuerliche Kraft ist. Wie die Flut einst die Grenzen zwischen den Familien, die Klassengrenzen und die Grenzen der Moral für ungültig erklärte, so erklärt die Ebbe die verlassene Person für ungültig, für wertlos. Das Sichverlieben mag auf einer Illusion beruht haben – das Ende der Verliebtheit ist ein Urteil, das in Kenntnis der Wirklichkeit gefällt wird und dem der Verlassene sich anschließen wird. Als Verlassener erfährt der Mensch die Wahrheit über sich selbst. Jeder, der verlassen wurde, trägt diese Wahrheit ein Leben lang in sich. Er wird für den Rest seines Lebens der Verlassene bleiben. Das Verlassenwordensein ist so etwas wie der Nährboden des modernen Individuums, ewig fruchtbares Substrat.
»Doch der Geliebte kennt mich. Er ist im Besitz der Wahrheit. Sein Urteil, das er mit dem Verlassen ausspricht, gilt.« Weder Vater noch Mutter noch Freunde noch Vorgesetzte sprechen diese Wahrheit aus, nur der Verlassende tut es. Er tut es sogar, wenn er nichts sagt, wenn er schweigend geht. Andere Verlassende sprechen, sind sehr beredt. Was immer getan und gesagt worden ist, was unterlassen und ungesagt geblieben ist, sie erinnern sich daran genau, sie benennen es. Sie sind in der Lage, ihre Gefühle für den, den sie verlassen, akkurat zu beschreiben, ihn aufgrund von Erfahrung meisterhaft zu porträtieren. Für manche wird es die erste Gelegenheit sein, ihre Beobachtungsgabe, ihren scharfen Verstand, ihre Wortgewalt der Welt zu offenbaren. Die Wahrheit bekommt ihr Gewicht, sie wird unvergesslich, weil sie die Ursache ist für das Verlassenwerden. Wie die Freiheit zu gehen, ist die Wahrheit ein unbestrittener Wert. Der Moment des Verlassenwerdens ist der Wahrheitsmoment schlechthin, vielleicht der wichtigste Augenblick im Leben der Heutigen. Der Verlassene ist ein sexuell, sozial und ästhetisch Durchgefallener, erfährt den échec social total, absolutes Scheitern. Wie wünschte er, er hätte vor dem Anderen bestanden. Der Andere lebt weiter. Kein Zorn, keine Bitterkeit. Weder beschäftigt der Verlassene sein Gefühl noch sein Denken. Nicht ein Fragezeichen. Das Vergessen tut sein Werk. Alle Sinne geöffnet; Neues strömt hinein. Keine Vorstellung wäre weiter von der Realität entfernt, als dass er sich tötete um meinetwillen. Man kann von ihm behaupten, was Kafka von dem Raubtier sagt, das den Hungerkünstler ersetzt: »Ihm fehlte nichts.« Dieser Text ist ein Originalbeitrag für das Magazin des Schauspiel Köln.
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Jรถrg Ratjen
Stefko Hanushevsky
Magda Lena Schlott
Guido Lambrecht
Ines Marie Westernstrรถer
Wolfgang Pregler
von den errettungen Was kommt nach der Flucht? Wie erlebt die Geflüchtete oder der Geflüchtete selbst seine eigene Existenz? Der in Sofia geborene Schriftsteller Ilija Trojanow reflektiert über die Zumutungen und Chancen eines Neuanfangs und darüber, wie die Flucht aus der Heimat das Leben für immer verändert. Trojanow floh mit seiner Familie 1971 über Jugoslawien und Italien nach Deutschland. Nach Stationen in Kapstadt, Kenia, Bombay lebt er nun in Wien. Seine Reflexionen sind ein gekürzter Auszug aus seiner Rede »Nach der Flucht – Gedanken über das restliche Leben«, mit der er Anfang des Jahres die Reihe »Dresdner Reden 2017« eröffnete.
Text Ilija Trojanow
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Heimatlosigkeit muss nicht falsch sein. Die Erzählung der Flucht wird meist aus dem Blickwinkel des Stillstands geschrieben. So wie die Sesshaften die Nomaden nie verstehen werden, können die vermeintlich Standfesten die Fliehenden nur missverstehen. Flucht kann allein aus der Bewegung heraus begriffen werden. Der Anblick von Flüchtenden beunruhigt die Sesshaften. Menschen auf der Flucht schleppen ihr Eigentum in einem Koffer, einem Rucksack, einer Plastiktasche, auf Schubkarren. Ihr ganzes Hab und Gut, wie der sesshafte Volksmund zu sagen pflegt. Aber es ist nicht ihr ganzes Hab und Gut, sondern eine eigentümliche Farce, das Wertvolle zusammengeschrumpft zu einer Einheit, die man auf dem eigenen Rücken tragen kann. Alles, womit der Sesshafte sich umgibt, wofür er sich ein Leben lang abschuftet, ist dahin und für immer verloren. Das Bild eines Flüchtlingstrecks offenbart das Überflüssige am Überfluss. Zwischen Herkunft und Ankunft erfolgt aus Sicht der Sesshaften eine bedrohliche Verrückung der Ordnungen, entsteht ein schwer überwindbarer Mangel. Ergo ist der Flüchtling ein Opfer, das unweigerlich Forderungen stellen, ein gefräßiges Kind, dessen Appetit wachsen wird. Wären die Flüchtlinge weniger Opfer, erschienen sie weniger bedrohlich. Aber die Wahrheit des Tages ist nicht die Wahrheit der Nacht. Flucht kann ein Akt des Widerstands sein. Eine Selbstermächtigung. Ein Aufbruch. Der Flüchtling kann ein Handelnder sein, ein Aktivist, ein Rebell, jemand, der sein Leben und das Leben seiner Nächsten den Klauen des Schicksals entrissen hat. Die Einteilung in Unschuldige und Opfer verharmlost die Geschichte. (...) Die offene Stadt, die der Welt zusprechende Hafenstadt, ist das Ideal des Geflüchteten. Wo jeder anlanden kann, wo alles verladen wird. Weil keiner weiß, in welchem Ballen, welcher Kiste, welchem Container Wertvolles auf Entdeckung wartet. Wo zur Flut das Meereswasser ins Land dringt und zur Ebbe das Süßwasser ins Meer hinaus fließt. Wer Bewegung zu teilen versucht, in reglose Bilder, in lebende Tableaus, in eine Abfolge von Wartesälen, der stellt die Bewegung an sich in Frage. Alle sitzen in einem Waggon. Die einen behaupten, der Zug rausche dahin, die anderen schwören, er sei abgestellt. Ein gefällter Baum wird zum Einbaum. Der Stamm ist tot. Wahrlich eine Entstammung. Einsteigen, das Wasser durchschneiden, andernorts uferwärts. Der Einbaum kann kentern, denkt sich der Geflüchtete, niemals aber Wurzeln schlagen. Was wäre, überlegt er bei ruhigem Rundschlag, wenn die Frage, wer er sei, von den Früchten abhinge? Was für eine
Identität können geschlagene Stämme aufweisen? Der Einbaum bewegt sich fort, dank Wasser und Wille, immerzu fort. Der Mensch in seinem Einbaum klammert sich an sein Paddel und verteidigt sein Recht, anlanden zu dürfen, ohne dazugehören zu müssen. Er trägt den Einbaum durch die Wüste, das Gewicht der Welt auf seinen Schultern, aber er wirft ihn nicht ab, weil er weiß, irgendwo stößt er wieder auf Wasser. Er schläft in dem Einbaum wie in einem Zelt. Er sitzt in dem Einbaum und navigiert anhand des Südsterns, unter dem Kiel Lavagestein, brüchige Brocken, fossile Flüsse.
