5.Ausgabe, Mai 2012
Bremens freies Unimagazin
Lyrik:
Ist die hohe Kunst der Sprache todgeweiht?
PABO:
Die B체rokratieBaustelle der Uni
Bremer Sandstein:
Die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung des Obernkirchner Bodenschatzes
Endstation Pr체fungsangst? Die Spirale aus Versagens채ngsten und Misserfolgen
Inhalt
Kurzmeldungen
Hochschulpolitik
4
Gremienwahlen an der Uni: Du hast die Wahl
5
Die Exzellenzinitiative
8
Zivilklausel und OHB: Plötzlich sind sich alle einig? 11 Pabo: Heute leider keine Sprechstunde
14
Campusleben
Energiewende mit UniBremenSolar 16
18
Ausgeartet
Ein Supermarkt an der Uni?!
17
Ausgeartet
18
Mit dem Navi durchs GW2
20
Glauben an der Uni
22
Die akute Prüfungsangst
24
Bremen
22
Exquisite Handarbeit bei Koch & Bergfeld Corpus
26
Off-Space Kunstprojekt „Der vierte Raum“
28
Sandstein: Auf der Weser bis nach Bremen
30
Cup Cakes dank Crowdfunding
32
Viva con Agua
34
Der Bremer Bahnhofsvorplatz
36
Glauben an der Uni
Feuilleton
Stummfilme: Schweigen bleibt Gold
37
Das Molotow in Hamburg
38
Lautsprecher
40
Kolumne 41
37
2
Schweigen bleibt Gold
Lyrik: Ein unrentables Geschäft
42
Meinungen zum Gedicht von Günter Grass
44
Fernweh: Berlin
46
Das Symptom ACTA
48
Die Stadt als Zentrum des Erlebens
50
Impressum
52
Editorial
Liebe KommilitonInnen, liebe LeserInnen!
B
ei manchen Studierenden sorgt eine Klausur für soviel Nervosität wie die Post von der GEZ – nämlich gar keine. Das kann jedoch ganz schnell dazu führen, dass man alles auf die leichte Schulter nimmt und eines Tages die Exmatrikulation wegen Nichtbestehens in den Händen hält. Für andere hingegen ist eine Uniprüfung nicht nur immer wieder ein bedeutungsvoller Moment, sondern sogar ein Horrorszenario, das schlaflose Nächte bereiten kann. Die Lösung wäre wohl das Mittelmaß: Ein gesundes Selbstvertrauen in das eigenen Können gepaart mit einer leichten Nervosität. Doch das in einer Testsituation an den Tag zu legen, fällt vielen Studenten schwer. Der Scheinwerfer berichtet über Hintergründe und Ursachen der Prüfungsangst sowie über Möglichkeiten, den Teufelskreis zu verlassen. Doch nicht nur Prüfungen bestimmen den Studentenalltag, sondern auch die Stiftungsprofessur von OHB und die Frage, ob diese sich mit der Zivilklausel in Einklang bringen lässt. Nachdem die Zivilklausel vom Akademischen Senat Anfang des Jahres bestätigt wurde, fragt der Scheinwerfer kritisch beim Pressesprecher von OHB nach, inwiefern diese Entscheidung die Stiftungsprofessur beeinflusst und klärt Missverständnisse auf, die bei der Debatte entstanden sind. Ein anderes Thema, welches für laute Proteste seitens der Studierenden gesorgt hat, ist die Bewerbung unserer Universität für die Exzellenzinitiative, welche nach wie vor kontrovers diskutiert wird. Besonders laut wurde die Kritik, die Exzellenzinitiative würde die deutsche
Hochschullandschaft in Elite und Normaluniversitäten aufteilen. Rektor Müller nimmt zu den Vorwürfen in einem Interview Stellung, erklärt die Motivationsgründe für die Bewerbung und schätzt die Chancen ein, ob sich unsere Uni bald „exzellent“ nennen darf. Ebenso ungewiss wie die Zukunft unserer Universität in Bezug auf die Exzellenzinitiative ist die Zukunft eines einst so großen, bedeutsamen Teils deutscher Hochkultur – der Lyrik. Jahr für Jahr kämpft sie ums Überleben. Autoren und Verlage halten schon lange nicht mehr des Geldes wegen an der hohen Kunst der Sprache fest, sondern aus Leidenschaft. Der Scheinwerfer erklärt die Hintergründe der immer noch sehr aktiven deutschen Lyrikszene. Ein Gedicht, welches in den letzten Wochen trotz des Lyrik-Desinteresses für Aufsehen gesorgt hat, ist zweifellos „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass. Es entstand ein unvorstellbarer Medienrummel um den greisen Literaturnobelpreisträger, der fortan massenhaft mit Vorwürfen überschüttet wurde. Doch was steckt hinter dieser Aufregung? Können wir Deutsche uns einfach nicht von unserer Vergangenheit emanzipieren, oder steckt reiner Populismus hinter Grass‘ Gedicht?
Anne Glodschei
Lukas Niggel
Ihr erreicht uns bei Fragen, Anregungen oder Kritik entweder persönlich auf dem Campus, jeden Montag von 12 bis 14 Uhr in unserem Redaktionsraum C3180 im Sportturm oder unter scheinwerfer@uni-bremen.de.
3
Kurzmeldungen
Kurzmeldungen Eröffnung des Café Kultur
Berninghausenpreis 2012
I
G
n der Uni Bremen hat ein neues Café eröffnet. Seit dem 7.Mai gibt es hier montags bis donnerstags von 14:00 bis 18:00 Uhr Kaffee und selbstgebackenen Kuchen gegen Spenden, mit denen kulturelle Veranstaltungen finanziert werden. Neben dem normalen Cafébetrieb möchte das vom AStA ins Leben gerufene Projekt Raum für studentische Kultur bieten. In den Räumen können Livebands auftreten und Lesungen sowie Workshops abgehalten werden. Das Caféteam organisiert regelmäßig kulturelle Veranstaltungen. Das Café Kultur befindet sich im ehemaligen Theaterfoyer, beim unteren Mensaeingang.
Studieren, aber wie?
D
ie Initiative „Arbeiterkind“ berät bundesweit, unter anderem auch in Bremen, Schüler und Studierende bei allen Fragen rund ums Studium und die Finanzierung desselben. Ehrenamtliche Mentoren berichten auf Messen und Informationsveranstaltungen von ihren persönlichen Erfahrungen und kümmern sich um die konkreten Anliegen aller Interessierten. Ziel ist vor allem, auch Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern zum Studieren zu ermutigen. Doch auch für jene, die ihr Studium bereits aufgenommen haben, bietet „Arbeiterkind“ Informationen und Hilfestellungen, beispielsweise bei der Bewerbung um ein Stipendium, einem Auslandsaufenthalt oder Fragen zu Möglichkeiten für die Zeit nach dem Studium. Wer sich bei dieser Initiative engagieren und selber als Mentor tätig werden möchte, erhält weitere Informationen auf der Homepage www.arbeiterkind.de oder bei „ArbeiterKind Bremen“ auf Facebook.
Foto: http://junior.robocupgermanopen.de/
4
ute Lehre ist ein ausschlaggebender Faktor für die Zufriedenheit der Studierenden. Aus diesem Grund jährt sich die Vergabe des Berninghausenpreises dieses Semester das einundzwanzigste Mal. In drei Kategorien wird hervorragende Lehre ausgezeichnet: In der Kategorie „exzellentes Lehrprojekt“ hat sich das Projekt „Moot Court“ von Dr. Tanja Henking und Dr. Andreas Maurer aus dem Fachbereich sechs durchgesetzt. Den Preis für ein „hervorragend gestaltetes Einführungsmodul“ erhält Professor Lothar Probst aus dem Fachbereich acht mit seiner Vorlesung „Einführung in das politische System der BRD“. Dr. Hans Konrad Nettmann aus dem Fachbereich zwei erhält den „Studierendenpreis“. Die feierliche Vergabe des Berninghausenpreises findet am 06. Juni um 18:00 Uhr statt. Auch diese Preisträger werden demnächst auf der 2011 installierten Berninghausenbank vor dem MZH verewigt.
Bremen ist RoboCupEuropameister
Z
um vierten Mal ist das Team B-Human am 01. April bei den RoboCup German Open in Magdeburg Europameister geworden. Das Team ist eine Kooperation des Deutschen Forschungszentrums für künstliche Intelligenz und des Fachbereichs Informatik der Universität Bremen. Ziel ist es, einen humanoiden Roboter zu entwickeln, der den Gegner im Fußball schlagen soll. Mit diesem Roboter setzte sich B-Human gegen 14 Teams aus sechs anderen Nationen durch und setzte so ihre Siegesserie fort, denn seit 49 Spielen ist der entwickelte Roboter ungeschlagen. Das Team trat in der Kategorie „Standard Platform“ an, die auf einer einheitlichen Hardware basiert und nur in der Software modellierbar ist. Die Initiative des RoboCup soll die Forschung in dem Bereich der technischen Entwicklung der künstlichen Intelligenz fördern. Die entwickelten humanoiden Roboter sollen im Jahre 2050 die amtierenden Fußballweltmeister schlagen. Bis dahin wird es noch einige Europa- und Weltcups zu gewinnen geben. Die nächste Station von B-Human ist im Juni Mexiko-Stadt, wo sie ihren Weltmeistertitel gegen die anderen Teams verteidigen wollen. Wer mehr über den Robocup erfahren möchte, kann die offizielle Homepage oder die Homepage von B- Human besuchen: http://www.robocupgermanopen.de http://b-human.de
Hochschulpolitik
Du hast die Wahl Deine Stimme für die Uni Erneut stehen die Wahlen zum Akademischen Senat und zum Allgemeinen Studierendenausschuss an. Neben alten Bekannten treten auch neue Listen auf den Plan. Um wen es sich handelt und was von allen Listen zu erwarten ist, hat der Scheinwerfer zusammengetragen.
E
rneut stehen die Wahlen zum Akademischen Senat und zum Allgemeinen Studierendenausschuss an. Neben alten Bekannten treten auch neue Listen auf den Plan. Um wen es sich handelt und was von allen Listen zu erwarten ist, hat der Scheinwerfer zusammengetragen. Die vergangene Wahl liegt knapp ein Jahr zurück und die „Stempelproblematik“ wurde von so manchem vergessen, verdrängt oder verpasst. Erstmals hatten sich AStA und Wahlkommission darauf verständigt, auf die Verwendung des üblichen Wahlausweises zu verzichten, um so die Wahlmotivation zu erhöhen. Alternativ entschied sich die Kommission deshalb für einen unsichtbaren Stempel auf dem Studienausweis. Dass der nach einem misslungenen Testverfahren plötzlich gar nicht mehr zu sehen war, führte nicht nur zum Abbruch der Wahl, sondern auch zum Beschluss, in diesem Jahr einen sichtbaren Stempel zu verwenden. Die Hoffnung ist nun, dass es dieses Mal besser läuft. Gründe, das selbst zu überprüfen, gibt es einige. Dass der Wahlgang demokratische Verpflichtung ist: geschenkt. Dass die Gelder, über die der jeweils gewählte AStA nach der Wahl verfügt, von den Studierenden stammen, wissen die meisten auch und für viele ist bereits das Grund genug, zur Wahl zu gehen. Wenn aber in diesem Jahr laut teilweise unbestätigten Gerüchten auch neue Listen auf dem Wahlzettel stehen, ist es vielleicht nicht nur eine Wahl zwischen diesem oder jenem bekannten hochschulpolitischen Lager. Es ist auch eine Wahl, die darüber entscheidet, ob die Studierendenschaft allgemein mit dem bisherigen Angebot ihrer Vertreter zufrieden ist, oder gänzlich neue Listen und Menschen in verantwortliche Position bringen will. Das Jahr der großen Themen Drei große Themen waren in der vergangenen Legislatur von besonderer Bedeutung: Die Wahl des neuen Rektors sowie die Bewerbung der Universität Bremen zur Exzellenzinitiative (siehe Seite 8). Außerdem bekam die Universität das Angebot, eine Stiftungsprofessor vom Bremer Satellitenhersteller OHB finanziert zu bekommen (siehe Seite 11). Die hochschulpolitischen Akteure gingen dabei ganz unterschiedlich mit diesen Themen um. Ob Protest oder konstruktiver
Dialog: An den geäußerten Positionen ließ sich ein weiteres Mal erkennen, wie weit die politischen Lager mitunter auseinander liegen. Dabei reichten die Aktionen von der Ausrichtung einer öffentlichen Kandidatenvorstellung anlässlich der Rektorenwahl bis hin zum Versuch, den Akademischen Senat zu sprengen, in dem über die Zivilklausel beraten wurde. Während Rektor Prof. Dr. Wilfried Müller den amtierenden AStA aus AStA für Alle (AfA) und Campusgrün (CG) für die Organisation der Kandidatenvorstellung noch in höchsten Tönen lobte, wünschte er sich beispielsweise beim Thema Exzellenzinitiative mehr Dialog, wie er sagt, und richtet sich damit zumindest implizit an Akteure der linken Opposition. Aus diesen Kreisen kam es im Zuge der Universitätsbegehung zur Exzellenzinitiative zu kleineren Protesten. Einig waren sich die meisten Listen beim Thema Stiftungsprofessur beziehungsweise Zivilklausel. Einzig der Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) beteiligte sich nicht an den Protesten gegen die, so zumindest der Vorwurf, Abschaffung jenes Konsenses. Und während eine gewisse Einigkeit herrschte, dass die Rektorwahl nicht optimal verlaufen sei, entschied sich nur die Liste der Studiengangsaktiven (LiSA) im Akademischen Senat (AS) dazu, die Stimme ungültig zu machen. Grund war der Vorwurf, die Wahl des neuen Rektors sei in dieser Form nicht demokratisch. Dass der amtierende AStA vor den Semesterferien noch seinen Koalitionspartner einbüßte, als der Vertreter des SozialistischDemokratischen Studierendenverbandes (SDS) sich entschloss, seine politischen Ziele lieber aus der Opposition heraus zu erreichen, erscheint bei all diesen Themen fast als Makulatur, zumal die stabile Mehrheit von Rot-Grün auch weiter Bestand hatte. Um nun zu erfahren, was die Listen sich für die kommende Wahlperiode vornehmen und womit die politisch engagierten Studierenden um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler kämpfen, hat der Scheinwerfer ihnen Wahlbausteine vorgelegt, zu denen sie sich äußern konnten. Neben AfA und CG antworteten uns auch LiSA, der RCDS sowie die neu gegründete, aber nur zur AS-Wahl antretende, naturwissenschaftlich geprägte Liste MINT (LiMINT). Die übrigen Listen aus der linken Opposition reagierten nicht auf eine Anfrage. Der möglicherweise zur Wahl antretende Pirat, der dieser politischen Strömung bei 5
Hochschulpolitik
Wahlantritt erstmals einen Sitz im studentischen Parlament der Universität Bremen sichern könnte, wollte den Scheinwerfer aus wahlorganisatorischen Gründen vorläufig nicht als Plattform nutzen. Über weitere zur Wahl antretende Listen liegen dem Scheinwerfer zum Redaktionsschluss keine Informationen vor. Wen wählen – und wieso eigentlich? Die Listen haben klar Stellung bezogen. Einigkeit herrscht im Bereich der universitären Bürokratie. AfA äußert den Wunsch, dass PABO sich durch neue Ideen weiterentwickelt. Weiteres Ziel ist der Abbau von Bürokratie im Prüfungsamt. CG will sich für eine Verlängerung der Anmeldefristen einsetzen und strebt auch einen Ausbau der derzeitigen Öffnungs- zeiten an. Langfristig ist das Ziel, ein einheitliches Prüfungssystem voranzutreiben. Weiter wird der Universität vorgeworfen, ältere Bestände der Unibibliothek ohne Prüfung zu vernichten und vor Ort Arbeitsplätze abbauen zu wollen. LiMINT fordert zum Bürokratieabbau die Verringerung der Prüfungsleistungen, schlägt aber auch vor, die personelle Ausstattung zu verbessern und Fortbildungen anzubieten. LiSA sieht in der Verwaltung eine enorme Überlastung und strebt eine Verbesserung unter dem Motto „Entlasten, Ausrasten, Abschaffen“ an. Der RCDS setzt seinen Fokus wie die übrigen Listen auf PABO, welches er als „größte Baustelle“ bezeichnet. So fordern die Konservativen, dass das Eintragen und Freischalten von No- ten schneller vonstatten gehen soll. Im Bereich der studentischen Mitbestimmung herrscht weniger Einigkeit. Während AfA und CG sich weiterhin für eine erweiterte Repräsentation der universitären Statusgruppen durch beispielsweise die Viertelparität einsetzen, setzt LiMINT eher auf verstärkte Anreize für die StugA-Arbeit. Außerdem wolle man eine Diskussion über einen studentischen Konrektor-Posten anstoßen. Mehr Transparenz fordern jedoch alle. LiSA hingegen wendet sich komplett gegen die herrschenden Zustände, betrachtet die Universität als undemokratisch und lehnt den Parlamentarismus tendenziell ab. Der RCDS geißelt unter anderem diese Position als Blockadehaltung und fordert, dass die Studierenden erstmal die gegebenen Mitbestimmungsmöglichkeiten nutzen, bevor man nach mehr ruft. Dazu wolle man auch selbst motivieren. Im Themenfeld Soziales äußern sich die Listen mit unterschied6
licheren Positionen. AfA will sich für eine Verbesserung der finanziellen Situation von Studierenden einsetzen, sich aber auch um andere Studierende kümmern, die aus verschiedenen Gründen im Studium beeinträchtigt sind. Deshalb setzt die Liste sich jetzt schon mit der AG Familienfreundliches Studium sowie der IG Handicap auseinander. Beklagt wird auch eine schlechte Wohnsituation Studierender in Bremen. CG fordert, dass der soziale und finanzielle Hintergrund keine Einschränkung für ein Studium darstellen dürfe und fordert unter anderem ein elternunabhängiges Bafög. Bei den Erfolgen der vergangenen Legislatur wird auf die Bafög- und Sozialberatung des AStA sowie auf die dortige Möglichkeit zur Kinderbetreuung verwiesen. LiMINT setzt ihre Akzente im Bereich studentischer Beschäftigung. So soll es leichter werden, auch während einer Abschlussarbeit die Arbeitsstelle zu behalten sowie das entsprechende Gehalt zu beziehen. LiSA fordert kostenlose Bildung und beklagt die Schwierigkeit, mit Nebenjob das Studium zu bewältigen. Der RCDS setzt dabei eher auf den Ausbau der Bremer Stipendienlandschaft und auf den AStA als „Service-Dienstleister“. Beim Thema gesellschaftspolitische Positionen stehen LiSA, CG und AfA für das allgemeinpolitische Mandat beziehungsweise dafür, dass sich hochschulpolitische Gruppen auch zu allgemeinen politischen Themen äußern dürfen. Kapitalismuskritik fällt in diesen Bereich ebenso wie eine Kritik an der Bildungsfinanzierung durch den Bund. LiMINT vermeidet es, sich allgemeinpolitisch zu äußern und konzentriert sich auf die Themen, die die Universität und die Studierenden direkt betreffen. Ähnlich äußert sich der RCDS, der das allgemeinpolitische Mandat entschieden ablehnt. In Bereichen mit direktem Hochschulbezug wolle man sich zwar äußern, aber Kapitalismuskritik, Tierversuche und Rüstungsforschung gehören nach Ansicht der Christdemokraten nicht dazu. In der folgenden Tabelle hat der Scheinwerfer noch mal ausgewählte Aussagen der Listen zu den wichtigsten Wahlbausteinen zusammengetragen.
