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MITTEN IN GESCHICHTE

ist unser Motto für die vorliegende Spielzeit. Wie die Gegenwart zu gestalten ist und wie wir die Zukunft angehen, ist eine große gegenwärtige Frage. Und das letzte Jahr hat dabei deutlich gemacht, wie sehr die Gegenwart bestimmt wird von der Vergangenheit.

Umso mehr bilden Stücke unseren Spielplan, die Gegenwart und Vergangenheit miteinander kurzschließen können, die die Verbindung zur Vergangenheit aufrechterhalten und gleichzeitig Impulse und Blickrichtungen für die Zukunft geben.

Wir sind umgeben von vielen Debatten und Aushandlungsprozessen: auf gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer und ökologischer Ebene, und das sowohl national als auch international. Es geht um Fragen gesellschaftlicher Gestaltung und Gerechtigkeit, um den Bestand demokratischer Prinzipien, um Wirtschaftsordnungen und Weichenstellungen der Klimapolitik.

Debatten, in denen sich vehemente Meinungen und Standpunkte begegnen; Debatten, die sich in hoher Dynamik vollziehen. Mitten um uns herum. Und wir alle stehen der Herausforderung gegenüber, diese Dynamiken auszuhalten und diese Debatten zu führen, zu sortieren, zu filtern während sie fortlaufen, ohne zu einer schnellen Klärung zu kommen. Das sind andauernde Prozesse.

Während die Corona­Pandemie noch für Nachwirkungen sorgt, steht die Gesellschaft vor einer Realität, die bestimmt wird durch Ereignisse wie einen Krieg in Europa, die Gestaltung zukünftiger Energieversorgung, Inflation oder das forsche Auftreten autoritärer Tendenzen weltweit.

Diskutiert wurde und wird dabei mittlerweile auch stark über den Blick zurück. „2022 ist nicht 1989“, das war nicht zuletzt in Ostdeutschland als Klarstellung auf vielen Plakaten im vergangenen Jahr zu lesen. 2023 ist nicht 1923 und dennoch nehmen viele Publikationen das Jahr 1923 in den Blick, in dem Kipp ­Punkte auszumachen sind für die deutsche Geschichte, wie sie sich dann 1933 bis 1945 entwickelte.

Danach prägte der Kalte Krieg die Welt und nicht zuletzt unser Land für Jahrzehnte. Aber mit den Ereignissen und Entwicklungen der Jahre 89/90 schien es nicht wenigen, dass die Zeit des konfrontativen Lagerdenkens überwunden war. So unterschiedlich gravierend die Auswirkungen dieser Veränderungen und Entwicklungen für Ost­ und Westdeutschland waren, die Zeit und das Denken in den Kategorien des Kalten Krieges schienen vorbei. Der Weg schien offen für eine Ordnung der Welt jenseits dieser Kategorien. Vom „Ende der Geschichte“, wie es damals hieß, kann 2023 keine Rede mehr sein.

Wir sind 2023 mittendrin in Geschichte, die jetzt verhandelt und gestaltet wird. Dabei haben die zurückliegenden Monate deutlich gemacht, wie sehr die Gegenwart bestimmt wird durch die Vergangenheit ob wir das wollen oder nicht. Und ebenso legen die Debatten und Entscheidungen unserer Gegenwart auch das Fundament für die Zukunft.

Zu Saisonbeginn nimmt „Cabaret“ eine Zeit in den Blick, in der sich gesellschaftliche Entwicklungen und Gegensätze scharf überlagerten. Brechts groteske Parabel „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ nähert sich der gleichen Zeit aus anderer Richtung und verfolgt, wie sich über eine Weltwirtschaftskrise die unvorstellbare Karriere eines Chicagoer Klein­ Gangsters zur großen Herrschaft entwickelt.

Die Bühnenfassung von Uwe Johnsons JahrhundertRoman „Jahrestage“ komplettieren wir mit einem zweiten Teil, der die Zeit des Prager Frühlings mit den Entwicklungen in der DDR und dem Leben Gesine Cresspahls in den USA des Vietnamkriegs zusammenbringt.