»Heimkehr ist der größtmögliche Kulturschock.« Selten versuchen Geflüchtete durch eine Rückkehr in das Land ihrer Herkunft das Geschehene rückgängig zu machen. An Festtagen haben sie Jahrzehnte lang die Gläser zum Trinkspruch gehoben: Nächstes Jahr in Jerusalem! Als der Vorhang sich wider besseres Erwarten tatsächlich hebt und ein neues, ein längst ersehntes Jahr offenbart, bleiben sie sitzen. Schenken sich noch einen ein. Reiben sich die Illusionen aus den Augen. Prüfen wiederholt die Uhrzeit. Legen Geduld an den historischen Augenblick. Besuchen das Land ihrer Herkunft als Touristen, mit einem Rückflugticket in der Tasche. Heimkehr ist der größtmögliche Kulturschock. Es wäre für alle Beteiligten besser, die Rückreise würde Fremdkehr genannt werden. Nicht, dass Vorurteile auf Preziosen oder Unkenntnis auf Verwesung träfen, nein, der Türrahmen, durch den der Geflüchtete eintritt, ist niedriger als erwartet, die Beule am Kopf das erste Souvenir der Fremdkehr. Alles vermeintlich Bekannte erweist sich als Trug. Dem Vertrauten kann er nicht trauen. Als wachte er neben einem Nächsten auf, der sich über einer langen Nacht hinweg so sehr verwandelt hat, dass er vor Entsetzen aufschreit. In der doppelten Buchführung des Geflüchteten verwandelt sich Verlust durch Befreiung in Gewinn. So wie sich der Reisende nicht nur erleichtert, sondern auch bereichert, wenn er sein schweres Gepäck abwirft. Nicht allen gefällt die Unbeschwertheit. Manche betrauern ein Leben lang ihren Verlust. Er bemüht sich, die Sprache zu verändern. Jene Begriffe nachzubessern, die schlecht sitzen, wenn sie ihm übergestülpt werden. Seine persönliche Anpassung wandelt Hand in Hand mit der Anpassung der Neusprache. Dieser Sprache
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Foto Christian Muhrbeck
soll eines Tages anzumerken sein, formuliert er eingedenk all jener »Entwurzelten«, »Fremdstämmigen«, »Verlorenen«, die sich vor ihm in der vermeintlichen Ortlosigkeit ihrer Existenz verirrt haben, dass solche wie wir hier angekommen sind. Die Sprache soll Spuren unserer Anwesenheit aufweisen. (...)
»Wer nirgendwo dazugehört, kann überall heimisch werden.« Kann eine persönliche, intime Heimat überfremdet werden? Die Gefahr ist nicht, dass wir überfremdet werden, sondern dass uns die Fremde ausgeht. Der Versuch, eine allgemeingültige Heimat zu bestimmen, ist die Fortsetzung von Gewalt. Wer nirgendwo dazugehört, kann überall heimisch werden. Im Vertrauten herrscht Abstumpfung, in der Fremde werden die Sinne geschärft. Wer von Fremde umgeben ist, wacht über jede Begegnung, reißt die Augen weit auf, taumelt auf einem Drahtseil, schwingt auf einer Hängebrücke über den tiefsten Schlund seiner Wahrnehmung.
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Entfremdung ist ein Daseinszustand, aber auch eine Technik, Distanz eine wohlbedachte Positionierung. Das Glück, sich häuten zu dürfen. Aufzuwachen und kein Tagesprogramm zu erhalten. Nicht zu wissen, wo man sich befindet. Hinauszugehen ohne Ziel und Karte. Jeden nach dem Weg zu fragen, bis in jede Himmelsrichtung gedeutet worden ist. Zufällige Passanten bitten, zu beschreiben, was sie sehen. Sich anfreunden mit der Vorstellung, alle Flüge und Züge und Busse fielen aus und man sei zum Verbleib an diesem unwirtlichen Ort gezwungen. Kinder bei einem Spiel zusehen, dessen Regeln man nicht kennt. Entfremdung ist eine Übung in Demut, die das Selbstbewusstsein stärkt. (...) Seine Mutter, sein Vater, machen sich Sorgen über ihr fehlerhaftes Deutsch. Es mag hier und da grammatikalisch nicht korrekt sein, sagt er, aber alles, was ihr sagt, ist verständlich. Welcher von den Einheimischen, mit denen ihr regelmäßig verkehrt, beherrscht eine andere Sprache so gut wie ihr seine? Sollte man sich mit den Herausforderungen, die man anderen abverlangt, nicht erst einmal selber vertraut machen? Aber was ist mit unserem Akzent? fragt die Mutter, der Vater. Der Akzent ist die Handschrift der Zunge. Stellt euch vor, wir redeten alle wie Nachrichtensprecher. Wie Überbringer schlechter Botschaften. Der Akzent sorgt für die Schönheitsmale auf der Sprachhaut. (...)
Alter Grenzstein, altes Recht. Neuer Grenzstein, neues Recht. Ergo ist Ausgrenzung eine Entrechtung. Das gelebte Heimat-
gefühl hingegen, so komplex und vielfältig wie der einzelne Mensch, von bemerkenswerter Wandlungsfähigkeit, grenzt andere Menschen niemals aus. Nationalisten missachten den intimen Kern von Heimat. Sie setzen der persönlichen Weltbeziehung die Narrenkappe einer konstruierten Uniformierung auf. Sie suggerieren dem Einzelnen eine abstrakte Identität, die ihn zwar nicht durch den Alltag bringt, aber in den Krieg ziehen lässt. Die den Vorteil hat, leicht austauschbar zu sein. Vorvorvorgestern Preußen, vorvorgestern das Deutsche Reich, vorgestern die BRD/DDR, gestern Deutschland, heute Europa, morgen wieder Deutschland. Und danach?
