Ausgabe 19 | Februar 2016
Bremens freies Unimagazin
Schule, Studium, Flucht - und jetzt? Junge GeflĂźchtete in Bremen
Die ZwischenZeitZentrale
Was passiert mit den BAfĂśG-Geldern?
INHALT KURZMELDUNGEN
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HOCHSCHULPOLITIK AS / SR Der Fluch des Geldsegens Die Campusdebatte - Teil I Die Campusdebatte - Teil II
CAMPUSLEBEN Bachelor of Life1 LiteraTour Nord Junge Geflüchtete in Bremen Ehtnografische Filmtage Agenten der Arbeitslosigkeit
BREMEN Straße in Bremen ZwischenZeitZentrale Straßenmusiker in Bremen Pestizide in Lebensmitteln
FEUILLETON Ein bisschen Bi schadet nie Eine magische Verbindung Musik als Heilmittel Interview mit Vea Kaiser
IMPRESSUM
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EDITORIAL
Liebe Kommilitoninnen, liebe Kommilitonen! wenn ihr diese Zeilen lest, sitzt Ihr normalerweise in der Mensa und haltet die neue Ausgabe des ScheinWerfer ausgedruckt und in Farbe in Euren Händen. Bei dieser Ausgabe ist alles anders: Die Ausgabe ist in schwarz/weiß und wird vorerst nur online erscheinen. Grund dafür ist das neue Pressekonzept, das der, von allen Studierenden gewählte Studierendenrat Ende Oktober 2015, beschlossen hat. Darin ist festfegelegt, dass der AStA ein Jahresbudget von zehntausend Euro für alle Publikationen von Studierenden zur Verfügung stellt. Damit hat sich der Anteil, der auf den ScheinWerfer entfällt, deutlich reduziert und es stehen zur Zeit keine Mittel für den Druck unserer zweiten Semesterausgabe zur Verfügung.
Flüchtlinge berichtet; Geflüchtete selbst kommen dabei nur selten zu Wort. Wir haben uns mit Geflüchteten getroffen, die in den Großraumzelten in der Nähe der Uni wohnen und sie nach ihrem Leben hier in Deutschland und ihren Hoffnungen für die Zukunft gefragt. Auch in Bremen waren wir unterwegs: Unser Autor hat die ZwischenZeitZentrale besucht, die leerstehenden Gebäuden neu zum Leben erweckt, bis sie weiter vermietet oder verkauft werden. Das Land Bremen hat neues Geld zur Verfügung, seitdem der Bund beschlossen hat, die Finanzierung des Bafögs zu übernehmen, stehen den Länder mehr Gelder für den Bildungsbereich zur Verfügung. Unsere Autorin forscht nach, ob diese Mittel wirklich, wie angekündigt, für die Bildung eingesetzt werden.
Aber auch beim digitalen Blättern werdet Ihr auf spannende Beiträge stoßen. In der letzen Zeit wird in allen Medien über
Wir wünschen Euch schöne Semesterferien und viel Spaß beim Lesen!
Lina Schwarz
Annika Papenbrock
Bei Fragen, Anregungen oder Kritik erreicht Ihr uns unter: - scheinwerfer@uni-bremen.de - www.facebook.com/scheinwerfer.bremens
Weitere Artikel und aktuelle Themen findet Ihr zukünftig auch hier: Scheinwerfer.uni-bremen.de
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Kurzmeldungen Uni Bremen goes Discounter
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eues zu den geplanten Einkaufsmöglichkeiten auf dem Universitätscampus: Bereits im April des Jahres 2014 ließ die Uni verlautbaren, dass auf dem Gelände die Errichtung eines Einkaufskomplexes geplant sei. Der Bau ist direkt auf der dafür bereits vorbereiteten Fläche an der Haltestelle Lise-Meitner-Straße vorgesehen. In dem Komplex sollen sich unter anderem ein bekannter Discounter, der das Unterfangen auch finanziert, sowie ein Bio-Supermarkt ansiedeln. Ursprünglich hätte bereits Ende des vorvergangenen Jahres mit dem Bau begonnen werden sollen. Aufgrund interner Verzögerungen liegt die Wiese bis heute brach. Nun heißt es, die Planung habe sich verändert. Laut einer aktuellen Mitteilung der Universität Bremen soll der Komplex größer ausfallen, als zum damaligen Zeitpunkt beschlossen. Um diesem Wunsch zu entsprechen, brauche es jedoch ein neues Planungskonzept. Nachdem die Universität diese Mitteilung auf ihrer Facebook-Seite veröffentlicht hat, kam es unter dem Beitrag zu einer regen Diskussion. Studierende bemängelten, dass hier Wirtschaftsförderung betrieben werde, wo es eigentlich bezahlbaren Wohnraum für Studierende brauche. Andere bewerteten die Ausweitung günstiger Einkaufsmöglichkeiten in direkter Nähe als positiv. Von der Uni selbst hieß es lapidar, dass das Gelände der Stadt gehöre. Kurzum läge der Bau nicht in der Verantwortung der hiesigen Akteurinnen und Akteure. Die lange Planungszeit bedenkend ist ohnehin fraglich, inwieweit die derzeit Studierenden noch vom Bau profitieren oder benachteiligt werden. Anders verhält es sich freilich mit den nachfolgenden Kohorten.
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Ehrung für Refugees Welcome
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ur Würdigung ihres Engagements bezüglich der Situation von Geflüchteten an der Uni Bremen haben Universitätsrektor Dr.-Ing. Bernd Scholz-Reiter und der Vorstand der „unifreunde“ die studentische Arbeitsgemeinschaft „Refugees Welcome“ ausgezeichnet. Die Auszeichnung ist mit 1.000 Euro dotiert und wurde im Dezember des vergangenen Jahres verliehen. Nachdem auf dem Campus der Universität im Sommer des vergangenen Jahres Notunterkünfte für Geflüchtete errichtet worden sind, fanden sich alsbald einige Dutzende Studierende, um die dort untergebrachten Menschen zu unterstützen. Neben sportlichen Aktivitäten und Deutsch-Kursen, die ebenfalls allesamt ehrenamtlich angeboten werden, begleiten die Engagierten die Geflüchteten auch zu medizinischen Terminen wie zu Ämtern und Behörden. Neben den aktiven Studierenden bieten beispielsweise auch der Verein für Hochschulsport und ebenso die Staats- und Universitätsbibliothek den Geflüchteten ihre Dienste und Möglichkeiten an. Weitere Informationen über studentische und universitäre Unterstützungsangebote für Geflüchtete: AG Refugees Welcome an der Uni Bremen https://www.facebook.com/RefugeesWelcomeUniBremen In-Touch – Projekt zur Öffnung der Universität für Geflüchtete https://www.uni-bremen.de/international/wege-an-die-universitaet-bremen/uni-fuer-gefluechtete.html
HOCHSCHULPOLITIK
Die Gremien der studentischen Selbstverwaltung
Studierendenrat (SR)
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er Studierendenrat (SR) wird alljährlich gewählt und ist das höchste ständige beschlussfähige Organ der Studierendenschaft. Wahlberechtigt sind alle Studierenden der Universität Bremen. Im Fokus des SR stehen die Wahl und Kontrolle des Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA), und der Beschluss von Richtlinien und Vorgaben für den AStA. Im SR sind derzeit zwölf Listen vertreten. Die 25 zu besetzenden SR-Plätze sind wie folgt verteilt: AStA für Alle 5 Die Monarchisten 2 Fachbereichsliste Geistes- und Sozialwissenschaften 1 Grün-Alternative Liste 3 Herms, Herms! 1 Liste der Studiengangsaktiven 4 MINT 3 Ring Christlich Demokratischer Studenten 3 Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband 1 StuZu Jura 1 Vielfalt im Studierendenausschuss 1
Akademischer Senat (AS)
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m AS werden zentrale Entscheidungen getroffen, die die gesamte Universität betreffen. Hierzu zählen vor allem die Entscheidungen bezüglich der Mittelzuweisungen und -beschaffung, des Hochschulentwicklungsplans und die Wahl des Rektors beziehungsweise der Rektorin. Aktuell ist dies Professor Doktor-Ingenieur Bernd Scholz-Reiter, der während der Sitzungen auch den Vorsitz inne hat. Des Weiteren wird hierin beispielsweise auch darüber entschieden, ob bestimmte Studiengänge aufgelöst oder finanziell beschnitten werden. Nicht zuletzt beschließt der AS auch über die Grundordnung und nimmt den jährlichen Rechenschaftsbericht des Rektorats entgegen. Somit sind viele der getroffenen AS-Entscheidungen für uns Studierende unmittelbar bemerkbar. Darum sind in diesem Gremium auch Vertreter der Studierendenschaft repräsentiert, jedoch lediglich mit vier von 22 Plätzen. Insgesamt setzt sich der AS nun wie folgt zusammen: - 7 Professoren & Professorinnen - 5 Dekane & Dekaninnen - 4 Akademische Mitarbeiter & Mitarbeiterinnen - 4 Studierende (AfA, GaL, LiSA, RCDS) - 2 Sonstige Mitarbeiter & Mitarbeiterinnen
Mehr Informationen unter: http://www.uni-bremen.de/as und http://sr.uni-bremen.de Text: Zusammengestellt von Björn Knutzen & Yannik Roscher Grafik: Katrin Pleus, Quelle: AStA Uni Bremen/ Bremen HG 5
HOCHSCHULPOLITIK
Der Fluch des Geldsegens Hochschulen stehen durch die steigende Studiennachfrage vor einer großen finanziellen Herausforderung. Der Bund hat die Länder nun von BAföG-Zahlungen entlastet, damit mehr Geld in Hochschulen investiert werden kann. Doch wie sieht es einem Jahr nach dem Entschluss aus?
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teigende Nachfrage nach Studienplätzen, der Wegfall der Wehrpflicht und doppelte Abiturjahrgänge haben die deutschen Hochschulen vor eine finanzielle Herausforderung gestellt. Um dieser schwierigen Situation zu begegnen, hat der Bund im vergangenen Jahr beschlossen, die BAföG-Zahlungen der Länder zu übernehmen, allerdings mit der Auflage, dass die Länder die freiwerdenden Mittel dem Bildungssektor zukommen lassen. Doch wie sieht es heute, knapp ein Jahr nachdem der Bund die Zahlungen übernommen hat, in Bremen und Umgebung aus? Entscheidung erntete viel Kritik Bereits bevor die Entscheidung feststand, erntete der Vorschlag viel Kritik. Ob ein Bundesland die freiwerdenden Gelder wirklich dem Bildungssektor zukommen lässt, wird vom Bund nicht kontrolliert, und rein rechtlich gesehen entscheidet das Land selbst, wie es mit den zur Verfügung stehenden Geldern haushaltet. Bis Mitte vergangenen Jahres hatten manche Bundesländer, darunter Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hamburg, immer noch keine Angaben darüber gemacht, was mit den Geldern geschehen soll. Hamburg hat inzwischen festgelegt, dass die rund 30 Millionen Euro, die die Stadt nun nicht mehr für das BAföG aufwenden muss, zum Teil in die Schulen investiert werden. Der Rest wird gespart. Die Hochschulen gehen dabei leer aus. Ein ähnliches Bild bietet sich auch in Nordrhein-Westfalen, wo ebenfalls Schulen, Ganztagsförderung und mehr Lehrkräfte im Vordergrund stehen. Zwar hat die Landesregierung in NRW den Hochschulen Geld zugesichert, doch der größte Anteil kommt auch hier den Schulen zugute. Ganz anders in Rheinland-Pfalz: Wo sich die Regierung vorerst noch zögerlich gab und in den Hochschulen Unsicherheit herrschte, wie die Mittel eingesetzt werden, hat die Rheinland-Pfälzische Landesregierung beschlossen, 200 neue Dauerstellen einzurichten und die Hochschulen mit 25 Million Euro zusätzlich zu unterstützen.
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Anderes Bundesland, andere Verwendung Andere Länder, darunter auch Niedersachsen, hatten bereits 2014 - also bevor der Bund die BAföG-Zahlungen offiziell übernahm - angekündigt, die Gelder nicht wieder in die Hochschulen fließen zu lassen. Bremens Nachbarland hat die freigewordenen Mittel in die Kinderbetreuung investiert, um neue Kitas zu bauen und mehr ErzieherInnen beschäftigen zu können. Der Pressesprecher der Universität Osnabrück sagt: „Es gab von Anfang an keine wirkliche Diskussion um den Nichterhalt der Gelder, da die Möglichkeit, diese zu bekommen, ausgeschlossen war.” Nach den Landtagswahlen in Niedersachsen wurde den Universitäten versprochen, die weggefallenen Studiengebühren zu erstatten, wodurch der Haushalt abgesichert wäre und sich
HOCHSCHULPOLITIK
letztendlich für die Hochschulen im Land Niedersachsen wenig ändern würde. Die Entscheidung, dass die freiwerdenden Gelder nicht wieder den Hochschulen zugeführt werden, wurde von vielen Seiten stark kritisiert. Die ASten in Niedersachsen sprachen in der LandesAstenKonferenz von einer Zweckentfremdung, welche die Ökonomisierung der Hochschulen weiter vorantreibt. So nennt auch Prof. Dr. Horst Hippler, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, dieses Vorgehen „einen Präzedenzfall für die willkürliche Zweckentfremdung von Bildungsmitteln, welcher die Unterfinanzierung der Hochschulen auf fatale Weise zementiert.”
Bei den vielen Anträgen, die die Uni Bremen gestellt hat, ist einer besonders interessant. Die Zukunft des Studienganges Psychologie war eine der Auflagen für den neuen Hochschulentwicklungsplan (Der ScheinWerfer berichtete). In diesem Antrag werden neue Möglichkeiten zur Gestaltung des Studienganges angesprochen. Zwischenzeitlich war einmal von der Schließung des Studiengangs die Rede, doch „diese ist vom Tisch”, sagt Scholz. Jetzt gehe es darum, wie sich die Psychologie in den kommenden Jahren aufstellt. Noch ist unklar, wie genau das Angebot aussehen wird, doch einen Bachelorstudiengang wird es wohl nach wie vor geben.
Ein Zukunftsfond für Bremen
Unheitliches Bild in Deutschland
Etwas anders sieht es bei uns in Bremen aus. Zwar wurden die Gelder, immerhin rund 17 Millionen Euro, auch hier nicht direkt in die Hochschulen investiert, stehen diesen aber nach Antrag zur Verfügung. „Es gibt nun einen Zukunftsfond”, sagt Eberhard Scholz von der Pressestelle der Universität Bremen. Der Rektor der Uni, Dr.-Ing Bernd Scholz-Reiter, hatte damals gefordert, dass ein Teil der freiwerdenden Gelder der Institution selbst zur Verfügung stehen sollte, um den Grundhaushalt zu verbessern. Dies war politisch allerdings nicht gewollt. „Es ist an sich eine gute Geschichte, dass der Bund die Gelder übernimmt, wir hätten uns aber eine sichere Finanzierungslage gewünscht”, sagt Scholz weiter.
Es zeichnet sich also ein sehr uneinheitliches Bild in den Haushaltsplänen der Landesregierungen ab. Während ein Bundesland wie Niedersachsen bereits vor offiziellem Beschluss mitteilt, die Gelder nicht wieder den Hochschulen zukommen zu lassen, macht ein Bundesland wie Berlin genau das Gegenteil: 66 Millionen Euro, die in Berlin durch den Beschluss der Bundesregierung frei werden, fließen vollständig zurück in die Hochschulen. Bremen stellt hier einen Kompromiss beider Extreme dar. Auf Antrag haben die Hochschulen die Möglichkeit, gewisse Projekte finanzieren zu können, doch genau da fußt die Kritik. Von vielen Seiten wurde bemängelt, dass durch diese Art von Verteilung nur Projektförderung an den Hochschulen möglich ist. Neue Ausstattung für die Lehrräume oder neue Stellen können so nicht finanziert werden.
Zwar hat die Uni Bremen bereits eine ganze Reihe an Anträgen gestellt, doch noch steht nicht fest, inwieweit diese Anträge auch genehmigt werden. Außerdem kann mit diesen Geldern keine fundamentale Finanzierung ermöglicht werden. Renovierungen oder Verbesserung des multimedialen Angebots sind damit also nicht möglich. So soll das Lehrangebot der Uni in Zukunft stark ausgeweitet werden und forschendes Lernen vom ersten Semester an besser unterstützt werden können. Damit fließt also ein Teil des Geldes in Bremen zwar wieder zurück in die Hochschulen, doch eine sichere, flächendeckende Finanzierung ist auch hier nicht ermöglicht worden. „Das Land hat leider noch den Daumen auf den Geldern und die Uni Bremen profitiert nicht direkt”, sagt Scholz. Auch der AStA der Uni Bremen hatte sich gegen die Senatsentscheidung in Bremen ausgesprochen und forderte eine solidarische Aufteilung der Gelder auf Hochschulen und Schulen, um einen sicheren Grundhaushalt zu gewährleisten.