Text: Björn Knutzen Illustration:
„Wir fordern ein el„Wir wollen uns für ternunabhängiges eine Verbesserung Bafög und sozial der Bedingungen offene Hochschufür studentische len durch einen Mitarbeiter freien Zugang einsetzen.“ zum Studium.“
„Das Ziel ist, die Viertelparität zu erreichen.“
„Wir gehen auch auf die Belange von Studierenden mit Kind oder auf jene von Studierenden mit körperlicher oder psychischer Beeinträchtigung ein.“
Politische Beteiligung
Soziales
„Es muss einheitliche Standards und Kommunikation zwischen den Prüfungsämtern geben.“
LiMINT
„Im akademischen Senat streben wir mindestens „Wir wollen mehr eine paritätische Anreize für StugABesetzung durch Arbeit.“ die Statusgruppen an.“
UniBürokratie
CG
„Wir unterstützen einen Abbau der „Die Situation im bürokratischen Prüfungswesen ist Hürden an der derzeit unzumutUni, z.B. durch bar.“ eine massive Entschlackung des Prüfungswesens.“
AfA
„Bildung für alle und zwar umsonst.“
„Uni ist parlamentarisch aber nicht demokratisch.“
„Die universitäre Verwaltung ist überlastet, überlastet, überlastet.“
LiSA
„Wir verstehen den AStA als ServiceDienstleister, daher wollen wir uns für Beratung und Unterstützung in allen Lebenslagen stark machen.“
„Die Universität bietet viele Möglichkeiten der Beteiligung und bevor man großspurig nach mehr ruft, sollte man zunächst mal diese nutzen.“
„An der Uni Bremen läuft manches definitiv in die falsche Richtung. Größte Baustelle ist für uns Pabo.“
RCDS
Hochschulpolitik
7
Hochschulpolitik
Die Exzellenzinitiative – „Wir wollen keine Elite sein“ Eines der großen Themen, über die derzeit hochschulpolitisch gestritten wird, ist die Exzellenzinitiative. Während die einen ein Zwei-Klassen-System im Hochschulbereich fürchten, hoffen andere auf Geld und Prestige. Der Rektor der Universität Bremen, Prof. Dr. Wilfried Müller, stand dem Scheinwerfer für ein Interview zur Verfügung. : Herr Prof. Dr. Rektor Müller, universitätsintern wird vieles an der Exzellenzinitiative (EI) kritisiert. Viele bezweifeln, dass Bremen überhaupt eine Chance in dieser Förderlinie hat. Deshalb die erste Frage: Wie schätzen sie die Chancen ein? Müller: Wenn ich mich an die inneruniversitäre Selbstwahrnehmung gehalten hätte, hätten wir uns nie beworben, weil sich die meisten nicht vorstellen konnten, dass wir es schaffen. Aber es gab ein paar Leute, die gesagt haben: „Ich möchte nicht an einer Universität sein, die das nicht wagt.“ Wir haben im Moment neun Universitäten, die den Titel „Exzellenzuniversität“ tragen, und es haben sich 22 weitere beworben, wovon sieben, unter anderem die Universität Bremen, das Recht bekamen, den Vollantrag zu schreiben. Das bedeutet: Wir haben schon unglaublich viel erreicht. Dementsprechend haben wir eine gute Chance. : Unabhängig davon: Können Sie die Kritik und den Protest der Studierenden nachvollziehen? Müller: Wir haben viel getan, vor allem über die Konrektorin für Lehre und Studium, Prof. Dr. Heidi Schelhowe, um diese Kritik einmal im Detail nachzuvollziehen. Das ist nicht so einfach. Wir hatten den Semestergipfel, da ist Kritik geäußert worden – allerdings nur von relativ wenigen. Und es war keineswegs nur negativ. Deshalb glaube ich, dass, wenn man die Zeit und die Ruhe hat, darüber zu reden, sich die Kritikpunkte auflösen. Aber wenn man nicht miteinander redet, dann ist das schwer. Ich glaube ja, dass die Diskussion das wesentliche Element einer Universität ist und an dem Punkt hätte ich mir mehr Diskussionslust gewünscht. : Ich will einige der deutlichsten Kritikpunkte herausgreifen. Ein Vorwurf lautet, die EI mag der Forschung zu Gute kommen, die Lehre aber verkümmert. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf? Müller: Es ist an diesem Vorwurf etwas dran. Man kann allerdings die kritischen Punkte für die Lehre deutlich mildern – wie wir das gemacht haben. Warum ist da etwas dran? Es gibt ein kompliziertes politisches Verhältnis von Bund und Ländern. Und die Länder haben nicht zugelassen, dass der Bund in der Universität die Lehre fördert, weil strategisch die Länder zuständig seien. Verfassungsrechtlich ist das relativ einfach: Der Bund kann Projekte in der Forschung fördern. Über den Qualitätspakt findet auch eine Lehrförderung statt, was allein deshalb möglich ist, weil keines der 8
klammen Länder vorm Verfassungsgericht klagt. Vor fünf Jahren stemmten sich die Länder gegen die Beeinflussung der Länderpolitik durch Bundesgelder, weshalb die EI auf Forschung ausgerichtet wurde – nur dort kann der Bund das Geld geben. Interessant ist, dass die Länder es beim Qualitätspakt akzeptieren. Klagt nur ein Land, ist das jedoch verfassungsrechtlich problematisch. Vor diesem Hintergrund hatten die Universitäten, zumindest vor fünf Jahren, keine andere Chance, als auf Forschung zu setzen. Diesmal gab es aber immerhin die Möglichkeit, sich zu entscheiden, auch einen Lehranteil drin zu haben, wofür es aber kein Geld gibt. Ist er aber drin, wird er auch bewertet. Wir haben uns unter dem Titel „forschendes Lernen“ dafür entschieden. Ich glaube, dass der Antrag keine negativen Effekte für die Lehre hat, sondern überwiegend positive. Wir haben den Antrag so formuliert, dass die Lehre über Nebeneffekte profitiert. Alle Gruppen, die bei einem Erfolg Mittel bekommen, verpflichten sich, das, was sie in der Forschung machen, in die Lehre einzubeziehen – auch in den Bachelorprogrammen. Wir kriegen natürlich eine Reduktion der regulären Lehrverpflichtungen für einige Professoren, bekommen aber auch neue Professoren und vor allem wissenschaftliche Mitarbeiter, die allesamt zur Lehre verpflichtet werden. Wir haben auch zugesagt, dass wir allen, die sich am forschenden Lernen beteiligen, anhand eigener Mittel die Möglichkeit bieten, ein halbes Jahr ausschließlich in die Lehre zu gehen. : Weiter wird unterstellt, die Naturwissenschaften würden begünstigt, während die Geistes- und Sozialwissenschaften zu kurz kämen. Das liege schon daran, dass die EI strukturell eher auf deren Forschungsmethoden ausgerichtet sei. Müller: Auch da ist etwas dran. Der Wettebewerb setzt im Bereich der so genannten Cluster kooperative Forschung voraus. Allerdings kann man auch kleinere Cluster aufbauen. Die Naturwissenschaften sind begünstigt – bei den großen Clustern. Aber in der Wettbewerbslinie der Graduiertenschulen trifft dieser Vorwurf nicht zu. Wir haben in unserem Antrag bewusst drei Dimensionen verfolgt. Eine für die großen Forschungsprojekte – überwiegend Naturwissenschaften, aber nicht nur – und eine zweite für creative units, in der wir kleine Gruppen zum Förderobjekt gemacht haben. Das ist das riskanteste Element unseres Antrags, weil wir bisher wenig Erfahrung in der Förderung solch kleiner Gruppen haben und das merkt so eine Kommission sofort.
Hochschulpolitik
: Es wird, auch mit Verweis auf die Naturwissenschafnicht auskennen. Wir haben dort doch Studiengebühren, die wir ten, unterstellt, dass nicht nur universitätsintern die Bereiche, die uns alle nicht erhoffen und zugleich, ganz bedeutungsvoll für die bereits stark gefördert werden, von der EI profitieren. Darüber hinUSA, sind die großen Forschungseinrichtungen – vergleichbar aus profitierten auch bundesweit jene Universitäten am meisten Helmholtz, Fraunhofer und so weiter – dort in den Universitäten. von der EI, die bereits Großes leisten konnten. Genannt seien hier Erst bei gleicher Struktur in Deutschland hätten wir einen Vergleich München oder Heidelberg. Stimmen Sie diesem Vorwurf zu beziemit den US-Universitäten. Wir wollen aber nicht die Gebühren hungsweise halten Sie es in Anbetracht dessen für wünschenswert, und wir können nicht die großen Einrichtungen in die Universidie EI fortzuführen? täten integrieren, die werden alle vom Bund bezahlt. Die USA haMüller: Der Impuls für die EI bestand ja in der Wahrnehmung ben eine Differenzierung zwischen miserabel und exzellent, die für der damaligen Bildungsministerin Edelgard Buhlmann, dass die Deutsche unannehmbar ist. Auch die Steuergesetzgebung ist andeutschen Universitäten internaders, sodass dort beliebig Universitional eine äußerst schlechte Positäten gefördert werden können, was tion in den Rankings einnehmen. von der Steuer absetzbar ist. Nicht Und unabhängig von den Rankings alles, was hinkt, ist ein Vergleich. gingen tausende deutsche NachEs muss schon einen deutschen wuchswissenschaftler mit Diplom Weg geben, der auch eine gewisse ins Ausland – das heißt, der wisDifferenzierung beinhalten muss. senschaftliche Nachwuchs haute Aber nicht in reine Forschung und ab. Es geht da nicht um zu wenige reine Lehre, denn das haben wir Nobelpreise oder zu wenige Veröfbereits zwischen Universitäten und fentlichungen, sondern darum, dass Fachhochschulen – das sind ja Lehder wissenschaftliche Nachwuchs runiversitäten. Es wird aber eine Deutschland verlassen hat. Vor dieDifferenzierung innerhalb der Unisem Hintergrund war das Ziel, dass versitäten, die Forschung betreiben, eine kleine Zahl an Universitäten geben. Alle werden Forschung bedem Nachwuchs solche Arbeitstreiben, das ist ihr Auftrag. Einige bedingungen bieten kann, damit werden dort aber breitere, andere vielleicht nicht unbedingt alle hier schmalere Felder haben. bleiben, aber neue nach Deutschland geholt werden können. Dabei : Sehen Sie keine Gekann man gar nicht anders, als die fahr, dass das Entstehen einzelner Zahl der Universitäten, die an das exzellenter Universitäten das Pringanz große Geld kommen können, zip der Chancengleichheit unterlaufen könnte? Es gibt Befürchzu begrenzen. Ein Teil der Kritik ist tungen, besonders herausragende richtig, aber das Spielfeld für die BeHochschulen können und werden wertung ist nicht das eigene Land, auch hohe Hürden schaffen – hohe sondern Europa. Es treten nicht Studiengebühren, verstärkter Einnur Universitäten an, sondern CluDer Rektor der Universität Bremen, Prof. Dr. Wilfried Müller, im satz von Aufnahmetests oder, wie ster und Graduiertenschulen. Die Gespräch mit dem Scheinwerfer. teils in den USA, Aufnahme nach Gesamtzahl der geförderten UniIntelligenz und Charaktereigenschaften. versitäten liegt bei 35 von den 70 Einrichtungen, die man richtige Müller: Ich glaube nicht, dass das passiert. Es gibt das verfassungsUniversitäten nennen kann. Ohne die EI hätten wir niemals so viel mäßige Recht auf Bildung. Wenn Universitäten die Nadelöhre zu Aufmerksamkeit bekommen. Erst durch diesen Wettbewerb sind eng machen, gewinnen die Studierenden vor Gericht. Es gibt schon wir weltweit wahrgenommen worden. Die Frage ist also, ob man so Universitäten mit unterschiedlichem Ruf, was unter den Studiereneinen Effekt will oder nicht. Offen gesagt: Ich bin unter anderem den zu einer Selbstselektion führt. Hochschulstrukturell wird sich Rektor geworden, um so was zu erreichen. aber in den Bachelorstudiengängen wenig ändern. Es wird sicher : Aber besteht nicht die Gefahr einer „AmerikanisieUniversitäten geben, die sich das vorstellen. Wir stellen uns das rung“ des deutschen Hochschulsystems? Es heißt nicht umsonst, nicht vor. Der Clou des Bremer Antrags ist doch, etwas zu probiedass in den USA mit ihrer Elitenförderung vielleicht die 40 besten, ren, was nicht mit sozialer Selektion in Verbindung steht, sondern aber auch die 400 schlechtesten Universitäten der Welt stehen. Laumit Chancen. Wir sind weder, wie der alte Vorwurf oft lautet, Kafen wir nicht Gefahr, die Hochschullandschaft zu spalten in Eliteuderschmiede, noch wollen wir Elite sein. Das ist nicht das Ziel, es niversitäten und den Rest? geht hier um gute Forschung. Wenn wir das packen, werden wir Müller: Das erwarte ich nicht und hielte es auch nicht für positiv. eine Fülle interessanter Studierende aus vielen Ländern der Welt Ich finde den Vergleich mit dem amerikanischen Hochschulwesen bekommen. Das hat unter den Promovierenden jetzt schon zugevöllig daneben. Der wird immer von Leuten herangezogen, die sich nommen. Mein Ziel ist auch, ein Stück internationale Community 9
Hochschulpolitik
hier zu schaffen. Und das geht nicht, wenn Sie nur eine ganz gute Regionaluniversität haben. Dann kriegen Sie niemals die Leute aus anderen Ländern in großer Zahl. : Was genau bringt die EI überhaupt konkret für die Studierenden? Welche Vorteile ergeben sich für die große Masse an der Universität? Müller: Es bringt drei positive Punkte. Erstens kommt man bei großen Bewerberzahlen als Absolvent solch einer Universität in die engere Auswahl der Unternehmen und Institutionen und verbessert so seine Berufschance. Zweitens bekommen die Studierenden in der Lehre, wenn die Forschungsprojekte an die Lehre angebunden sind, das neueste Wissen angeboten. Und drittens, wenn Sie mal wirklich wissenschaftlicher Mitarbeiter werden und promovieren wollen, haben Sie viel bessere Chancen, eine Stelle zu bekommen. Also Reputation, Verbindung von Forschung und Lehre, zumindest in unserem Antrag, und mehr Stellen für die Promotionsförderung. : Eine letzte Frage: Auf dem vergangenen Semestergipfel entstand die Idee, so etwas wie ein „Exzellenzwatch“ zu gründen.
Ein inneruniversitäres Evaluations- und Kontrollsystem also, das darüber wacht, welche Vorteile, aber vielleicht auch welche Nachteile die EI für die Uni Bremen insgesamt hat. Wie stehen Sie zu dieser Idee und könnten diejenigen, die sich darauf einlassen, auf größtmögliche Transparenz und Kooperationsbereitschaft ihrerseits und ihres Nachfolgers hoffen? Müller: Ich glaube, dass Rektoren an diesem Punkt verkehrt eingeschätzt werden. Wir werden handlungsfähiger, je offener wir agieren. Das heißt, offenes Agieren vergrößert die Aktionsmöglichkeiten eines Rektors. Deshalb würden wir ein „Exzellenzwatch“ fördern. Sonst kommen wir ja gar nicht an die Probleme ran. Natürlich kommen wir ran, weil wir Berichte schreiben müssen, aber so ein Projekt wäre ein Geschenk des Himmels, um zu prüfen, ob die Wünsche unseres Antrages überhaupt umgesetzt werden. : Ich bedanke mich für das Interview.
Text: Björn Knutzen Foto: Katrin Pleus
Exzellenzinitiative – Ein F.A.Q. Was ist die Exzellenzinitiative? Bei der EI handelt es sich um ein 2005 gestartetes Bildungsförderungsprogramm in Deutschland. Woher kommt das Geld? Die finanziellen Mittel stammen vom Bund, der sie unter anderem aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen erhielt. Wie erhält man die Gelder? Es handelt sich um einen Wettbewerb um die besten Forschungskonzepte. Die Gelder fließen daher ausnahmslos in die Forschung. Für den Bereich Lehre gibt es den so genannten Qualitätspakt. Wie sieht dieser Wettbewerb genau aus? Innerhalb des Wettbewerbs gibt es drei Förderlinien. Dazu zählt neben den Graduiertenschulen (wie die BIGSSS) und den Exzellenzclustern (Forschung in thematischen Komplexen) auch der Bereich Zukunftskonzepte, in dem sich die Universität Bremen momentan befindet. Nur große Namen? Während vielfach Universitäten mit bestimmtem Ruf in der EI siegen, gilt dies nicht generell. Neben München oder Heidelberg haben auch Mannheim, Hannover oder die Universität des Saarlandes, aber natürlich auch die Universität Bremen, Erfolge zu verzeichnen. Was passiert nach dem Ablauf der Förderungsdauer? Die Förderungsdauer soll fünf Jahre nicht überschreiten, wie es im Gesetzesbeschluss heißt. An gleicher Stelle wird die Möglichkeit einer einjährigen Überbrückungsfinanzierung sowie einer maximal zweijährigen Auslauffinanzierung erwähnt, die zumindest den Abschluss von Projekten und Forschungen ermöglichen sollen. Die oft vorgebrachte Kritik, dass zugesicherte Bezüge nach Ablauf der Zeit wieder verschwinden und neu geschaffenen Stellen dann die sofortige Abschaffung droht, ist somit nur teilweise richtig.
10
Und plötzlich sind sich alle einig? Nach langer und ausgiebiger Diskussion wurde die Zivilklausel vom Akademischen Senat (AS) bestätigt und konkretisiert. Das klare Votum mit 18 Jastimmen, drei Enthaltungen und einer Gegenstimme überrascht angesichts der großen Aufregung im Vorfeld.