»Nationalisten missachten den intimen Kern von Heimat.«
Der Fundus an kulturellen Universalien wächst, ohne dass wir zwangsweise alle gleich werden. Die freie Weltkulturschaft funktioniert erheblich besser als die freie Weltwirtschaft. Protektionismus in der Kultur hat stets zu einer Zerstörung der Kultur geführt. Wer das Eigene in einer Nische zu konservieren versucht, verkleinert es, banalisiert es. Kulturkonservatismus ist weltfremd, begreift nicht die Dynamik von Verschmelzung und Vermischung, die seit je zu kultureller Neuerung geführt haben. Traditionen müssen frei gewählt oder neu erfunden werden können. Ziel von Empathie ist nicht, den Anderen auf Teufel komm raus verstehen zu müssen. Dies bedeutete, ihm durch das Prisma der eigenen Wahrnehmung eine falsche Transparenz aufzudrücken, ihn auf eine Positionsangabe im eigenen Koordinationssystem zu reduzieren. Es beinhaltet aber sehr wohl, kulturelle Differenzen nicht zu verabsolutieren, sondern in ihnen ein wandelbares Potential zu erkennen. Es lebe die kulturelle Bewegungsfreiheit. Heimat existiert nur als Plural, wird sprachlich aber meist im Singular verwendet.
Die Menschheit kann nur kosmopolitisch überleben. Je ausgelaugter der Planet wird, desto stärker werden die Kräfte der Abgrenzung und Ausgrenzung den exterminatorischen Kampf um die verbliebenen Ressourcen anheizen. Alle zentralen Probleme können nur weltgemeinschaftlich gelöst werden. Der Nationalist im 21. Jahrhundert ist ein Apokalyptiker.
Erst wenn er sich von den Zuschreibungen der Herkunft und den Zumutungen der Ankunft losgelöst hat, ist der Geflüchtete wirklich frei.
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Yuri Englert
Benjamin Hรถppner
Katharina Schmalenberg
Johannes Benecke
Annika Schilling
Marek Harloff
AUF DEM WEG In der Spielzeit 2017/18 wird mit HEIMWÄRTS in der Regie von Stefan Bachmann zum dritten Mal ein Stück von Ibrahim Amir am Schauspiel Köln zur Aufführung kommen. Als Auftragswerk entstanden, ist das Stück eine Auseinandersetzung mit dem Thema Heimat und der eigenen Herkunft. Ein Portrait des aus Syrien stammenden und in Wien lebenden Autors.
Text Sibylle Dudek Fotos Mario Kiesenhofer
2600 Kilometer liegen zwischen Aleppo und Wien. Laut Routenplaner ist die Entfernung mit dem Auto in einem Tag und fünf Stunden zu schaffen oder zu Fuß in 21 Tagen und 22 Stunden. Der direkte Weg: Syrien, die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn, Österreich. Routenplaner wissen ganz offensichtlich nichts von einer Politik der Abschottung, von geschlossenen Grenzen, von hochgezogenen Zäunen und Lagern, in denen Menschen ihr Leben mit Warten verbringen. 2017 ist der direkte Weg nach Europa dicht. Und andersrum? Nach Syrien? Aber wer wollte schon in diesen Zeiten über die Balkanroute nach Syrien reisen? Hussein will. Es ist der letzte Wunsch eines Sterbenskranken. Mehr als sein halbes Leben war Wien sein Zuhause, aber sterben und begraben werden will er in seinem Heimatland. Und so macht sich ein Krankentransport nach Syrien auf. Mit dabei: Husseins Neffe Khaled, der Arzt Osman und die transsexuelle Sanitäterin Simone. Auf der Fahrt stirbt Hussein, und Ibrahim Amir lässt die Reisegesellschaft samt Leiche im türkischen Niemandsland stranden. Und dort lässt er sie zurück: in der tiefsten türkischen Provinz, konfrontiert mit einem ehrgeizigen Beamten, der in ihnen eine Ansammlung dubioser Individuen sieht. Erst recht, als im Land über Nacht der Ausnahmezustand ausgerufen wird. Jeder ist jetzt verdächtig. So geht es los, Ibrahim Amirs zweites Auftragswerk fürs Schauspiel Köln. Ein ausgebremster Roadtrip, eine Provinzposse, eine Heimatsuche, die in der fremdesten Fremde spielt. Das erste Mal treffe ich Ibrahim 2013 in Wien. Die deutsche Erstaufführung seines Stücks HABE DIE EHRE soll in der Regie von Stefan Bachmann am Schauspiel Köln herauskommen. Gerade ist das Theater umgezogen – vom Offenbachplatz in die neu geschaffene Spielstätte in Köln-Mülheim. Ibrahims »Parallelgesellschaftskomödie«, wie das Stück im Untertitel heißt, wurde an einem kleinen Theater in Wien uraufgeführt und ist dort schnell zum Publikumsrenner geworden. Es ist ein sehr lustiges, sehr böses Stück über Ehrenmord. Darf man über
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einsvondrei | Auf dem Weg
ein solches Thema eine Komödie schreiben? Und sie dann ausgerechnet in Köln Mülheim, unweit der Keupstraße, aufführen? Wird das in der türkisch geprägten Nachbarschaft nicht wie ein Affront aufgenommen werden? Spielt man damit nicht all jenen in die Hände, die den Untergang des christlichen Abendlandes prognostizieren – die Diskussionen um Sarrazins »Deutschland schafft sich ab« hallen 2013 noch nach. All diese Bedenken und gemischte Gefühle erzähle ich Ibrahim bei unserem ersten Treffen. Wir stehen vor seinem Lieblingscafé, dem Café Jelinek im 6. Bezirk, und er raucht Kette. Dabei sieht er sehr, sehr müde aus. Gerade kommt er von seiner Nachtschicht aus dem Krankenhaus, in dem er als Assistenzarzt arbeitet. Und jetzt also diese Dramaturgin aus Deutschland mit ihren Bedenken und gemischten Gefühlen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass er damit konfrontiert wird. Nein, es ist keine Komödie über Ehrenmord. Es ist ein Stück über patriarchalische Strukturen, über die