An der Uni selbst wird es nämlich eng in den Lehrräumen. Die akute Raumnot zusammen mit alten Gebäuden hat bei der Uni zu einem Renovierungsstau von über 100 Millionen Euro geführt. Es wäre dringend erforderlich, hier Abhilfe zu schaffen - und genau das ist es, was von vielen Seiten mehrmals gefordert wurde, als der Bund die Entscheidung traf, die BAföG-Zahlungen der Länder zu übernehmen. Für die Renovierungen selbst ist zwar ein Etat vorgesehen, doch dieser wird nur manchen Studiengängen zugute kommen. In den kommenden Jahren werden insbesondere die BiologiestudentInnen eine vollkommen neue Ausstattung und Räumlichkeiten bekommen. Doch Studierende anderer Studiengänge werden vorerst nicht von den freigewordenen Mittel profitieren können. Text: Annika Papenbrock Illustration: Lina Schwarz 7
HOCHSCHULPOLITIK
Die Campusdebatte - Teil I Wird die Uni Bremen bald ein ruhiger Ort? Ein Kommentar zum abgesagten Vortrag von Ulrich Kutschera.
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s ging wieder hoch her im hochschulpolitischen Leben. Was ist passiert? Das sich selbst Die Liga der Unbequemen betitelnde Hochschulprojekt lud Anfang November zur Diskussion mit Prof. Dr. Ulrich Kutschera ein. Prof. Kutschera ist deutscher Evolutionsbiologie und lehrt an der Universität Kassel und der Stanford-Universität in Kalifornien. Er ist, das darf man aus seinem Lehrauftrag als Visiting Professor an einer der renommiertesten Universitäten der Welt schließen, ein Schwergewicht seines Faches und so zumindest potenziell ein Gast, dem man in biologischen Fragen Gehör schenken kann. Gleichzeitig ist Kutschera für viele eine Persona non grata, vor allem beim Thema „Gender Studies“. Der Biologe fällt hier mit ungewöhnlich aggressiver Rhetorik auf und hat vielerorts den berechtigten Dissens von Studierenden wie Lehrenden auf sich gezogen. Die Einladung war Teil einer ins Leben gerufenen Vortragsreihe des Hochschulprojekts. Zu Gast waren bisher unter anderem Florian Freistetter, Astronom und Buchautor, sowie Leo Fischer, Journalist und ehemaliger Chefredakteur der Satire-Zeitschrift Titanic. Die Hochschulgruppe, die sich in erster Linie aus ehemaligen Listenmitgliedern der PARTEI zusammensetzt, umschreibt sich selbst als „Verein führender Skeptiker“ und „Entschwörungstheoretiker“, mit dem Ziel, sich gegen den „Unsinn dieser Welt“ zu richten. So weit, so sarkastisch. Interessante Gäste und kritische Vortragsreihen sind immer ein Gewinn für die Studierenden, das steht außer Frage. Die Einladung von Prof. Kutschera, der zum Thema „Evolutionstheorien 2015 und der kreationistische Grundtypen-Glaube“ referieren sollte, hätte vielleicht einen solchen Gewinn darstellen können. Hätte. Vielleicht. Die Veranstaltung wurde nach heftiger Kritik noch am Tag des Stattfindens wieder abgesagt. Der Gegenwind war vor allem auf der Facebook-Seite der Hochschulgruppe zu spüren und ging zunächst von einzelnen Studierenden aus, die dort eine Diskussion entfachten. Die Vorwürfe gegen Prof. Kutschera wogen schwer: Er sei rassistisch, homophob und sexistisch. Auch in einer offiziellen Stellungnahme des Allgemeinen Studierendenausschusses, in der die Absage der Veranstaltung begrüßt wird, heißt es wörtlich, Kutschera sei ein Sexist und perfider Rassist. Deutlicher hätte es kaum sein können.
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Kutschera: Aus einer anderen Welt Wer ist, oder - viel wichtiger: was denkt, Prof. Ulrich Kutschera? Kutschera ist, wie gesagt, Biologe. Als Naturwissenschaftler wehrt er sich in seinen Publikationen schon seit Jahren gegen kreationistische Ansichten, die er als pseudowissenschaftliche und religiöse Propaganda und mit evolutionsbiologischen Theorien der Wissenschaft für unvereinbar erklärt. Darüber mit Kutschera zu diskutieren, wäre sicherlich nicht uninteressant gewesen. Kutscheras Engagement, und hier wird es für viele problematisch, endet allerdings nicht beim Thema Kreationismus. Er gilt weiterhin als Kritiker des Gender-Mainstreamings. Rhetorisch nimmt Kutschera auch bei diesem Thema kein Blatt vor den Mund: Die Genderforschung sei eine quasi-religiöse, feministische Sekte und man stände kurz vor einer Genderisierung der Biologie, die einer geistigen Vergewaltigung des Menschen gleichkäme und zu verhindern sei. Für einen Wissenschaftler sind das ungewöhnlich krasse Formulierungen. Kutscheras Rhetorik in Bezug auf die Gender Studies ist überzogen, vereinfachend und kritikwürdig. Und sie dürfte dazu führen, dass sich nicht weniger als eine ganze Forschungsgemeinschaft gegen Kutscheras Ansichten und letztlich gegen seine Person stellt. Das liegt neben Kutscheras verbalen Ausbrüchen nicht zuletzt in der Natur der Debatte begründet: Der Biologe erklärt Geschlechtsidentitäten biologisch, d.h. rein hormonell-chromosomal, während die Gender-Forschung auf Grundlage einer kulturwissenschaftlichen Disziplin dagegen ihre Zweifel formuliert und konträre Aussagen macht. Beide Wissenschaften konkurrieren darum, was das Geschlecht überhaupt ist: Für Biologen wie Kutschera eine biologische Tatsache, für die Gender-Forschung vielmehr eine historische Praxis. Beide Ansätze haben ihre Stärken und Schwächen und unterliegen einem fortdauernden Diskurs inner- und außerhalb der Wissenschaft. Kutscheras Kritik an der Gender-Forschung sollte aber nie Gegenstand der Veranstaltung sein, zu der er eingeladen wurde. Darauf wiesen auch die Veranstalter anfangs hin und hielten zunächst an ihrer Einladung fest. Erst das Erscheinen eines Kutschera-Textes im Oktober (und damit, so die Hochschulgruppe, nach Abschluss der Planung der Veranstaltung), in dem er seine Kritik an Gender Studies weiter ausführt und darüber hinaus homophobe und rassistische Gedanken formuliert, habe zu der Absage geführt.
HOCHSCHULPOLITIK
Von schlechter Organisation
uneinig über eine konsequente Handhabung zu sein.
Diese Erklärung zu glauben, fällt, ohne Kutschera und seine Ansichten in Schutz zu nehmen, aus verschiedenen Gründen schwer. Zunächst sind Kutscheras herablassende Äußerungen zu den Gender Studies schon länger im Netz zu finden. Sein jüngster Artikel ist vielleicht ein rhetorischer Höhe- oder besser Tiefpunkt, im Kern allerdings nichts Neues. Darüber hinaus verlief die auf der Facebook-Seite formulierte Kritik, die maßgebend für die Absage war, alles andere als sachgerecht: Eine Nutzerin, der für ihren Hinweis nachträglich gedankt wurde, zitierte in ihrer Kritik Kutschera offensichtlich falsch, als es um den Vorwurf rassistischer Hetze geht. Ferner gaben die Veranstalter nicht zuletzt bekannt, dass die Absage der Veranstaltung einen privaten finanziellen Schaden für die Organisatoren bedeuten würde. Wer will schon den Griff ins eigene Portemonnaie? Das Ganze spricht, deutlich gesagt, vielmehr für eine schlampige Organisation. Das ist die eine Seite der Kritik.
Fraglich bliebe, welche Rolle Akteure wie AStA oder Hochschullisten als Vertreter der Studierenden in dieser Diskussion überhaupt spielen könnten und sollten. Veranstalter von Vortragsreihen mit externen Gästen wechseln stetig und werden nicht immer ausschließlich von studentischen Hochschulgruppen organisiert. Auch viele Hochschullehrer/innen laden Gäste als Teil ihrer Lehrveranstaltung ein. Das war auch bei der Veranstaltung mit Beckstein der Fall. Sie wurde vom Institut für Politikwissenschaft unter der Leitung von Dr. Stefan Luft organisiert. Kann und soll dem AStA, auch unter Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Lehrfreiheit, auch in solchen Fällen ein mögliches Veto-Recht (sofern man eine solche Lösung präferiert) eingeräumt werden? Oder fehlt es gar an einer Legitimationsgrundlage dazu? Auch über diese Frage müsste im Interesse aller Studierenden diskutiert werden. Zukünftige Gäste wie Beckstein oder Kutschera werden allerdings nicht darauf warten, bis AStA und Co. eine Lösung herbeigezaubert haben. In diesem Sinne: Für einen nachgeschobenen Vorsatz für das frisch angebrochene neue Jahr ist es bestimmt noch nicht zu spät.
...und fehlendem Konsens Dessen einmal ungeachtet, stellt sich für den Fall Kutschera eine viel grundlegendere Frage: Wie soll mit umstrittenen potenziellen Gästen an der Uni Bremen umgegangen werden? Die Vergangenheit zeigt ebenso wie der Fall Kutschera, dass es bisher kein befriedigendes und sachgerechtes Verfahren gibt, das darüber entscheidet, wer als Gast und Redner an der Uni Bremen in welchem Rahmen auftreten darf. Der jüngste Fauxpas kann nur dann ein Einzelfall bleiben, wenn mit geplanten Einladungen umstrittener Gäste immer dasselbe geregelte Verfahren einhergeht. Im Falle des ehemaligen bayrischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein (CSU), der Ende 2012 zum Thema „Asylkompromiss“ als Gastredner an der Uni Bremen war, entschied man sich dafür, diesem mit (zwar damals umstrittenem) Protest entgegenzutreten. Auch Kutschera hätte man mit scharfer Kritik begegnen können. Am Potenzial dazu hätte es mit Sicherheit nicht gemangelt. Stattdessen entschied man sich für eine sehr kurzfristige Absage, die für beide Seiten äußerst unangenehm gewesen sein dürfte. Spätestens bei kommenden Veranstaltungen dieser Art wird sich jedoch erneut die prinzipielle Frage stellen, wem Gehör geschenkt werden soll und wem nicht. Bisher scheinen sich viele Studierende im Bremer Hochschulpolitikbetrieb noch
Text: Lukas Henseler
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HOCHSCHULPOLITIK
Die Campusdebatte - Teil II Vortragsrecht für alle? Ein Kommentar zum abgesagten Vortrag von Ulrich Kutschera.
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ie Uni bietet einen öffentlichen Raum, in dem sich Menschen kritisch über wissenschaftliche Erkenntnisse und gesellschaftliches Geschehen austauschen können. Dazu gehören neben den regulären Veranstaltungen interessante und kritische Vorträge, die über Vorlesungen und Seminare hinaus die Diskussion anregen. Vor diesem Hintergrund hat auch das Hochschulprojekt “Die Liga der Unbequemen” eine Vortragsreihe initiiert und Ulrich Kutschera eingeladen. Zu seinem Vortrag kam es dann allerdings nicht – aufgrund einer Aufforderung des AStAs wurde Kutschera kurzfristig wieder ausgeladen. Wurde damit eine kritische Diskussion mit einer streitbaren Person verhindert? Wurde womöglich sogar demokratisches Unrecht getan? Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Meinungen ziemlich frei sein dürfen, und das ist ein großes Glück. Das Privileg, ohne Angst vor Verfolgung oder Strafe öffentlich auszusprechen, was wir denken, gab es in der Geschichte nur selten und ist auch heute für viele Menschen nicht selbstverständlich. Deswegen zieht es erst mal im Magen, wenn eine Person um ihr Rederecht beraubt wird. Die freie Meinungsäußerung ist eine Sache. Einer Person, deren politische Einstellungen Menschen diskriminieren und direkt oder indirekt die Grundlage bieten, Menschen systematisch von der Gesellschaft auszuschließen, die Möglichkeit zu bieten, vor Studierenden zu sprechen, ist etwas anderes. Zwischen freier Meinungsäußerung und Vortragsrecht liegen Welten und auch wenn eine Demokratie Ersteres aushalten muss, so sollte eine Uni Letzteres durchaus reflektiert vergeben. Kutschera hat in seinen Aussagen in mehrfacher Hinsicht diskriminiert. Er bezeichnet Genderforschung als „Krebsgeschwür“ und begründet Geschlechteridentität hormonell-chromosomal. Menschen, die sich in ihrem biologischen Geschlecht nicht wohl fühlen und Menschen, die sich keinem der heute akzeptierten Geschlechter zugehörig fühlen, werden damit systematisch von der Gesellschaft ausgeschlossen. Kutschera sympathisiert mit der Aussage einer amerikanischen Journalistin, die Flüchtlinge als „Invasion von Moslems aus arabischen Länder“ bezeichnete. Auf den sowohl in religiöser als auch nationalstaatlicher Perspektive diskriminierenden Charakter solcher Aussagen muss ich wohl nicht näher eingehen. Es geht hier nicht um eine argumentative Auseinandersetzung mit Kutscheras mittelalterlichen und traurigen Ansichten. Die Frage ist vielmehr, ob Vorträge solcher
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Personen die Möglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung bieten. Nein! Einfach nein! Das weiß jede, die mal mit durchdachter Argumentation gegen einen AfD-Wähler am Stammtisch zur Diskussion angetreten ist. Menschen, die andere Menschen aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, Religion oder anderen Kategorien diskriminieren, haben schlicht die Basis unserer Gesellschaft nicht verstanden. Und Aussagen wie die von Kutschera lassen sich nicht einmal mehr als unreflektierte Alltagsdiskriminierung einstufen, sondern sind bereits im Bereich der Hetze angekommen. Vorträge von Menschen, die andere Menschen delegitimieren, können nicht legitim sein. Es ändert auch nichts, dass Kutscheras Vortragsthema „Evolutionstheorien 2015 und der kreationistische Grundtypen-Glaube“ nicht direkt auf die Gender-Diskussion bezogen war. Denn Diskriminierung kündigt sich nicht an, wann sie wohl vorbei kommen wird. Sie kriecht heimlich und unsichtbar durch jede kleine Ritze: zwischen den Zeilen, in Nebensätzen oder vielleicht indirekt in der Stärkung der gesellschaftlichen Reputation einer diskriminierenden Person. Der kritische Austausch an einer Universität bekommt ganz klare 10 von 10 möglichen Punkten und ist eine große Bereicherung für uns alle. Aber Typen wie Kutschera sollte man besser an die Hand nehmen und in eine Zeitmaschine setzen, um die Reise in das 21. Jahrhundert anzutreten. Und ihnen nicht noch einen privilegierten, öffentlichen Raum geben. Text: Lina Schwarz
CAMPUSLEBEN
Heute: Unterwegs mit van Gogh © Hülya Yalcin
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unst wäscht den Staub des Alltags von der Seele“. Steht so auf einem Schild vor der Bremer Kunsthalle, an dem ich viele Male teilnahmslos vorbeigelaufen bin. Bis die alltägliche Staub-schicht auf meiner Seele fingerdick wurde und ich dachte: Jetzt ist aber Schluss. Rein in die Waschanlage Kunsthalle! Im ersten Waschgang führte der völlig vom Alltagsstaub befreite Kunsthistoriker uns Interessierte vor van Goghs Gemälde Mohnfeld. Das Gemälde wurde da-mals für 30 000 Reichsmark erworben, was in etwa 350 000 Euro entspricht. Heute würde ein Verkauf des Bildes ungefähr 80 Millionen Euro erzielen. Von all den vielen Kunst-Facts, die ich in den nächsten eineinhalb Stunden hörte, merkte ich mir das am allermeisten. Die Wert-steigerung von fast 22.900 Prozent setzte sich so in meinem Kopf fest, als wäre mir selbst die-ser investorische Glücksgriff gelungen. Geht das allen so? Kaufen die Leute für 80 Millionen nicht nur die van Gogh-Schönheit, sondern auch oder vor allem den Mehrwert-Kick? Feelings made by capitalism, oh Gott. Das Mohnfeld-Gemälde ging mir auch in den Tagen danach nicht aus dem Kopf. Ich wartete am Hauptbahnhof auf die Linie 6 und mir fiel auf, dass nirgendwo so wenig van Gogh war wie dort. Die grauen Metallbänke, die gatschigen Glasdächer und die Mischung aus Zigarettenkip-pen und alter Kotze, die sich zwischen den Ritzen der Pflastersteine ausbreitete, staubten mei-ne Seele ruckizucki wieder ein. Und obwohl die Straßenbahnhaltestelle am Hauptbahnhof un-angefochten die Charts der hässlichen Orte anführt, so sehen doch viele Bahnsteige deutscher Städte ähnlich unerträglich aus. Vielleicht ist mein ästhetisches Empfinden das Problem. Irgendwer muss sich ja was dabei ge-dacht haben, eisengraue Bänke auf allen Bahnsteigen der Republik aufzustellen oder das Stadt-bild ausschließlich mit Stahlgebäuden und verspiegelten Fensterfronten zu prägen. Ich will auch gar nicht dem progressiven Geschmack unserer Zeit im Wege stehen. Vielleicht können aber alle, denen die Kombination aus Stahl, Spiegel und Grau wirklich gefällt, einmal richtig glück-lich gucken, damit ich endlich den üblen Verdacht loswerde, dass graue Metallbänke niemanden gefallen, sondern nur alle verstören.