D
ie Zivilklausel wurde bestätigt. In der Sitzung vom 25. Januar beschloss der AS den Erhalt der Zivilklausel und nimmt diese sogar in die Leitziele der Universität auf. Der Beschluss war mit Spannung erwartet worden, da im Vorhinein lange diskutiert wurde, ob die Zivilklausel ein Relikt des Kalten Krieges sei und aktualisiert werden müsse. Ausgelöst wurde die Diskussion durch eine geplante Kooperation der Universität Bremen mit der Orbitalen Hochtechnologie Bremen System AG (OHB) und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), die gemeinsam eine Stiftungsprofessur finanzieren sollen. Viele Studierende und Wissenschaftler sahen darin eine Verletzung der bestehenden Zivilklausel, die besagt, dass die Uni Bremen nicht für militärische Zwecke forschen darf. In ihren Augen ist die OHB ein Rüstungskonzern, da das Unternehmen Satellitensysteme für die Bundeswehr entwickelt hat. Angeheizt wurde die Diskussion durch einen Artikel im Weser-Kurier, in dem Marco Fuchs, der Vorstandsvorsitzende der OHB, ankündigte, die Professur nur zu finanzieren, wenn die Zivilklausel geändert beziehungsweise abgeschafft würde. Kritiker der Stiftungsprofessur sahen darin einen Eingriff in die Forschungsfreiheit der Universität, während Befürworter die Zivilklausel als solche als ein Problem sahen, das die Forscher einschränke. Es entspann sich ein monatelanger Streit, über den der Scheinwerfer berichtete. Die Fronten schienen verhärtet und in der Studierendenschaft gab es die Befürchtung, dass die Zivilklausel abgeschafft werden solle. Deshalb wurde die Sitzung des AS auch von circa 100 Protestierenden begleitet, die Plakate mit Aufschriften wie „ Keine Kriegs-Uni mit OHB“ und „Für eine friedliche Uni, für den Erhalt der Zivilklausel“ in den Händen hielten und ihre Meinung lautstark kundtaten. Umso überraschender war dann das Ergebnis der AS-Sitzung: Die Mitglieder diskutierten weniger über einen grundsätzlichen Erhalt der Zivilklausel als vielmehr über eine klarere Formulierung. Hauptsächlich ging es dabei um den Begriff der friedlichen Forschung, der laut Sören Böhrnsen (AfA) Forschung für militärische Friedensmissionen (beispielsweise im Kosovo) nicht ausschließe. Eine Abschaffung der Zivilklausel stand also nicht zur Debatte, stattdessen wurde sie konkretisiert und in die Leitziele der Universität aufgenommen. Das heißt, dass sich die Universität als generelles Ziel vornimmt, sich der zivilen Forschung zu verschreiben und dies auch schriftlich darzustellen. Im Endeffekt einigte man sich auf die Formulierung, dass sich „die Universität Bremen der zivilen Forschung und dem Frieden verpflichtet“. Professor Jens Falta, Dekan des Fachbereich eins, hatte während der Sitzung den Entwurf der Dekane für eine Neuformulierung der Zivilklausel eingereicht, der im Laufe der Sitzung modifiziert und konkretisiert wurde. Er äußerte sich im Nachhinein sehr erfreut über den Ausgang und zeigte sich irritiert über die hitzigen Diskussionen im Vorfeld. „Ich denke, für eine
Abschaffung der Zivilklausel hat es zu keiner Zeit eine Mehrheit gegeben.“ Vielmehr seien Äußerungen, die Zivilklausel zu modifizieren um sie anwendbarer zu machen, missverstanden worden. Auch Professor Arnim von Gleich, Dekan des Fachbereichs vier, steht der neuen Formulierung positiv entgegen. Seinem Fachbereich soll die Professur zugute kommen. Zuvor hatte er noch gegen eine Zivilklausel argumentiert. „Ich bin immer noch der Meinung, dass eine Friedensklausel für die Universität angemessener wäre als eine Zivilklausel, da sich die Abgrenzung von der Bundeswehr nicht unbedingt mit dem Grundgesetz verträgt.“ Allerdings habe die Formulierung „militärisch nutzbare Forschung öffentlich zu diskutieren und gegebenenfalls zurückzuweisen“ und nicht grundsätzlich alles abzulehnen, was militärisch nutzbar sei, dazu geführt, dass er mit dem Beschluss leben könne. Dazu hat wohl auch beigetragen, dass Rektor Müller während der Sitzung ankündigte, dass die OHB bereit sei, ihren Anteil an der Finanzierung der Stiftungsprofessur auch bei Erhalt der Zivilklausel bereitzustellen. Einzig das Mitglied des RCDS stimmte gegen die neue Zivilklausel, da „durch die Zivilklausel die Forschungsfreiheit negativ betroffen ist“ und Rüstungsforschung für den Schutz der deutschen Bevölkerung und deutscher Soldaten unabdingbar sei. Die anderen Hochschulparteien zeigten sich hingegen erfreut über das Ergebnis. Gleichzeitig wurde allerdings auch deutlich, dass die Debatte noch nicht vorbei ist. So bietet auch die neue Zivilklausel keine Möglichkeit, die Stiftungsprofessur von OHB und DLR zurückzuweisen, da keine militärische, sondern Grundlagenforschung betrieben werden soll. Das sehen viele Studierende weiterhin kritisch: „Wir lehnen die Professur weiterhin ab und werden die Debatte darüber am laufen halten“, sagt Sonja Kovacevic (CampusGrün). Rektor Wilfried Müller zeigte sich nach der Sitzung optimistisch hinsichtlich einer zukünftigen Zusammenarbeit mit der OHB. „99 Prozent der Weltraumforschung in Deutschland sind zivil“ und auch die Stiftungsprofessur behandle nur Grundlagenforschung. Gleichzeitig zeigte er sich überrascht über die Aufregung vor dem Beschluss. „Da ist wohl etwas hysterisch reagiert worden. Da wurde etwas falsch verstanden oder es wurde sich zu wenig informiert.“ Insgesamt empfand der Rektor die Stimmung während der AS-Sitzung als angenehm. „Ich freue mich, dass wir so viele interessierte Zuschauer hatten, die sich so Verhalten haben, dass der AS eine freie Entscheidung treffen konnte. Es ist gut, dass wir die Thematik ausführlich diskutieren konnten und ehrlich gesagt, habe ich mit einem solchen Ergebnis gerechnet.“ Warum im Vorfeld so viele Irritationen entstanden sind lässt sich wohl nicht mehr beantworten. Jetzt geht es wohl hauptsächlich darum, die zukünftige Forschung der Stiftungsprofessur zu beobachten und zu bewerten, ob diese die Zivilklausel verletzt. 11
Hochschulpolitik
„Die Zivilklausel ist im Wesentlichen keine schlechte Sache“ Nachdem die Zivilklausel vom Akademischen Senat der Universität Bremen bestätigt wurde, traf sich der Scheinwerfer für ein Interview mit Steffen Leuthold, Pressesprecher der OHB, um mit ihm über die künftige Zusammenarbeit, Missverständnisse, die aktuell schlechte Außendarstellung und den Einfluss der OHB auf die Stiftungsprofessur zu reden. : Wie hat die OHB den eindeutigen Beschluss des Akademischen Senats (AS) aufgenommen, die Zivilklausel zu erhalten? Leuthold: Die Reaktion darauf war entspannt. Wir haben die Änderung der Zivilklausel niemals zur Bedingung gemacht, um die Stiftungsprofessur zu finanzieren. Wir haben letztlich gesagt, dass Zivilklausel und Stiftungsprofessur vereinbar sein müssen. Es ist allerdings nicht unsere Aufgabe das zu prüfen, sondern die Aufgabe der Universität. Wenn beides miteinander vereinbar ist, unterstützen wir diese Stiftungsprofessur finanziell, so wie wir das vertraglich festgelegt haben. Wenn dem nicht so ist, ziehen wir unsere finanzielle Zusage zurück. : Der Weser-Kurier zitierte den Vorstandsvorsitzenden Fuchs allerdings mit einer anderen Haltung („Entweder die Uni ändert die Zivilklausel oder wir lassen die Professur sein“). Leuthold: Leider wurden die Aussagen meines Chefs nicht korrekt wiedergegeben. Es ist jedenfalls nicht die offizielle Meinung des Unternehmens. Wir wollen nicht, dass die Zivilklausel für unsere Stiftungsprofessur abgeschafft oder geändert wird, sondern wir wollen nur, dass Stiftungsprofessur und Klausel miteinander vereinbar sind. : Warum wurde das denn nicht noch einmal öffentlich klargestellt? Rektor Müller hat die Mitglieder des AS erst während der Sitzung am 25. Januar darüber informiert, dass die OHB die Professur auch ohne Änderung der Zivilklausel finanzieren will. Leuthold: Wir sehen uns nicht in der Rolle, das Thema zu treiben. Unser Angebot steht. Unser Angebot bedeutet, dass wir diese Stiftungsprofessur über einen bestimmten Zeitraum mit einem bestimmten Betrag finanzieren. Das ist übrigens nicht nur unser Geld, das sollte man auch nie vergessen. Die eine Hälfte ist unser Geld und die andere kommt von DLR (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Anm. d. Red.). Das ist in der ganzen Diskussion auch niemals so offensichtlich geworden. : Die Zivilklausel wurde noch einmal spezifiziert und sogar in die Leitziele der Universität aufgenommen. Inwiefern beeinflusst das die zukünftige Zusammenarbeit der OHB mit der Uni Bremen? Leuthold: Für uns macht das keinen Unterschied. Alles was wir vertraglich geregelt haben, ist der Beitrag von OHB. Wir sind weder verantwortlich für den Inhalt der Professur, noch geben wir Lernziele vor, noch sagen wir, wer der Professor sein soll. Das ist alles Aufgabe der Universität. Alles was wir leisten, ist die Finanzierung und auch das nur, wenn der Akademische Senat beides für miteinander vereinbar hält. : Können Sie den Widerstand gegen die Stiftungspro12
fessur innerhalb der Studierendenschaft nachvollziehen? Zum Beispiel den Vorwurf, die OHB sei ein Rüstungsunternehmen? Leuthold: Ich akzeptiere, dass es solche Meinung gibt. Wir selbst sehen uns natürlich nicht als Rüstungsunternehmen. Klar, wir geben zu und stehen auch dazu, dass wir mit der Bundeswehr Geschäfte gemacht haben und hoffentlich künftig auch machen werden. Wir sehen uns allerdings nicht als Rüstungsunternehmen im eigentlichen Sinne. Das ist allerdings eine schwierige Frage. Wer ist Rüster? Reicht es aus, wenn man einen militärischen Auftraggeber hatte? Ist er dann Rüster oder ist er es nicht? Es gibt viele gute Beispiele, die es nicht sind, allerdings auch viele, die es sind. Wir sind es unserer Meinung nach nicht, deswegen sind wir auch ein bisschen angefasst von der Bezeichnung „Rüstungsunternehmen“. Wir wollen uns dieser Diskussion auch gerne stellen, aber die hat bis dato noch nicht stattgefunden. Allerdings verstehen wir auch die andere Seite, die sagt, dass Rüstungsforschung im Sinne einer Massenvernichtung nicht zu unterstützen ist. Da sind wir der gleichen Meinung. : Glauben Sie denn, dass diese Diskussion dem Ansehen ihres Unternehmens in der Studierendenschaft geschadet hat? Leuthold: Ja, das denke ich schon, da ich erlebe, dass Mitarbeiter von uns, die viele Freunde innerhalb der Studierendenschaft haben, auf ihre Tätigkeit in unserem Unternehmen angesprochen werden. Und das nicht in einer freundlichen Art und Weise. Die Mitarbeiter fühlen sich dann natürlich nicht besonders wohl mit der Tatsache, dass sie hier arbeiten und können auch nicht mit so viel Stolz sagen, dass sie für unser Unternehmen tätig sind, weil sie eben unter Umständen im Kreise ihrer Freunde dadurch benachteiligt werden. : Wo genau sehen Sie denn den Unterscheid zwischen zivilen Firmen und Rüstungsunternehmen? Leuthold: Ganz klar beim Herstellen einer Waffe und das ist ein Satellit eindeutig nicht. Allerdings ist die Grenze natürlich schwer zu ziehen und genau diese Diskussion muss man jetzt führen oder akzeptieren, dass es eine Grauzone gibt, in der man für militärische Auftraggeber arbeitet, ohne Waffen herzustellen die jemanden töten. In erster Linie sehe ich immer das Produkt und unsere Satelliten können bei weitem nicht das, was von der gegnerischen Seite unterstellt wird. Das muss man eindeutig sagen. SAR-Lupe ist nicht in der Lage, so wie es oftmals dargestellt wird, für Frontex irgendwelche Flüchtlingsboote im Mittelmeer aufzuspüren. Das kann dieses System schlichtweg nicht. Das ist technisch gar nicht möglich. Außerdem ist SAR-Lupe eine rein deutsche und von der Bundeswehr betriebene Technik und wird nicht im europäischen Kontext für Grenzschutz eingesetzt.
Hochschulpolitik
: Wie genau funktioniert die SAR-Lupe? Leuthold: SAR-Lupe ist ein militärisches Satellitenaufklärungssystem, keine Frage. Mit diesem System können Sie von so ziemlich jedem Punkt auf der Erde Aufnahmen mit einer hohen Auflösung machen. Allerdings geschieht das nicht im optischen, sondern im Radarbereich. Deshalb braucht es Experten, die diese Bilder auswerten. Unausgebildete Menschen könnten auf diesen Bildern nichts erkennen. Das System wird für die Führung und Einsatzplanung der Bundeswehr für Truppen im Ausland verwendet. Also sicherlich für die Bereiche Afghanistan und Kosovo. : Wie genau sieht denn der Ablauf einer solchen Aufnahme aus? Leuthold: Ein Satellit fliegt über die Bodenstation und bekommt seine Informationen, zum Beispiel den Auftrag, eine oder mehrere Aufnahmen aus einer Krisenregion aufzunehmen. Dann braucht der Satellit erst einmal eine gewisse Zeit, um dahin zu kommen, weil er in seiner Orbitalbahn permanent um die Erde kreist und nicht irgendwie querbeet gelenkt werden kann. Das heißt er muss so lange fliegen, bis er genau über dem gewünschten Punkt der Erde angekommen ist. Dann vergeht Zeit, bis er das Bild aufgenommen hat und wieder über der Bodenstation ist. Wir reden hier über Zeitabläufe zwischen 12 und 24 Stunden. Für Frontex ist dieses System also nicht brauchbar, da Flüchtlingsboote in dieser Zeit längst auf ganz anderen Positionen, meist sogar bereits angelandet sind. Außerdem ist die Radartechnologie nicht in der Lage, Menschen zu erkennen. Da geht es eher um Objekte, die größer als ein Quadratmeter sind. Beispielsweise kleine Häuser. Fahrzeuge zu detektieren ist mit diesem System bereits nicht mehr so einfach. : Zurück zur Stiftungsprofessur. Warum ist die Professur so wichtig für die OHB? Leuthold: Das muss ich relativieren. Es ist für alle Parteien wichtig, dass es diese Professur gibt. Es ist nicht so, dass wir diese Idee haben, sondern wir sind gemeinsam mit dem DLR von der Universität angesprochen worden, einen solchen Raumfahrtstudiengang einzurichten. Für uns als Unternehmen ist es wichtig, einen solchen Studiengang zu haben, weil Bremen inzwischen der Raumfahrtstandort hier in Deutschland ist. Wir sind natürlich immer interessiert an frisch ausgebildeten Studenten, die dann bei uns anfangen können. Inzwischen rekrutieren wir unsere Mitarbeiter aus Europa, weil es selbst in Deutschland viel zu wenige gibt. : Es wird dabei ja eigentlich immer über die Forschung gesprochen, Ihnen geht es aber ausschließlich um die Ausbildung der Studenten? Leuthold: Wir wünschen uns natürlich auch einen Schwerpunkt auf der Lehre. Damit die Leute wirklich mit einem Fachwissen hierher kommen. Raumfahrt ist nicht so schnelllebig wie andere Branchen, wo sich in Abständen von jedem Jahr viel Neues entwickelt. Wir wollen also gut ausgebildete Facharbeiter. Wenn dann noch Forschung dabei ist, super. : Wäre es nicht genau aus diesem Grund in Ihrem Interesse, Einfluss auf die Ausbildung dieser Studenten zu bekommen? Leuthold: Dem ist definitiv nicht so. Raumfahrtsysteme als Stu-
diengang beinhaltet letztendlich die komplette Idee eines weltraumtauglichen Vehikels. Das heißt, wir müssen nicht vorgeben, was die Studenten zu studieren haben, sondern das Wissen ist allgemein in anderen Universitäten auch verfügbar und dieses Wissen müsste hier im Prinzip nur multipliziert werden. Damit wären wir ja schon vollkommen zufrieden. : Gleichzeitig sitzt die Familie Fuchs der Kommission bei, die die Professorenstelle besetzt. Zwar können sie nicht mit abstimmen, allerdings in beobachtender Funktion teilnehmen. Gab es da keine Möglichkeit der informellen Einflussnahme?
Steffen Leuthold im Interview
Leuthold: Ich kann Ihnen gerne sagen, wie es da gelaufen ist. Uns wurde nur der Kandidat vorgestellt. Wir haben nicht aktiv an der Suche nach einem Professor teilgenommen und auch in diesem Gremium keinen Einfluss genommen. Wir haben letztendlich nur den Kandidaten, der es werden soll, vorgestellt bekommen und haben gesagt: Ja, warum nicht. Ich kann nicht für die Familie Fuchs sprechen, weil ich deren Aktivität in diesem Bereich nicht umfänglich genug kenne, das muss ich ganz ehrlich sagen. Ich weiß nicht, an wie vielen Sitzungen sie teilgenommen haben. Ich kann mir aber vorstellen und so schätze ich sie auch ein, dass sie gesagt haben: „Macht das mal, wir vertrauen euch.“ : Herr Leuthold, vielen Dank für das Gespräch.