perfide und zersetzende Logik des Begriffs der Ehre, über eine Parallelgesellschaft, die nach Regeln lebt, die keines ihrer Mitglieder mehr erfüllen kann und trotzdem niemand zu hinterfragen wagt. Und über eine Mehrheitsgesellschaft, die von den Zugezogenen vor allem eins will: dass sie ruhig und bestenfalls unsichtbar sind. Darf-man-das-Fragen stellt sich Ibrahim nicht. Vorsorgliche Selbstzensur aus Angst, die Political Correctness zu verletzen – das ist ein seltsamer Gedanke für ihn. Vielleicht weil er in seinem Leben schon hinreichend mit Zensur konfrontiert war, oder weil er einfach keine Furcht davor hat, sich zwischen die Stühle zu setzen. Das Dazwischen ist ein Ort, an dem er sich gut auskennt. Ibrahim Amir kommt 1982 in Aleppo zur Welt. Beide Eltern sind Kurden. Er hat drei ältere Schwestern, ein jüngerer Bruder kommt noch dazu. Die Familie lebt größtenteils in Aleppo, verbringt aber auch viel Zeit im Jahr in dem kleinen Heimatdorf der Großeltern, das in einem kurdischen Gebiet im Norden Syriens liegt. Das große Haus und Grundstück mit den Olivenbaumplantagen ist das Zuhause, in Aleppo zieht die siebenköpfige Familie ruhelos von einer Wohnung in die andere. Seine Mutter arbeitet seit ihrem siebten Lebensjahr als Schneiderin – eine Schule hat sie nie besucht. Der Vater, der einer wohlhabenden Familie entstammt, ist Landwirt. Sein Studium der Politikwissenschaft musste er gezwungenermaßen abbrechen, weil er sich aktiv für die Rechte der kurdischen Bevölkerung eingesetzt hat. Ibrahim lernt das von Anfang an, er wird damit groß: dass er einer Nation angehört, die rechtlich nicht anerkannt ist. Alles, was gemeinhin als »kurdisch« gilt, ist in Syrien verboten: öffentlich Kurdisch zu sprechen, sich politisch zu engagieren, die kurdische Kultur zu pflegen. Es braucht nicht viel in Syrien, um politisch in Ungnade zu fallen. Als Ibrahim elf Jahre alt ist, macht er die erste Begegnung mit Theater. Kurdische Aktivisten kommen ins Dorf und bieten für Kinder und Jugendliche ein Kulturprogramm an. Gemeinsam entwickeln sie ein Theaterstück und führen es vor der Dorfgemeinschaft auf. Es eröffnet sich dem Elfjährigen eine neue, wundervolle Welt. Eine Möglichkeit, die eigenen Gedanken
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und Gefühle auszudrücken. Diese Erfahrung hinterlässt einen tiefen Eindruck bei ihm. Nachdem er die Schule beendet hat, schreibt er sich in Aleppo an einer Fachhochschule für Theater und Schauspielkunst ein. Er spielt in Stücken mit, entwickelt mit anderen Theaterabende. Er ist am richtigen Platz, hellwach, mit einem feinen Sinn für Ungerechtigkeiten. Davon gibt es viele, zu viele, und er kann sie nicht ignorieren. Wie soll er sich nicht engagieren, politisch aktiv werden? Er schließt sich der kurdischen Studentenverbindung an und initiiert an der Universität eine Schweigeminute für die kurdischen Opfer des Giftgasangriffs im Nordirak. Eine Minute Schweigen, und er ist ein Dissident. Das bedeutet: Exmatrikulation, ohne Aussicht, jemals wieder in Syrien studieren zu dürfen. Er hat keine Zukunft in diesem Land, und er ist gerade mal zwanzig.
»Vorsorgliche Selbstzensur aus Angst, die Political Correctness zu verletzen – das ist ein seltsamer Gedanke für ihn.« Aus unserer Zusammenarbeit ist eine Freundschaft geworden. Inzwischen weiß ich einiges von Ibrahim. Ich weiß, dass er Wien sehr mag und die Wiener für ihren Sarkasmus schätzt. Ich weiß, dass er die offene Fremdenfeindlichkeit der FPÖ oder der Identitären in Österreich genau wahrnimmt, damit aber besser klarkommt als mit der Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft. Ich weiß, dass er nicht für »die Syrer« sprechen will. Er ist kein Stellvertreter, er will keine Stellvertreter-Stücke schreiben und auch keine Flüchtlingsdramen auf Bestellung. Ohne Humor geht es nicht. Das Schreiben nicht, das Leben nicht. Es ist bestimmt nicht immer ein Lachen aus purer Fröhlichkeit, manchmal ist es bitterböse, erschreckend unangebracht, aber es bleibt ein Lachen. Es ist der 29. September 2002, ein grauer Sonntag, als Ibrahim nach Wien kommt. Drei knappe Flugstunden liegt es von Aleppo entfernt. Die Straßen in Wien machen einen leeren, sehr sauberen Eindruck auf ihn, die Hausfassaden kommen ihm, größtenteils ohne Balkone, merkwürdig nackt vor. Zumindest einen Menschen kennt er in der Stadt – seinen Onkel. Er bewirbt sich für drei Studiengänge an der Universität, von denen er glaubt, dass es nicht so schlimm ist, dass er die fremde Sprache nicht beherrscht. Für Medizin bekommt er eine Zusage. Dann wird er also Arzt werden. Die ersten Monate sind hart: Er vermisst seine Familie, sein Zuhause. Er hat keine Freunde, nur seinen Onkel. Und die Versuche, sich mit seinen österreichischen Kommilitonen anzufreunden, wollen nicht glücken. Er hat das Gefühl, immer zeigen zu müssen, was für ein toller Ausländer er ist – tolerant und weltoffen und überhaupt ganz anders als andere Ausländer – damit sie seine Freundschaft akzeptieren. Das macht ihn müde. Und dann ist da ja