In der Diskothek wird die Autorin Amanda Wilkin an ein vergessenes Kapitel schwarzer Musikgeschichte in der Klassik erinnern, und Wolfram Hölls Figuren unternehmen eine Familienfahrt in ein Schweizer Bergdorf, in dem Vergangenheit und Gegenwart sich ineinanderschieben.

Mit der Geschichte von Johann Christian Woyzeck brachte Georg Büchner Leipzig mitten auf die literarische Weltkarte. Auf der Bühne und in der Stadt selbst nähern wir uns Realität und Fiktion dieses Klassikers, in dem gesellschaftliche Fragen und Themen liegen, die bis ins Heute führen.

Das performative Programm der Residenz spannt sich von postkolonialen Fragestellungen zu Rahmensetzungen gegenwärtigen Zusammenlebens, sowohl global als auch lokal betrachtet, und bewegt sich vom Tanzen über das, was nicht gesagt werden kann, bis zum Flüstern über das, was ungesehen bleiben soll.

Auf diesen und noch vielen anderen Wegen wollen wir die Spielzeit „Mitten in Geschichte“ angehen. Eine Spielzeit, in der weitere Weichenstellungen zu erwarten sind: weltweit, national oder auch konkret in Sachsen mit Kommunal­, Europaund Landtagswahlen in 2024.

Wie in den vergangenen Jahren werden wir auch diese Spielzeit und ihre Themen mit der Gesprächsreihe in der Moderation von Jens Bisky begleiten. Zuletzt war in der Reihe im März 2023 der Soziologe Stephan Lessenich, Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, zu Gast. Er sah ein „nervöses Zeitalter“ auf uns zukommen und konstatierte, wie weit die gegenwärtigen Verunsicherungen in die Mitte der Gesellschaft hineinragen.

Sehnsucht Nach Normalit T

Stephan Lessenich: Für Europa und auch für Deutschland an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde rückwirkend die Diagnose des „nervösen Zeitalters“ gestellt. Damals wurden Gewissheiten in Frage gestellt, das bisher Gängige und Gewohnte erschien plötzlich als nicht mehr praktikabel. Bis hin dazu, dass auch Krieg zum Bestandteil des Alltags wurde, oder jedenfalls zum potenziellen Bestandteil.

Solch ein nervöses Zeitalter erleben wir auch gegenwärtig: Es gibt eine untergründige Ahnung davon, dass sich die Dinge so nicht werden halten lassen, dass sie nicht fortgeschrieben werden können. Aber gleichzeitig gibt es den existenziellen Wunsch, dass es doch möglich sein möge, dass man die Verhältnisse doch in die Zukunft verlängert wissen möchte.

Es gibt eine innere Zerrissenheit zwischen dem Wissen um die Unhaltbarkeit der Dinge und dem intensiven Verlangen, an ihnen festzuhalten. Und diese Verunsicherung scheint mir nicht auf bestimmte Milieus beschränkt zu sein. Es zeigt sich, dass diese Konstellation wirklich tief in die Mitte der Gesellschaft geht: die Erfahrung, dass die Normalitäten bröckeln und brüchig werden.

Sehnsucht Nach Selbstverwirklichung

Publikum : Sie haben davon gesprochen, dass es eine Verschiebung gibt zwischen einer alten Mittelschicht, die auf Werte setzt wie Disziplin, Ordnung, Pünktlichkeit, und einer neuen Mittelschicht, die von der 68er­Bewegung inspiriert ist und mehr auf Individualität und Selbstverwirklichung setzt. Für Pegida sind ja die 68er ein großes Feindbild, und die Querdenken­Bewegung wirkt ein bisschen wie die Fortsetzung aus Richtung der 68er. Ist da nicht ein großer Unterschied?

Carolin Amlinger: Tatsächlich haben die meisten Personen, die wir aus der Querdenken­ Szene befragt haben, nur wenig mit klassischen Rechtspopulisten gemein. Sie sind vorrangig in sozialen Milieus verortet, die Grundorientierungen von Selbstwirksamkeit, Authentizität oder Selbstbestimmung hab en. Werte, die mit den 68ern in die Mitte der Gesellschaft eingewandert sind. Allerdings sind sie nicht mehr zwingend an ein Emanzipationsversprechen rückgebunden. Die Befragten werten eine hedonistische Lebensführung hoch, haben aber auch eine starke Leistungsorientierung und teilweise das Selbstverständnis, zur gesellschaftlichen Elite zu gehören.