Text: Helge Wohltmann Interview: Helge Wohltmann und Fabian Nitschmann
13
Hochschulpolitik
Heut
D
e leid e r keine Sprec hstun de
as zentrale Prüfungsamt (ZPA) gibt es schon so lange wie die Uni Bremen selbst. Zu Diplom-Zeiten ging es hier recht beschaulich zu. Die Studierenden reichten zum Ende ihres Studiums alle Scheine ein und meldeten sich zur Abschlussprüfung an. Die Berührungspunkte zwischen ihnen und dem Prüfungsamt beliefen sich auf eine verschwindend kleine Zahl. Heute ist alles anders. Semesterende bedeutet Prüfungszeit und Belastungsprobe, nicht nur für die Lernenden. Jetzt zeigt sich, ob das Anmeldesystem in diesem Jahr funktioniert hat und alle Fehler rechtzeitig gelöst werden konnten. Im Wintersemester 2011/2012 stand das System „kurz vor dem Kollaps“, so Elena Reichwald, AStA-Beauftragte für Studium und Lehre. Die Probleme zeichneten sich bereits während der Anmeldephase im November ab. Zahlreiche Prüfungsmodule wurden erst verspätet freigeschaltet, einige von ihnen waren auch nach der verlängerten Frist nicht aufgeführt. So bangten die meisten Kulturwissenschafts-Erstsemester um ihre Anmeldung zum Ethnologie-Modul. Am 30. Dezember war eine Anmeldung nicht möglich, die Ethnologie-Vorlesung noch nicht auf der Seite des Prüfungsamtes Bremen Online (PABO) zu finden. Mitten in den Weihnachtsferien liefen Anrufe und E-Mails ins Leere. Auch die Dozenten konnten die zuständigen Sachbearbeiter nicht erreichen und riefen ihre Studenten zu Beschwerden im Prüfungsamt und bei der Fachbereichsleitung auf. Was vielen nicht klar ist: Obwohl PABO und das ZPA oft in einem Atemzug genannt werden, handelt es sich um unterschiedliche Dinge. Während im Zentralen Prüfungsamt Sachbearbeiter sitzen und sich um die Anliegen der Studenten kümmern, handelt es sich beim PABO lediglich um ein Computerprogramm. Ist ein Modul nicht auf der Internetseite zu finden, so liegt das also eher an einem Softwarefehler als an den Mitarbeitern des Zentralen Prüfungsamtes. Das ZPA ist, so der Eindruck vieler Studenten, eine der am schlechtesten organisierten Einrichtungen innerhalb der Universität. Kurze Öffnungszeiten, lange Warteschlangen und wochenlange Bearbeitungsdauer von Anfragen tragen nicht unbedingt zu einem besseren Image bei. Egal, wen man fragt, am Prüfungsamt lässt niemand ein gutes Haar. Wer sich neben dem zeitaufwendigen Studium auch noch darum kümmern muss, dass eine Unibehörde richtig arbeitet, hat weniger Zeit zum Lernen. Wer dann noch „ausführlich begründen“ soll (Zitat aus einer Mitteilung des ZPA zur Modulnachmeldung im vergangenen Wintersemester), warum die Prüfungsanmeldung nicht erfolgreich war, der kann mit Recht sauer sein. Dabei macht nicht nur PABO Probleme. „Reiche nie ein Formular im Original ein!“ Dieser Satz fällt oft, wenn das ZPA Nachweise wie die General Studies Scheine verlangt. Immer wieder 14
berichten Studierende, dass eingereichte Formulare nie beim zuständigen Sachbearbeiter angekommen sind. Leider kann niemand Auskunft geben, wo diese geblieben sind. Wer nun erwartet, dass die Mitarbeiter des Prüfungsamtes für eine schnelle Lösung einstehen, der irrt. Meist muss der Betreffende selbst alle Nachweise noch einmal zusammensuchen und erneut einreichen – dieses Mal hoffentlich in Kopie. Denn kein Mitarbeiter der Behörde wird einem Studenten schriftlich bestätigen wollen, dass ein Nachweis abgegeben worden ist. Das ZPA ist eine der wichtigsten Systemstellen im Unibetrieb. Hier werden alle der rund 260 Prüfungsordnungen umgesetzt. In diesen Ordnungen ist festgelegt, wie viele und vor allem welche Prüfungen ein Student ablegen muss. Prüfungsordnung ist jedoch nicht gleich Prüfungsordnung. Die Inhalte des fachspezifischen Teils unterscheiden sich nicht nur von Studiengang zu Studiengang, sondern auch innerhalb der Fächer selbst. So studiert ein Lehramtler nach einer anderen Ordnung als seine Kommilitonin, die sich für einen Vollfach-Bachlor entschieden hat. Hinzu kommt, dass sich die Prüfungsformalia regelmäßig ändern. Daneben gibt es viele andere Reglungen, die die Studierenden selbst nicht direkt betreffen. Dazu zählt zum Beispiel die Besetzung des Prüfungsausschusses. Dieses kleinteilige System kritisiert der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA). Im Gespräch mit dem Scheinwerfer mahnt Reichwald die bürokratischen Abläufe an. Die differenzierten Verordnungen brächten viele Aufgaben mit sich – Arbeit, die das ZPA nicht mehr leisten könne. Überall fehle es an finanziellen Mitteln und Personal. Freie Stellen könnten nur über ein kompliziertes Verfahren beim Kanzler der Universität neu besetzt werden. Auch die Teambildung sei eine Folge der Unterbesetzung. „Die wichtigste Strukturstelle der Universität ist unterfinanziert“, bringt es Christina Kock, Erstsemesterbeauftragte im AStA, auf den Punkt. Sich das Arbeitspensum im ZPA vorzustellen, ist nicht schwer. Aufgaben aus dem vergangenen Semester müssen abgearbeitet werden, während die Moduleinpflegung des aktuellen Sommersemesters ansteht. Die Software PABO rechnet zwar automatisch alle Punkte zusammen und setzt ein Häkchen bei bestandenen Prüfungen, die Ergebnisse müssen aber manuelle im Prüfungsamt eingegeben werden. Das Arbeitsklima sei alles andere als gut, die Zahl der Krankschreibungen läge über dem Universitätsdurchschnitt. Ob es wirklich nur an der schlechten finanziellen Situation des ZPAs liegt, dass nichts läuft? Die Pressestelle der Universität könnte darauf Antwort geben. Deren Erreichbarkeiten gestalten sich aber ähnlich schlecht wie jene im Prüfungsamt. Auf Anfrage folgte die Nach-
Hochschulpolitik frage, ob der Redaktionsschluss des Scheinwerfers nicht schon verstrichen seien. Auch innerhalb der nächsten dreieinhalb Wochen gab es keine Auskunft. Ein Beschluss des Rektors soll nun Besserung im Prüfungschaos bringen. Zum 1. April stand Entbürokratisierung auf dem Programm. Seitdem müssen die Mitarbeiter des ZPA nicht mehr überprüfen, ob die sogenannten anderen Leistungen bereits bestanden worden sind. Unter anderen Leistungen fassten die Prüfungsordnungen bisher zusätzliche Qualifikationen wie Sprachnachweise oder den erfolgreichen Abschluss eines vorausgehenden Moduls zusammen, das die Teilnahme zu weiteren Prüfungen ermöglicht. Nun muss lediglich abgesichert werden, dass der betreffende Student immatrikuliert ist und, im Fall der Bachlorarbeit, alle Module bestanden hat. Diese Neureglungen gelten allerdings nicht für jeden Studiengang. Lediglich die Ordnungen, deren allgemeiner Teil im Jahr 2010 bereits geändert wurde, sind von diesem Beschluss betroffen. Alle anderen Ordnungen sollen bis 2013 umgestellt werden. Mittlerweile zeichnet sich jedoch ab, dass das so einfach nicht werden soll. Wahrscheinlich werden die zusätzlichen Leistungen doch geprüft, dann aber studiengangsintern. Wer genau dafür verantwortlich gemacht werden soll, steht nicht fest. An diese Änderung sind dennoch viele Hoffnungen geknüpft. Allen voran steht die Erwartung, die Probleme aus dem vergangenen Wintersemester begraben zu können. In den Augen der beiden AStA-Vertreterinnen ist der Beschluss jedoch nur ein erster Schritt. „Ich hoffe, die Uni merkt auch, wie brenzlig die Lage ist und leitet weitere Veränderungen ein“, sagt Reichwald. Um die Belange der Studierenden an das ZPA heranzutragen, wurde der Arbeitskreis Prüfungswesen gegründet. Sein Ziel laut Pressemitteilung: PABO reformieren. Bei den ersten Treffen wurden zunächst die Forderungen der Studenten gesammelt und später an das Amt herangetragen. Im Mittelpunkt stehen hier die An- und Abmeldefristen. Wer kann schon, so die Arbeits-
kreismitglieder, nach sechs Wochen sagen, in welchem Fach er sich eine Prüfung zutraut? Am liebsten würden sie eine komplette Abschaffung der Abmeldefrist sehen. In der Kritik stehen ebenfalls die drei Klausurversuche. „Die Studierenden sollten selber entscheiden können, ob sie ein Fach weiter studieren wollen oder aufhören. Nach fünf missglückten Versuchen wird sich jeder schon selbst überlegen, ob er das richtige Fach gewählt hat. Durch die drei Versuche entsteht nur unnötiger Druck“, meint Reichwald. Wie realistisch solche Forderungen sind, wird sich zeigen. Änderungen, die Fristen und Versuche betreffen, müssten in den Prüfungsordnungen geändert werden. Der Weg führt also über die Dekane. „Ich glaube nicht, dass es leicht wird“, fasst Kock die Situation zusammen. Auch die Mitarbeiter selbst haben einige Schritte in Richtung Veränderung gewagt. Eine Servicehotline für allgemeine Fragen sowie eine FAQ-Seite solle eingerichtet werden. Außerdem werden die TANs zukünftig per Post versendet. Ebenso gab es interne Veränderungen. Alle Mitarbeiter haben neue Computerarbeitsplätze erhalten und die E-Mail-Weiterleitung wurde verbessert. Nun können Sachbearbeiter sehen, wie dringend eine Anfrage ist und ob der Absender bereits mehrere Nachrichten zum Thema versendet hat. Die Internetpräsenz ist bereits auf die offizielle Homepage der Uni umgezogen, lässt dabei jedoch noch auf ein vereinfachtes System warten. Momentan leitet ein Link zum nächsten und nach langer Suche landet der Benutzer doch wieder auf der alten Seite. Grundlegende Veränderungen kann es jedoch nur geben, wenn alte Strukturen aufgebrochen und mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden. Dann können auch die Studenten mit längeren Sprechstunden und schnellerer Bearbeitung rechnen. Um es mit Christina Kocks Worten auszudrücken: „Wir sind auch gespannt, was da raus kommt.“ Text: Marie Bornickel Grafik: Wienke Menges
15
Campusleben
Der Universität aufs Dach gestiegen – Energiewende mit UniBremenSOLAR Während an manch anderem Ort über den Bau oder die Reaktivierung von Kohlekraftwerken nachgedacht wird, ist man an der hiesigen Uni schon weiter. Solarenergie – genossenschaftlich erzeugt – ist das Ziel eines Projekts, dem sich bereits einige Hochschulangehörige angeschlossen haben.
U
niBremenSOLAR – dieser etwas sperrige Name steht für war alles anfangs noch ein bisschen vage. „Das Konzept einer die deutschlandweit verbreitete Idee, umweltfreundlich Genossenschaft hatten wir damals noch gar nicht so klar vor und nachhaltig Strom an der eigenen Universität zu Augen“, erläutert Sövegjarto-Wigbers dazu. Doch am Ende erzeugen. Zu diesem Zweck wurden kürzlich im Rahmen des habe vieles dafür gesprochen. Mit dem Genossenschaftskonzept achten Uniumwelttages die ersten Photovoltaikanlagen auf den sei unter anderem sichergestellt, dass die unieigenen Dächer das Unidächern eingeweiht. Eigentum von Universitätsangehörigen bleiben und nicht an Dritte Über ein Jahr nach Fukushima sind sich die meisten noch immer gehen. Es sorge zusätzlich für eine auch ideelle Verbindung der einig: Die Energiewende ist nötig. Außer bei den Ewiggestrigen, Investierenden zum Projekt, als es ansonsten der Fall wäre. Im Zuge die im wahrsten Sinne des Wortes den Knall nicht gehört haben, des Aufbaus der Genossenschaft galt es, die Leute für die Idee zu erstreckt sich die meiste Kritik heute auf technische und finanzielle begeistern und möglichst alle mit ins Boot zu holen. Dabei mussten Fragen. Denn auch das ist sich die Initiatoren sowohl mit sicher: Die Energiewende wird der Unileitung als auch mit kein Katzensprung, kostet viel Studierenden, wie zum Beispiel und macht jede Menge Arbeit. den Vertretern im AStA, Um diese Mühen zu bewältigen auseinander setzen. „Das kam und ungenutzte Potenziale dann so langsam ins Rollen“, fruchtbar zu machen, ging beschreibt Frau Sövegjartovom Umweltmanagement Wigbers den Verlauf, nicht der Uni Bremen die Initiative ohne darauf hinzuweisen, dass aus, eine universitätseigene letztlich alles sehr schnell ging. Genossenschaft zu gründen. Die Energiewende, das sei Diese hat zum Zweck, schnell klar geworden, ist ein „das persönliche und Thema, das alle interessiert. finanzielle Engagement der Und so fanden sich die vormals Universitätsmitglieder für kleinen Arbeitsgemeinschaften, Nachhaltigkeit produktiv zu die die Grundzüge des Projekts bündeln“. Es gehe darum, „die entwickelten, im August des Energiewende und Klimaschutz Gerd-Rüdiger Kück (Kanzler d. Universität); Christoph Schulte im Rodde vergangenen Jahres zu einem gemeinsam zu schaffen“, (Vorstand UniBremenSolar eG); Dr. Doris Sövegjarto (Vorstandsvorsitzende Gründungstreffen zusammen. wie es auf der Homepage UniBremenSolar eG); Dr. Lohse (Umweltsenator), v.l.n.r. Darauf angesprochen, dass zur Gründungsidee heißt. es doch sicher auch Kritiker Maßgeblich getragen wurde die Idee zu Anfang von Dr. Doris gebe, reagiert die Genossenschaftsvorsitzende gelassen, wenn Sövegjarto-Wigbers, derzeit Vorsitzende der Genossenschaft und auch nicht ohne Emotion. Die Vorwürfe, dass Solarenergie in Angehörige des Zentrums für Umweltforschung und nachhaltige Deutschland weniger effizient sei als beispielsweise Windkraft, Technologien. Bei der Frage nach ihrer persönlichen Rolle und habe sie oft gehört. Auch die Sorgen über die ökologischen wie sie den bisherigen Projektverlauf bewertet, kommt die Auswirkungen der Solarpanelproduktion kenne sie gut. All das überaus ambitioniert wirkende Frau sogar etwas ins Schwärmen. werde in den Fachbereichen und auch mit Kritikern diskutiert. Bei „Da entwickelte sich eine unglaubliche Dynamik. Jeder wollte allem Zweifel steht sie aber zu ihrem Projekt. „Was haben wir denn mitmachen, jeder wollte dabei sein! Es war wie eine Welle“, fasst für eine Alternative?“, fragt sie im Interview, als sie mit der Kritik sie das Engagement der Beteiligten zusammen. Dabei brauchte es konfrontiert wird. „Natürlich ist das eine Übergangslösung und am schon einen kurzen Vorlauf, bis das Projekt in trockenen Tüchern Ende geht es um eine breit gestreute Energieproduktion“, weiß war. Schon seit zwei bis fünf Jahren wird das Thema in Bremen sie für den Sonnenstrom zu werben. Dass jetzt aber Solarzellen diskutiert. Offensichtlich war es nicht erst die Katastrophe von auf die Dächer geschraubt und keine Windräder im Zentralbereich Fukushima, die die Menschen zum Nachdenken anregte. Trotzdem oder anderswo aufgestellt wurden, habe ganz praktische Gründe. 16
Campusleben
Allein die Frage der Baugenehmigung sei dort schwieriger. „Aber ausgeschlossen sind Windräder nicht“, fügt sie hinzu. Ein großes Anliegen hat die mit ihrem Projekt erfolgreiche Frau aber doch noch. „Ich wünsche mir, dass auch der AStA noch Mitglied in der Genossenschaft wird“, teilt sie im Interview mit. Tatsächlich ist es dem AStA als Institution möglich, so etwas zu tun. Gespräche gebe es bereits. Auf die Nachfrage, wie man als Student oder Studentin denn Mitglied werden könne, verweist sie auf einen derzeitigen Aufnahmestopp. Neue Mitglieder können erst aufgenommen werden, wenn neue Anlagen gebaut werden, denn genau das sei das Ziel der Genossenschaft. Wer sich aber doch sofort beteiligen möchte und derzeit Angehöriger der Universität ist, dürfe sich gern persönlich bei ihr melden. Es freue sie sowieso
und ganz allgemein, wenn sich viele für das Projekt interessieren. Was bleibt, ist der Eindruck einer Frau, die sich der Schwierigkeiten in diesem Bereich durchaus bewusst ist. Doch während andere lamentieren und man das Fertigstellungsdatum von Stromtrassen mal locker um ein oder zwei Jahre verschiebt, ist der Bremer hier handlungsbereit. Zukünftig versüßt der sommerliche Sonnenschein nicht nur die Tage auf der Wiese, sondern treibt die Wende mit voran. Ein Hoffnungsschimmer. Internet: http://www.uni-bremen.de/unibremensolar.html E-Mail: soeve@uft.uni-bremen.de Text: Björn Knutzen Foto: Pressestelle Uni Bremen
Ein Supermarkt an der Uni?! Die Vorstellung, zwischen den Vorlesungen oder nach der Uni seine Einkäufe erledigen zu können, gefällt bestimmt jedem Studenten. Diese Möglichkeit soll bald geschaffen werden, nützt den jetzigen Semestern jedoch wenig.
F
ast jeder kennt es. Es ist 16:00 Uhr und man hat noch mindestens eine Vorlesung vor sich. Die Mensa hat schon lange zu und auf noch ein Brötchen, das schon länger in der Caféte liegt, hat man keinen Hunger. Wie schön wäre es da doch, einfach zum Supermarkt um die Ecke zu laufen und sich einen Joghurt oder einen fertigen Salat zu kaufen. Bald wird es vielleicht so weit sein. Im Januar dieses Jahres hat sich der Beirat Horn-Lehe dazu entschieden, die freie Fläche Universitätsallee Ecke Enrique-Schmidt Straße, in der Nähe der Bahnhaltestelle NW1/Universum der Linie sechs, die seit Jahren ungenutzt brach liegt, bebauen zu lassen. Diese Fläche gehört zum Gebiet des Technologiepark Bremen, der im kommenden Jahr sein 25-jähriges Bestehen zu feiern hat. Der aktuelle Bebauungsplan sieht vor, dass das bisher geplante Gebäude 14 bis 17,5 Meter hoch wird und im Erdgeschoss 800 Quadratmeter Platz für Büros und Einkaufsmöglichkeiten geschaffen werden sollen. Unter anderem sind ein Postamt und eine Textilreinigung im Gespräch, primär wird aber Wert auf eine Einkaufsmöglichkeit gelegt. Die Fläche ist sowohl durch die Universitätsallee, als auch durch den Autobahnzubringer gut an den Verkehr angebunden und für Studenten und Mitarbeiter des Technologieparks sowie Anwohner erreichbar. Staatsrat Dr. Heseler, Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen, erklärte auf der Sitzung der Staatsbürgerschaft am 27. September vergangenen Jahres, dass die Kaufkraft, um ein solches Bauvorhaben rentabel zu machen, durch den Bau und die Planung der neuen Studentenwohnheime erreicht werde und so der Umsetzung nichts mehr im Wege stehe. Auch der Ausschuss für Stadtentwicklung arbeitet für die Verbesserung der Infrastruktur im Gebiet der Universität und des Technologieparks und steht dem Projekt positiv gegenüber. Angesichts der 400 Unternehmen mit 6.500 Mitarbeitern und den 21.000 Universitätsangehörigen wird es Zeit, eine solche Einkaufsmöglichkeit zu schaffen. Bis auf die universitätseigenen
Bewirtungsmöglichkeiten, wie Mensa oder GW2- Caféte, und einige Lokale und Bistros, wie dem O´Flyns oder dem Café Unique, gibt es nicht viel in der Umgebung, um Güter des täglichen Bedarfs zu erstehen. Laut Heseler gibt es schon zwei potentielle Investoren, die ein solches Bauvorhaben unterstützen, jedoch wäre es in der Vergangenheit nicht lohnend gewesen und man konnte sich bisher auf keinen geeigneten Standort einigen. Es wurde auch eine Befragung mehrerer Studenten auf dem Unicampus durchgeführt, die herausfinden sollte, ob durch die neue und vermeintlich günstigere Einkaufsmöglichkeit der Umsatz der Universitätsmensa sinken würde. Da jedoch noch unklar ist, ob Discounter oder Einzelhandel in das Gebäude einziehen werden, lässt sich der Rückgang der Mensagäste schwer abschätzen. Vermutlich jedoch wird es keine großen Einbußen geben, denn ein warmes Essen ist immer noch besser als der erstbeste Artikel in einem Supermarkt, wenn man vom Hunger gepackt wird. Die Ausschreibung für das Bauvorhaben wird, nach Ausarbeitung und Veröffentlichung, sechs bis acht Monate laufen. Danach wird ein Bauvertrag mit der Baufirma unterschrieben, die den Zuschlag bekommen hat, in dem dann steht, dass die Realisierung und die Aufnahme des Betriebs binnen 24 Monaten geschehen müssen. Die jetzige Generation von Studenten wird außer Lärm wohl nicht viel von diesem Bauvorhaben haben, da bis zur Fertigstellung noch circa drei Jahre vergehen werden. Trotzdem ist es ein Schritt, der nötig ist, um die Anwohner zu entlasten und ihren Alltag komfortabler zu gestalten und auch der Nachfrage an Bürogebäuden auf diesem Gebiet entgegen zu kommen. Der Technologiepark erfreut sich immer größerer Beliebtheit bei Firmen und das Vorhaben, eine Einkaufsmöglichkeit auf diesem Gebiet zu bauen, wird diese Entwicklung sicherlich fördern.