auch noch dieses Deutsch, fremd und unzugänglich. Er lernt die Sprache, indem er zu schreiben beginnt – von Anfang an auf Deutsch. Die Worte und Bilder kommen nicht einfach, es ist ein Kampf, anstrengend, aber auch lustvoll. Endlich hat er wieder die Möglichkeit, kreativ zu sein und gleichzeitig schreibend zu erkunden, wo er sich befindet. Am Anfang sind es vor allem Rückblicke: Fern von Zuhause erscheint ihm vieles in einem anderen Licht. Er erinnert sich an einen Ehrenmord in seinem Heimatdorf. Die Stimmung danach in der Gemeinschaft, die unterschiedlichen Lebensbedingungen von Männern und Frauen. Und er denkt an seine Mutter, die, aus armen Verhältnissen stammend, immer versucht hat, weiterzukommen, sich zu bilden. Viele Frauenfiguren in seinen Stücken haben Anteile von ihr. Ihr Mut, ihre Neugier und Kraft inspirieren ihn. Am Anfang entstehen vor allem Kurzgeschichten. Eine heißt IN JENER NACHT SCHLIEF SIE TIEF und handelt von dem blutigen Rachefeldzug eines jungen Mannes in Aleppo. Die Geschichte wird 2009 mit dem Exil-Literaturpreis der Stadt Wien ausgezeichnet, und er kommt in Kontakt mit den Wiener Wortstätten, einem interkulturellen Autorenprojekt. Ein Glücksfall: Hier findet er Unterstützung und die Ermutigung, ein Theaterstück zu schreiben. HABE DIE EHRE ist ursprünglich nicht als Komödie gedacht gewesen. Das Komische schleicht sich während des Schreibens ein und entsteht aus der Ausweglosigkeit der Situation, in der sich die Figuren befinden – vor allem aber aus der Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit. Wenn eine Figur in seinen Stücken als Verkünder einer Ideologie auftritt, ist ihr kein gutes Ende beschieden. Egal ob es sich dabei um einen selbstgerechten Prediger wie in STIRB, BEVOR DU STIRBST handelt oder um Aktivisten, die ihr Engagement für Flüchtlinge zur Stärkung ihres Egos brauchen wie in HOMOHALAL, das am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführt wurde. Nichts erregt bei Ibrahim mehr Misstrauen als ein geschlossenes Weltbild. Als in Syrien der Bürgerkrieg ausbricht, lebt Ibrahim schon fast zehn Jahre in Wien. Aus der Entfernung erlebt er die Zerstörung seines Landes, die gleichbedeutend ist mit dem Verschwinden der Orte seiner Kindheit und Jugend. Er verliert den Kontakt zu seinen Freunden in Aleppo. Ob sie noch leben? Die Stadt ist ein Trümmerhaufen, der Weg zurück abgeschnitten. Nur das Dorf der Großeltern ist noch da, gefährdet, aber da. Mit den Geflüchteten kommen viele Syrer nach Wien. Merkwürdig sei das, aber auch schön, sagt Ibrahim. Ein Stück Heimat gleich um die Ecke. Seine vier Geschwister leben jetzt in seiner Nachbarschaft. Im Januar ist sein Sohn als gebürtiger Österreicher zur Welt gekommen. Und er ist jetzt fertig mit seiner Ausbildung zum Arzt. Die nächsten Monate gehören ausschließlich dem Schreiben. Das Thema Heimat, die Suche nach Verwurzelung, Verortung hat er sich nicht ausgesucht. Es war immer schon da und findet zwangsläufig Eingang in seine Stücke. Ein Krankentransport fährt durch Europa, über die Balkanroute nach Syrien. Ibrahim lässt ihn nicht sein Ziel erreichen. Es gibt kein Ankommen, keinen glücklichen Abschluss. Aber es gibt die Suche danach.
»Am Anfang sind sie klein und grün.« In Berlin Hellersdorf legen die Berliner »Prinzessinnengärten« mit Anwohner*innen einen neuen Gemeinschaftsgarten an. Wir fragen Gründer Robert Shaw und Projektleiterin Svenja Nette im Schatten eines Strauches nach den Identitäten von Gemeinschaftsgärten, seinen Besucher*innen und den Pflanzen. Neben uns wird lautstark geschaufelt, gesägt und gehämmert.
Interview Melanie Kretschmann und Michaela Kretschmann
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Jeder Samen ist besonders, jeder Samen sieht anders aus. Wenn du sie aber säst und sie dann keimen, sehen sie zunächst alle gleich aus, das ist ein wenig wie beim Embryo, bevor es sich individuell entwickelt, oder? Na ja, es gibt einkeimblättrige, zweikeimblättrige und mehrkeimblättrige Sämlinge. Aber es stimmt, sie sehen sich am Anfang alle recht ähnlich. Man kann sagen, sie sind klein und grün. Was ist der Hauptgrund, dass eure Besucher sich mit dem Garten identifizieren? Hast du das Gefühl, dass der Umgang mit Erde, Wasser, Luft, mit Samen und Pflanzen die Menschen zu euch bringt? Ich denke, es ist sowohl das Interesse an Pflanzen, als auch an Menschen. Das sind die beiden großen Faktoren. Der eine kommt, weil er mehr Interesse an einem der Faktoren hat, findet dann aber heraus, dass ihn der andere auch sehr interessiert.
Foto Ole Kretschmann
Haben Pflanzen eine Identität? Svenja: So philosophisch am Anfang. Klar, viele Sorten haben eine wunderbare regionale Geschichte. Kennt ihr die von der schwäbischen Alplinse? Sie wurde auf dem Plateau der schwäbischen Alp angebaut. Irgendwann waren die kleinen Bauern nicht mehr produktiv genug, da ist die Linse von der Bildfläche verschwunden. Aber ein Liebhaber wollte sie wieder ansiedeln und hat ein paar Paketchen zufälligerweise in einem Saatgut-Institut in Russland gefunden. Er fragte sich, ob die wohl noch keimen – und es hat tatsächlich geklappt. Inzwischen gibt es wieder einen ziemlich großen schwäbischen Anbau, und es werden überall Kochevents mit der Linse gemacht. Ein anderes Beispiel ist die »Trail of Tears«-Bohne – der Name bezieht sich auf die Vertreibung der nordamerikanischen Ureinwohner. Sie haben die Krempen ihrer Hüte mit Erde gefüllt und die Bohnenpflanzen mitgenommen – so haben die Bohne und das Saatgut bis heute überlebt. Insofern tragen viele Pflanzen eine spezifische Identität.