en Bänke sitze, denke ich an unsere Gesellschaft: Ein van Gogh wäre ihr 80 Millionen wert. Für die eine oder andere vernünftige Holzbank reicht es aber nicht. Anscheinend hört Kunst beim Verlassen der Kunsthalle auf und ohne finanziellen Mehr-wert lohnt sich Schönheit sowieso nicht. Verstört und alltagsverstaubt von so viel Funktion flüchte ich ins Internet und klicke aus Ver-sehen auf www.hospo. uni-bremen.de. Ich sehe eine Website, die aussieht wie die Sielwallkreuzung am Tag der Müllabfuhr. An alle Informatiker*innen: Wenn ihr eurer Uni und euren Kommili-ton*innen Weihnachten 2015 mal ein richtig schönes Geschenk machen wollt, dann investiert die zwei Tage und programmiert www.hospo.uni-bremen.de neu. Falls noch ein bisschen Zeit übrig ist: www.flexnow.de würde sich auch über eure Aufmerksamkeit freuen und gerne die Zeitreise aus den späten 90ern ins Jahr 2016 antreten. Das würde mir den Staub des Alltags von der See-le schwemmen, da könnte kein van Gogh mithalten. Stay clean. Text und Illustration: Lina Schwarz
Vielleicht bringen Bahnhöfe aber auch einfach keinen Mehrwert-Kick. Vielleicht lässt sich bei Bahnhöfen auch in 100 Jahren nicht auf eine Wertsteigerung von 22.900 Prozent hoffen. Wenn ich dann auf einer dieser eisengrau11
CAMPUSLEBEN
„LiteraTour Nord: Literaturkritik und Dichterlesung“
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eminare besuchen, Prüfungen schreiben und am besten nebenher noch etwas fürs Selbststudium machen – wir lernen viel an der Uni. Jedenfalls, wenn wir uns die Anzahl der Seminare anschauen. Doch selten ist das, was wir da machen, praxisorientiert. Nicht nur im Bereich Germanistik fehlt der Einblick in mögliche Berufsfelder. Was macht man denn als Germanist*in nach dem Studium? Und wozu soll das, was wir in der Uni lernen, gut sein? Wie realitätsnah ist das Studium überhaupt? Einige Antworten findet man dieses Semester im Seminar „LiteraTour Nord: Literaturkritik und Dichterlesung“ von Prof. Dr. Axel Dunker, der den Studierenden die Möglichkeit gibt, im Rahmen des Seminars an der Lesereise „LiteraTour Nord“ mitzuwirken. Lesereise „LiteraTour Nord“ Aber was soll das eigentlich sein – die „LiteraTour Nord“? Es handelt sich um eine Lesereise, bei der sechs deutschsprachige Autoren ins Rennen um den „Preis der LiteraTour Nord“ geschickt werden. Jeden Winter – jetzt schon zum 24. Mal – kann man die erwählten Autoren auf ihren Lesungen erleben. Ihre Reise führt sie durch Oldenburg, Bremen, Lübeck, Rostock, Lüneburg und Hannover, bis am Ende bekannt gegeben wird, wer den mit 15.000 Euro dotierten Preis erhält. Den Sieger darf nicht nur die Jury bestimmen, sondern auch das Publikum. Wer jede Lesung besucht hat, erhält die Möglichkeit, eine Stimme abzugeben. Dies kann durchaus ausschlaggebend für das Endergebnis sein. Sechs Bücher sollen innerhalb des Semesters gelesen werden: „Baba Dunjas letzte Liebe“ (Alina Bronsky), „Traumschiff“ (Alban Nikolai Herbst), „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“ (Judith Kuckart), „Das bessere Leben“ (Ulrich Peltzer), „Grimsey“ (Ulrich Schacht) und „Macht und Widerstand“ (Ilija Trojanow). Wer die Geschehnisse in der Buchbranche ein wenig mitverfolgt, wird sicherlich feststellen: Es sind teilweise Namen dabei, die man schon irgendwo gehört hat. Tatsächlich werden für
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den Preis der „LiteraTour Nord“ mittlerweile nur noch Autoren ausgewählt, die bereits Werke veröffentlicht haben. Diesmal sind auch drei Bücher dabei, die für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert waren: Bronskys „Baba Dunjas letzte Liebe“ und Trojanows „Macht und Widerstand“ standen auf der Longlist, Peltzer hat es mit seinem Deutscher Buchpreis: Jährlich zeichnet die „Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung“ den besten deutschsprachigen Roman aus. 167 Titel wurden 2015 von Verlagen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz eingereicht, von denen die siebenköpfige Jury schließlich 20 für die Longlist wählte. In einem weiteren Auswahlverfahren wurde die Shortlist mit 5 Titeln erstellt. Der Preisträger wird jedes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse bekannt gegeben. 2015 gewann Frank Witzel mit seinem Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969“. www.deutscher-buchpreis.de Wenn das Interesse an den vorgetragenen Werken geweckt wurde, lassen sich auf www.buecherstadtkurier. com Besprechungen zu diesen finden. Roman „Das bessere Leben“ auf die Shortlist geschafft. Die anderen drei Bücher mögen im Vergleich dazu unbekannter sein, doch eine tiefere Recherche verrät, dass die Autoren in der deutschen Literaturszene bereits viele Spuren hinterlassen haben: durch zahlreiche andere Werke, anderweitige Tätigkeiten und so manche Auszeichnungen und Ehrungen, die nicht unbedeutend sind.
CAMPUSLEBEN
Literaturkritik und Dichterlesung Lesungen besuchen, schön und gut, aber wozu? Natürlich nicht nur zum Spaß, denn die am Seminar teilnehmenden Studierenden sollen sehen, wie die Buchbranche funktioniert. Themen der Seminarsitzungen sind nämlich nicht nur die sechs Bücher, sondern auch das Drumherum. So wird darüber diskutiert, wie man literaturkritisch an das Werk eines Autors herangeht, der unter dem Verdacht steht, politisch rechts zu sein. Oder inwieweit man ein Buch objektiv beurteilen kann beziehungsweise welche Kriterien für die Qualität eines Werkes sprechen. Kann man da überhaupt allgemeingültige Kriterien festlegen? Ist am Ende nicht doch alles rein subjektiv? Und wie ist das mit der klassischen Literaturkritik, die zusehends den Bach runter geht, weil Klickzahlen eine höhere Gewichtung bekommen? Im Seminar werden Fragen diskutiert und mögliche Antworten gegeben, aber die einzig wahre Lösung gibt es – wie in so vielen Bereichen – nicht. Hier wird Kritik an der Literaturkritik geübt, ebenso wie an der Marketingseite des Deutschen Buchpreises. Nicht immer spricht eine Nominierung zwangsläufig für literarische Qualität. Wie die Autoren mit solchen Themen umgehen, was sie sich bei ihren Werken nur gedacht haben und viele weitere Fragen können die Studierenden bei den Lesungen selbst stellen und so mit den Autoren in Kontakt treten.
Erproben können sie sich außerdem im Verfassen von Rezensionen und Lesungsberichten, welche auch beim Literaturkontor Bremen veröffentlicht werden können. Das Seminar richtet sich vor allem an Studierende aus den literaturwissenschaftlichen Bachelor- und Masterstudiengängen, kann jedoch generell von allen Interessierten besucht werden, solange die Teilnehmerzahl im Rahmen bleibt. Es soll begleitend zur Lesereise „LiteraTour Nord“ in jedem Wintersemester stattfinden. Text: Alexandra Schilref
LiteraTour Nord: Jeden Winter treten sechs deutschsprachige Autoren die Lesereise der „LiteraTour Nord“ an. Wer am Ende den mit 15.000 Euro dotierten Preis erhält, bestimmt nicht nur die Jury, sondern auch das Publikum. Begleitend zu den Lesungen werden von den moderierenden Professoren auch Seminare angeboten. www.literatournord.de/programm.php www.literaturkontor-bremen.de
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We all had a dream before we came here - انه انئج لبق ملح لك انيدل ناك Seit Juli sind in zwei Großraumzelten hinter dem NW1-Gebäude ca. 400 Geflüchtete untergebracht. Während wir Studis in Seminaren sitzen, essen, schlafen und leben Menschen aus Syrien und anderen Ländern in den Zelten. Wir vom Scheinwerfer haben uns aufgemacht, um unsere Nachbar*innen kennenzulernen.
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ir sind mit drei Flüchtlingen verabredet: Mochraf, Moustafa und Yahya. Vor den Interviews müssen wir uns am Security-Checkpoint und bei der Heimleitung der Flüchtlingsunterkunft anmelden. Wir werden nett danach gefragt, wer wir sind und was wir so schreiben wollen in unserem Artikel. Die Interviews finden an zwei unterschiedlichen Orten statt, doch jedes Mal hocken wir in Zelten: Mit Mochraf sitzen wir in dem Pavillon, der zum Laden The Fizz To Go gehört. Es ist kalt und kleine weiße Atemwolken begleiten unser Gespräch. Mochraf ist aus Syrien geflohen; er ist seit drei Monaten in Bremen und spricht Deutsch.
Neulich ist mir etwas Seltsames passiert: Ich wurde von Freunden zum Essen eingeladen, um 22.30 Uhr. Da habe ich mich sehr unwohl gefühlt. In Syrien bleibt man nach dem Essen noch mindestens 2 Stunden bei den Gastgebern. Alles andere ist unhöflich. Da es aber schon so spät war, waren wir alle müde. Ich habe mich aber nicht getraut nach Hause zu gehen, bis die 2 Stunden rum waren. Noch andere Dinge, die Zuhause als unhöflich gelten, sind hier okay. In Syrien ist es unhöflich, sich die Nase vor anderen Menschen zu putzen. Dafür geht man ins Badezimmer. Mir fällt auch das Problem mit dem Brot auf. In Syrien essen wir sehr viel Brot, aber hier gibt es meist nicht genug Brot zum Essen dazu.
Hallo, Moschraf. Wie gefällt es dir hier in Bremen?
Wie verbringst du deine Woche?
Es gefällt mir sehr gut, alle Leute sind sehr nett.
Ich habe einen Deutschkurs, einen Englischkurs, ich male, ich arbeite als Tischler und bei einer Künstlerin im Atelier. Ich hatte in Syrien Architektur studiert und dann 9 Jahre als Tischler gearbeitet.
Was fällt dir hier auf, vor allem im Unterschied zu Syrien? Hier ist auffällig, dass alles sehr gut organisiert ist. Die Straßenbahnen fahren immer zu einer bestimmten Zeit, ich kann nicht einfach einen Bus heranwinken. Manchmal ist das aber auch ein bisschen langweilig. Das Wetter ist sehr schlecht.
Was wünscht du dir für die Zukunft? Ich möchte arbeiten, ich hasse Sozialarbeitsgeld. Ich möchte studieren oder eine Ausbildung als Tischler machen. Ich hoffe, dass es in Syrien wieder so wird wie früher, aber jetzt ist alles kaputt, also möchte ich jetzt erst mal nicht zurück. Es war schwer, meine Freunde in Syrien zu verlassen, und es wäre wieder schwer, meine Freunde hier zu verlassen. Vielen Dank für das Interview!
Yahya Kayali 14
Moustafa und Yahya laden uns in ihr Zimmer ein. Beide sind aus Syrien nach Deutschland geflohen und leben seit drei bzw. vier Monaten in einem der Zelte. Es ist beheizt und mit raufasertapezierten Einstell-Wänden in Räume unterteilt. Teilweise sind diese mit Bildern bemalt, darunter arabische Sprüche und eine Italien-Flagge. Ein Zettel weist darauf hin, dass man im Zelt bitte nicht Rad fahren soll. Lüftungsschläuche laufen unter der Decke entlang, befördern geatmete Luft und Gerüche nach draußen. Über Holzplanken laufen wir in den Raum der beiden, den sie sich zusammen mit zwei weiteren Geflüchteten teilen. In der Mitte steht ein Tisch mit vier Stühlen. Wir setzen uns, lächeln ein bisschen unsicher und fangen an, auf Englisch unsere Fragen zu stellen. Auf einem Balken über uns wacht eine Plüsch-Ratte mit grimmigem Gesichtsausdruck. Am Türrahmen hängt ein Fan-Schal von Werder Bremen.
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Hello Moustafa, hello Yahya. What do you think about Germany, do you like it? Yahya: The people are very friendly and cute, they smile at you on the street. The streets are very clean. Moustafa: I like Germany, but living in the refugee camp is very hard. It is very hot in here and very cold outside. 400 refugees live here; 200 from Syria and 200 from other countries. This is a very difficult situation. How do you spend your time? Yahya: We can’t do much. We eat and sleep. The German courses in the camp are always the same. So I started to attend a German course at Lingua School. We began with the alphabet. Moustafa: We have some German friends, we play football, go to the gym or to parties. Here all the young people live alone, in Syria everyone lives with their family. That is really different. Do you like the food here? Moustafa: You know, it is not easy. We had a normal life in our countries; here we have to wait for food in a line. There is never enough bread. Yahya: If you criticize anything, they transfer you to another camp. Everyone in the camp calls our room “The Dangerous Room” because we criticize so much. We are Muslims: We don’t eat pork, or gelatine, so we need to check many groceries and read the fine print. If you think about your future – where do you see yourself in the next couple of weeks and months? Yahya: Everybody had a dream before we came here. I studied Economics in my country and I want to finish my studies here. My brother wants to go back to Syria. Moustafa: I want to learn German, because you need a C1 level to continue your studies here. I do not think that I will go back to Syria in the near future. After 3 months you’re allowed to move out of the camp and look for a job and a house. We found a house but it is far away; it is in Mahndorf. Thank you very much for this interview! Nach den Treffen müssen wir erst mal nachdenken. Es sind viele Eindrücke, die uns im Kopf herumgehen, die eingeordnet werden wollen, für die es aber keine richtigen Schubla-
Moustafa Atrash den gibt. Der sprichwörtliche Tellerrand wurde für uns auf einer Strecke von 500 Metern zwischen Universitätsbibliothek und Flüchtlingszelt räumlich messbar. Es gibt viel Unausgesprochenes, für das wir trotz Englisch- und Deutschkenntnissen keine gemeinsame Sprache finden. Wenn die drei von Syrien erzählen oder davon, dass sie ihr Alltag in der Unterkunft frustriert, machen wir oft „mmmh“ und blicken auf den Boden. In anderen Momenten vergessen wir unsere unterschiedlichen Erfahrungen und stellen fest, dass wir Gemeinsamkeiten haben: Moustafa und Yahya haben in Syrien studiert, gehen gerne auf Partys und suchen wie ich auf Verpackungen nach Gelatine, weil sie die als Muslime nicht essen und ich als Vegetarierin auch nicht. Vielleicht treffen wir Moschraf, Moustafa oder Yahya bald auf einer Party oder in der Uni wieder. Denn sie alle sind mit einem Traum nach Deutschland gekommen. Die Fragen stellten Lina Schwarz und Franziska Müller. Text: Franziska Müller Fotos: Moustafa Atrash, Yahya Kayali
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„Eine wissenschaftliche Lücke schließen“ – Ethnografische Filmtage an der Universität Bremen Ob Frauenfußball in der Türkei, Honigsammler in Kamerun oder die Auseinandersetzungen um Wohnraum an der Reeperbahn – ethnografische Filme wollen Blicke in Gruppen und Gemeinschaften gewähren, die andernfalls nur schwer erlangt werden könnten. 2015 fanden zum vierten Mal die Ethnografischen Filmtage an der Universität Bremen statt und boten ein reichhaltiges Programm.