Text: Natalie Vogt
17
Campusleben
Ausgeartet Das Kulturfestival ausARTen. hat alle Erwartungen übertroffen und gezeigt, dass die Zusammenarbeit von Studierenden zu einer erfolgreichen Veranstaltung führen kann. Doch was geht hinter den verschlossenen Türen der Organisation eines solchen Events eigentlich vor sich?
N
eonfarbene Plakate mit den Worten „Bremen artet aus. Machst du mit?“ säumen den Weg zur Schaulust, in der am 28. April das von Studierenden der Universität Bremen organisierte Festival ausARTen. stattfand. Mit einfachem Konzept hat die Veranstaltung erreicht, womit die Organisatoren im Vorfeld nicht gerechnet hatten: ein volles Haus. Rund 400 Personen genossen zehn Stunden lang die Angebote, an welchen es nicht mangelte. Von Bands, die auf der Bühne ihre Lieder zum Besten gaben, über die Kunstausstellungen und Kurzfilme junger Nachwuchstalente bis hin zu Workshops, an 18
denen man seiner eigenen Kreativität freien Lauf lassen konnte, war für jeden etwas dabei. Für die Psychologiestudentin Tonja war es die erste Ausstellung ihrer Bilder. „Was mir besonders gefällt, ist die unglaublich entspannte Atmosphäre des Festivals. Da hat man richtig Lust rumzulaufen und sich selbst mal umzuschauen“, beschreibt sie ihren ersten Eindruck. Im Gegensatz zur Band Avery Mile, die über die Homepage „bremen.de“ auf das Festival aufmerksam geworden waren, hatte sie über Flyer in ihrem Wohnheim davon
Campusleben erfahren. Wie Avery Mile ihren Auftritt an diesem Abend in wenigen Worten beschreiben würden? „Emotional, heiß, kurz und knackig.“ Denn für jede Band war nur eine halbe Stunde Aufbau und Soundcheck und eine halbe Stunde Spielzeit vorgesehen. Die Motivation hinter ihrem Auftritt beim ausARTen.-Festival war ihr neues Album „A Place Called Home“, das gerade erschienen ist und die Einführung ihres neuen Bassisten Thilo Kirsch. „So ein kleines Konzert hat auch was“, sagt die Band, „schnell auf die Bühne, schnell verkabelt, das hat schon seinen Reiz.“ Besonders gefreut hat sie, dass das Publikum auf ihre Musik eingegangen ist und das, obwohl die meisten sie im Vorfeld nicht kannten. Entstanden war das komplett über Fördergelder der Universität finanzierte Projekt im Rahmen des Seminars „Kultur- und Eventmanagement“ von Dr. des. Oliver Hinkelbein, Dozent der Kulturwissenschaften an der Universität Bremen. Die Fragestellung im Hinterkopf war, wie man das theoretisch Gelernte umsetzen und mit der Praxis verbinden kann. Die Studierenden sollten nicht nur Texte konsumieren, sondern abstrakt und theoretisch kennen lernen, aufnehmen und in die Praxis umsetzen, so Hinkelbeins Credo. In diesem Zusammenhang war die Idee des nicht kommerziellen Kulturfestivals ausARTen. entstanden, das regionalen und noch relativ unbekannten Künstlern die Möglichkeit geben sollte, sich auf einer offenen Bühne präsentieren zu können. Wenn man ihn nach seinen Erwartungen an das Projekt befragt, bleibt er bescheiden. Er habe mit nichts gerechnet, denn in dem Moment, in dem man ein festes Bild vor Augen habe, würde man unzufrieden. „Man muss sich einfach überraschen lassen“, so Hinkelbein. Sein Erfolgsrezept? Den Studierenden Verantwortung übergeben und nicht einfach etwas vorwerfen, sie frei gestalten lassen. Ein Konzept müsse sich erst entwickeln können. In diesem Falle hätte die Kombination von Fachbereich sieben und neun in dem Seminar einfach funktioniert. Obwohl das Abgrenzen einer Zielgruppe eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Durchführung einer erfolgreichen Veranstaltung ist, wollte sich das Organisationsteam zunächst keine festen Grenzen setzen. Das Festival sollte jeden ansprechen, der sich für Kunst und Kultur begeistern kann und darüber hinaus auch der Meinung ist, dass unbekannten Talenten zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Beim Betreten der „Schaulust“ wird allerdings schnell klar, wer die indirekte Zielgruppe ist: Obwohl man erstaunt sein mag, dass auch der eine oder andere Erwachsene sich an den Workshops vergnügt und den Klängen der Bands lauscht, so gehört die breite Masse doch der Jugendbewegung an, die von Vielen als „alternativ“ beschrieben wird. Es sind die „Viertel“-Gänger, die für ihre Jutebeutel und „laissezfaire“-Attitüde bekannt sind, die die Sonnenstrahlen draußen, auf den ehemaligen Bahnsteigen des Güterbahnhofs sitzend, genießen und sich drinnen von den Workshops, der Kunst und den Bands inspirieren lassen. Für die Veranstaltung geworben wurde hauptsächlich mit Plakaten und über Facebook. Im Vorfeld hatten sich 378 Personen hierfür über die Plattform angemeldet. Ursprünglich gerechnet hatte die Projektleitung mit nur circa 100 Gästen – den 20 bis 30 aktiv beteiligten Organisatoren und ein bis zwei Freunden von jedem.
Am Veranstaltungstag läuft alles ohne große Probleme oder Hindernisse ab. Das war jedoch nicht immer so, während der Planungsphase mussten einige Hürden überwunden werden. Denn hinter der Organisation so eines Events steckt mehr Arbeit, als man erwarten mag. „Anfangs waren 80 Personen für die Veranstaltung eingetragen. Letztlich aktiv davon waren 20-30 Personen“, sagt Caroline Hylla von der Projektleitung. Durch die große Gruppe ergaben sich nicht nur Kommunikationsprobleme, sondern auch Schwierigkeiten bezüglich der einzelnen Verantwortlichkeitsbereiche. „Entweder fühlte sich keiner zuständig, weil jeder davon ausging, dass es ein anderer schon erledigen wird oder es brach eine Diskussion aus, weil einzelne Gruppen sich übergangen fühlten“, beschreibt Hylla die Konflikte, die während der Planungsphase auftraten. Dazu kam außerdem, dass in dem Projekt zwei Fachbereiche aufeinander trafen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Zusammenarbeit von Kulturwissenschaftlern und Wirtschaftswissenschaftlern führte zwar einerseits zu Synergieeffekten, die dem Festival schließlich zu seiner erfolgreichen Durchführung verhalfen. Die Vertreter beider Studiengänge brachten jedoch andererseits auch die verschiedensten Meinungen mit sich, die alle unter einen Hut gebracht werden mussten. Komplikationen traten zusätzlich durch die Zeitspanne auf, in der die Veranstaltung geplant wurde. Das Seminar begann im Wintersemester 2011/12 und die Organisation setzte sich über die Semesterferien fort bis zum Veranstaltungstermin Ende April. Dies verkomplizierte nicht nur die Kommunikation, sondern trug außerdem zu einer Verschleppung des gesamten Prozesses bei. „Wenn wir den Leuten nicht zwischendurch mal in den Hintern getreten hätten, wären wir vermutlich immer noch dabei, zu entscheiden, was für eine Veranstaltung wir überhaupt machen wollen“, so Hylla. Dabei hatte die Projektleitung von Anfang an kein leichtes Spiel. Respekt und Akzeptanz hätten sie sich erst erarbeiten müssen, so Hinkelbein. Letztlich wären sie jedoch die einzigen gewesen, die sich mal getraut hätten, auf den Tisch zu hauen. Er selbst habe nicht zu sehr eingreifen wollen. „Learning by doing ist immer noch der beste Weg, um sich etwas anzueignen. Jeder Konflikt hat schließlich auch zu einem Ergebnis geführt“, so der Dozent. Und dieses Ergebnis kann sich sehen lassen. Durch den zeitlichen Druck ist dann Ende März schließlich der Knoten geplatzt und die Initiative und das Engagement von einigen Einzelpersonen haben das Ruder noch einmal herumgerissen. „Letztendlich kann man ein Jahr vorher anfangen, aber im Endeffekt zählen die letzten paar Wochen am meisten“, ist sich die Projektleitung einig. Studenten arbeiten eben unter Zeitdruck am besten, wie man so schön sagt. Am Ende hat sich die harte Arbeit bezahlt gemacht: Die „Schaulust“ ist brechend voll und die Massen tanzen zur Musik der auftretenden Bands. Euphorie liegt in der Luft. Denn nun, da das Spektakel vorbei ist, können die Projektbeteiligten durchatmen und ein erstes Resümee ziehen. „Im Endeffekt hat es sehr viel Spaß gemacht. So viel Spaß, dass wir jetzt schon darüber nachdenken, nächstes Jahr möglicherweise in eine zweite Runde zu starten“, sagt Birthe Holtmann von der Projektleitung. Für alle die dieses Jahr nicht teilnehmen konnten, heißt es nächstes Jahr also womöglich wieder „Bremen artet aus. Machst du mit?“ Text: Jacqueline Niemeyer Foto: Hanna Düspohl
19
Campusleben
Mit dem Navi durch das Labyrinth Hat die ewige Suche nach dem richtigen Raum im GW2 bald ein Ende? Wie ein Experiment zur Lösung für das Orientierungsproblem werden könnte.
V
eranstaltungsbeginn: 10:15 Uhr in Raum A4170 im GW2. Die Uhr zeigt bereits 10:05 Uhr. Also geht man die große Mitteltreppe rauf bis in den dritten Stock und rein ins nächste Treppenhaus – und dann: Sackgasse! Am Ende der Treppe ist nur ein kahler, grauer Absatz. Keine Tür, kein vierter Stock. Auf der Suche nach einem anderen Weg oder einem Fahrstuhl verliert man sich im Labyrinth der ewig gleich aussehenden Gänge, die Schilder weisen in widersprüchliche Richtungen, man schaut auf die Uhr und stellt fest, dass man es nicht pünktlich schaffen wird.
(Informatik) und zehn (Linguistik), das sich mit Dialogsystemen und Kommunikation beschäftigt. Hauptsächlich geht es dabei um die Frage, wie Menschen mit Computersystemen kommunizieren. Als nützliches Nebenprodukt könnte dabei jedoch in Zukunft eine Art „Navi“ für das GW2 herausspringen. Vivien Mast ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich Raumkognition und hat das Experiment im GW2 durchgeführt. Sie hat 2011 ihr Magisterstudium in Linguistik und Medieninformatik an der Universität Bremen abgeschlossen und kennt das Problem, den richtigen Raum im GW2 zu finden, selbst nur zu gut. „Wir wollen das Projekt auf jeden Fall realisieren“, so die 28-Jährige. „Das GW2 ist ein architektonisches „Es wird irgendwann in den nächsten Jahren einen elektronischen InMonster aus der Gründungszeit der fo-Kiosk im GW2 geben, den man nach dem Weg fragen kann.“ Universität.“
Bremer Studenten kennen diese Geschichte. Sie ereignet sich so oder so ähnlich jeden Tag im GW2 (Geisteswissenschaften 2), dem größten Gebäude des Campus. Das GW2 ist ein architektonisches Monster aus der Gründungszeit der Universität, 1973 erbaut, grau, verwinkelt und unübersichtlich, mit einer Gesamtfläche von 34.600 Quadratmetern. Wie findet man bei rund 460 Räumen, seien es Büros, Computerräume, Labors, Archive oder Seminarräume die richtige Tür? Wie sucht man sich seinen Weg durch 155 Flure, Treppen und Aufzüge? Wie Schloss Hogwarts scheint das GW2 seine Besucher in die Irre zu führen mit seinen Türmen und dem mysteriösen vierten Stockwerk, das nur dann auftaucht, wenn man genau das richtige Treppenhaus oder den richtigen Fahrstuhl nimmt.
In Zukunft könnte die Suche jedoch ein Ende haben: In der Orientierungswoche zu Beginn des Wintersemesters 2011 wurde relativ unbemerkt ein Prototyp eines Indoor-Navigationssystems im GW2 getestet. Das Experiment ist ein Projekt der Forschungsgruppe I5 Diaspace aus den Fachbereichen drei 20
Doch dafür muss die Technik erst einmal ausgereift sein. Regelmäßige Experimente sind dafür wichtig, für diese werden ständig Versuchspersonen gesucht (mehr dazu siehe Info-Box). Das Experiment in der Orientierungswoche hat die Forschung zum Info-Kiosk schon ein gutes Stück vorangebracht. Insgesamt 78 Versuchspersonen kommunizierten bei dem Test mit einem Computer, der ihnen die Wegbeschreibung zu einem bestimmten Raum gab. Diesem mussten sie aus dem Kopf folgen. „Es stellte sich heraus, dass ein Navigationssystem, wie wir es aus dem Straßenverkehr kennen, in Innenräumen nicht ausreicht“, erzählt Mast. „Aus dem Kopf ist es schwer, Anweisungen wie ‚Gehe links, nach 100 Metern biegst du rechts ab‘ zu folgen. Man muss deshalb den Raum selbst beschreiben, zum Beispiel so: ‚Am Ende des Ganges erreichst du den großen Flurbereich. In der Mitte ist eine Treppe, dahinter sind zwei Glastüren des
Campusleben
Flurs. Nimm die Linke davon.‘“ Solche detaillierten Beschreibungen sind natürlich aufwendiger – das Computersystem generiert sie noch nicht von allein, daher mussten sie für das Experiment per Hand geschrieben werden. Als Kontrolle sollten die Versuchspersonen am Ende noch angeben, wie gut sie ihr Orientierungsvermögen allgemein einschätzen. Immerhin: Den Raum gefunden haben sie schließlich alle. Wäre der Info-Kiosk also die Lösung für das Labyrinth GW2? Es scheint so simpel zu sein, dass man sich fragt, weshalb es so etwas nicht schon längst gibt. Doch die Navigation in Innenräumen stellt die Technik vor ein paar schwerwiegende Probleme. „Navis basieren normalerweise alle auf GPS-Technik“, erklärt Mast. „Das ist in Innenräumen schwierig.“ Mobile Navigationssysteme, wie jeder sie kennt, ermitteln per Satellitentechnik (Global Positioning System) den Standort einer Person und lotsen sie von dort aus zum gewünschten Ziel. Grundlage dafür sind digitale Straßenkarten. In Gebäuden ist die Satellitenortung jedoch durch dicke Wände gestört. Zudem existieren keine ausreichend detaillierten Lagepläne. Die Idee der Indoor-Navigation ist natürlich nicht neu – das Problem der Ortung ist an sich leicht gelöst, da durchaus Alternativen zu GPS existieren. Internet-fähige Geräte wie Smartphones und Laptops können geortet werden, indem ihr Abstand zu einem fest installierten Funkmodul, z.B. einem Wi-Fi-Spot oder Telefonmast gemessen wird. Dazu muss in Gebäuden ein Netz von Sendern und Empfängern installiert werden, das wie ein privates Satellitennetz funktioniert. Dieses Local Positioning System (LPS) kann jedoch bisher niemandem den Weg weisen, sondern nur angeben, wo sich ein Objekt im Gebäude genau befindet. Aber bekanntlich gibt es nichts, was es nicht bereits gibt. Google entwickelt 3D-Indoor-Karten, mit denen sich Besitzer von Android-Smartphones auf gewohnte Google-Maps-Art in Gebäuden ihren Weg suchen können. Vorerst beschränkt sich dieses Projekt auf die USA, zum Beispiel
den Flughafen in Chicago und große Einkaufszentren. Doch auch ein Riesenkonzern wie Google steht bei der Digitalisierung der Indoor-Karten und der genauen Positionsbestimmung vor einigen Hindernissen. Zu große Hindernisse für die Forschungsgruppe I5 Diaspace der Universität Bremen. Daher wird der Info-Kiosk im GW2 den Studenten wohl nur im Voraus den Weg beschreiben können – finden müssen sie ihn dann allein. „Wenn es den Info-Kiosk gibt, dann wird er technisch nie so ausgereift sein wie ein kommerzielles Produkt“, stellt Mast klar. „Unser Ziel ist in erster Linie die Forschung.“ Und bei der Umsetzung tauchen dann auch noch ganz banale Probleme auf, wie zum Beispiel der Diebstahlschutz. Solange der Info-Kiosk nur in einem normalen Laptop existiert, wäre es riskant, ihn offen im GW2 aufzustellen. In ein paar Jahren jedoch könnten all diese Probleme gelöst sein. Und vielleicht ist es dann irgendwann so weit, dass man das GW2 betritt, sich vor den Info-Kiosk stellt und sagt: „Wo ist Raum A4170?“ Und der Computer wird antworten: „Gehen Sie durch die Glastür zur Cafeteria. Dort gehen Sie ein paar flache Stufen hinunter und kommen direkt auf drei Fahrstühle zu. Nehmen Sie einen davon bis in den vierten Stock. Oben wenden Sie sich nach links und folgen dem Korridor bis zu Raum A4170.“ Sie haben ihr Ziel erreicht. Text: Alice Echtermann Die Forschungsgruppe I5 Diaspace sucht regelmäßig „Versuchskaninchen“ für ähnliche Experimente wie den Info-Kiosk. Eine halbe Stunde Arbeitsaufwand wird mit vier Euro belohnt. Für Studenten des Fachbereichs Linguistik ist ebenfalls die Anerkennung fürs Studium möglich.
Anmeldung unter: experiment@uni-bremen.de
21
Campusleben
Glauben an der Uni –
zwischen Halbmond und christlichem Kreuz Für die einen Seelenheil, sinnstiftend und Berge versetzend, für andere Schuld am Leiden afrikanischer Kinder und verantwortlich für etliche Kriege. Religion scheint viel zu häufig in Extremen gedacht zu werden. Um dieser alltäglichen Polarisierung entgegen zu treten, hat der Scheinwerfer sich mit Mitgliedern zweier religiöser Hochschulgruppen, den christlichen Navigatoren und dem islamischen Hochschulbund (IHB)*, zum sonntäglichen Gespräch getroffen.