Svenja Nette und Robert Shaw
einsvondrei | »Am Anfang sind sie klein und grün.«
Kannst du beschreiben, was das Initiationsmoment für die »Prinzessinnengärten« war? Robert hatte die Grundidee auf Kuba. Dort gibt es seit Beginn der 90er Jahre viele staatlich geförderte Gemeinschaftsgärten. Angefangen hat das Ganze in Berlin an einem Julinachmittag, die Aktion wurde zuvor im Stadtmagazin »Zitty« angekündigt. Marco und Robert hatten mit ein paar Leuten gerechnet, es kamen aber 150 Menschen zum Moritzplatz. Die Idee, dort einen Gemeinschaftsgarten zu gründen, gab es von Anfang an. Der Ort war gepachtet, es gab eine Absichtserklärung. Die Inhaltsideen haben sich im Laufe der Zeit dann immer wieder gewandelt. Ganz am Anfang stand noch die Frage: Können wir vom Gemüseverkauf leben? Wir haben häufig ein ganz verschobenes Verhältnis dazu, wie Essen angebaut wird und was es kostet. Das ist eine tolle Aufgabe des Gartens: Er kann das in Beziehung setzen. Es bedarf zum Beispiel sehr viel Arbeitskraft, um die geernteten Radieschen von der Erde zu befreien. Da ist es billiger, sie vom Naturkostgroßhandel zu kaufen. Das ist der Punkt in unserem Landwirtschaftssystem: Händische biologische Landwirtschaft ist unglaublich teuer – obwohl sie von den Inputs eigentlich viel billiger als nicht-biologische ist. Der Garten funktioniert darum als Referenzpunkt. Was bedeutet das Gärtnern für euch in einem Stadtteil wie Kreuzberg, der bekannt ist für das Aufeinandertreffen verschiedenster Kulturen und inzwischen auch die Gentrifizierung erlebt? Würdest du sagen, dass sich die Identität des Viertels seit dem Beginn des Projektes »Prinzessinnengärten« verändert hat? Es gab diesen einen Morgen, an dem wir das Schild »Gentrify this« am Garten hatten. Einer unserer Gärtner war aufgebracht und meinte, »Wir sind doch nicht gentrifiziert.«, aber wir haben uns angeschaut und gesagt, es ist gar nicht so klar, wer da jetzt was macht. Das ganze Viertel war damals im wirtschaftlichen Sinn sehr unterentwickelt. Auf dem Sozialatlas war es eines der schwächsten, was zum Beispiel Kinderarmut angeht. Zu der Zeit, als wir angefangen haben, hat sich auch das Viertel verändert. Es ist aber schwer zu sagen, ob wir eine Art Ausgleich oder auch Motor dafür sind. Wir haben das Viertel bestimmt attraktiver gemacht. Wir haben Arbeitsplätze geschaffen und wir haben viele kostenfreie Angebote. Viele Menschen aus der Nachbarschaft genießen die Gemeinschaft, sie freuen sich, etwas tun zu können – das ist ein Gegenelement zu der ganzen Gentrifizierung. Und trotzdem verkaufen wir auch einen Latte macchiato für 3 Euro. Knapp 60.000 Menschen kommen pro Saison, also von April bis Oktober, bei uns vorbei. Wer kommt zu euch in den Garten? Wenn man sich den Kreis der Aktiven anschaut, sind ca. 4050 regelmäßig da, sozialversichert sind wir ungefähr 13 Personen, der Rest sind Minijobber bzw. Honorarkräfte, auch Langzeit-Praktikanten. Ein Koch aus der Nachbarschaft, der Pflanzen liebt, oder Ayham, der in Syrien Landwirtschaft be-
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trieben hat und sich darüber wundert, wie wir das machen. Oft sind es Freunde von Freunden, die kommen. Und Touristen. Die besten Momente sind, wenn sich Begegnungen ergeben und Menschen aufeinandertreffen, die sich sonst nicht begegnen würden.
»Kein Garten scheitert am Gärtnerischen, sondern wirklich am Sozialen.« Zu erleben, wie eine Pflanze heranwächst, bindet Menschen unserer Erfahrung nach an den Garten. Wie ist das bei euch? Es hat ganz viel mit Zugehörigkeit zu tun. Bei uns gibt es keine Einzelbeete – wir sind für alle offen, jeder kann kommen und gehen, wann er will. Niemand hat die feste Verantwortung, dafür bindet man die Leute aber auch anders. Mir fällt da die Schweizer Praktikantin Beryl ein, die war unheimlich verliebt in die Tomaten. Sie hat sie hochgezogen und sie sahen toll aus. Sie waren ihr Stolz. Und dann kam eine amerikanische Praktikantin, hat nicht gut zugehört und hat einfach der Hälfte der Tomatenpflanzen die Köpfe abgeschnitten, weil sie dachte, so geizt man die aus – da hatte Beryl ernsthaft Tränen in den Augen. Die Pflanze ist ein Lebewesen. Es ist schwer, wenn man ein offener Ort ist, wo die Regeln manchmal gar nicht so klar sind. Das diskutieren wir auch viel. Es bildet sich eine kleine Gemeinschaft, und es ist die Frage, wie viel Freiheit lässt man dem Einzelnen, welche Regeln stellt man auf, wie setzt man sie um, wie kommuniziert man sie. Das ist ein andauernder Prozess bei uns. Auf jeden Fall, und das bleibt hoffentlich auch so. Man muss bedenken: Wo befindet sich der Garten, wie sind die Umstände? Wer identifiziert sich mit dem Garten? Wir bekommen oft Führungen von anderen Gärten und das ist spannend, weil man ganz andere Gartenkulturen erlebt. Ich kann mich an eine Gruppe erinnern, die eher traurig mitzuerleben war: Da gab es die klassische Entscheidergruppe und die anderen, die nach jedem Gartenschlauch betteln musste. Das war eine ganz fürchterliche Stimmung. Und ich glaube wirklich: Kein Garten scheitert am Gärtnerischen, sondern wirklich am Sozialen. Leute müssen das Gefühl haben, dass ihnen der Garten etwas bringt. Es wäre spannend, alle Besucher zu fragen, was sie dort hinbringt, was ihnen daran gefällt, was ihnen fehlt. Wenn Leute kein Verständnis haben für den Ort, dann wird er so genutzt, wie die Leute denken, dass er sei. Logischerweise. Wir haben auch oft Döner und Müll rumliegen und ärgern uns, aber wenn man mit den Menschen redet, dann sagen sie:
»Ach, ihr seid das! Das ist hier gar kein Park mit Aufräumern!« Wenn man das Verständnis schafft, dann begegnet man sich anders. Identitätsstiftendes Moment ist zum Beispiel eine gemeinsame Ansaat. Man kann in der Mittagspause eine Ansaat machen, das braucht 10 Minuten. Und wenn man dann in der nächsten Pause sieht, was aus dem Samen entsteht, bekommt die Arbeit im Garten eine andere Bedeutung. Emotionale Bindung ist wichtig. Und ein schönes Gespräch schafft auch Verbindung.
Politiker haben gemerkt, dass er nicht einfach verschwindet, also müssen sie damit umgehen lernen. Man kann nicht sagen, dass sie versuchen, das in ihre Systeme zu integrieren, sondern sie kommen nicht drumherum, dadurch ist es gewünscht. Aber eigentlich ist es deren Wunsch, so eine Fläche wie diese zu verkaufen, zu entwickeln … Ob sie sich da nun Leute ranholen, die diesen Garten anlegen, oder wenn es eine andere Mode gibt, etwas anderes, das ist denen nicht so wichtig.
Robert Shaw, Ideengeber und Mitgründer der »Prinzessinnengärten«, setzt sich zu uns.