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m Gegensatz zu Dokumentarfilmen, die häufig eine vermeintlich allwissende Stimme aus dem Off einsetzen, um die Hintergründe einer Thematik zu beleuchten, versuchen ethnografische Filmemacher sich bei ihrer Arbeit soweit wie möglich zurückzunehmen. Sie wollen beobachten, die Menschen selbst zu Wort kommen lassen, einen Blick in Kulturen geben, denen sonst niemals eine solche Aufmerksamkeit zuteilwerden würde. Unter diesem Ziel werden auch die Ethnografischen Filmtage von Studenten und Lehrenden des Instituts für Kulturwissenschaften und Ethnologie der Universität Bremen in Zusammenarbeit mit dem Stuga Kulturwissenschaften organisiert. Gewählt wird, was thematisch berührt Im Verlauf von drei aufeinanderfolgenden Abenden werden mehrere Filme gezeigt, die in der Regel völlig unterschiedliche Themen behandeln. Dabei wird gewählt, „was thematisch berührt“, so Julia Schlecht vom Stuga Kulturwissenschaften. Auch dieses Jahr war wieder eine bunte Mischung an Themen vertreten. In Sebastian Eschenbachs „Four Students – One Field Trip“ begleitet man vier junge Studentinnen der Ahfad Universität für Frauen in Omdurman im Sudan. Wie alle Studentinnen müssen auch sie an einer Pflichtexkursion teilnehmen. Zum ersten Mal in ihrem Leben führt es sie hinaus aus der großen Stadt und in den ländlichen Teil des Sudans. Im Mittelpunkt stehen die Fragen, wie die vier mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten auf die neue Umgebung reagieren, wie die neuen Erfahrungen ihr Selbstbild verändern und wie sie ganz allgemein mit dem Wunsch umgehen, der ländlichen Bevölkerung helfen zu wollen. „Gbaya – Beekeeping and Honey Hunting“ zeigt hingegen das eher einfache Leben der Volksgruppe der Gbaya. Die Zuschauer folgen Nya Sardi Ntan Be Govo in den Busch in Zentral-Kamerun, wo er mit Hilfe seiner Familie Bienenkörbe selbst anfertigt und aufstellt, um später den Honig zu ernten. Die Gbaya kommen ursprünglich aus dem Sudan und verfügen über ein immenses Wissen, wie man, nur auf sich gestellt, im Busch überleben kann – notfalls auch nur von Honig. Auch Sardi ist als Junge mit seinem Vater in den Busch gekommen und hat auf diese Weise das Handwerk gelernt. Heute bestreitet er den Lebensunterhalt für sich, seine zwei Frauen und zwölf Kinder, indem er zwischen Honigsammeln und Ackerbau wechselt, je nach Saison. Der geerntete Honig wird gebacken, hart ge-
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kocht, zu Getränken verarbeitet oder als Wundheilsalbe für Schnitt- und Brandverletzungen verwendet. In einer Saison erwirtschaftet und verarbeitet Sardi bis zu 800 Liter Honig. Der Film entstand unter der Regie des Ethnologen Martin Gruber (Universität Bremen) in Zusammenarbeit mit Dr. Dorothea Brückner vom Bienenforschungsinstitut der Universität Bremen, das auch die Finanzierung übernahm. Fußball – eine Männerdomäne? Der türkisch-schweizerische Dokumentarfilm „Kız gibi oynarlar – Sie spielen wie Mädchen“ von Kathrin Meier beschäftigt sich mit dem schweren Stand, den Frauenfußball in der Türkei hat. Sehr gut werden männliche Dominanz, Homophobie und der wichtige Stellenwert von Glaube und Familie in der türkischen Gesellschaft dargestellt. Der westlich geprägte Zuschauer muss schwer schlucken, wenn der Trainer eine gegnerische Spielerin als „Schlampe“ bezeichnet oder seinen Libero anschreit, sie solle ihm, und nur ihm, gefälligst zuhören und ja nicht unterbrechen. Ein großes Problem stellt aus Sicht des türkischen Fußballverbandes die hohe Anzahl lesbischer Spielerinnen dar. Hamit Cihan, Trainer der einzigen Frauenmannschaft in Istanbul, „Trabzonspor“, sagt, man habe sich sehr viel Mühe gegeben, die Spielerinnen wie Frauen aussehen zu lassen. Mannschaftskapitänin Zeliha Şimşek erklärt, man ermuntere besonders männlich wirkende Spielerinnen, sich femininer zu verhalten. Sie sollen sich schminken, auf Männershorts und Männer-T-Shirts verzichten, zudem dürfe sich keine von ihnen ohne die Erlaubnis des Trainers die Haare kurz schneiden. Zur Durchsetzung gibt es ein System aus Belohnung und Strafe, das sehr erfolgreich funktioniere. Sie ist sich sicher, dass sich eine lesbische Lebensweise „wie ein Virus“ ausbreitet und daher unbedingt unterbunden werden müsse. Letztendlich zeigt der Film eine sehr ambivalente Einstellung der türkischen Gesellschaft zu Frauen, Weiblichkeit und Sexualität.
Honey Hunting: © Martin Gruber
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Kleidung als Symbol des Widerstands In María José Pavlovics „The Yayas de L’Elégance” wird ein Einblick in die SAPE-Kultur der Sapeurs gewährt. Ursprünglich stammen sie aus dem Kongo und leben nun als Minderheitengruppe in Frankreich. SAPE steht für „The Society for Ambience and Elegant People“ und ihre Anhänger zeichnen sich durch einen besonders extravaganten, auffälligen und bunten Kleidungsstil aus. Als Sapeur muss man stets gut angezogen, rasiert und frisiert sein und einem „gentleman’s dresscode“ folgen. Aber nicht jeder Kongolese verstehe die tatsächlich zugrundeliegenden Regeln und Kriterien und könne sich als Sapeur bezeichnen. Gegründet wurde die Gruppierung von Arbeitslosen am unteren Rand der kongolesischen Gesellschaft. Zunächst wurde sie als kriminell eingestuft und ihre Anhänger waren staatlicher Verfolgung ausgesetzt. Mittlerweile ist sie zu einem wichtigen Kulturgut geworden, das sich jedoch nur die Reichen wirklich leisten können. Annick Bertin, der sich selber „General Firenze“ oder auch „The Crack“ nennt, sagt, im Kongo habe er nicht genug Geld besessen, um Sapeur sein zu können. In Frankreich habe er jetzt die finanziellen Mittel, um seine Fantasien auszuleben. Seine Kleidung sagt aus: „Ich bin nicht nur einer der vielen Schwarzen, die um ein Stückchen Maniok oder Kentucky Fried Chicken kämpfen – hier bin ich der Beste.“ Der Ursprung des SAPE liegt jedoch in einem Aufstehen gegen soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit und wird von seinen Anhängern als „friedliche Revolution“ begriffen, die sowohl auf die Missstände im Kongo als auch auf die „Armut, Unauffälligkeit und die Position am Rande der französischen Gesellschaft“ aufmerksam machen will. Gentrifizierung in Norddeutschland Der Eintritt zu den Veranstaltungen ist kostenlos, selbst Getränke und Snacks werden gestellt. Lediglich der Abschlussfilm, der im City46 gezeigt wird, kostet Eintritt, für Studenten jedoch lediglich drei Euro. Dieses Jahr gab es hier den Film „Buy Buy St. Pauli“ zu sehen, der sich mit dem heißdiskutierten Thema der Gentrifizierung (Umgestaltung des Stadtbilds, das in der Regel höhere Mietpreise und damit einhergehend eine Veränderung der sozialen Strukturen bedeutet) und den Protesten rund um die Hamburger Esso-Häuser befasst. Diese waren 2009 an das deutsche Immobilienunternehmen „Bayerische Hausbau“ verkauft worden, das sie abreißen und an ihrer Stelle profitable Neubauten errichten wollte. Die Bewohner hatten
Buy St. Pauli: © Irene Bude, Olaf Sobczak, Steffen Jörg
sich lange dagegen gewehrt, mussten aber letztendlich wegen Einsturzgefahr ihre Häuser verlassen. Der Film wirft die Fragen auf, welche Rechte Mieter gegenüber dem Eigentümer haben und inwieweit Stadtplanung die Wünsche der Bürger gegenüber wirtschaftlichen Interessen abwägen muss. Auch studentische Arbeiten werden geehrt Aber nicht nur große Filme sollen gezeigt werden. Den Auftakt der beiden Abende machte jeweils ein Kurzfilm von Studenten der Universität Bremen; so konnte man dieses Jahr „Hacking Istanbul – A Hackerspace Documentary“ von Tim Schütz sowie Melina Schürmanns „Translation, Culture, Gender“ sehen. Während ersterer die Hackerszene Istanbuls und ihre Philosophie näher beleuchtet, stellt letzterer ein Tanz- und Theaterprojekt vor, das sich mit der Übertragung kultureller und sozialer Stereotypen mittels der Körpersprache beschäftigt und wie diese aufgebrochen werden können. Beide Regisseure waren, ebenso wie Martin Gruber und Sebastian Eschenbach, anwesend und beantworteten im Anschluss an ihre Filme Fragen aus dem Publikum. Zwar trauten sich einige Anwesende durchaus, Fragen zu stellen; insgesamt würde sich die Organisatoren der Filmtage jedoch mehr tatsächliche Diskussion wünschen. Dies sei ja schließlich auch das Ziel der Filmschaffenden: Sie wollen eine wissenschaftliche Lücke schließen. Indem ethnografische Filme nicht „vorgekautes Wissen“ verbreiten, sondern versuchen, eine Thematik so neutral wie möglich darzustellen, entsprechen sie vielleicht nicht unseren Sehgewohnheiten. Ihre Qualitäten liegen, so Julia Schlecht, vielmehr darin, „einen niedrigschwelligen, intuitiven Zugang zu unterschiedlichen Bereichen“ zu ermöglichen und den Diskurs auch über den eigenen Fachbereich hinaus fördern. Text: Annette Bögelsack
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Agenten der Arbeitslosigkeit
Als Geisteswissenschaftlerin zu Gast bei der Agentur für Arbeit
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eit Kurzem frage ich mich, ob nicht eigentlich die Agentur für Arbeit selbst, mit ihren zahlreichen Angeboten für uns Studierende als zukünftige Arbeitnehmer, die eigentliche Hürde darstellt, die es nicht nur zu überwinden gilt, sondern die im Idealfall komplett umschifft werden sollte. Dieser Gedanke beschäftigt mich, seitdem ich die Jobvermittlung bzw. die Berufsberatung für Studierende in Anspruch genommen habe. Mit dem ursprünglichen Ziel, mich in die hauseigene Bewerberkartei aufnehmen zu lassen, um vielleicht auf diesem Wege einen Nebenjob mit späterer beruflicher Relevanz zu ergattern, marschierte ich hochmotiviert und nicht wenig stolz auf meine Eigeninitiative in die Räumlichkeiten des freundlichen Beratungsteams. Mit der Erwartungshaltung, die personalisierte Jobvermittlung funktioniere wie eine Dating-App, schilderte ich meinem Agenten haarklein all meine Fertigkeiten, Sprachkenntnisse und Qualifikationen, mit denen es wohl ein Leichtes sein würde, mich an den „Mann“ zu bringen – dachte ich zumindest. Dass ich hier allerdings nicht beim Speed-Dating war, wurde mir bewusst, als der äußerst engagierte Mitarbeiter scheinbar durch reine Gedächtnisleistung alle Stellen, Kontakte und Vernetzungen, welche die Agentur dem Arbeitssuchenden zu bieten hat, mit meinem geschilderten Profil in einer sportlichen Zeit von wenigen Sekunden abglich. Ich war verblüfft: Was für eine kognitive Leistung! Jeder andere hätte wahrscheinlich erst einmal die Datenbank aufrufen müssen, aber nicht so mein neuer Hoffnungsträger. Nach dieser äußerst analytischen und kompetent mentalen Recherche stellte mein Gegenüber jedoch mit Bedauern fest, dass es wohl kein berufliches Match im Großraum Bremen für mich geben wird. Bevor ich alle Hoffnungen auf meinen zukünftig stabilen Finanzstatus aufgab, zauberte mein neuer Meister im Karohemd einen ausgebufften Vorschlag, welcher die Lösung all meiner Sorgen sein sollte, aus dem Hut. Er lehnte sich nach einer sorgfältig gewählten Kunstpause zufrieden zurück und verkündete: „Keine Sorge, wir finden einen Nebenjob für Sie!“ Mit einem vielversprechenden Blick in Richtung Flur weihte er mich nun endlich in die geheimen Tricks und Kniffe der erfolgreichen Jobsuche ein. „Alle Stellenangebote finden Sie draußen in unserem Glaskasten, da kommen ständig neue dazu. Müssen Sie einfach regelmäßig mal vorbeischauen.“ Nach getaner Arbeit lehnte sich mein Agent der Arbeitslosigkeit sichtlich zufrieden in seinem knarrenden Schreib-
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tischstuhl zurück. Ich schwieg. Dass ich des Lesens mächtig bin, den Glaskasten bereits eindringlich studiert hatte und das persönliche Beratungsgespräch suchte, um eben nicht als Animateurin im Dirndl im Festzelt des Bremer Freimarkts arbeiten zu müssen, verschwieg ich. Diese naive Vorgehensweise war mit Sicherheit mein Fehler. So ein Glaskasten ist ja auch eine wirklich schicke Angelegenheit. Ein wahres Symbol der Transparenz und Aktualität. Einfach klasse, dass dieses Projekt ins Leben gerufen wurde. Ich blickte auf die Uhr und stellte fest, dass ich erst in einer halben Stunde zum Mittag verabredet bin. Ich beschloss, dieses Zeitfenster zu nutzen und, wenn ich schon mal hier war, eine generelle Beratung zur Planung meines Masterstudiums in Anspruch zu nehmen. Immerhin, wenn jemand eine Ahnung von den aktuellen Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt für Geisteswissenschaftler haben sollte, dann ja wohl der Berater für Studierende. Darüber hinaus wird ihm wohl des Öfteren jemand aus diesem Fachbereich gegenüber sitzen. Denn gerade in den Geisteswissenschaften stellt sich das berufliche Profil bekanntlich als eher diffus dar. Jeder muss sich auf eigene Faust wie ein Trüffelschwein auf die Suche nach seiner eigenen ökonomischen Nische begeben. Dies dachte ich hiermit zu tun. Ich war mir also sicher, bei der Agentur - in ihrer Funktion als Beratungsinstanz für alle beruflichen Branchen - an der Gelenkstelle der flexiblen Karriereplanung angekommen zu sein. Erneut schilderte ich meine akademische Karriere, ließ mein Studium Revue passieren und erklärte detailliert aktuelle Themen und Aspekte meines Masterstudiums. Während meiner Ausführungen verzog mein Informant jedoch mehrmals äußerst dezent das Gesicht und presste sich erneut in die bereits stark strapazierte Sitzschale seines Sessels. Ich war verwirrt. Hatte ich nicht gerade von akademischen Leistungen geschwärmt, die an Eigeninitiative und fachlicher Begeisterung kaum zu überbieten waren? Ich schrumpfte ein wenig auf meinem Stuhl zusammen. Auch hier war mir wohl ein erneuter Fehler unterlaufen. „Sie wissen schon,...“ begann mein Gegenüber an bereits vorhandenes Wissen anzuknüpfen, „...dass der Arbeitsmarkt für Geisteswissenschaftler extrem, wenn nicht sogar katastrophal schlecht aussieht?“ Nach einer bedeutungsschweren Pause erläuterte er weiter: „Wenn Sie keine einschlägigen Qualifikationen im Bereich der Betriebswirtschaftslehre, Jura oder Informatik vorweisen, kämen Sie als Arbeitnehmerin im Prinzip für keine der ausgeschriebenen Stellen auf dem jetzigen
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hielt ich den Schlüssel des Glücks auf recyceltem Papier in den Händen. Vorher ließ er es sich jedoch nicht nehmen, die Überschrift der Darstellung gewissenhaft mit Textmarker zu markieren – sicher ist sicher. Nun musste ich leider feststellen, dass die Fachkraft den Drucker lediglich um eine schlecht formatierte Mindmap bemühte, welche die verschiedenen Arbeitsbereiche der Geisteswissenschaften stark vereinfacht darstellte. Ich hätte zudem schwören können, genau diese Abbildung schon einmal gesehen zu haben. Das dürfte so in der 9. Klasse im Rahmen der „Zukunftstage“ an unserer Schule gewesen sein. Auf keinen Fall möchte ich an dieser Stelle an der Aktualität des Anschauungsmaterials der Agentur zweifeln. Nach getaner Arbeit lümmelte sich mein Gegenüber zufrieden in seinen Polsterstuhl und beendete das Gespräch mit den Worten: „Diese Grafik sollte Ihnen eine anschauliche Orientierung für Ihre zukünftige Karriereplanung liefern! Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg!“ „Gut...“, dachte ich mir an dieser Stelle, „...immerhin habe ich einen Zettel in der Hand, auf dem was markiert wurde. Das ist doch was.“
Markt in Frage. Und ich sehe hier,...“ führte er seine Belehrung fort, „...dass Sie über keine zertifizierten Kenntnisse in diesen Bereichen verfügen.“ „Warum auch“, dachte ich mir an dieser Stelle „hab ja auch Germanistik studiert. Das hat mich eigentlich auch immer ganz gut ausgelastet.“
Mein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es Zeit zum Mittagessen war. Ich verabschiedete mich freundlich und verließ den Raum. Im Flur beglückte ich den nächsten Papierkorb mit meiner „Mind-Map der Macht“ und beschloss spontan, heute Abend eine Stunde länger wachzubleiben. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis, mir die eben verlorene Stunde zurück zu ergattern. Beschwingt und voller Zuversicht marschierte ich die Treppe herunter. Bevor ich arbeitslos würde, könnte ich ja immer noch Jobberater bei der Agentur für Arbeit werden, diese Aufgabe würde ich mir durchaus zutrauen. Text und Bild: Mareike Kalbitz
Ich beschloss dennoch meinem Berater noch eine letzte Chance zu geben, mich an seinem umfassenden Knowhow teilhaben zu lassen. Ich erkundigte mich nach Möglichkeiten, wie ich mich aus der Situation der zukünftigen finanziellen Schieflage befreien könnte. Auch hier blieb mir der freundliche Mitarbeiter keine Antwort schuldig. „Keine Sorge, ich habe hier etwas ganz Tolles für Sie!“ verkündete er zufrieden, betätigte ein paarmal blitzschnell seine Maus, stieß sich im Anschluss mit überraschendem Elan von seinem Schreibtisch ab und schoss auf seinem neu entdeckten Raketenstuhl in Richtung Drucker. Voller Vorfreude, gleich die Lösung all meiner Probleme druckfrisch in den Händen zu halten, hielt ich den Atem an. Endlich 19
BREMEN - Eine Straße in Bremen -
Zwischen neu gepflanzten Bäumen und viel Asphalt: Die Münchener Straße in Findorff Die „kleine Schwester“ der Hemmstraße im Bremer Stadtteil Findorff hat mehr zu bieten, als es auf den ersten Blick scheint. Denn wenn man genau hinschaut, findet man neben der üblichen Dönerbude, der Eck-Kneipe und dem Edeka-Markt auch den einen oder anderen Schatz unter den Einzelhändlern und Cafés. Was die Straße jetzt so besonders umweltfreundlich macht, ist jedoch noch nicht so ganz klar.