Treffen: zu wechselnden Zeiten an der Uni Kontakt: www.facebook.com/IHBremen
IHB : Herzlich Willkommen. Zu Beginn ein paar Infos über eure Gruppen: Wie viele seid ihr denn, gibt es mehr Männer oder mehr Frauen bei euch und sind das alles Studierende? IHB: Der islamische Hochschulbund vertritt als freie und politisch unabhängige Gruppe das Interesse einer demokratischen, vorurteilslosen, aktiven, multikulturellen und gleichberechtigten Gesellschaft. Diese Intention sehen wir primär in Aufgaben wie der Vertretung der sozialen, religiösen und kulturellen Interessen und Bedürfnisse der muslimischen Studierenden, sowie der muslimischen Hochschulangehörigen der Universität Bremen. Unabhängig von der Abstammung, der Religion, der Weltanschauung, des Alters, des Geschlechtes und unzählig anderen Unterscheidungen möchte der IHB jedem Studierenden die Möglichkeit bieten, sich einen Einblick in die islamische Welt zu verschaffen, um als Weltbürger zu einem Ganzen verschmelzen zu können. Darüber hinaus ist der IHB bestrebt, innerhalb der muslimischen Studierenden den Austausch und Dialog mit anderen Religionen, Hochschulgruppen und außeruniversitären Einrichtungen zu fördern und möchte dadurch zu einer besseren Verständigung beitragen. : Wird euer Glauben an der Uni denn toleriert oder werdet ihr dafür eher belächelt – gibt es Beispiele von sehr positiven oder negativen Erfahrungen? IHB: Es hängt absolut davon ab, wer der Gesprächspartner ist. Die meisten gehen damit recht locker um. Es ist ja nicht so, dass wir
22
unseren Glauben an die große Glocke hängen, das machen andere für uns. Aber es gibt einige Dinge, die für uns selbstverständlich und normal sind (wie zum Beispiel die täglichen Gebete), die aber von Außenstehenden als ungewöhnlich wahrgenommen werden. Aber die meisten Menschen sind sehr weltoffen und sogar interessiert, sodass die Diskrepanzen keine Reibereien verursachen. Beispiel Gebetsraum: Da ich an der Hochschule Bremen studiere, habe ich die Möglichkeit, die rituellen Gebete in einem gesonderten Gebetsraum zu verrichten. Aber als ich an der Universität Bremen das Gebet verrichten wollte, war ich über die dort herrschenden Umstände schockiert, denn die männlichen Studenten an der Uni Bremen verrichten ihr Gebet im Treppenhaus auf einer maximal zwei Quadratmeter großen Fläche. Muslima haben es wiederum einfacher, da sie Ihre Gebete im Frauenraum verrichten können. : Glauben und Studium – passt das wirklich zusammen? IHB: Selbstverständlich gehört es dazu. Die Religion ist genauso ein Teil der Gesellschaft wie Politik und Sport auch. Es gibt ebenso viele Spielarten und Varianten und jeder hat seine eigenen Vorlieben. Damit sollten auch religiöse Themen aller Art ebenso an der Universität ihren Platz haben können. : Vielen Dank für das Interview. *Das Interview mit dem IHB erfolgte aus organisatorischen Gründen per E-Mail.
Campusleben
Treffen: dienstags und mittwochs um 20 Uhr Kontakt: navigatoren-bremen.com studi.bremen@navigatoren.de
Navigatoren : Herzlich Willkommen. Zu Beginn ein paar Infos über eure Gruppen: Wie viele seid ihr denn, gibt es mehr Männer oder mehr Frauen bei euch und sind das alles Studierende? Sabine: Insgesamt sind wir etwa 25 bis 30 Leute mit den verschiedensten Motivationen, auch wenn nicht immer alle bei jedem Treffen da sind. Außerdem sind wir ein paar mehr Frauen als Männer, wobei dienstags mehr Männer und mittwochs meist mehr Frauen da sind. Wir sind fast alle in den 20ern. Die Leute kommen aus den ganz verschiedenen Studienrichtungen, was echt eine Bereicherung ist. Die gemeinsame Schnittstelle ist halt das Interesse am christlichen Glauben und die Lust, über Religion und die Bibel zu diskutieren. : Wird euer Glauben an der Uni denn toleriert oder werdet ihr dafür eher belächelt – gibt es Beispiele von sehr positiven oder negativen Erfahrungen? Joscha: Das ist ganz unterschiedlich. Ich studiere jetzt Medieninformatik an der Hochschule. Vielleicht liegt es an meiner Studienrichtung, aber so viele Punkte gibt es bei mir jetzt nicht, wo es zum Thema kam. Ansonsten wird es, zumindest wo ich mit meinen Kommilitonen Erfahrungen gemacht habe, toleriert und auch so stehen gelassen nach dem Motto „Ist vielleicht gut für Dich, aber lass mich damit mal in Ruhe“. Sara: Einige können damit wirklich nichts anfangen, andere sind aber verwundert oder auch irgendwie fasziniert, wodurch ich auch coole Gespräche darüber hatte. Sabine: Von einigen kommt auch Bewunderung. Das passiert nun nicht am laufenden Meter, aber kommt doch vor - nach dem Motto „Ich wünschte, ich könnte das auch“. Insbesondere wenn es um persönlichere Themen geht. Sara: Ansonsten gibt es Momente, in denen Dozenten manchmal ja fragen, wer in die Kirche geht und plötzlich lachen dann alle. Da fragt man sich schon, ob die dann auch über einen selbst lachen würden. Und ich frage mich auch, warum die Frage nicht so ernst genommen wird.
Sabine: Auch werden manchmal unsere Plakate abgenommen, aber ich rege mich nicht darüber auf. Immerhin müssen diejenigen sich darüber Gedanken gemacht haben und sind nicht gleichgültig an allem vorbeigelaufen - und es wäre spannend, mal mit denen zu diskutieren. Trotzdem muss das Abnehmen natürlich nicht sein. : Glauben und Studium – passt das wirklich zusammen? Joscha: Religion gehört auf jeden Fall hierher. Auch wenn es nicht unbedingt einfach ist, weil für viele Wissenschaft und Glaube oft nicht zusammen kommt. Und natürlich bleibt immer die Frage: Wo hört das eine auf und wo fängt das andere an? Aber es gibt nun mal Fragen, wie die Frage nach dem Sinn des Lebens, die jeder Mensch hat, die aber wissenschaftlich nicht geklärt werden kann. Sabine: Das Studium ist schon eine gute Zeitspanne, sich mit sowas zu beschäftigen. Das Leben liegt noch vor einem, man hat noch Möglichkeiten, Weichen zu stellen. Und während das früher in der Familie thematisiert wurde, findet das heute vielleicht auch in der Uni statt. Sara: Ich glaube, die Uni kann einem beibringen, wie die Welt funktioniert und was so die Vorgänge sind. Aber sie kann uns nicht sagen, wieso wir hier sind, wie es mit uns weiter geht und wieso wir das alles hier machen. Und wenn man sich mit solchen Fragen auch an der Uni beschäftigt, kommen vielleicht auch persönliche Fragen auf. Sabine: Und ich finde es auch eine coole Umgebung, weil man besonders an der Uni total herausgefordert ist, weil alles in Frage gestellt wird und man mit Leuten diskutiert, die relativ gemischt sind. Das ist anders, als wenn man zum Beispiel in eine eher homogene Gemeinde geht. : Vielen Dank für das Interview.
Interview: Björn Knutzen Fotos: IHB, Navigatoren
23
Campusleben
Die akute Prüfungsangst eine beängstigende Spirale Warum das Jahrhunderte alte Anpassungssyndrom – Stress – heute nicht immer funktioniert und wie Prüfungsangst von der anderen Seite des Examens wahrgenommen wird.
M
ündliche Prüfungen und Klausuren gehören sicherAchse. Die beiden „Stressachsen“ schütten Cortisol, Adrenalin lich für viele Studenten zum unangenehmeren Teil und Noradrenalin aus und wirken auch auf das Gehirn. „Fatalerdes Studiums. Der Großteil von ihnen versucht, Job weise erschweren Noradrenalin und Cortisol den Abruf von Geund Studium unter einen Hut zu kriegen, sie müssen mit der dächtnisinhalten, also genau das, was wir vorher gelernt haben, Doppelbelastung klar kommen und das führt nicht selten zu gleichzeitig verbessern die Hormone und Botenstoffe aber auch Stresssituationen und Druck. Die Belastung wird größer wenn das Lernen in dieser Situation“, erklärt der Neuropharmakologe. sich Studenten an den Leistungen ihrer Kommilitonen messen. Das bedeutet, während der Prüfung versagt das Gedächtnis und Während einige in der Prüfungszeit „nur“ nervös sind und vielder gelernte Stoff fällt einem nicht mehr ein, man hat eine Bloleicht etwas wackelige Knie haben, steigert sich die Angst bei ckade. Die akute Prüfungsangst setzt sich wie eine folgenreiche anderen ins unermessliche. Die Angst, in Prüfungen zu versagen Spirale zusammen: gerade weil man sich in der Prüfung nicht oder ein völliges Blackout zu bekommen, macht einigen Betrofmehr an das Gelernte erinnert, ist die Blockade im Gedächtfenen das Studium zur Hölle. nis umso präsenter. Vor der nächsten Prüfung wird man alleine Professor Michael Koch ist seit zwölf Jahren Dozent an der schon panisch, weil das Versagen vom letzten Mal einem noch Uni Bremen im Fachbereich zwei. Er arbeitet am Institut für so stark in Erinnerung geblieben ist. Das Stresssystem des MenHirnforschung in der Abteilung schen ist sehr kompliziert reguliert, der Neuropharmakologie, zu seideswegen reagiert auch jeder anders: Die neuesten Befunde haben nach- „Es gibt ‚coole‘ Leute, die nicht so nem Forschungsgebiet gehören die Neuronalen Grundlagen kognitiver gewiesen, dass die Stressanfälligkeit leicht gestresst reagieren und denen Prozesse, wie das Gedächtnis, AufPrüfungen dann auch leichter, epigenetisch von der Mutter vererbt fallen merksamkeit, Lernen und Verhalsofern sie was gelernt haben“, meint werden kann. tenskontrolle, und die Neuro- und Koch. Die Stressanfälligkeit ist übriPsychopharmakologie von Drogen gens stark genetisch festgelegt. Die und Medikamenten. Das Thema neuesten Befunde haben nachgewiePrüfungsangst spielt für ihn als Dozent auch eine Rolle: „Ich sen, dass die Stressanfälligkeit epigenetisch von der Mutter verkenne das Gefühl aus meiner eigenen Erfahrung als Student erbt werden kann. Wer dahingehend vorbelastet ist, kann jedoch und vor Prüfungen unterhalte ich mich mit Studenten über das zumindest teilweise beruhigt werden, denn die Stressanfälligkeit Thema und versuche, Tipps zu geben.“ Koch ist Co-Autor des kann sich im Laufe des Lebens positiv verändern. Doch auch Buches „Mensch im Stress“ und an Forschungen über psychoVeränderungen ins Negative sind möglich. und pharmakotherapeutischen Ansätzen zur Behandlung von Angst- und Furchtstörungen beteiligt. Hans Selye ist der Wegbereiter der modernen Stressforschung und hat vor etwa 70 Jahren Stress als das „Zentrale AnpassungsDer Dozent für Neuropharmakologie weiß, was bei Prüfungssyndrom“ bezeichnet, bei dem Stressreaktionen eigentlich dem angst im Körper vorgeht: „In Stresssituationen werden im KörKörper helfen mit gefährlichen Situationen klar zu kommen. per zwei hormonelle ‚Stressachsen‘ durch Stressoren aktiviert“, Dieses Anpassungssystem des Menschen stammt aber noch aus so Koch. Normalerweise werden dabei durch die Ausschüttung dem Zeitalter der Neandertaler und hilft uns in der heutigen von Stresshormonen verschiedene Anpassungsreaktionen ausge„modernen Welt“ nicht mehr richtig. „Früher war es so, dass ein löst, die den Stress beenden sollen. Die zwei Stressachsen tragen Raubtier kommt, wir rennen weg und damit war die Stresssitudie umfangreichen Namen Hypothalamus-Hypophysen-Neation vorbei. Heute bekommen wir ständig Anrufe und müssen bennierenrinden-Achse und Symphathikus-Nebennierenmarketwas bis gestern fertig gestellt haben, der Stress ist jetzt viel 24
Campusleben
subtiler und schleichender und wir sind ständig Stressoren, zum Beispiel Lärm, schnellem Bilderwechsel und sozialem Druck, ausgesetzt“, erklärt Michael Koch. Von Beruhigungsmitteln, wie Valium oder Johanniskrautextrakten, die die Prüfungsangst eindämmen sollen, rät Michael Koch aber ab, denn die beruhigende Wirkung hat auch Einfluss auf das Gedächtnis und die Aufmerksamkeit. Dann sitzt man zwar relativ entspannt vor der Klausur, aber wenn einem dann der Stoff nicht einfällt, bringt das auch nichts. „Man sollte eher versuchen, den hormonellen Teufelskreis zu durchbrechen“, rät er stattdessen. Und da sind Erfolgserlebnisse viel hilfreicher. Wenn man es schafft, bei der Simulation einer Prüfung ein gutes Gefühl zu bekommen, oder bei einem Thema das einem liegt, ein vielversprechendes Ergebnis zu erzielen, sinkt auch die Panik vor der nächsten Klausur. Für Doktor Ute Siewerts ist das Thema Prüfungsangst heute sehr präsent: „Das ist vor Klausuren und mündlichen Prüfungen schon fast normal, aber man sollte unterscheiden zwischen der ‚üblichen‘ Angst und extremen Formen von Prüfungsangst.“ Siewerts betreut über das Studienzentrum die Germanistik, Linguistik und alte Studiengänge, sie vertritt in der Germanistik den Teilbereich Deutsche Sprachgeschichte. Siewerts hatte früher selbst nur die „übliche“ Angst, also weiche Knie und zitternde Hände. In ihrer mündlichen Magisterabschlussprüfung hat ihr Prüfer ihr gesagt, dass es gut sei, Angst zu haben, weil die Nervosität auch Energien freisetzt. Als Dozentin hat Siewerts bei Studentinnen und Studenten schon unterschiedliche Formen von Prüfungsangst erlebt, von der normalen Nervosität bis hin zu großer Prüfungsangst und krankhafter Angst. „Es gab schon weinend zusammenbrechende Studierende und welche, die gar nicht erst zur Prüfung antreten“, schildert sie ihre Erfahrungen. In solchen Situationen arbeitet sie als Prüferin gegen die Spirale der Prüfungsangst, die Michael Koch beschrieben hat: „Es ist wichtig, die Prüfung zu Ende zu bringen, sonst setzt sich die Erfahrung fest und es wird immer schlimmer“. Mit einfachen Fragen versucht sie, die Kandidaten wieder zurück ins Prüfungsgeschehen zu bringen und regt sie zu tiefem Durchatmen an. Dennoch habe sie bei krankhafter Prüfungsangst ihre Grenzen erreicht, weil sie da zu wenig Wissen habe. Wenn sie vor der Prüfung weiß, dass die Betreffenden zu großer Nervosität neigen, empfiehlt sie die Prüfung vorher zu üben. „Leider trauen sich viele Studierende nicht zuzugeben, dass sie Angst haben“, meint Siewerts. Aber auch von der anderen Seite der Prüfung kann es unangenehm werden, vor allem wenn man weiß, dass der Prüfungskandidat Angst hat. „Es ist immer unangenehm, wenn Prüfungen schief gehen“, sagt die Studienberaterin. Elisabeth Medicus-Rickers bietet seit zehn Jahren bei der Psychologisch Therapeutischen Beratungsstelle (ptb) der Uni Bremen Workshops gegen Prüfungsangst an. Sie lebt seit 1987 in Bremen, hat Sozialpädagogik studiert und verschiedene Weiterbildungen gemacht. Prüfungsangst war an Hochschulen schon immer ein Thema, an der ptb wurden die Studierenden einzeln beraten, der Bedarf nach einem Workshop wurde auch hier an der Uni Bremen immer größer: „Man kann bei diesem Thema in einem Workshop mehr vermitteln als in Einzelgesprächen“, sagt
Medicus-Rickers. Zu den Symptomen von Prüfungsangst zählt sie unter anderem Schlafstörungen, Kopf- und Bauchschmerzen und körperliche Unruhe. Die Reaktion auf Prüfungsangst ist oft eine archaische, meistens ergreift man die Flucht und geht erst gar nicht zur Prüfung. „Prüfungsangst ist aber nicht vollständig handlungsorientiert, man muss lernen, die Energien, also die Ausschüttung von Adrenalin, zu nutzen, denn die Stresshormone sind auch förderlich für die Leistungsfähigkeit“, erklärt sie. In dem zweitägigen Workshop geht es auch darum zu lernen, wie man die Angst bündeln kann, so dass sie hilfreich ist. Prüfungsangst ist ein komplexes Phänomen, das aus bewussten und unbewussten Ängsten besteht. Einer der ersten Schritte im Workshop ist es, seine eigene Angst zu definieren und sie dadurch selbst wahrzunehmen. Dazu kommt die Fremdwahrnehmung der anderen Teilnehmer. „Die Angst vor Prüfungen stammt oft schon von früheren Erfahrungen, einige sind streng autoritär erzogen worden oder hatten negative Erlebnisse in der Schule“, so Medicus-Rickers. Man kann sich mit dem Phänomen Angst nur auseinandersetzen, wenn man sich dessen bewusst ist. „Wenn mir die hohen Erwartungen meiner Mutter bewusst sind, kann ich mich umso leichter davon entfernen.“ Die Teilnehmer lernen durch psychodramatische Spiele unter anderem die Gründe ihrer Angst kennen und auch, wie sie damit umgehen können. Dadurch werden Fragen aufgeworfen: Wer erwartet von mir, dass die Prüfung gut wird? Wie kann man sich dagegen wehren? In solchen Situationen sitzt manchmal gedanklich die ganze Familie mit im Raum. Entspannungsübungen gehören auch mit zu den Inhalten des Workshops. Elisabeth Medicus-Rickers bietet verschiedene Aufgaben an, weil jeder eine andere Art hat, um zur Ruhe zu kommen. Den negativen Gedanken kann man dann zum Beispiel mit Atemübungen entgegen wirken. Die genaue Planung der Prüfungsvorbereitung ist sehr wichtig, dadurch werden die Betroffenen sicherer in ihrer Situation, es gibt ihnen das Gefühl, dass sie die Prüfung bestimmen und gestalten können. Das Generalproblem, zum Beispiel die mündliche Prüfung, die kann man auch schon vorher durchspielen oder vor der Prüfung mit dem Dozenten sprechen: „Denn deren Ziel ist es ja nicht, dass die Studenten vor ihnen unter den Tisch fallen“, sagt MedicusRickers. Wenn man sich einen Plan macht, was man in welchem Zeitraum vor der Prüfung an Stoff lernen muss, hat man die Prüfung zumindest mental schon vorbereitet. „Wichtig ist auch, dass man sich für danach etwas Schönes vornimmt und nicht wie das Kaninchen auf die Schlange schaut“, meint die Mitarbeiterin der ptb. In den Workshops hat sie die Erfahrung gemacht, dass die Studenten miteinander an ihrer Angst arbeiten und es eine Erleichterung für sie ist, dass andere ähnliche Probleme haben. Elisabeth Medicus-Rickers weiß, dass Prüfungsangst auf keinen Fall ein hoffnungsloser Fall ist, denn jeder der Betroffenen hat auch schon eine positive Erfahrung mit Prüfungen gehabt: „Man muss diese Erfahrung erkennen und das Bewusstsein dafür stärken“. Der nächste Workshop für Prüfungsangst ist am 15. und 16. Juni von 9 bis 16 Uhr, eine vorherige Anmeldung ist erforderlich. Zu erreichen ist die Psychologisch Therapeutische Beratungsstelle unter 0421-220111310 oder per Mail an ptb@stw-bremen.de. Text: Elisabeth Schmidt
25
Bremen
Exquisite Bremer Handarbeit in der Königsklasse Die Traditionswerkstatt Koch & Bergfeld Corpus stellt seit mehreren Jahren neben dem glanzvollen Champions-League-Pokal viele weitere nationale und internationale Preise her – so siedelt sich auf der ganzen Welt ein bisschen Bremen an.