Wir fanden es deswegen wichtig, die Querdenken­Bewegung vom klassischen Rechtspopulismus abzugrenzen: Das sind nicht die gleichen Leute, die bei Pegida mitmarschiert sind, auch wenn es regional Überschneidungen geben mag.

Was die Personen, die gegen die Corona­Maßnahmen auf die Straße gegangen sind, eint, ist einerseits ein liberales und aufgeklärtes Selbstverständnis und andererseits eine grund legende Kritik am Staat. Aber die Proteste sind nicht mehr rückgebunden an einen visionären Entwurf, wie Gesellschaft anders sein könnte, wie wir gemeinsam anders leben könnten. Sondern es beschränkt sich oft auf ein absolutes Recht auf Selbstbestimmung, verbunden mit der Pose des reinen Dagegenseins: gegen Staat, Medien und Eliten.

Sehnsucht Nach Klarheit

Jens Bisky: Wie geht man vernünftig mit „Alternativen Fakten“ um? Sie wirken wie Blendgranaten, heißt es in Ihrem Buch, sie sollen dazu dienen, Konflikte zu verdrängen.

Nils C. Kumkar: Ein erster Schritt wäre, die Aufregung über diese Idee der „Krise der Wirklichkeit“ runterzukochen. Denn wir haben wahrscheinlich noch nie so sehr in einer miteinander geteilten Wirklichkeit gelebt wie heute.

Vor 100 Jahren habe ich als Winzer in der Mosel­Region definitiv kein Fitzelchen Lebensrealität preußischer Landarbeiter mitbekommen. Und eigentlich ist das lange auch so geblieben, nämlich bis zur massenmedialen Durchdringung der Gesellschaft im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts. Ab dann haben die Leute zwar dieselbe Realität wahrgenommen wie sie aber im Einzelnen damit umgegangen sind, wissen wir nicht wirklich. Das ändert sich mit dem Aufstieg von Social Media.

Aber die Idee, die Leute würden jetzt, weil sie auf Facebook sind, in Filterbubbles leben, die ist Quatsch in meinen Augen. Die Leute haben immer in Filterbubbles gelebt. Nur: Die Leute haben sich dabei gegenseitig noch nie so sehr wahrgenommen wie jetzt auf Facebook & Co. Und das ist das Problem: Sie beobachten sich jetzt bei sehr unterschiedlichen Lebensweisen und sind deswegen wahnsinnig aufgeregt. Aber keine Wirklichkeit der Welt hat die Bevölkerung je komplett durchdrungen, und das ist auch nicht schlimm.

Aber es ist so viel über das Verhältnis aller zur Wirklichkeit geredet worden, dass über die Wirklichkeit selber kaum gesprochen wurde. Was sind die Probleme, mit denen wir uns nicht beschäftigen, während wir über alternative Fakten sprechen? Worüber man viel, viel offensiver reden muss, sind die Konflikte, vor allem Interessenkonflikte, die genau durch alternative Fakten verdeckt werden.

Expertengespr Che

Unter dem Titel „Wirklichkeiten 23“ diskutierte der Publizist Jens Bisky („Mittelweg 36“ / Hamburger Institut für Sozialfor schung) die Kontroversen und Sehnsüchte, die die gegenwär tigen Debatten in der Gesellschaft begleiten.

Von Januar bis März 2023 waren seine Gäste Carolin Amlinger (Universität Basel), die gemeinsam mit Oliver Nachtwey über die Querdenken­Bewegung geforscht hat („Gekr änkte Frei heit“), Nils C. Kumkar (Universität Bremen), der sich mit dem Phänomen der „Alternativen Fakten“ in den USA u nd hierzulande befasst hat, sowie Stephan Lessenich vom Frankfurter Institut für Sozialforschung, dessen Essay „Nicht mehr normal“ sich mit den Hoffnungen auf Normalisierung auseinandergesetzt hat.

Die Gäste und Termine für diese Spielzeit werden später bekannt gegeben.

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