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ls ich vor etwas mehr als einem Jahr nach Bremen und in den Stadtteil Findorff kam, war die Münchener Straße eine einzige, lange, scheinbar niemals endende Baustelle. Also am besten immer einen Bogen drum machen, dachte ich mir. Bis ich im letzten Sommer selbst in die Straße zog. Umweltfreundlich oder unansehnlich? Aus der Baustelle ist im Oktober endlich eine fertige Straße mit ungewöhnlich breiten Gehwegen geworden, die von Fahrradfahrern regelmäßig als Fahrbahn verwendet werden. Eine „klimaangepasste Straße“ soll sie nun sein. Die erste in Bremen, sogar die erste in Europa. So heißt es vom Senator für Umwelt, Bau und Verkehr. Das einzige, was erstmal darauf hinweisen könnte, dass es sich hier um eine „grüne Straße“ handelt, sind allerdings nur ein paar neu gepflanzte Bäume und überdurchschnittlich viele Fahrradständer. Der Rest wirkt ziemlich zugepflastert, viel von Autos befahren und alles andere als das, was man sich unter „klima-angepasst“ vorstellt. Der Grund, warum die Straße aufwendig umgestaltet wurde, liegt hauptsächlich im Klimawandel. Nach dem Starkregen im August 2011 und anschließend unzählig überfluteten Kellern in Findorff und weiteren Teilen Bremens musste nun vorgesorgt werden. Mit dem Modellprojekt Münchener Straße wolle man „die Auswirkungen künftiger Starkregenfälle mildern und für ein besseres Stadtklima sorgen“, teilte die Pressestelle des Senats in einer Erklärung mit. Gekostet hat das ganze etwa 2,4 Millionen Euro. Ob sich das Stadtklima damit jetzt verändert hat und Kellerüberflutungen in Zukunft nicht mehr eintreten, bleibt abzuwarten. Platz für grüne Flächen und Bänke wäre eigentlich genug in der Münchener Straße. Doch außer ein paar alten Bunkerklos an der Ecke zur Augsburger Straße, die mit Blumen bepflanzt wurden und grün hervorstechen, ist grau bis jetzt die dominierende Farbe in der Straße. Ein paar Stapel-Paletten, die von engagierten Bürgern aufgestellt und zu Sitzgruppen umfunktioniert wurden, waren ein Anfang. Sie gefielen aber anscheinend dem Amt für Straßen und Verkehr nicht besonders, die sie wieder entfernen ließ. Schade. Vielleicht sollte man der Straße aber auch noch ein paar Jahre geben. Die Stadt hat schließlich „besonders schnell wachsende Bäume“ gepflanzt und „Urban Gardening“, also das Gärtnern auf öffentlichen Flächen in der Stadt, ist trotz der Räumungs-Maßnahmen weiterhin geplant. 20
Von Tierschutz zu Torten Wenn man von der Hemmstraße in die Münchener Straße einbiegt, fällt auf der linken Seite ein kleiner Second-Hand-Laden besonders auf. Denn es ist kein gewöhnlicher Laden für Gebrauchtes. Er ist Teil des Bremer Tierschutzvereins und bietet neben allerhand Trödel von Kochtöpfen über Spielzeug bis hin zu Möbeln und Kleidung auch viele Informationen zum Tierschutz in Bremen. Wer also etwas gutes Tun möchte, braucht hier eigentlich nur einzukaufen, denn der Erlös fließt vollständig in den Tierschutzverein. Weiter die Straße herunter, findet man auf der gegenüberliegenden Seite das erste kulinarische Highlight der Münchener Straße: Katjas Villa Kunterbunt. Besonders zu empfehlen ist hier der Käsekuchen mit kleinen Goldtröpfchen drauf. Wer gerne Kuchen isst, ist in der Münchener Straße eigentlich sowieso richtig, denn nur ein paar Meter weiter befindet sich das „Knubke´s“, ein liebevoll eingerichtetes Café, das sowohl mit Kuchen und Torten als auch mit einem Mittagstisch und regelmäßigen Menü-Abenden glänzt. Besonderheit hierbei: Fast alle Speisen sind vegetarisch oder vegan und die Zutaten kommen von Bauern aus der Gegend. „Wir nennen das biologisch-undogmatisch“ erzählt Wiebke Meenen, die im Café arbeitet. Zusammengearbeitet wird auch unter anderem mit der „flotten Karotte“ direkt gegenüber. Seit 2001 versorgt der Bio-Mitgliedsladen die Findorffer mit Lebensmitteln und anderen Produkten aus kontrolliert biologischem Anbau. „Im Vordergrund steht bei uns, den Leuten günstige Bio-Produkte anzubieten“, erklärt Nicole Kahla, die zusammen mit Tobias Wolf das Geschäft führt. Das Prinzip des Ladens ist, dass Mitglieder, die einen monatlichen Beitrag zahlen, die Produkte zu einem anderen Preis bekommen als andere Kunden. Aber auch Nicht-Mitglieder wie ich kommen gerne in den Laden, der mit einer gemütlichen Kaffee-Ecke und einer großen Auswahl lockt. Text: Melanie Otte
BREMEN
Die Wohnung steht leer? Was tun wir in der Zwischenzeit? - ZwischenZeitZentrale Bremen Die leere Lagerhalle, das verwaiste Bürogebäude oder die alte Villa am Stadtpark stehen leer und werden nicht genutzt, ein neuer Mieter ist nicht in Sicht. Um eine kurzfristige Lösung zu finden, gibt es das Modell der Zwischennutzung.
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arum ein Haus leer steht, kann viele Gründe haben. Ist es aber noch gut in Schuss und hat auch sonst keine baulichen Mängel, sondern es fehlt vielleicht nur ein neues (Nutzungs-)Konzept, kann es gut sein, dass es trotzdem nicht am traditionellen Immobilienmarkt vermietbar ist. Um dieses Problem aus der Welt zu schaffen und neue Wege zu gehen, wurde von der Stadt Bremen ein Projekt ausgeschrieben, um dem entgegenzuwirken und Leerstand zu vermeiden. Seit dem 12. März 2010 gibt es die ZwischenZeitZentrale (ZZZ), die „schlummernde“, nicht genutzte Immobilien zu neuem Leben erweckt. Dabei werden Objekte und potenzielle Nutzer zusammengeführt, die Eigentümer umfassend beraten, Menschen weiter vernetzt und neue Konzepte entwickelt. Die Gründer der ZZZ initiierten das Pilotprojekt der nationalen Stadtentwicklung des Bauministeriums und arbeiten eng zusammen mit vier Bremer Ressorts und städtischen Eigenbetrieben. In den ersten drei Jahren hat die ZZZ schon dreißig Zwischennutzungsprojekte verwirklicht und gleichzeitig die Möglichkeit der Zwischennutzungen als Instrument der Stadtentwicklung erprobt. Das Experiment „Zwischennutzung“ der ZZZ dient inzwischen als innovatives Vorbild für europäische Städte, das Projekt TUTUR (Temporary Use as a Tool for Urban Regeneration) wurde dafür ins Leben gerufen und die Erfahrungen der ZZZ an die Städte Rom und Alba Iulia weitergegeben. Das Konzept der Zwischennutzung („Made in Bremen“) ist inzwischen erwachsen geworden in Bremen und umzu und allgemein akzeptiert. Die Formel Leerstand, Brache + Idee – geringe Miete = Instandhaltung der Immobilie + Berufschance + Belebung ist also ein Erfolgsmodell mit einer Win-Win-Situation für alle Parteien.
Ein Beispiel für eine effiziente wie kreative Zwischennutzung ist die Plantage 9 (ehemaliges Betriebsgebäude der Firma Domeyer), ein Gebäude, welches eigentlich einer Straße weichen soll, sich aber noch in einem guten Zustand befindet und nun effektiv bis zum Abriss genutzt werden kann. Als Mieter sind zum Beispiel Fotografen, Grafikdesigner, Modedesigner, Studenten und Künstler eingezogen. Ein bunter Haufen voller Kreativität; die Nachfrage nach erschwinglichen Räumen im „Gebrauchszustand“ ist groß. Uwe Malte Arndt, Inhaber der Firma LUMABAG nutzt das Konzept und hat sich bei der ehemaligen Wurstfabrik Könecke in Bremen-Hemelingen eingemietet. Im Portfolio der ZZZ sind überwiegend Gewerbeimmobilien, vom einfachen Ladenlokal über Wohnhäuser bis hin zu Grünbrachen. Selbst eine ehemalige Justizvollzugsanstalt befindet sich im Angebot. Für die zukünftigen Nutzer stehen also viele Möglichkeiten zur Verfügung; hier ein paar Beispiele für eine erfolgreiche Zwischennutzung: Präsentationen – Studiengang Theater im Sozialen im Lloydhof, Temporäre Hafenbar Golden City 2015 in der Überseestadt, Kukoon – Kulturkombinat offene Neustadt Gesellschaft für bunte Steine mbH im Buntentorsteinweg. Die kreativen Köpfe der ZZZ sind das Autonome Architektur Atelier (AAA) sowie Michael Ziehl und Sarah Oswald. Das Projekt wird läuft noch bis August 2016 und wird bis dahin weit über 50 Projekte verwirklicht haben. Mehr Informationen unter www.zzz-bremen.de Text und Illustration: Axel Otersen
Oliver Hasemann (links) und Daniel Schnier (rechts) von der ZZZ 21
BREMEN
Die beste und schlimmste Entscheidung seines Lebens Viele von euch sind bestimmt schon mal an ihm vorbeigelaufen: Nils Ellerbusch, 22 Jahre alt, steht fast jeden Tag mit seiner Gitarre in der Bremer Altstadt und singt. Seit fast zwei Jahren verdient er sein Geld als Straßenmusiker.
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n den Wochenenden und Abenden, wenn die Leute Zeit haben stehenzubleiben, läuft es bei Nils besonders gut. Seine gefühlvollen Texte und leisen Akkorde bringen viele Passanten, Touristen und Kneipenbesucher dazu, innezuhalten und zuzuhören. Und das lohnt sich, denn Nils hat in seinen Liedern viel zu erzählen. Er hat es nachgerechnet: 32,6 Prozent seiner Songs sind Liebeslieder. In den anderen 67,4 Prozent will er ermutigen, seine eigenen Träume zu verfolgen, kritisiert das zwanghafte Durchplanen des eigenen Lebens oder entlarvt, wie Hollywood unsere Vorstellungen von Liebe bestimmt. Das älteste Lied, das er heute noch spielt, „Feuerengel“, fand er zuerst selbst zu kitschig, um es ernsthaft vor Publikum zu spielen, erzählt er. Nur wegen seiner Freunde fand es seinen Weg an die Öffentlichkeit. Die Ausbildung zum Kindergärtner war doch nicht das Richtige und die Musik schon immer da gewesen: Als Kind spielte er Blockflöte, dann Trompete, später Klavier und schließlich Gitarre. Eigene Songs schreibt er schon seit er 14 ist, damals noch auf Englisch, mithilfe eines PONS-Wörterbuchs. Heute schreibt Nils fast nur noch auf Deutsch. Aus finanzieller Not stellte er sich vor ein paar Jahren ab und zu in die Sögestraße oder auf den Marktplatz, bis er sich entschied, die Ausbildung sein zu lassen und Straßenmusiker zu werden. „Die beste und schlimmste Entscheidung meines Lebens!“, wie er selbst sagt. Geld verdienen kann man tatsächlich so: Nils hat sich vor kurzem ein Tablet gekauft - und es mit Kleingeld bezahlt. Im Winter mit vier Pullovern übereinander, verbringt er oft den ganzen Nachmittag und Abend in der Stadt. Die Musiker auf der Straße kennen sich, manchmal versteht man sich gut, manchmal herrscht Konkurrenzkampf. Jeden Tag begegnet er neuen Menschen; viele Freundschaften sind durch die Musik entstanden. Wenn er die Leute mit seiner Musik bewegen kann, freut er sich immer. Wie zum Beispiel der bullige Mann in Springerstiefeln, der anfing zu weinen. Oder das Mädchen aus der Ukraine, das ihm einen Brief schrieb, nachdem sie ihm zugehört hatte. Seit Nils 2014 am Bandwettbewerb „Live in Bremen“ teilgenommen hat, steht er immer wieder auf den Bühnen in Bremen und umzu. „Hallo, ich bin Nils Ellerbusch. 22, Singer-Songwriter, Single“, so stellt er sich am Anfang seiner Konzerte vor. Auf den letzten beiden Breminalen und im November 2014 im Pier 2 hat er schon für ein großes Publikum spielen können. Aber auch kleine Konzerte, etwa im Studentenwohnheim, auf der MS Treue oder einfach im 22
© Oliver Schweers
Wohnzimmer von Freunden, gefallen ihm. Außerhalb Bremens hat er sich schon auf den Straßen Berlins, Hamburgs, in Duisburg und Münster versucht. Aber Bremen ist seine Heimat - mit der er eine Hassliebe pflegt, denn hier kennt er sich zwar aus, hier ist sein Freundeskreis, in der Musikszene Bremens ist er gut vernetzt. Doch der Gedanke, mit der Gitarre um die Welt zu reisen, lässt ihn auch nicht los. Musiker wie Glen Hansard, John Mayer und Passenger beeindrucken ihn, denn sie alle können mit begrenzten Mitteln – Akustikgitarre und Gesang - viel Gefühl vermitteln. Nils will wie sie keine simplen, immer gleichen Liebeslieder schreiben, sondern in seinen Texten Raum für Interpretation lassen; jeder soll etwas Eigenes daraus mitnehmen. Am liebsten ist ihm daher ein ruhiges, aufmerksames Publikum, bei dem er merkt, dass die Leute seinen Texten zuhören und darüber nachdenken. Nächstes Jahr wird er eine EP aufnehmen, und vielleicht geht es dann so richtig los mit der Karriere. Für immer wird Nils kein Straßenmusiker sein. Vielleicht verschlägt es ihn ins Ausland, vielleicht sogar eines Tages an die Uni? Das weiß er noch nicht. Aber man muss ja nicht alles planen. Text: Lena Kramer
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Was können wir eigentlich noch essen?! Greenpeace gibt einen Einkaufsratgeber mit dem Titel „Essen ohne Pestizide“ heraus, der bei der Frage helfen soll, welches Obst und Gemüse gering belastet ist. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) dagegen stellt in einem Bericht dar, dass Lebensmittel selten mit Pestiziden belastet sind. Was stimmt denn jetzt? Sind unsere Lebensmittel tatsächlich stärker belastet, als uns vorgegeben wird? Oder stammen die Bedenken von hysterischen Umweltschützern und eigentlich ist das alles gar nicht so schlimm?