Svenja: Das Thema »urban gardening« wird oft fehlinterpretiert bis überfrachtet mit Erwartungen, die es gar nicht erfüllen kann. Von »jetzt machen wir die ganze Stadt grün und eßbar«, was in Berlin nicht so gut klappt, bis …
Garten und seine Bedeutung haben sich in den letzten Jahrhunderten immer wieder verändert. Von gut gepflegten aristokratischen Gartenanlagen über Schrebergärten als Erholungsgebiete bis zu Selbstversorger-Ansprüchen der Hippie-Kommunen – der Garten hat je nach Kultur und Zeitepoche unterschiedliche Bedeutungen und Auswirkungen auf Menschen. Wo seht ihr den Ursprung des in den letzten Jahren in Großstädten vermehrt aufkommenden »urban gardening«? Ist das ein Mode-Phänomen oder steckt da mehr dahinter? Robert: So sind Städte entstanden. Menschen hatten eine Hütte und haben dahinter Selbstversorgung betrieben. Das gehörte zum Stadtbild. Mit zunehmender Diversifizierung von den Tätigkeiten in der Stadt ist das aber nicht mehr notwendig gewesen. Schrebergärten sind aus dem Gedanken der »Volksertüchtigung« entstanden und haben ziemlich geboomt, wurden bald institutionalisiert und mit einem Bundesschrebergartengesetz versehen. Und so gibt es immer neue Wellen. Versuche, den Garten auf immer neue Weise in die Stadt zu integrieren. In den 80er Jahren gab es in Berlin eine Hofgartenwelle – in Köln vielleicht auch? Die Bezirke haben das gefördert und den schönsten Hofgarten prämiert. »Urban gardening« probiert das auf eine andere Weise. Zumindest, wenn es interkulturelle Gemeinschaftsgärten sind – und das sind die meisten von denen, die seit 2009 entstanden sind. Jetzt ist der wesentliche Unterschied: Leute teilen sich die Pflege eines Ortes und verbinden das mit Politischem, mit Gemeinschaft – im Zentrum steht aber trotzdem der Garten. Das scheint mir das Neue daran zu sein. Ein Schrebergarten ist kein politisches Ziel, der basiert im Wesentlichen auf Privatheit. Das gemeinschaftliche Gärtnern scheint mir ein Versuch zu sein, der seit ein paar Jahren ganz gut läuft. Ist die Politik inzwischen darauf eingestellt, dass es Gemeinschaftsgärten braucht – als Gegenpol zu einer Stadt, die immer weniger Grünflächen hat? Nutzt sie das? Robert: In Hellersdorf sind wir ja quasi mit politischem Auftrag, der Bezirk hat uns gefragt. Das gemeinschaftliche Gärtnern ist eine Art Trend, der sich durchgesetzt hat, wenn man nach acht Jahren schon davon sprechen kann. Die
»Wenn Gob Squad ein Theaterstück macht, das heißt ›Revolution now‹, dann folgt darauf ja auch keine Revolution.« Die ist gar nicht so essbar, die Stadt, wie behauptet wird … Robert: Das ist ja überall so, wenn Gob Squad ein Theaterstück macht, das heißt »Revolution now«, dann folgt darauf ja auch keine Revolution. Svenja: Was den Alltag betrifft, werden Gemeinschaftsgärten wiederum auch oft unterschätzt, als kleines niedliches grünes Hippie-Projekt angesehen – da wird oft nicht gesehen: Wir haben ziemlich viele Arbeitsplätze geschaffen und 60.000 Besucher pro Saison. Solche Sachen werden nicht wahrgenommen. Da gibt es auch keinen Dialog mit der Politik? Robert: Na ja ... Ich weiß noch, der erste echte Kontakt war 2011 in der Stadt Heerlen. Das ist eine alte, kleine Bergbaustadt bei Aachen. Da sollte ich zusammen mit Studio C die Stadt beraten. Riesige Flächen in der Innenstadt waren da, die Stadt war leer, weil alle weggezogen waren – und da wollten sie beraten werden, wie man das mit »urban gardening« besser machen kann. Sie haben uns in einem Büro ohne Fenster empfangen, mit einem riesigen Stadtplan. Sechs Leute in sechs Karohemden mit sechs Brillen fragten dann: »Jetzt erklärt uns mal, wie man das so macht«. Wir sagten dann, »Also machen müsst ihr das, wir können ja nur beraten. Können wir da mal hinfahren?« Der top-down Herangehensweise, die so große Behörden haben, fehlt der Alltag. Das verstehen die nicht, müssen sie aber auch nicht. Nur das Ergebnis zählt. Wenn Leute herkommen und der Ort
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belebt wird – was das dann genau ist, das ist der Politik nicht klar, glaube ich. Dabei ist es doch eigentlich der Ursprung der Politik, etwas gemeinsam mit verschiedenen Leuten entstehen zu lassen. Robert: Genau, aber der entscheidende Punkt ist, es ist eben nicht institutionalisiert. Svenja: Und das verstehen nicht alle. Wir werden ja immer wieder gefragt von verschiedenen Gruppen, »Wie macht man das?« Und das ist jedes Mal anders. Bei euch ja auch.
»Der Garten ist politisch, ohne direkt politisch sein zu müssen. Einfach dadurch, dass man Dinge zusammen tut, dass man versucht, andere Wege zu gehen.« Ihr seid vor vier Jahren unsere Mentoren gewesen, habt mit uns die ersten Workshops gemacht zum Thema Ansaat und zum Bau der Hochbeete und mit uns zusammen das Grundgerüst im Garten aufgebaut. Wir mussten mit dem CARLsGARTEN aber auch schnell eigene Entscheidungen treffen, da jeder Ort andere Gegebenheiten hat und somit andere Ansprüche stellt. Wie interpretiert ihr eure Rolle als »Mentor«? Robert: Wir haben insgesamt ca. 120 Projekte angestoßen. Und es gibt zwei verschiedene Arten, wie wir arbeiten. So wie hier zum Beispiel: Wir bauen am Anfang den Garten mit auf, dann sind wir aber weg. Und wissen gar nicht, wie der Alltag aussieht. Bei euch ja auch nicht. Chillen da hauptsächlich die Leute vom Haus? Oder gießen die sogar? Kommt da der Nachbar? Das wissen wir nicht. Worauf es immer wieder ankommt, ist am Anfang den Prozess zu etablieren. Man weiß nicht genau, was passiert, darum kann man keinen Plan dafür machen – weil man spontan reagieren muss. Und das innerhalb bestimmter Rahmen ... (Jemand schlägt donnernd Löcher in eine Metalltonne. Alle drehen sich abrupt um. Robert kommentiert:) Man kann das Werbetrommel nennen. Der macht das immer so wild, wenn er so ganz weit ausholt. Womit wir wieder beim Thema Toleranz wären. Jeder macht es auf seine eigene Weise … Robert: Ich weiß noch, da waren wir noch ganz am Anfang, 2008 oder 2009. Es war Wahlkampf und es gab noch kein Grundstück, nur dieses Konzept und eine Grundstücksuche.