A
m 19. Mai war es wieder so weit: in der Allianz-Arena in München wurde der heiß begehrte ChampionsLeague-Pokal vergeben. Wer sich in der Königsklasse des Fußballs bis ins Finale schießt, gehört definitiv zur Crème de la Crème des wohl beliebtesten Mannschaftssports der Welt. Alljährlich richtet die UEFA (Europäischer Fußballverband) diesen Wettkampf aus, welcher zusätzlich zu den allgemeinen Liga-Spielen und den jeweiligen Pokalrunden läuft. Im Leben eines Profifußballers ist es höchstwahrscheinlich die Krönung, die Gewinnertrophäe einmal in den Nachthimmel zu recken. Im vergangenen Jahr durften die Spieler vom FC Barcelona dieses Gefühl mit der Fußballwelt teilen. Der Preis ist ein Wanderpokal und wird jedes Jahr an den jeweiligen Gewinner weitergereicht. Hat ein Fußballteam mehr als drei Mal in Folge oder insgesamt fünf Mal den begehrten Sieg errungen, bleibt der Pokal beim Sieger. Der aktuelle Pokal ist mittlerweile das sechste Exemplar seiner Art. Aber woher kommen diese neu angefertigten und weltbekannten Pokale überhaupt? Der Pokal kommt aus unserer schönen Hansestadt! Entworfen wurde er vom Bremer Designer Horst Heeren und hergestellt wird er von der in Bremen ansässigen Silberwarenmanufaktur Koch & Bergfeld Corpus. 1829 wurde die Bremer Traditonsmanufaktur als Meisterwerkstatt gegründet und etablierte sich in den nachfolgenden Jahren weltweit mit qualitativ hochwertigen, landesweit anerkannten und populären Fabrikaten für die Medien- und Sportwelt. Darunter befinden sich neben dem Champions-League-Pokal auch Nachbildungen des DFB-Pokals und der Deutschen Meisterschale. Das Original der letztgenannten Trophäe stammt aus einer Kölner Werkschule. Als sich der DFB-Pokal aufgrund einer vorgenommenen Instandsetzung in Bremen befand, wurde ebenfalls ein Entwurf angefertigt, da es diesen in seiner Urfassung nicht mehr gibt. Nur Koch & Bergfeld Corpus hat offziell die Erlaubnis originalgetreue Kopien 26
zu erstellen, welche immer kleiner als die Urform sein müssen, damit man den Unterschied deutlich erkennen kann. Die bekanntesten Auszeichnungen für die Medienwelt ist die Goldene Kamera, deren Entwurf ebenfalls aus der Bremer Produktionsstätte stammt, für die Zeitschrift Hörzu und Nachbildungen der Medaille des Karlspreises, die jährlich für Verdienste um die europäische Einigung in der Stadt Aachen verliehen wird. Die Manufaktur Koch & Bergfeld ist bereits seit 1993 in zwei kleinere eigenständige Werkstätten aufgeteilt. Zum einen gibt es Koch & Bergfeld Corpus und zum anderen die Koch & Bergfeld Besteckmanufaktur, welche sich in der Neustadt befindet. Erstere ist überwiegend für die Preise und Letztere für die maschinelle Produktion von hochwertigen Bestecken zuständig. Solche Bestecke befinden sich weltweit in bisher 21 Deutschen Botschaften. Nach einem Wettbewerb der UEFA wurde der Traditionswerkstatt 1967 der Auftrag zur Produktion der ChampionsLeague-Pokale erteilt. Horst Heeren, der damals als langjähriger Mitarbeiter die Leitung über das Design inne hatte, gilt als Konstrukteur. Mit dem eingereichten Entwurf gelang es der Manufaktur, die Produktion einschließlich aller anfallenden Reparaturarbeiten an die Weser zu holen. Es dauert ungefähr einen Monat, um solch einen wertvollen, beinahe 8 Kilogramm schweren und knapp 62 Zentimeter hohen Pokal zu fertigen.
Bremen
Er besteht aus reinem 925er Sterling Silber und hat vor der Übergabe an den Auftraggeber mehrere Produktionsschritte durchlaufen, wie der Leiter der Silbermanufaktur Florian Blume erklärt: „Es geht durch unterschiedliche Abteilungen – vom Metalldrücker zum Hammerarbeiter, vom Hammerarbeiter zum Monteur, vom Monteur zum Schleifer, vom Schleifer zum Polierer und abschließend in die Galvanik. Jedes Werkstück geht hier durch alle Hände.“ Das Besondere an diesem Pokal sei, laut Blume, dass er einer Amphore ähnele und durch die beiden doppelwandigen Griffe vom Sieger erfolgreich in die Luft gestemmt werden könne. Doch genau diese geschweiften Griffe seien auch das Schwierigste an der Fertigung, da der Pokal nicht aus einem Stück bestehe, sondern aus mehreren kleineren, die zu einem großen Exemplar zusammengelötet würden. Das verwendete Material und die bereits wertvollen Zwischenergebnisse lagern über Nacht in einem Tresor. Des Weiteren legt der Geschäftsführer besondere Betonung darauf, dass alle Arbeitsschritte in reiner Handarbeit erfolgen. Im Jahr 2005 wurde Koch & Bergfeld Corpus von dem ehemaligen Lehrling der Silbermanufaktur Florian Blume übernommen, der mit seinen Umstrukturierungen die Stilllegung abwenden konnte. Zuvor stand Corpus angesichts unrentabler Arbeitsweisen kurz vor der Geschäftsaufgabe. Mitsamt seinen zehn Mitarbeitern und zwei Auszubildenden zog Blume 2007
in die Überseestadt. Hier eröffnete er die gläserne Manufaktur, „damit die Leute im Austellungsraum die Arbeitsgeräusche hören und auch sehen, dass das Menschen sind, die da hinten arbeiten. Dann bekommen sie auch einen ganz anderen Bezug zu den Produkten und man muss gar nicht mehr über den Preis reden, weil sie sehen und wissen, was Arbeit in Deutschland kostet“, wie der Silber- und Goldschmiedemeister schildert. Die Silbermanufaktur und Goldschmiede, ansässig in einem alten Kaffeespeicher im Schuppen 2, ist tatsächlich gläsern. Der neugierige Zuschauer kann gleich auf dem Weg zum Haupteingang kurze Blicke auf die Herstellung und die unterschiedlichen Arbeitsschritte erhaschen. Während sich im Eingangsbereich zahlreiche handgefertigte Stücke aus Silber und Gold befinden, gibt es im hinteren Bereich antik aussehende Werkbänke, Werkzeuge und Holzformen aus den frühen Zeiten der Manufaktur. Stellt die Silbermanufaktur einmal keinen Pokal her, ist sie für die Produktion von verschiedenem Tafelsilber, wie Leuchter, Schalen, Kaffee- und Teekannen, Platzteller und Tassen, die unter hohem Niveau und mit viel Können gefertigt werden, zuständig. In der Corpuswerkstatt werden zum Beispiel auch die Sieger der unterschiedlichsten Auszeichnungen in die selbigen eingraviert. Auch der Supercup-Pokal als Preis für die wiederbelebten Begegnung zwischen dem Sieger der UEFA Champions League und der UEFA Europa League wurde zuvor in Bremen erschaffen. Aktuell betreut die Manufaktur einen Großauftrag des FC Bayern Münchens, der für sein neugestaltetes Museum alle bisher gewonnenen Trophäen als Repliken ausstellen möchten, was bekanntlich sehr viele sind. Insgesamt sind darunter 21-mal die Meisterschale, 14-mal der DFB-Pokal und 4-mal der Champions-League-Pokal, davon gelten drei Exemplare offiziell als damalig verliehener Europapokal der Landesmeister. Darüber hinaus sind alle Gravuren inklusive. Aber auch im örtlichen Weserstadion, im „Wuseum“, befindet sich eine Meisterschale und ein DFB-Pokal von Koch & Bergfeld Corpus. „Na klar ist man ein bisschen stolz“, erklärt Blume auf die Frage, was er fühle, wenn er eine Trophäe aus der eigenen Fabrikation sieht, „das ist für uns auch eine gute Werbung“.
Text: Neele Meyer Fotos: Katrin Pleus, Koch & Bergfeld (links)
27
Bremen
Die Holzvertäfelung war Hauptbestandteil des Konzeptes „# no place like home.“
Die Grenze zwischen öffentlich und privat Heute gibt’s Kultur, aber ordentlich! Der Scheinwerfer besucht für euch den Off-Space „der vierte Raum“.
W
ohin gehen wir, wenn wir des Alltags überdrüssig sind und uns der Sinn nach Kunst und Kultur steht? Meist entscheiden wir uns für Galerie, Museum oder Kunsthalle. Dort setzen wir uns dann mit den Werken mehr oder minder bekannter Künstler auseinander, indem wir sie betrachten, interpretieren und ihre Komposition analysieren. Um uns den Zugang zu den Werken zu erleichtern, wurden die Ausstellungsstücke vorher für uns arrangiert oder in Texten aufbereitet. Der Ausstellungsraum selbst ist dabei aber nur selten Teil der Rezeption, und so entsteht eine spürbare Grenze zwischen Werk und Betrachter. Das Raumkonzept des Off-Space versucht diese Grenze aufzubrechen, indem die Arbeiten eines Künstlers in einem alternativen Raum in einen neuen Zusammenhang gesetzt werden und so der Raum selbst zum Teil des Werkes werden kann. Solche alternativen Räume sind oft Ateliers oder Wohnräume, in denen junge Künstler fernab des etablierten Kunstmarktes arbeiten, ausstellen und performen können – eine Art Laboratorium der Avantgarde. „Der vierte Raum“ ist ein solcher Off-Space, gut versteckt in einem Wohngebäude in der Bremer Bahnhofsvorstadt. Ein weiß gekachelter Flur führt durch die Wohnung, am Ende eine weiße Tür. Was dahinter liegt, ist jedes Mal eine neue Erfahrung; mal sind die Wände holzvertäfelt, mal mit Fotos tapeziert. Beim nächsten Besuch ist der Raum auf ein Viertel seiner Größe geschrumpft oder die Tapete hängt in Fetzen von der Wand. Mitten im Alltagsleben einer Wohngemeinschaft arbeiten hier die unterschiedlichsten jungen Künstlerinnen und Künstler mit und an einem Raum, der die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem subtil verschiebt.
28
Das Konzept dieses Raumes haben die Bewohner der Wohngemeinschaft gemeinsam ausgearbeitet, geplant und ausgeführt: Anstatt einen der Wohnräume unterzuvermieten, wurde er zum Projektraum umfunktioniert, der Künstlern und Publikum offen steht. Das WG-Leben läuft um diesen Raum herum jedoch normal weiter, sodass der Ausstellungsraum privat beziehungsweise die Wohnräume öffentlich werden. Der Besucher ist dabei entscheidender Bestandteil des Projektes, da erst durch ihn der private Raum der Wohnung durchbrochen und öffentlich gemacht wird. Das Konzept des Projektraumes wirkt sich also unmittelbar auf die gesamte Wohnung aus und verändert direkt oder indirekt die Lebenssituation aller Bewohner. So kann es schon mal passieren, dass der Zugang zum eigentlichen Ausstellungsraum von einem Künstler verbaut wird und „der vierte Raum“ nur noch durch das Zimmer eines Mitbewohners erreicht werden kann. Für den Besucher kann aber gerade dieses Verschwimmen von Grenzen interessant werden, da er so selbst zum Teil der Ausstellung wird. Er beeinflusst alleine schon durch seine Anwesenheit und sein Verhalten direkt die Wirkung und die Aussage der Werke. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Arbeiten geht dadurch über die bloße Rezeption hinaus und kann selbst zur neuen Kunst werden. Privat und Öffentlich sind dabei die Begriffe, die ständig bearbeitet werden. Ihre Gegensätzlichkeit wird durch den Aufenthalt im „vierten Raum“ in Frage gestellt und im Endeffekt vielleicht sogar überwunden. So erlebt der Besucher einen sich stets im Wandel befindlichen Raum. Die Auseinandersetzung mit diesem Konzept muss jedoch nicht immer so komplex sein. Neben den verschiedenen Ausstellungen und Happenings gibt es auch eine andere Möglichkeit sich dem Projektraum zu nähern: Jeden Mittwoch steht dort
Der vierte Raum nach der Performance „Beziehen“ von Z. Schmidt
ein DJ-Set, auf dem jeder selbst mitgebrachte Platten auflegen kann. Unter dem Namen „Time and Place“ kommen hier die unterschiedlichsten Menschen zusammen, plaudern, trinken ihr Feierabendbier und lassen das Zusammenspiel von Vinylmusik und Raumkonzept auf sich wirken. Die Plattenmusik steht an diesem Abend als eigene Kunst im Vordergrund und eröffnet so den einen oder anderen neuen Blick auf den Rest des Raumes. „Der vierte Raum“ ist ein junges, vielseitiges und engagiertes Projekt, das sich mit zentralen Themen des modernen Lebens auseinandersetzt. Das Konzept mag auf den ersten Blick vielleicht etwas abgehoben wirken, die eigentliche Umsetzung ist jedoch für jeden zugänglich und stellt unsere Trennung von priva-
ten und öffentlichen Räumen gekonnt in Frage. Das Projekt läuft noch bis Ende Mai und wer neugierig auf Kunstprojekte jenseits des etablierten Kunstmarktes ist, dem sei dieser Off-Space wärmstens ans Herz gelegt. Hier liegt Avantgarde in der Luft! Wie ihr den „vierten Raum“ finden könnt, erfahrt ihr unter www.dervierteraum.org
Text: Jan-Hagen Rath Fotos: Der vierte Raum
29
Bremen
Auf der Weser bis nach Bremen und von hier in die ganze Welt Nicht nur das „Weiße Haus“ in Amerika, sondern viele weitere prächtige Bauwerke sind durch den Bremer Stein geprägt.
S
teht man mitten auf dem schönen Bremer Marktplatz ist es unwesentlich in welche Himmelsrichtung man schaut, man kann ihn einfach überall erblicken: Der Bremer Stein befindet sich an zahlreichen Fassaden in der Innenstadt und prägt seit ewigen Zeiten das bekannte Stadtbild. Bremer Stein ist – um ihn korrekt geologisch zu beschreiben – einer von vielen Sandsteinen, der zu der Gruppe der Sedimente, einer der drei Hauptgruppen der Gesteine, gehört. Die Steine entstehen, indem sie zunächst auf verschiedenen Wegen erodiert werden, was soviel heißt wie „abtragen“. Anschließend erfolgt über weite Strecken der Transport der einzelnen Bruchstücke durch Wind und Wasser, bis diese schließlich an einem beliebigen Ort wieder abgelagert und letztendlich verfestigt werden. Diese vorläufige Vollendung ereignete sich unter anderem auch in Obernkirchen am Bückeberg in Norddeutschland. Dieses Vorkommen ist gewissermaßen Zeuge eines urzeitlichen Sandstrandes. Bereits im elften Jahrhundert begann von diesem Standpunkt aus der Transport über die Weser bis nach Bremen. Demnach diente die Weser schon seit jeher als wichtiger und vor allem auch als natürlicher Handelsweg. Die Überführung, welche zunächst noch eine mühselige Arbeit mit Pferd und Wagen war, wurde mit Hilfe von Schiffen durchgeführt. Lange Zeit diente der Bremer Teerhof als Zwischenlager für die Ware. Der Teerhof ist eine Halbinsel zwischen der Weser und einem ihrer Zwischenarme und kann von den zahlreichen Besuchern der Schlachte auf der anderen Uferseite betrachtet werden. Infolge des Handelsaufschwungs siedelten sich seinerzeit die ersten Steinmetze auf und um den Teerhof herum an, um das Material einerseits als Rohstein und andererseits auch als Fertigprodukt zu vertreiben. Im Zuge des Handelsaufschwungs im 17. Jahrhundert wurde eine Namensänderung erwirkt: Der beschriebene Stein sollte nicht mehr – wie es korrekterweise lauten sollte – als Obernkirchener Sandstein betitelt werden. Aufgrund der engen Beziehung mit der Hansestadt durch den Transport, Lagerung und Handel, wurde er künftig unter der irrtümlichen Handelsbezeichnung Bremer Stein angeboten. Von der Zweigstelle des Teerhofes aus verwendete man das Sedimentgestein nicht nur für zahlreiche Bauwerke, sondern auch zum Ausbau von Schifffahrtskanälen sowie – aufgrund seiner Feinkörnigkeit und hohen Qualität – für Skulpturen, Baudenkmäler sowie für Restaurationen. Im letztgenannten Fall ersetzt man andere Steine, durch Umwelteinflüsse anfällig geworden, durch den stabileren Obernkirchener Sandstein, was sich zuletzt 30
am Königlichen Palais in Amsterdam im Jahre 2011 ereignete. Dieser wurde zuvor im Jahre 1648 größtenteils aus dem Bremer Stein gebaut. Durch solch eine Instandsetzungen kann eine langfristige Erhaltung gewährleistet werden. Das Geschäft mit dem Rohprodukt, welches relativ unbeschränkt in der Hansestadt verbaut wurde, ist nach und nach aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften, seiner Witterungs- und Frostbeständigkeit sowie Druckfestigkeit, zu einem begehrten Werkstoff geworden. Da der Stein zu knapp 95% aus reinem Quarzsandstein besteht, ist das Material sozusagen dauerhaft verwitterungsbeständig, womit es neben der helleren Farbe einen großen Vorteil gegenüber den anderen Sandsteinarten aufweist. Diese Verlässlichkeit auf das Produkt führte zu dem enormen Wirtschaftsaufschwung. Schon damals sind Bauwerke von großer Bedeutung gewesen und dienten der Demonstration von Macht und Reichtum. Wichtig war neben dem Aussehen auch das verwendete Material. War es besonders feinkörnig und filigran, galt der Besitzer als wohlhabend und einflussreich. Diesen Anforderungen entspricht das gräulich-braune Sediment perfekt, da es angesichts seiner Feinkörnigkeit auch filigrane Arbeiten zulässt. Bereits zu Zeiten des Mittelalters sind die Bremer Handelsschiffe aktiv an der Weser-Schifffahrt beteiligt gewesen. Weitere Handelsgüter neben dem zuvor genannten Bremer Sandstein waren unter anderem Rohstoffe wie Holz und Kalk sowie Lebensmittel, wie zum Beispiel Getreide und Fisch und andere Erzeugnisse aus der Viehwirtschaft. Den Plan zur Erweiterung des Einflussbereiches setzte man zu Beginn der frühen Neuzeit in die Tat um. Fortan wurde nicht nur die Unterweser, sondern auch der obere Weserbereich mit Bremer Handelsschiffen befahren. Nach dem Mindener Dom (1062), dem Rathaus in Antwerpen (1566) und dem Bremer Rathaus (1612) gelangte der markante Stein über mehreren Stationen auf dem Wasserweg bis in weitläufigere Teile Europas. Allein in Antwerpen wurden knapp 2.000 Tonnen des begehrten Materials verbaut. Weitere Zeugen der ausgedehnten Transportwege aus der frühen Neuzeit sind das Schloss Rosenborg in Kopenhagen (1634) und der Katharinenpalast in der Nähe von Sankt Petersburg, Russland (1751). Später wurde das Sediment neben Europa auch weltweit exportiert und galt bereits im 18. Jahrhundert als eines der erfolgreichsten Wirtschaftseinkünfte für die Hansestadt. Nachdem 1783 die erste transatlantische Schiffsroute zwischen Bremen
Bremen
und Amerika entstand, wurder der Sandstein während der Überfahrt zunächst als Ballast auf den Segelschiffen verwendet. Es konnte eine komfortablere Beförderung erreicht werden, indem der an Bord spürbare Wellengang durch das Gewicht abgemildert wurde. Im Zielhafen angekommen, erkannte man auch dort dessen hohe Qualität und der Rohstoff diente fortan auch international als Handelsgut unter dem mittlerweile renommierten Namen Bremer Stein. Das Naturprodukt diente in Amerika als eines der Hauptmaterialien bei dem Bau eines der bekanntesten Gebäude der Welt, dem Weißen Haus. Die Grundsteinlegung der Machtzentrale Amerikas war im Jahre 1792. Nennenswert ist hierbei, dass das berühmte Bauwerk 1819, nach einem Brand im Jahr 1814, neu aufgebaut wurde und im Anschluss weiß gestrichen worden ist, um so die entstandenen Rauchschäden zu übertünchen. Erst im 20. Jahrhundert erhielt es den berühmten Namen. Seit 2004 wird die weiße Farbe ebenfalls aus Deutschland, aus einem kleinen Ort bei Augsburg, geliefert. Weitere berühmte Bauwerke die komplett oder zumindest teilweise aus dem Sediment bestehen oder restauriert wurden, sind unter anderem die Pfeiler des Bremer Rolands, die Hamburger Börse, der Kölner Dom, die Berliner Siegessäule und das Nationaldenkmal in Belém do Para (Brasilien). Das gesamte Vorkommen der Sandsteinschichten in Obernkirchen erreicht eine bis zu 20 Meter große Mächtigkeit. Bereits seit 1.000 Jahren wird in diesem Steinbruch der Sandstein abgebaut und verarbeitet. Demnach zählt er zu einem der ältesten noch aktiv bearbeiteten Steinbrüche der Welt überdies hinaus sind bis jetzt noch keine Erschöpfungsanzeichen zu erkennen. Bis zur Frühindustrialisierung machte die Arbeit die Haupterwerbstätigkeit der Obernkirchener Bevölkerung aus. Die Beschäftigung, welche damals noch mit Muskelkraft und einfachen Werkzeugen erfolgte, wurde im Laufe der Zeit von Maschinen übernommen und infolgedessen erleichtert. Es gibt nur noch vereinzelt Steinmetze, die weiterhin die filigranen Handgriffe am Sediment erledigen.