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m 15. Oktober diesen Jahres lief im ARD-Fernsehen ein Bericht mit dem Namen „Pestizid Cocktails“. Dieser hat mich sehr nachdenklich gestimmt und mein Essverhalten radikal verändert. Heute stehe ich vor dem Regal im Supermarkt und sehe vor meinem inneren Auge überall kleine böse Pestizide auf den Äpfeln und Paprikas tanzen und mich hämisch angrinsen. Panisch lasse ich sie liegen und wende mich dem Bio-Regal zu. In dem ARD-Beitrag kommt Dirk Zimmermann von Greenpeace zu Wort und betont: „Das Problem fängt auf dem Acker an – es wird immer mehr gespritzt, es kommen immer mehr Mittel zum Einsatz und letztendlich findet sich das auch in den Produkten wieder, die in den Handel gelangen.“ „Es wird immer mehr gespritzt“ – damit ist gemeint, dass immer mehr verschiedene Fungizide, Herbizide und Pestizide, also Mittel gegen Pilze, Unkraut und Ungeziefer, zum Einsatz kommen. Dadurch kommt es zu Mehrfachrückständen in und auf den Lebensmitteln. Laut dem ARD-Bericht „Pestizid Cocktails“ warnen Mediziner und Toxikologen vor dem Verzehr gespritzter Lebensmittel, besonders vor solchen, die mit vielen verschiedenen Pestiziden belastet sind. Diese Pestizid-Cocktails stehen im Verdacht, durch ihr Zusammenwirken menschliche Zellen zu schädigen und Krankheiten wie Krebs oder Parkinson auszulösen. Wissenschaftler fordern daher, Summengrenzen für Pestizide einzuführen. Es gibt bis heute keine Studien darüber, wie Pestizide zusammenwirken. Es kann also sein, dass die verschiedenen Pestizidarten ihre Wirkung im Zusammenspiel verstärken und sich aufaddieren. Somit würde der gesetzliche Höchstwert deutlich überschritten werden. Im ARD-Beitrag testet die Redaktion mehr als 20 Proben aus verschiedenen deutschen Städten mit dem Ergebnis, dass fast alle Proben belastet sind. Mehrfach belastet waren vor allem Johannisbeeren (acht verschiedene Pestizide) und Weintrauben (12 verschiedene Pestizide). Aber auch Himbeeren, Orangen, Salate und verschiedene Apfelsorten waren im Test mehrfachbelastet. Zudem wurden vier Pestizide gefunden, die eine hormonelle Wirkung haben oder nachweislich Krebs auslösen können. Insgesamt wurden die von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit vorgegebenen Höchstwerte für Pestizide nicht überschritten, weswegen solche Proben als unbedenklich eingestuft werden.
© skeeze/Pixabay
Studien werden von Chemiekonzernen durchgeführt Der Beitrag der ARD stellt aber auch dar, dass die Chemiekonzerne seit Jahren steigende Umsätze feiern. 1,6 Milliarden Euro sollen sie im letzten Jahr mit Pflanzenschutzmitteln verdient haben. Das Interesse der Chemiekonzerne, weniger Pestizide auszubringen, dürfte sich daher wohl in Grenzen halten. Nachdenklich machen sollte einen die Zulassung der Wirkstoffe durch die EU. Diese werden aufgrund von Studien zugelassen, welche die Chemiekonzerne in Auftrag geben. Laut dem Industrieverband „Agrar“ werden diese Studien von unabhängigen Labors durchgeführt und sind an wissenschaftliche Standards gebunden. Trotzdem ist es wohl nicht ganz unbedenklich, wenn die Chemiekonzerne, die mit den Produkten Milliardengewinne erzielen, die Studien durchführen lassen. Die Efsa hat nun angekündigt, tausende Höchstwerte neu zu prüfen, und laut ARD-Bericht in vielen Fällen eine Absenkung der Höchstwerte vorgeschlagen. Bis dahin allerdings landen die Lebensmittel weiter auf unseren Tellern, ohne, dass wir das mögliche Risiko abschätzen können. Die faz schreibt im April 2015 über einen Bericht der Efsa, aus dem hervorgeht, dass 55 % der Lebensmitteln unbelastet sind, 27 % Mehrfachrückstände aufweisen und 1,5 % die Höchstgrenze überschreiten. Dazu wurden 81.000 Lebensmittel aus EU und Nicht-EU Ländern getestet. Insgesamt stellt der Bericht fest, dass Lebensmittel aus der EU seltener belastet sind als Lebensmittel aus Nicht-EU-Ländern. Die Efsa hält darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit, sich bei einzelnen Mahlzeiten mit belasteten Lebensmitteln Schaden zuzufügen, für gering. Zu Mehrfachrückständen und Langzeitwirkungen aber steht in dem faz-Artikel nichts. Das Bundesamt für Risikobewertung (BfR) informiert 23
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ebenfalls über Pestizide und Mehrfachbelastungen. Auf ihrer Internetseite steht, dass nach Erfahrungen des BfR und der Efsa bei mehrfach belasteten Lebensmitteln die einzelnen Wirkstoffe in sehr geringem Maße vorhanden sind und meistens von einem Wirkstoff dominiert werden. Die mehrfachbelasteten Proben seien also nicht schädlicher als einzelne Wirkstoffe und der Behörde lägen keine Studien vor, die auf eine Gefahr für den Verbraucher hinweisen. Verbraucherzentralen empfehlen Verzehr von regionalen, biologischen Lebensmitteln In einem Positionspapier aus dem Jahr 2008 fordern die Verbraucherzentralen der Länder Risikobewertungen von Mehrfachrückständen. Bis heute gibt es jedoch keine gesetzlichen Grenzen für Mehrfachbelastungen. Die Verbraucherzentrale Niedersachsen gibt, ähnlich wie Greenpeace, Empfehlungen zum Kauf von Obst und Gemüse und stellt fest, dass manche Obst- und Gemüsesorten sogar mit bis zu 30 verschiedenen Pestiziden belastet sind. Außerdem weist sie darauf hin, dass besonders der direkte Kontakt mit Pflanzenschutzmitteln Auswirkungen für den Menschen habe. In Entwicklungsländern sterben demnach tausende Menschen jährlich an den Folgen und auch in Europa gibt es zahlreiche Hinweise, dass Pestizidanwender ein höheres Risiko haben, an Krankheiten wie zum Beispiel Parkinson zu erkranken. Auch die Umwelt leidet unter dem Einsatz von Pestiziden. Häufig gibt es auf gespritzten Feldern nur noch zwei bis drei Insektenarten. Diese Entwicklung kann wohl zu Recht als bedenklich eingestuft werden. Text: Christine Kellermann Einige wichtige Empfehlungen der Verbraucherzentrale Niedersachsen (in etwa deckungsgleich mit denen von Greenpeace):
- Bevorzugen Sie saisonales und regionales Obst und Gemüse - Obst und Gemüse aus ökologischem Anbau sind weitgegend rückstandsfrei und daher zu bevorzugen - Obst und Gemüse sollten immer unter fließendem Wasser abgewaschen und mit einem Tuch abgerieben werden. Das Schälen von Äpfeln und Birnen ist nicht empfehlenswert, da dabei wertvolle Inhaltsstoffe verloren gehen. - Waren mit dem QS Prüfzeichen werden häufiger kontrolliert als andere Ware
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Kommentar der Autorin: Ich persönlich werde weiterhin größtenteils Bio kaufen und regional. Die „Welt der Chemiekonzerne“ kommt mir nach meinen Recherchen vor wie ein großes Haifischbecken, in dem es vor allem um sehr viel Geld geht. Ich weiß nicht, welche Pestizidrückstände sich auf dem Obst und Gemüse befinden, das ich kaufe. Ich weiß auch immer noch nicht, ob mir die Rückstände schaden können. Es fehlt allerdings eindeutig an Transparenz, sodass ich gerade den Mehrfachbelastungen nicht traue. Meine Recherchen haben gezeigt, dass das Thema sehr umstritten ist und scheinbar niemand so genau weiß, wie einzelne Stoffe zusammenwirken. Ich möchte niemanden bekehren, ich möchte nur aufklären. Ob ihr Bio kauft oder nicht, das bleibt eure Entscheidung. Aber ich möchte euch zumindest zum Nachdenken anregen, denn die Entwicklungen der Pflanzenschutzmittel-Branche beobachte ich mit Sorge.
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Ein bisschen Bi schadet nie - oder etwa doch? Über die Darstellung bisexueller Charaktere in US-amerikanischen TV-Serien
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ie Repräsentanz Bisexueller in US-amerikanischen Fernsehsendungen erlebt gerade eine Hochkonjunktur. Ob Francis Underwood (House of Cards), Annalise Keating (How to get away with Murder), Hannibal Lecter (Hannibal), Joe MacMillan (Halt and Catch Fire) oder die Gräfin Elizabeth (American Horror Story Hotel): All diese fiktionalen Charaktere haben Affären und Beziehungen mit Männern und Frauen. Darüber könnte man sich eigentlich freuen, denn bislang füllten Menschen mit schwuler oder lesbischer Orientierung oft nur eine Nische in der Film- und Fernsehwelt. Dabei werden oft gleich ganze Genre-Serien geschrieben, die sich ausschließlich mit dem Thema des ‚Nicht-Heteroseins’ beschäftigten, so z.B. Queer as Folk, The L-Word oder jüngst Looking. Diese Serien, die das Publikum für die Lebenswelt einer gesellschaftlichen Minorität sensibilisieren sollten, perpetuierten jedoch geradezu ein Bild der Exklusivität des Schwul- oder Lesbischseins. Man sieht Schwule, die sich weitgehend in schwulen Freundeskreisen bewegen und künstlich gezeugte Kinder mit lesbischen Frauen haben (Queer as Folk), oder das Gegenstück: Lesbische Freundinnen, die zusammen durch ‚dick und dünn’ gehen, aber kaum Kontakte zu Menschen mit heterosexuellen Hintergrund haben (The L-Word). Diese Bilder sind reine Fiktionen, aber durchaus bequem, denn sie transportieren vor allem Eindeutigkeit: Jeder ist da, wo er hingehört. Im Fernsehen, ob nun hier oder in Übersee, ist die Darstellung schwuler und lesbischer Charaktere immer etwas problematisch. Es gibt keine schwulen Superhelden oder lesbischen Disney-Prinzessinnen. Schafft es ein Charakter mit homosexueller Ausrichtung tatsächlich einmal in eine Vorabendsendung oder ein Crime Time Format, wird er meist auch auf seine sexuelle Präferenz reduziert. Seit einigen Jahren hat man jedoch eine Form des sexuellen Non-Konformismus gefunden, mit der die Sender und Produzenten offenbar gut leben können: Die Figur des Bisexuellen. Die Vorsilbe ‚bi’ bedeutet ‚zwei’. Bisexuelle sind nicht homosexuell; sie bilden eine eigene Gruppe. Sie sind ambisexuell (Pansexualität wird an dieser Stelle ausgeklammert) und gehen (sexuelle) Beziehungen mit Männern und Frauen ein. Sie können eine geschlechtliche Präferenz besitzen, das muss aber nicht der Fall sein. Sie fühlen sich zu Männern und Frauen gleichermaßen sexuell hingezogen. Eigentlich ist Uneindeutigkeit ja zu vermeiden, denn lange galt es, den Zuschauer nicht mit allzu komplexen Sachverhalten zu überfordern. Aber im Fall der Bisexuellen ist
ihre Ambivalenz für das Fernsehen Gold wert. Sie werden gehandelt als flexibel, unberechenbar und haben Verwandlungs- und Verstellungspotenzial. So ist etwa Francis Underwood verheiratet; nachdem dann die Geschichte um eine Affäre mit einer jungen Frau beendet ist, kommt der Griff in die Kiste der sexuellen Ambivalenzen. Die sexuelle Anziehung mit dem eigenen Bodyguard hielt den entsprechenden Überraschungseffekt bereit und war ein Mittel gegen das für den Zuschauer allmählich sich von hinten anschleichende Gefühl, nun so ziemlich alles über Frank Underwood zu wissen. Ähnlich steht es mit Figuren wie Annalise Keating, Doktor Lecter oder Gräfin Elizabeth. Es mit sexuell ambivalenten Figuren zu tun zu haben, bedeutet für die Drehbuchautoren, sich in paradiesischen Zuständen zu befinden. Man kann – je nach Laune und unabhängig von geschlechtlichen Voraussetzungen - die Hauptfigur seiner Sendung mit jedem ins Bett steigen lassen. Zudem zeigt man sich den Zuschauern gegenüber liberal und offen, auch wenn man seinen Hauptcharakter nie ‚homosexuell machen’ würde. Wird Bisexualität hier zum (sexuellen) Modetrend erhoben? Die bisexuelle Hauptfigur als fauler Kompromiss? Captain America wird derzeit im sozialen Netzwerk Tumblr als bisexuell gefeiert – das ist aber nur ‚fanonisches‘ Wunschdenken, soll heißen, nicht kanonisch, sondern eine durch die Fans geschaffene sexuelle Wunschidentität. Aber folgt man der Logik des Filmemachens, dann passt Steve Rogers, wie Captain Amerika mit bürgerlichen Namen heißt, nicht ins Schema der bisexuellen Hauptfigur. Denn (Super-)Helden sucht man unter den bisexuellen Fernsehcharakteren vergeblich. Der bisexuelle Charakter dient vielmehr als sogenanntes erzählerisches Stilmittel zur Charaktergestaltung. Warum aber sollte die Verwendung von Bisexualität als solches schlecht sein? Insgesamt lässt sich ein gewisses Muster erkennen. Ob stilsicherer Kannibale mit Doktortitel, ein demokratischer US-Präsident, der über Leichen geht, oder eine erfolgreiche, aber korrupte Anwältin, die gern einmal ein Auge zudrückt, wenn einer ihrer Praktikanten ihren Ehemann mit einer Statue erschlägt, so haben alle diese Charaktere eines gemeinsam: Sie sind, was man im englischsprachigen Raum shifty nennt. Neben den Übersetzungen ‚gerissen’ oder ‚durchtrieben’ sticht besonders eine hervor: Zwielichtig. Das Wort ‚zwie’ kommt von ‚halb’ oder ‚gespalten’. Jemand wird demnach charakterisiert als 25
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uneindeutig, ja sogar janusköpfig, und wirkt deshalb auf den Zuschauer bedrohlich. Francis Underwood, Annelise Keating oder Hannibal Lecter sind Menschen, mit denen man sich nicht bei Starbucks auf einen Lebkuchen Latte verabreden möchte - außer man legt besonderen Wert darauf, am Ende der Verabredung vor eine U-Bahn gestoßen zu werden oder als Leiche in einem Rollkoffer zu enden. Vielmehr sind die Bisexuellen ausschließlich die Antihelden oder Schurken der Erzählung. Sie sind erfolgreich, aber unmoralisch. Sie spiegeln ihrem Umfeld vor, starke Persönlichkeiten zu sein. Doch bei näherer Betrachtung offenbart sich ihre innere Gebrochenheit, die unwiderruflich ist und sie dazu antreibt, immer tiefer in die Dunkelheit abzugleiten. Sie sind keine Vorbilder, sondern eine Warnung, was passieren kann, wenn man sich entscheidet, grundlegende moralische Werte über Bord zu werfen. Gesellschaftliche Konsequenzen einer einseitigen und vorurteilsreichen Inszenierung Die immer wieder vollzogene Verknüpfung von sexueller Präferenz und bestimmten negativ konnotierten Charaktereigenschaften der Figuren stechen einem in genannten Beispielen geradezu ins Auge. Doch was für einen Eindruck hinterlässt die Koppelung eines zwielichtigen Charaktertypus mit einer bisexuellen Identität bei den Zuschauern? Sicherlich keinen neutralen! Das Fazit lautet viel eher: Man kann dem Bisexuellen nicht über den Weg trauen. Die Vorurteile, denen diese Gruppe im Alltag ohnehin bereits ausgesetzt ist, werden auch in der fiktionalen Welt wiederholt und dadurch verstärkt. So werden Bi-Figuren grundsätzlich immer als promiskuitiv abgebildet. Sie werden dargestellt als Personen, die mit verschiedenen Menschen parallel sexuelle Kontakte haben und deshalb ein sehr zweifelhaftes Konzept von Treue besitzen. So betrügt die korrupte Anwältin Keating ihren Mann mit einem Polizisten und diesen wiederum mit ihrer vormaligen Ex-Freundin aus Studienzeiten. Den Charakteren wird ein grundsätzliches Fehlen an Zuverlässigkeit in Partnerschaften untergeschoben. Diese Markierung der Figuren zeigt auf sehr drastische Weise, welche gesellschaftlichen Vorurteile bezüglich bisexuell orientierter Menschen beiderlei Geschlechts nach wie vor exis26
tieren. Bisexuell heißt jedoch nicht, langfristigen Bindungen ablehnend gegenüberzustehen oder ständig wechselnde Sexualpartner beiderlei Geschlechts zu haben. Bi bedeutet nicht, mit Mann und Frau zur selben Zeit das Bett zu teilen. Auch Untreue in Partnerschaften ist nichts, was den bisexuellen Menschen besonders beträfe, und sie hat nichts mit der sexuellen Orientierung einer Person zu tun. Diese Selbstverständlichkeit wird allerdings durch die aktuelle Entwicklung in TV-Serien in Frage gestellt. Die Verknüpfung sexueller Präferenz mit fragwürdigem oder sogar inakzeptablem moralischem Verhalten fiktionaler Charaktere nimmt Bi-Menschen und ihre Lebensumstände nicht ernst. Gerade mit Blick auf die Vorurteile und das Unverständnis gegenüber Bisexualität wäre es jedoch wichtig, eben umso mehr Aufklärungsarbeit zu betreiben und Vorurteile, die übrigens aufseiten der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft als auch seitens der LGBTQ-Community existieren, als solche zu entlarven und den gesellschaftlichen Blick auf die real existierenden gesellschaftlichen Probleme dieser Menschen zu lenken. Diese fühlen sich nämlich oft, so hat es eine Bloggerin auf Tumblr kürzlich ausgedrückt, „between a rock and a hard place“. Text: Manja Quakatz
© Mareike Kalbitz
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Eine magische Verbindung Wenn Musiker und Autoren in einem Atemzug genannt werden, handelt es sich meistens um schriftstellernde Musiker oder musizierende Schriftsteller. Anders ist es mit der neuesten Liaison am musikalischen Himmel über den Wegen abseits der Radio-Pop-Musik: Kai Meyer und ASP.