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Da kam eine E-Mail von einem Sekretär von Müntefering, der war damals noch SPD-Vorsitzender, er würde gerne Schirmherr für den Garten werden. Und wir: »Na ja, hilft uns das jetzt, eine Fläche zu finden für den Garten?«. Die Antwort: Nein, aber man könne ja damit werben. Ein paar Jahre später kam Renate Künast mehrmals in den Garten und wollte Parteiwerbung machen. Also, ich glaube, der Garten ist politisch, ohne direkt politisch sein zu müssen. Einfach dadurch, dass man Dinge gemeinsam tut, dass man versucht, andere Wege zu gehen. Allein, dass man das tut, dass man Gemeinschaftsbeete definiert, dass man Gemeingüter definiert, damit ist man schon politisch. Dann fragen wir auch dich zum Schluss noch: Haben Pflanzen eine Identität? Robert: Klar! Wenn ich sagen will, wie ich leben möchte, dann bedeutet das: Wie gehe ich mit anderen um? Und dazu gehören nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Pflanzen. So gehen die dann auch mit mir um – im Sinne von Ernährung. Viel mehr ist es nicht: Wie gehe ich mit anderen und mit meiner Umwelt um? Und natürlich hat diese eine Identität. Ich muss sie einfach nur ankucken und mir ein bisschen Zeit nehmen, dann weiß ich das.
Der CARLsGARTEN befindet sich vor dem Depot, auf dem Carlswerkgelände in Köln-Mülheim. 2013 legte eine Gruppe von Mitarbeiter*innen der Bühnen Köln unter Anleitung der Prinzessinnengärten die ersten Samen in die Erde der selbstgebauten Hochbeete. Seitdem hat sich die 2500 qm große Fläche zu einer grünen Oase entwickelt. Infos zu aktuellen Aktionen im Garten unter www.carlsgarten.koeln
Die Prinzessinnengärten befinden sich am Moritzplatz in BerlinKreuzberg. 2009 räumten die Gründer Robert Shaw und Marco Clausen die 6000 qm große Brachfläche mit Hilfe Freiwilliger auf und begannen, den inzwischen europaweit bekannten Gemeinschaftsgarten anzulegen. Pro Gartensaison kommen ca. 60.000 Besucher*innen. Sie haben bundesweit bisher ca. 120 urbane Gartenprojekte angestoßen.
Martin Reinke
Birgit Walter
Seรกn McDonagh
Nicola GrĂźndel
OFFENBACH PLATZ Einjährigen Geburtstag feiert die Außenspielstätte am Offenbachplatz mit Beginn der neuen Spielzeit 2017/18. Die vier Kurator*innen Andrea Imler, Pınar Karabulut, Matthias Köhler und Charlotte Sprenger, die nun in Zukunft als freie Theaterregisseur*innen arbeiten werden, hatten die Spielstätte mit der Eröffnung im vergangenen Jahr auf den Namen BRITNEY getauft. Mit großer Verve und Energie haben sie gemeinsam ein spektakuläres Programm gestaltet und in der Spielstätte eine einzigartige Atmosphäre geschaffen. Das möchten wir in dieser Spielzeit fortführen. Uraufführungen, deutsche Erstaufführungen, Gastspiele, Vernetzungen und Kooperationen mit Künstler*innen aus Köln und Umgebung, Ausstellungen, Konzerte und Gespräche bestimmen weiterhin das Programm. Damit bleibt die Außenspielstätte BRITNEY, eine Bastion für innovative Produktionen am Offenbachplatz. 63
Spielstätten depot Depot 1, Depot 2, Grotte und CARLsGARTEN im Carlswerk in Köln-Mülheim | Schanzenstraße 6-20 | 51063 Köln-Mülheim
OFFENBACHPLATZ Außenspielstätte am Offenbachplatz | 50677 Köln
Kartenservice in den Opernpassagen
PREISE
Kooperationspartner
Depot 1: Je nach Preis- und Platzgruppe kostet eine Karte zwischen 10 und 39 Euro. Depot 2: 17 Euro | 22 Euro (Premierenpreis) Grotte: 5 Euro Außenspielstätte am Offenbachplatz: 17 Euro | 22 Euro Schüler und Studenten zahlen im Vorverkauf 50% des regulären Kartenpreises oder an der Abendkasse nur 7 Euro. Dies gilt auf allen Plätzen in allen Spielstätten (außer Gastspiele und Sonderveranstaltungen).
KARTEN Den Karten- und Aboservice finden Sie in den Opernpassagen zwischen Breite Straße und Glockengasse. Öffnungszeiten Theaterkasse Mo bis Fr von 10 bis 18 Uhr, Sa von 11 bis 18 Uhr Tickets gibt es außerdem unter www.schauspiel.koeln, über die Tickethotline 0221-221 28400 oder per Mail an tickets@buehnen.koeln
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IMPRESSUM Herausgeber Schauspiel Köln / Intendant Stefan Bachmann Geschäftsführender Direktor Patrick Wasserbauer / Redaktion Intendanz · Dramaturgie · Öffentlichkeitsarbeit und Künstlerisches Betriebsbüro / Konzept, Satz und Gestaltung ambestengestern.com / Druck Köllen Druck und Verlag GmbH / Auflage 40.000 / Redaktionsschluss 08.05.2017 Änderungen vorbehalten.
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Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Bühnen Köln finden Sie unter www.schauspiel.koeln im Menüpunkt »Karten«. Die angegebenen Preise verstehen sich zzgl. 10 % Vorverkaufsgebühr.
Tanz Am Schauspiel köln!
Robyn Orlin | And so you see…our honorable blue sky and ever enduring sun…can only be consumed slice by slice… 28 . | 29. September 2017 | Depot 2
ultima Vez | In spite of Wishing and Wanting | Wim Vandekeybus 19. | 20. oktober 2017 | Depot 1
Gauthier Dance I Mega Israel I Sharon Eyal & Gai Behar, Hofesh Shechter, Ohad Naharin 08. | 09. dezember 2017 | Depot 1
Sasha Waltz & Guest I Sasha Waltz I Allee der Kosmonauten 06. | 07. januar 2018 | Depot 1
Richard Siegal / Ballets of Difference I Triple Bill (AT) Richard Siegal 22. | 23. | 24. februar 2018 | Depot 1
Michael Keegan Dolan I Swan Lake / Loch na hEALA 10. | 11. | april 2018 | Depot 1
Rosas I A love supreme I Anna Teresa De Keersmaeker, Salva Sanchis Foto Nadir Bonazzi
11. | 12. | 13. | mai 2018 | Depot 2
Eastman I Apocrifu I Sidi Larbi Cherkaoui 20. | 21. juni 2018 | Depot 1
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