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ai Meyer ist spätestens seit seiner Alchimisten-Reihe, deren erster Band Die Alchimistin 1998 erschien, aus der deutschen Autorenlandschaft nicht mehr wegzudenken. Es folgten viele Trilogien, wie etwa die Geschichten um die fließende Königin oder die um die Arkadien-Dynastien. Ganz aktuell ist er mit dem letzten Band der Trilogie Die Seiten der Welt im Gespräch. Ganz so bekannt wie Kai Meyer als Schriftsteller der deutschen Phantastik ist die Band um Alexander Spreng nicht. Der Spitzname des Sängers, Kopfes und Songwriters ist zugleich der Name der Band ASP (gesprochen wie Ast, nur mit P). Man könnte sie als Rockband der schwarzen Szene beschreiben, die Band selbst nennt ihren Stil „Gothic Novel Rock“. Wie passend dies ist, zeigt der Werdegang der Frankfurter Band, die für extrem lyrische Texte bekannt ist. Die ersten fünf Alben gehören allesamt zum Zyklus um den schwarzen Schmetterling. Nach drei weiteren Alben erschien im Oktober 2015 die erste Folge des neuen Zweiteilers. Das Album „Verfallen – Folge 1: Astoria“ dreht sich ganz um das 1915 erbaute Leipziger Hotel „Astoria“ und wurde durch die Kurzgeschichte „Das Fleisch der Vielen“ von Kai Meyer inspiriert. Die Kurzgeschichte Kai Meyers findet man in der aufwendig gestalteten „Limited Novel Edition“ – verständlich, ist sie doch speziell für dieses Projekt geschaffen worden. Und worum geht es? Die Protagonistin Jana und ihr Freund Tim sind auf einer Antifa-Demonstration am Leipziger Bahnhof unterwegs, als die Situation mit den Nazis und der Polizei eskaliert. Ihre Flucht vor prügelnden Rechtsradikalen führt sie in das alte Hotel „Astoria“. Nicht nur dass die seit langem verlassene sechsstöckige Monstrosität allein schon in ihrer verriegelten und düsteren Optik für genug Grusel sorgen würde, stellen die beiden bald fest, dass sie scheinbar nicht alleine sind. Zeitlich vorgeschaltet ist die musikalische Präsentation durch die Band, die zugleich die geisterhafte Anwesenheit bei Jana und Tim zu erklären scheint… [SPOLER: Wer das Album und seine Geschichte selbst erleben möchte, sollte nicht weiterlesen…] Das erste („Himmel und Hölle (Kreuzweg)“) sowie das letzte Stück des Albums („Fortsetzung folgt…“) richten sich an die Zuhörer und rahmen die eigentliche Geschichte um das Astoria nur ein. Im zweiten Lied „Mach’s gut Berlin“ beginnt die Reise des Protagonisten, der sich einen neuen Namen erdenkt, wie man im dritten Song „Zwischentöne: Ich nenne mich Paul“ erfährt. Im vierten Stück „Zwischentöne: Baukörper“ endet Pauls hoffnungsvolle Reise und er erblickt
den luxuriösen Bau des Astorias, als er aus dem Bahnhof in Leipzig tritt. Das Astoria lenkt sogleich alle Aufmerksamkeit und alles Sehnen auf sich: „In meiner Brust, da wächst ein tiefes Sehnen,/und schlagartig wird mit klar: An diesen Ort gehör‘ ich hin./Ich finde einen Weg, ich will und muss hinein./Ich weiß, sonst hat mein ganzes Leben nie mehr einen Sinn“. Über den Boteneingang hineingelangt, schafft er es nur wenig später, den frisch freigewordenen Posten des Hausmeisters zu ergattern. „Begeistert (Ich bin unsichtbar)“ lenkt die Aufmerksamkeit des Hörers erstmals auf einen düsteren Aspekt der Geschichte: „Ich bleibe unbemerkt/und bin doch immer da,/und niemand kann mein Werk/so ganz ermessen.“ Was genau ist das für ein Werk, welches im Verborgenen und unbemerkt verrichtet wird? „Zwischentöne: Lift.“ Paul entdeckt während nächtlicher Streifzüge eine schöne Dame, deren Anziehungskraft er vollkommen ausgeliefert zu sein scheint. Ohne die Geschichte merkbar voranzutreiben, widmet sich der siebte Song ganz dem Astoria selbst. „Astoria verfallen“ greift auch auf die Kurzgeschichte Meyers zu. So kann das Adjektiv „verfallen“ sowohl für das verfallene Astoria von heute, aber ebenso auch für den hörigen Paul stehen. Der schaurige Beigeschmack wird wieder aufgegriffen. „Zum ersten Mal fühl ich mich irgendwo geborgen./Das Gefühl von Heimat war mir unbekannt./Auch deine Wünsche machen mir nur wenig Sorgen,/denn keiner merkt jemals, was über Nacht verschwand.“ Das Astoria wird hier regelrecht personifiziert und mehr als einmal verschwimmen die Grenzen zwischen Gebäude und Person. Das Stück endet mit einer Hoffnung, die die Kurzgeschichte Meyers zunichtemacht: „Astoria, oh, meine Schöne, dass du mir ja nicht verfällst!“ Während Paul eben noch über seine starke Liebe zum Astoria sprach, zeigt sich jetzt eine noch stärkere Bindung zu dem Haus. „Souvenir, Souvenir“ darf man auf die gruselige Variante ganz wörtlich nehmen. Die Dinge, die vorher schon als nachts verschwindende angedeutet wurden, gewinnen an Deutlichkeit: „Wer bei uns war,/gehört uns durch Haar/und Haut./Nie mehr allein,/in Schoß und Schrein/verstaut.“ Das neunte Stück zeigt ganz die lyrische Ader Alexander Sprengs. Zweieinhalb Minuten mit nur leichten Tönen unterlegt, spricht Spreng mehr als er singt sein Gedicht, das von der Figur im Astoria erzählt. Paul, der in seinem Zimmer schlaflos liegt und gestört wird: „Statt des herbeigewünschten Friedenfindens/kommt suchend eine Traumgestalt ins Zimmer./Es ist die Dame, die ich nächtens 27
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© CC-BY-SA 3.0; Bild (Schmetterling): Pia Zarsteck
sehe,/durch Gänge und durch Säle einsam gehen./Astoria, die beinah transparente,/die Haar und Finger durch das Schlüsselloch/lässt wehen, wie um mich damit zu locken,/ den Weg mir aufzuzeigen, doch wohin?“ Und wie in jeder vorherigen Nacht folgt er ihr - jede Nacht etwas weiter als zuvor. Das Stück endet nicht, sondern geht nahtlos in den zehnten Song über. Der gesprochene Text spinnt sich weiter, wird aber nach und nach mit einer E-Gitarre unterlegt, die den Spannungsbogen gekonnt gemeinsam mit dem Text anzieht. Man kommt im Keller an: „Die Rohre fangen leise an zu dröhnen./Aus Tiefen, die in andren Welten wurzeln./Ein Klopfen, zaghaft noch, doch unaufhörlich,/klingt wie ein Morsezeichen aus der Wand./Ein unerbittlich stochernd-böses Fragen,/ich bete, dass ich nicht die Antwort weiß.//Ich hoffe, dass ich nicht die Antwort weiß./Ich flehe, dass ich nicht die Antwort bin.“ Mit „Dro[eh]nen aus dem rostigen Kellerherzen“ beginnt jetzt erst laut Textbuch der zehnte Song. Wieder ein nahtloser Übergang - und doch ein vollkommen neuer Song. Gekonnt durch abhackte Sätze, meistens nur mit einzelnen Wörter in Szene gesetzt, zeigt sich, dass im Keller ein sehr dunkles und erschreckendes Geheimnis gelagert wird. Das Astoria entpuppt sich als etwas Böses und die Hörigkeit Pauls bekommt erste Risse, wie sich im elften Song Alles, nur das nicht! zeigt. „Bis heute Nacht genügten dir noch Souvenirs,/nur Kleinigkeiten, leblos, abgetrennt, entbehrlich./Da ist ein ständig wachsendes Verlangen, ja, ich spür’s:/Nun hast du neue Wünsche, größer und gefährlich./ Nein, lass mich!“ Aber zum Ende dieses Stücks bricht der Wille des Protagonisten und er wird ganz Handwerkzeug des Astoria – oder besser der Astoria. Lied Nummer 12 „Loreley (Die traurige Ballade der Hannelore W.)“ beweist die neueste Wendung direkt: Es handelt sich bei Loreley, wie sich die Frau Hannelore nennt, um eine Dame, die als Schmuck und Unterhaltung den Männern in der Bar des Hotels jeden Abend und des Nachts dient. „Hannelore ist für Geld recht nett./Ein blonder Engel schwebt übers Parkett./Man sieht Männer Scheine zücken,/nur um sich mit ihr zu schmücken./Ihre Schönheit lässt sie eben überleben.“ Die Spannung steigt, als das lyrische Ich der Frau folgt („Ich folge in der Dunkelheit/dem viel zu dünnen Abendkleid./Du siehst verletzlich aus“), und gipfelt in einem furiosen Ende, als Paul die Frau mit einem Eisenrohr erschlägt. „Ich leg den schlaffen Kör28
© Bild (Astoria): Bundesarchiv, Bild 183-48012-0001
„Leipzig 1957: Das historische Hotel Astoria nach Behebung der Kriegsschäden in neuer alter Pracht.“ per ab,/Astoria wird ihm zum Grab.“ Das Hotel selbst ließ sie verschwinden, so dass sie niemand mehr finden würde. Und in der Bar tanzt nun Marie. Den sorgfältig ausgearbeiteten Texten gelingt der Spagat des Übergangs sehr gut. Musikalisch funktioniert dieser Spagat ebenfalls, wie von der Band gewohnt, zwischen verschiedenen Einflüssen makellos. Die Verbindung zwischen Meyer und der Band ASP beschränkt sich nicht auf dieses eine und dem angekündigten zweiten Album um das Astoria-Hotel. Auf dem 2013 erschienenen Album „Maskenhaft (Fremder-Zyklus, Teil 2)“ gibt es einen Song namens „Die Löcher in der Menge“. Inspirieren ließ sich Spreng hier von einer Textpassage aus Meyers Buch „Arkadien erwacht“, in der es sich um ein Gespräch zwischen zwei Figuren um die leeren Plätze innerhalb von Menschenmassen handelt. Darüber hinaus traten Kai Meyer und ASP bereits gemeinsam live auf. Im August 2015 hielten Spreng und Meyer eine gemeinsame Lesung auf dem M’era Luna Festival in Hildesheim. Dies war nicht das erste Mal, da sie bereits 2013 gemeinsam eine Lesung in diesem Rahmen abhielten. Neben den Texten für seine Band ist Spreng auch in der Comicwelt vertreten. Mehrere Comics entstanden unter seiner Mithilfe und 2012 erschien sein Buch „Der Fluch“. Der 159 Strophen umfassende Briefroman ist eigentlich viel mehr ein Gedicht als ein Roman und ganz im Stile der düster erzählenden Lyrik der Texte ASPs. Mit der Kooperation von Musik und Text ist es bei ASP noch nicht getan. Die Band ist bekannt für die optischen Highlights ihrer CDs und des Merchandise. Joachim Luetke, der für das Verfallen-Album das Artwork machte, hat in Zusammenarbeit mit Regisseur Florian Gintenreiter und dessen Team eine weitere eigene Interpretation des Themas gewagt. So entstand ein Videoclip zu dem Stück Astoria verfallen. Bei so viel Engagement und Herzblut wünscht man sich doch öfter eine Zusammenarbeit verschiedener kultureller Bereiche. Text: Pia Zarsteck
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Musik als Heilmittel Der lange unbekannte und nicht beachtete Singer-Songwriter John Grant thematisiert persönliche Schicksalsschläge und traumatische Erlebnisse in seinen Songs - und erlangt damit späten Ruhm. Ein Blick auf seine Musik und sein Leben.
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ou and Hitler oughta get together. You oughta learn to knit and wear matching sweaters“ – Diese schonungslose und sehr bizarre Textpassage stammt nicht etwa aus der Feder einer rebellischen Punk-Rock-Band oder eines kontroversen Skandal-Rappers, sondern wurde von einem 47-jährigen amerikanischen Singer-Songwriter kreiert, der auf den Namen „John Grant“ hört. John Grant ist hierzulande ziemlich unbekannt, doch wer sich näher mit seinen Werken beschäftigt wird erkennen, dass es sich bei ihm um einen faszinierenden und facettenreichen Künstler handelt. Die häufig melancholisch angehauchten Songs Grants sind gerade vor dem Hintergrund seiner persönlichen Vergangenheit äußerst aufwühlend, denn er hatte wahrlich kein einfaches Leben. In einem konservativen Umfeld aufgewachsen, musste er lernen, seine Homosexualität zu akzeptieren; seine Jahre als junger Erwachsener waren gekennzeichnet von gescheiterten Beziehungen, Alkohol- und Drogenproblemen. Obendrein ist er vor einigen Jahren an AIDS erkrankt. Grant, der übrigens sechs Sprachen fließend spricht (einschließlich Deutsch), steht heute längst über diesen Dingen und hat die nicht veränderbaren Tatsachen akzeptiert. Seine Erlebnisse verarbeitet er in seinen Songs: provokant, gesellschaftskritisch, zum Teil sarkastisch und mit einer großen Portion Selbstironie. Grant nimmt kein Blatt vor den Mund und geht mit seinen Feinden mitunter sehr hart ins Gericht: „You seem like someone they should chemically castrate“ – diese Textzeile entstammt übrigens genauso wie die eingangs zitierte Passage aus dem Song „You & Him.“ Zeilen wie diese richtet John Grant meistens nicht an bestimmte Personen, sondern vor allem an Homophobe, von denen er als „faggot“ (entspricht dem deutschen Wort „Schwuchtel“) beschimpft wurde und die ihm zum Teil sogar den Tod wünschten. Jene Leute auf eine Stufe mit Hitler zu stellen oder ihnen eine Kastration zu wünschen, erachtet Grant somit als gerechtfertigt. Nachdem er jahrelang in einer erfolglosen Band namens „The Czars“ mitwirkte, entschied Grant erst im Jahr 2010, seinen eigenen Weg einzuschlagen und eine Solo-Karriere zu starten. Mit Erfolg! Im Laufe der Zeit bildete sich, über den ganzen Globus verteilt, eine kleine, aber treue Fangemeinde Aus seinem Debütalbum „Queen of Denmark“ ist vor allem der gleichnamige Titelsong, eine gefühlvolle Ballade mit einem kraftvollen Refrain, empfehlenswert. Die Texte
des Albums sind düster, tieftraurig und thematisieren vor allem seine schmerzhaftesten Erfahrungen und Erlebnisse. Sein zweites Album „Pale Green Ghosts“ ist eher elektround weniger balladenlastig und erhielt ähnlich wie sein Debütalbum positive Kritiken. Trotz des klaren Fokus auf Elektro-Musik ist die bekannteste Single „GMF“ wiederum eine Ballade. Im Gegensatz zu den schwermütigen Balladen aus dem ersten Album ist „GMF“ allerdings entspannter und einprägsamer. Thematisch knüpft „Pale Green Ghosts“ an das erste Album an, wenngleich der Schwerpunkt mehr auf Beziehungen liegt und die gesamte Stimmung, die während des Hörens transportiert wird, wesentlich optimistischer ist. Im Oktober 2015 veröffentlichte Grant sein drittes Solo-Album mit dem Namen „Grey Tickles, Black Pressure“ (zu deutsch: „graues Kitzeln, schwarzer Druck“). Es handelt sich bei dem Titel um wörtliche Übersetzungen aus isländischen und türkischen Redewendungen. Unter „grauem Kitzeln“ versteht man in Island die Midlife-Crisis, und wenn ein Türke von „schwarzem Druck“ berichtet, hatte er zweifellos einen Albtraum. Stilistisch ist das Album „Grey Tickles, Black Pressures“ eine Kombination aus seinen vorherigen Alben. Angenehme Balladen wechseln sich ab mit temporeichen Elektrosongs. Der Titelsong ist düster und schön zugleich und ein optimaler Auftaktsong, der Lust auf mehr macht. Die folgenden drei Songs „Snug Slacks“, „Guess How I Know“, „You & Him“ (jener Song, in dem Grant seinen Adressaten auf einer Stufe mit Hitler stellt) werden besonders von elektronischen Instrumenten getragen. Vor allem „Snug Slacks“ erweckt den Eindruck, als habe Grant hier alle Effekte und Klangbilder, die seine Synthesizer hergeben, vollumfänglich ausgeschöpft. Für so manchen Zuhörer ein schwer zugänglicher und sperriger Song, an dem aber viele Anhänger des Elektro- und Synthie-Pops Gefallen finden dürften. Der sechste Song „Down Here“ kombiniert die Vorzüge des traditionellen Gitarrenspiels mit dezenten Synthie-Effekten – ein rundum gelungener Song. Darauf folgt mit „Voodoo Doll“ das skurrilste Stück des Albums. Ein Song, der starke Assoziationen an den Funk der 80er-Jahre weckt – und garantiert zum Ohrwurm wird. Der nächste Song „Global Warming“ ist das angenehmste und unaufgeregteste Stück in dem Album. Das instrumentale Arrangement erzeugt eine Atmosphäre, die einen dahinschwelgen lässt - sofern man sich darauf einlässt. „Magma Arrives“ 29
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gelingt es, die Stimmung aufrechtzuerhalten, und „Black Blizzard“ kommt wiederum mit penetranten Synthie-Einflüssen daher. Den elften Song mit dem Namen „Disappointing“ könnte man als eine Retro-Disco-Funk-Hymne bezeichnen, dessen gute Laune ansteckend ist. Der Song, der übrigens in Co-Produktion mit der britischen Sängerin Tracey Thorn entstand, enthält auch ein Liebesbekenntnis zur deutschen Sprache: „The genetive case in German, it‘s true, is something I am quite partial to.“ Zum Ende des Albums kehrt die Melancholie zurück, die in „No More Tangles“ und „Geraldine“ zum Vorschein kommt. Ein mehr als würdiges Ende für ein im Großen und Ganzen sehr gelungenes Album. Ein oder zwei Songs, die aus dem Rahmen fallen, können den positiven Gesamteindruck nicht trüben. Eine charmante Idee ist die Umsetzung des Intros und des Outros: Man hört Stimmen, die den 1.Korinther-Brief des Paulus aus der Bibel zitieren. Dort heißt es „Love is patient, love is kind. It does not envy, it does not boast, it is not proud“. Eine optimistische Botschaft, an die Liebe und das Positive im Leben zu glauben. John Grant hat dazu guten Grund: Heutzutage lebt er in einer festen und glücklichen Partnerschaft in seiner neuen Wahlheimat Island. Die Toleranz der Menschen gegenüber Homosexualität, die atemberaubenden Landschaften und die musikbegeisterte Bevölkerung waren Anreiz für ihn, sich auf der Insel niederzulassen. Seine poetische Ader und guten Sprachkenntnisse nutzt er dort, um auch andere Künstler zu unterstützen. So übersetzte er das Album des aufstrebenden Electro- bzw. Indiefolksängers „Ásgeir“ (ebenfalls dringend zu empfehlen!) in die englische Sprache und verhalf ihm damit zum internationalen Durchbruch. Ob man John Grant als Künstler wertschätzt, ist letztlich Geschmackssache, doch als Persönlichkeit ist er insofern ein
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© Ari Magg
Vorbild, als er trotz starker Schicksalsschläge und schwieriger Lebensphasen seinen Optimismus und seine Zuversicht wiedererlangt hat. FText: Florian Fabozzi
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Eine moderne Heldenreise Von Hobby-Hippie-Kommunisten, vorhersehbaren Bruchlandungen und einer griechischen Familienbande auf der Suche nach dem Glück
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ea Kaiser schafft mit ihrem Werk „Makarionissi oder Die Insel der Seligen“ eine Familiengeschichte über vier Generationen, deren Mitglieder in mehrere Länder und Kontinente reisen, um am Ende in der Jetztzeit wieder vereint zu sein. Wobei jeder auf seine eigene Weise sein Glück findet. Es beginnt alles in Varitsi, einem griechischen Bergdorf an der Grenze zu Albanien, im Jahr 1956: Yiayia Maria Kouzis deutet die Zeichen falsch. Sie sorgt dafür, dass ihr Familienerbe nicht den Bach heruntergeht, indem sie ihren einzigen männlichen Enkel Lefti seiner vier Jahre jüngeren Cousine Eleni verspricht. Dass aber das Lesen im Kaffeesatz der traditionsbewussten Dame in diesem Fall nicht weiterhilft, macht sich schon bald bemerkbar: Während die beiden anfangs noch unzertrennlich sind, wächst Eleni zu einer attraktiven Frau heran, die sich dem Gedankengut der griechischen Kommunisten anschließt, während der gutmütige, politisch desinteressierte Lefti sich nichts sehnlicher wünscht als eine harmonische Ehe mit Kindern. Doch der Bürgerkrieg macht auch nicht vor Varitsi Halt: Royalisten kämpfen gegen Kommunisten, 1967 wird von rechts geputscht. Die beiden heiraten, doch nur, um dann im freien Deutschland getrennte Wege zu gehen. Im tristen Hildesheim engagiert sich Eleni in einem Kulturverein für Auslandsgriechen, Lefti wird durch seine gewissenhafte Arbeit in einer Gummifabrik schnell befördert. Beide lernen die Liebe ihres Lebens kennen und es verschlägt die Protagonisten und ihre Nachkommen in das österreichische St. Pölten und nach Chicago, bevor es zu einem Wiedersehen auf der fiktiven griechischen Insel Makarionissi kommt. Was als moderne Heldenreise beginnt, wird zu einer vorhersehbaren Bruchlandung, der es an kitschigen Elementen nicht fehlt. Die kommunistische Amazonin und Hobby-Hippie Eleni erteilt am Ende Yoga-Unterricht als Besitzerin des ersten großen Hotelkomplexes auf Makarionissi, ein Sinnbild kapitalistischen Massenkonsums par excellence. Insgesamt sind die Figuren überspitzt und stereotypisiert dargestellt ganz nach dem Motto: (Griechische) Helden müssen schön sein. Das Deutschlandbild wird durch das triste Hildesheim charakterisiert, was voll ist von Neinsagern, denen es an Leichtigkeit und Enthusiasmus fehlt - mit Ausnahme des hübschen, chaotischen Schlagersängers Otto. Die St.Pöltener werden zu rotbackigen Dorfpomeranzen stilisiert, die dem griechischen Adonis nicht das Wasser reichen können. Zu allem Überfluss sind die
© Kiepenheuer & Witsch
geschichtlichen Hintergründe und politischen Geschehnisse, die schwer wiegen, zu vage gehalten und werden nur oberflächlich behandelt. Als angenehme Berieselung für den Urlaub, bei der man nicht viel nachdenken will, eignet es sich durchaus - professionell konstruiert zieht sich der rote Faden durch das gesamte Buch. So kann der Leser immerhin in die Welt einer griechischen Großfamilie auf Abwegen eintauchen. Und auch wenn dabei die aktuelle Griechenlandkrise - abgesehen von einem maroden Baukran, der die Frau von Elenis Enkel ereilt - ausgespart wird: Das Werk liest sich flüssig, zuweilen amüsant und unterhaltsam, was nicht zuletzt der blumigen Sprache zu verdanken ist, mit der Kaiser geschickt umzugehen weiß. Text: Charlotte Wagner
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„Ich reise durch meine eigene Biografie“
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ie ‚globale‘ – das Festival für grenzüberschreitende Literatur – hat auch in diesem Jahr wieder faszinierende Autoren nach Bremen geholt, die in ihren Werken nicht nur von Grenzüberwindung, sondern auch von Vergangenheitsbewältigung und Träumereien berichten. Die 26-jährige Vea Kaiser aus Österreich ist eine von ihnen und zusammen mit dem niederländischen Autor Tommy Wieringa las sie am 2. November im Wall-Saal der Stadtbibliothek Bremen. © Literaturfestival „globale“
Vea, heute Abend ist nicht dein erstes Mal in Bremen. Welchen Bezug hast du zur Hansestadt an der Weser?
BU Lesung: Tommy Wieringa (links) und Vea Kaiser auf der globale-Lesung mit Moderator Tobias Pollock.
Tatsächlich habe ich ein Jahr lang in Hildesheim „Kreatives Schreiben“ studiert, was allerdings eine sehr unschöne Erfahrung war: Der Zwang, ständig etwas Kreatives und Effektives zu produzieren, hat bei mir nur zu Unkreativität geführt und zu der Überzeugung, dass man das Schreiben an sich nicht studieren kann. Auch mit den Leuten und der Stadt wurde ich nicht warm. Ich bin dann am Wochenende öfters nach Bremen getingelt und habe hier die Nacht zum Tag gemacht, das war eine schöne Erfahrung.
Fundus an wichtigen Fakten und Begebenheiten, die ich in den Roman miteinfließen lasse. Politische und geschichtliche Ereignisse sind da sehr entscheidend. Und definitiv kann man immer besser darüber schreiben, wenn man selbst da war. Und so war es in meinem Fall auch: Alle Orte, die ich beschreibe, kenne ich, weil ich vor Ort war. In dem Roman reise ich teilweise durch meine eigene Biografie. Ich würde sogar sagen, dass man nur dann, wenn man dort war, auch fiktiv denken kann. Und der fiktive Anteil spielt in meinen Romanen eine sehr wichtige Rolle. Bei Makarionissi beispielsweise gibt es eine Vorbildinsel, die genauso geografisch gestaltet, genauso groß ist, genauso viele Einwohner hat, und am Anfang habe ich sie auch so genannt. Aber: Ich war nur im Sommer da, kannte die Stimmung der Menschen etc. im Winter nicht, hätte das noch mal recherchieren müssen. So konnte ich gewisse Dinge anders gestalten, verfremden und es war einfacher, das ereignisreiche Ende auf einer fiktiven Insel gestalten zu können, wie ich es mir vorstelle, sodass alles passt. Der andere Punkt: Ich bin überzeugte FKK-Baderin und hatte keine Lust auf die Leute, die dann „zufällig“ auf die Insel gekommen wären, um sich Autogramme zu holen etc.
Auf Hildesheim folgte Wien, wo du nun Altgriechisch studierst. Wie kam es dazu? Ich habe erst noch einen kurzen Umweg über die Germanistik unternommen, da meinte der Dozent in der ersten Vorlesung: „Wer denkt, er könne Schriftsteller werden, der ist hier falsch. Dies ist kein Studiengang für angehende Autoren.“ Also bin ich da raus. Bei Altgriechisch liegt der Altersdurchschnitt bei 67, das ist schon amüsant, aber auch interessant und bereichernd und man merkt, dass die Leute richtig Lust darauf haben. Für mich ist das Studium die Bedingung zum Schreiben über Griechenland, wozu ich schon seit ich klein bin ein großes Interesse hege durch all die faszinierenden Mythen und Legenden. Außerdem hatte ich schon viele griechische Liebschaften: Ich mag Männer mit Brustbehaarung! (grinst) In deinem Fall liegt das Augenmerk bei deinem zweiten Roman „Makarionissi – Die Insel der Seligen“ auf Griechenland. Du würdest also sagen, dass die Bedingung zum Schreiben die Beschäftigung mit dem Gegenstand in jeglicher Hinsicht mit sich bringt? Auf jeden Fall! Durch mein Studium und mein damit verbundenes Interesse habe ich natürlich schon einen riesigen 32
Apropos: Was heißt denn eigentlich Makarionissi? Ganz einfach: Makarios heißt selig beziehungsweise glücklich und nesos ist die Insel. Makarionissi ist also die Insel der Seligen, wie es der Nebentitel schon verrät. In den Passagen, die du in Hildesheim angesiedelt hast, betonst du das deutsche Nein, welches du als absolut und unbegründet darstellst. Warum? Tatsächlich kommt hier meine persönliche Erfahrung zum Tragen: Ich war mal mit einem „Preußen“ und einem Ber-
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liner zusammen und immer gab es einen riesigen Streitpunkt: Das norddeutsche Nein ist nämlich etwas ganz anderes als das süddeutsche Nein. In Österreich ist es unfreundlich, Nein zu sagen, das wird als ein großer Verstoß angesehen. Wenn der Berliner mich gefragt hat, ob ich ein Stück Kuchen will und ich „Danke“ erwidert habe, hat das zu ernsthaften Missverständnissen geführt. Er wusste oft nicht, was ich will. Ein einziges Wort kann also riesige Dramen auslösen, weil da einfach ein großer Bedeutungsunterschied vorliegt. „Das deutsche Nein“ ist das letzte Kapitel, was ich geschrieben habe, weil ich ganz lange nicht wusste, wie Eleni sich Hildesheim gegenüber verhält. Lefti schätzt das geregelte kleinbürgerliche Leben und die Deutlichkeit der Menschen. Aber für Eleni ist es ein Graus. Bei den Griechen ist das Nein ein sehr biegsames Wort und nach drei Stunden Verhandlungskunst wird daraus auch durchaus mal ein Ja. Mit diesen kulturellen Unterschieden kommt Eleni nicht klar.
und wissen, dass ihr Risiko, sich zu infizieren, sehr hoch ist, geschweige denn die Arbeit sonderlich gut bezahlt ist. Aber sie finden es richtig und machen es. Und bei den Griechen waren Helden oft ziemliche Arschlöcher. Herakles, zum Beispiel, hat seine ganze Familie umgebracht, Achilleus war ein irrationaler Mensch. Das war eben das Schöne, dass die Griechen den Begriff des nur Gutsseins nicht kannten. Es gibt in der gesamten griechischen Mythologie keine Figur, die nur gut ist. Und Antigone, das Vorbild für Eleni, ist eine höchst umstrittene Figur, die der einen Lesart nach ihre beiden Brüder begräbt, was eigentlich verboten war, und andererseits handelte es sich bei den beiden um Terroristen. Somit verstieß sie mit ihren Handeln gegen sämtliche Gesetze und Regeln. Antigone ist einerseits Heldin, andererseits Staats-Destabilisatorin. Sie macht genau das, was sie nicht machen soll, das bedeutet Revolution. Und auch Eleni ist, wenn auch nicht so extrem, dennoch eine Revolutionärin, eine Kämpferin.
In deiner Widmung schreibst du: An meine Helden und Herzensbrecher. Mit den Herzensbrechern könnten wir nun also an die griechischen Liebschaften und die norddeutschen Nein-Sager denken. Aber wer waren oder sind denn deine Helden?
Was sind deine Rituale fürs Schreiben; gibt es bestimmte Bedingungen, unter denen du schreibst?
Als Kind hatte ich keine Kindheitshelden, ich habe so in meiner Welt der Fiktionen gelebt, dass ich sie mir selbst gebaut habe; ich war ein sehr fantasievolles Kind. Ich habe nie Dinge so dargestellt, wie sie sind, ich musste immer über- oder untertreiben, in die Fiktion abdriften, Dinge dazu erfinden. Ich konnte nicht einfach erzählen, was war. Ein Held ist für mich nicht die Antifigur zum Bösewicht. Es gibt keine Menschen, die nur gut sind. Ich mag Charaktere mit Brechungen, Individualitäten. Für mich ist ein Held ein Mensch, der etwas macht, obwohl er weiß, dass er sich damit das Leben irrsinnig schwermacht, aber er findet, dass es richtig ist. Zum Beispiel Ärzte ohne Grenzen: Menschen, die nach Nigeria gehen, um andere von Ebola zu heilen,
Auf jeden Fall: Kaffee en masse, Tee, Wasser (viel Flüssigkeit), Handcreme, mein Hund (eine süße alte Jack Russel-Hündin), kein Internet, kein Telefon, keine Musik, viel Licht, sonst werde ich depressiv, keine Reize von außen. Das Problem ist nur, dass die Ideen ja nicht automatisch kommen. Wenn ich mich um acht Uhr abends an den Schreibtisch setze, dann passiert manchmal nichts. Meistens habe ich die besten Ideen in den unpassendsten Momenten (grinst). Und deine weiteren (Schreib)Aussichten? Das dritte Buch ist schon in Planung, ich würde nämlich gerne meinem selbst auferlegten Motto treubleiben: Drei Bücher vor 30. Das Thema wird aber noch nicht verraten. Interview: Charlotte Wagner
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