Auch über die Grenzen Deutschlands hinaus wurde das feinkörnige Gestein neben seiner Qualität auch für die Entdeckung von Saurierspuren bekannt und ist seitdem ebenfalls für die weltweiten Forschungsbereiche der Paläontologie von großer Bedeutung. Zum Abschluss noch ein paar Tipps, wie ihr – bewaffnet mit Lupe und einem klitzekleinen Tröpfchen Salzsäure – testen könnt, ob auch euer Haus oder eines in der Nachbarschaft aus Bremer Sandstein besteht. Ein guter Beginn könnte dabei die hellgraue Farbe sein, sie sollte aber nicht als Hauptmerkmal in Betracht gezogen werden. Der untersuchte Stein ist ein Bremer Sandstein, wenn: • er sehr feinkörnig und gut sortiert ist – was so viel heißt, dass die einzelnen Bestandteile alle gleich groß sind • er nicht geschichtet ist – damit ist gemeint, dass die zahlreichen Körner ohne eine bestimmte Richtung angeordnet sind und keine Fließrichtung zu erkennen ist • eventuell Fossil-Reste vorhanden sind • und er nicht mit Salzsäure schäumt (lasst euch bei dem Versuch nicht erwischen, denn der Stein könnte nachhaltig zerstört werden), denn wenn bis auf diesen Test alle anderen Faktoren bestätigt werden können, kann es sein, dass ihr auf einen anderen Sandstein mit Kalkanteilen gestoßen seid Kleiner Tipp: beginnt in der Nähe des Bremer Rathauses!
Text: Neele Meyer Foto: Johannes Lang (l.o.)
31
Bremen
Cup Cakes dank Crowdfunding Nadine und Kevin Windhorst finanzieren ihren Traum vom eigenen Laden durch die Finanzierungsmethode des Crowdfunding.
S
ie sehen aus wie kleine Minikuchen-Kunstwerke, tragen wohl klingende Namen wie Schoki-Schoki oder Banana-Jake und kommen bei der Bremer Bevölkerung gut an, sonst würde es Jake loves Cake wahrscheinlich nicht geben. Jake loves cake ist ein Cup Cake Laden, den Nadine und Kevin Windhorst mithilfe von Crowdfunding eröffnet haben. Das junge Ehepaar hatte vor etwa einem Jahr die Idee, über die Finanzierungsmethode des Crowdfunding einen eigenen Laden aufzubauen. Kevin Windhorst ist durch einen Artikel auf die kleinen Torten aufmerksam geworden. Seit einer Folge aus der US-Serie „Sex and the city“ erfreuen sich die kleinen „Tassenkuchen“ in Amerika mittlerweile großer Beliebtheit. Die Hobbybäcker waren noch nie in den USA und haben die Cup Cakes dort auch noch nicht probiert. Als sie zu Nadines Geburtstag zum ersten Mal die Mini-Kuchen nach amerikanischem Rezept backen wollten, war das Ergebnis ziemlich ernüchternd, denn diese amerikanische Variante wird mit Buttercreme und ganz viel Zucker zubereitet. „Das ist so süß, das kann hier keiner essen“, sagt Kevin Windhorst. Die beiden ließen sich, trotz der anfänglich übersüßten Erfahrung, nicht so schnell von den cremigen Törtchen abbringen. Sie probierten mehrere Rezepte aus, wandelten sie ab und erarbeiteten sich so ihre eigenen Cup Cakes.
Die kleinen Mini-Kuchen wurden früher in Tassen gebacken, daher auch der Name „Tassen Kuchen“(engl. Cup Cake). Äußerlich unterscheiden sie sich von Muffins, vor allem durch ihre cremige Sahnehaube und der Teig der Cup Cakes ist weicher. Die kleinen Backwerke von Jake loves cake werden mit phosphatfreiem Backpulver angerührt, der Hauptunterschied liegt aber beim Topping, das auf die kleinen Muffin-ähnlichen Kuchen kommt, und nicht aus Buttercreme sondern aus Frischkäse zubereitet wird. Das nimmt den Cup Cakes den extrem zuckrigen Geschmack, macht sie leichter, luftiger und man schmeckt die fruchtigen Zutaten mehr heraus. Das Jake loves cake Team achtet auf hochwertige, teilweise biologisch hergestellte Zutaten, was auch die nicht ganz so niedlichen Preise erklärt. Als das Paar ihre eigenen Rezepte kreiert hatte, wollten sie gerne mehr, als nur ihren Familien- und Bekanntenkreis damit zu versorgen. Sie hatten den Wunsch die Cup Cakes in einem eigenen Laden zu verkaufen, aber die finanzielle Grundlage fehlte. Dann kam die Methode des Crowdfunding mit ins Spiel. Kevin Windhorst kannte die Finanzierungsvariante aus dem Wirtschaftsmagazin „brand-eins“, bei der man im Internet für sein Projekt wirbt. Direkt auf der Internetseite des jeweiligen Projektes können die User spenden, wenn ihnen die Idee gefällt. Die Spender werden mit in den Prozess des Projektes einbezogen und können seine Entwicklung mit beeinflussen, außerdem gibt es für jede Spende ein kleines Geschenk als Dankeschön. Zu den bekannten Crowdfunding Projekten in Deutschland gehört Startnext, auf der Plattform können Interessierte die Ideen und Konzepte von Künstlern, Kreativen und Erfindern unterstützen.
„
„Wir wollten auf unserer Plattform den passenden Weg finden zwischen ‚lass mal die Allgemeinheit entscheiden‘ und ‚Selbstbestimmung‘.“ Kevin Windhorst
Bei Startnext gibt es die unterschiedlichsten Projekte von einer Vater-Sohn Doku, über Schülerzeitungen gegen Rechts bis zu dem Soloalbum eines Sängers. Bei den meisten Crowdfunding Aktionen überwiesen die Spender ihr Geld an eine Bank. „Dieses Korsett war uns aber zu eng und es sollte nicht zu kompliziert sein“, erzählt Winhorst. Das Crowdfunding Projekt von 32
Bremen
„
„Der Gegenwert der Spende sollte die Leute daran erinnern, dass sie Teil dieses Projektes sind.“ Kevin Windhorst
Jake loves cake ging Anfang 2011 online. Das junge Paar setzte sich selbst ein Limit: Hätten sie mit Crowdfunding nicht bis zum Spätsommer die eingeplanten 20.000 Euro zusammen bekommen, dann wären die bisherigen Einnahmen in ein gemeinnütziges Projekt gewandert. Aber so weit kam es nicht, denn die Idee, in Bremen einen Cup Cake Laden zu eröffnen, stieß auf Interesse. Am klassischen Crowdfunding von Jake loves cake haben sich 40 Leute beteiligt, außerdem hatte das Team noch eine Reihe unentgeltlicher Unterstützer, die das Projekt mit vorangetrieben haben. Auf der Internetseite konnten die Spender selbst entscheiden, wie sie spenden wollten, unter anderem über Pay Pal. Die Höhe des gespendeten Betrages war dabei frei wählbar. Jeder Spender bekam als Dankeschön eins der Geschenke, die Nadine und Kevin Windhorst auf eigene Kosten produziert hatten. Ab fünf Euro gab es die ersten „Geschenke“ für das investierte Geld, je nachdem, wie hoch der Betrag war, gab es Sticker, Buttons, T-Shirts oder Tassen mit dem Namen des zukünftigen Cup Cake Ladens. „Der Gegenwert der Spende sollte die Leute daran erinnern, dass sie Teil dieses Projektes sind“, sagt Kevin Windhorst. Die Spender wurden persönlich mit in den Prozess des Cup Cake Ladens einbezogen und regelmäßig per E-Mail mit neuen Informationen versorgt. Die Macher von Jake loves cake fragten ihre Spender, in welchem Stadtteil sie den Laden gerne hätten und welche Cup Cake Sorten zum Angebot gehören sollten. „Wir wollten auf unserer Plattform den passenden Weg finden zwischen ‚lass mal die Allgemeinheit entscheiden‘ und ‚Selbstbestimmung‘“, erklärt Kevin Windhorst. Die Immobiliensuche erwies sich als weitaus schwieriger und als Jake loves
cake im vergangenen Oktober im Schnoor eröffnet wurde, war das eher eine Notlösung. Das Catering steht bei dem Cup Cake Laden im Vordergrund und in der sechs Quadratmeter kleinen Küche im Schnoor mussten die Cup Cake Bäcker auf dem Weg zum Backofen ständig den Kopf einziehen. Die Nachfrage wurde größer und seit Januar ist Jake loves cake in der Konfiserie Schriefer untergebracht, dort kann man von Montag bis Freitag Cup Cakes kaufen. „Das Umfeld in der Konfiserie ist sehr professionell und die Produkte ergänzen sich gut“, meint Kevin Windhorst zum neuen Standort. Im Nachhinein hat sich das Crowdfunding-Projekt für das junge Ehepaar auf jeden Fall gelohnt: „Es war eine super Erfahrung und wir haben viel gelernt.“ Kevin Windhorst sieht den Erfolg des Crowdfunding in den USA vor allem in der hohen Spendenbereitschaft der Amerikaner. „In Deutschland gehört viel Selbstwerbung dazu, bei uns hat es auch deshalb geklappt, weil wir eine tolle Nachfrage hatten und die Presse super schnell darauf angesprungen ist.“ Kevin Windhorst hat jetzt im Frühling die Zitrone-Mohn Variante zu seinem Lieblings Cup Cake erkoren. Ob ihr lieber Apfelbeere-Vanille oder Schokolade-Himbeer mögt, könnt ihr in der Hemmstraße 103 selbst herausfinden. Die Menükarte und die Öffnungszeiten findet ihr auf der Internetseite www.jakelovescake.com.
Text: Elisabeth Schmidt Fotos: Elisabeth Schmidt (Portrait), Katrin Pleus
33
Bremen
J
eder Deutsche verbraucht am Tag etwa 130 Liter Wasser, wovon alleine 42 Liter buchstäblich die Toilette heruntergespült werden. In vielen anderen Ländern der Welt hingegen ist sauberes Wasser immer noch ein knapp bemessenes Gut. Seit dem Jahr 2005 setzt sich deshalb der Verein Viva con Agua für eine Verbesserung dieser Situation ein. Gegründet vom ehemaligen FC St. Pauli-Profi Benjamin Adrion, nachdem er während eines Trainingslagers auf Kuba die problematische Wasserversorgung mit eigenen Augen sah, gibt es Ableger der Initiative mittlerweile in vielen Städten. Der Scheinwerfer sprach mit Konrad Kreutzer und Elena Flathmann von Viva con Agua in Bremen. : Ich kenne Viva con Agua vor allen Dingen dadurch, dass ich häufiger auf Konzerte oder auch auf Festivals gehe und euch dann immer mit euren blauen Tonnen sehe. Aber viele wissen vielleicht gar nicht, was überhaupt dahinter steckt. Worum geht es bei Viva con Agua genau? Elena Flathmann: Wir sammeln bei Konzerten und bei den Festivals die Pfandbecher ein, um dadurch Spenden zu sammeln. Diese Spenden gehen dann an verschiedene Projekte auf der ganzen Welt, aktuell nach Burkina Faso. Dort werden dann Trinkwasseranlagen, Brunnen und sanitäre Anlagen finanziert. Konrad Kreutzer: Die UN hat im Jahr 2000 die Millenium-Ziele festgesetzt, die die Welt und vor allem die Entwicklungsländer verbessern sollten. Dabei ging es unter anderem darum, die Kindersterblichkeit zu verringern, die Bildung zu
34
verbessern und Hunger und Wasserknappheit zu bekämpfen. Die UN hat sich im Jahr 2000 fünfzehn Dörfer ausgesucht, in denen diese Ziele umgesetzt werden sollten, aber nur in Afrika. Viva con Agua hat den Partner Welthungerhilfe und die haben sich auch zwölf Dörfer ausgesucht, aber weltweit, weil es auch Dörfer in Asien gibt, denen es noch schlechter geht, als denen in Afrika. Dort werden auch die Milleniumsziele umgesetzt und Viva con Agua übernimmt den Teil der Wasserversorgung. Wir sammeln das Geld, geben es an die Welthungerhilfe weiter und die setzen es sofort um, direkt vor Ort. Seit ein paar Jahren verfolgen wir den sogenannten „WASH“-Ansatz („Water Sanitation Hygiene“), das heißt, es geht nicht nur um Trinkwasserversorgung, sondern auch um sanitäre Anlagen. Denn es gibt 9,5 Millionen Menschen weltweit, die kein Trinkwasser haben, aber 2,5 Milliarden, die keinen Zugang zu sanitären Anlagen haben. Viva con Agua gibt es jetzt seit 2005 und wir machen nicht nur das Bechersammeln, worüber uns die meisten kennen, sondern auch viele andere Aktionen, z.B. Konzerte, Partys und Fußballturniere. Dieses Jahr sind wir unter anderem bei der Breminale und beim Viertelfest dabei. : Das besondere an Viva con Agua ist, dass die Organisation nicht nur einen festen Standort in Deutschland hat, sondern in vielen Städten aktiv ist. Seit zwei Jahren gibt es euch jetzt auch in Bremen, wie kam es dazu? Konrad Kreutzer: Also ich habe über YouTube die Band Irie Révoltés gefunden, die Viva con Agua schon ganz lange unterstützen und die ein Lied gemacht haben, das auch „Viva con Agua“ heißt. Das habe ich mir angehört, weil ich die Band cool fand und daraufhin
Bremen
bin ich auf die Homepage von Viva con Agua gegangen, weil mich das Thema Wasser interessiert. Dann habe ich dem Verein geschrieben und gefragt, ob es in Bremen schon eine Zelle gibt, weil ich sie ansonsten gerne gründen würde. So hat alles angefangen. Viva con Agua ist ein offenes Netzwerk, jeder kann mitmachen, es gibt keine wirklichen Regeln. Man kann einfach zum Treffen kommen und sich einbringen, wenn man Lust hat. Mittlerweile gibt es das in ungefähr 20 Städten in Deutschland, Österreich, der Schweiz und in Spanien. : Elena, wie bist du zu Viva con Agua gekommen? Elena Flathmann: Ich kam eher zufällig über einen Freund dazu. Er hat mir von Viva con Agua erzählt und ich dachte mir, dass sich das ganz gut anhört und bin dann einfach spontan zu einem Treffen mitgekommen und seitdem bin ich dabei. : Wie viele Leute sind im Moment bei Viva con Agua in Bremen aktiv? Konrad Kreutzer: Also in unserem E-Mail-Verteiler sind circa fünfzig Leute eingetragen, davon kommen einige ab und zu mal und machen bei einer Aktion mit. Aber es sind ungefähr zehn Leute, wo man wirklich sagen kann, dass sie leitende Aufgaben übernehmen. : Und jeder der Lust hat auch bei Viva con Agua mitzumachen, kann einfach spontan zu euren Treffen kommen? Elena Flathmann: Genau, wir treffen uns jeden ersten Donnerstag im Monat um 19 Uhr im „Amt“ in der Wandschneiderstraße 6 und jeder, der Lust hat, kann einfach dazukommen. Scheinwerfer: Könnt ihr schon sagen, was ihr in diesem Jahr noch für Aktionen geplant habt? Konrad Kreutzer: Der Plan ist, jeden Monat eine Aktion zu veranstalten. Wir haben also ziemlich viel vor. Elena Flathmann: Genau, wir machen zum Beispiel am Pfingstmontag, dem 28. Mai, im Tower abends einen Flohmarkt. Dazu gibt es dann Kuchen, bei gutem Wetter wird gegrillt und es spielen zwei Bands. Wir nehmen dann auch keine Standgebühren ein, aber von den Einnahmen der Verkäufe werden zehn Prozent als Wassersteuer an Viva con Agua gespendet. Konrad Kreutzer: Und im Juni fangen dann ja wieder die Festi-
vals an. Wir sind natürlich auf dem Hurricane Festival und dann auch beim Deichbrand Festival und Omas Teich Festival unterwegs. In Bremen sammeln wir beim Sommerfest Vorstraße, auf dem Überseefestival und beim Viertelfest Becher und auf der Breminale werden wir eine eigene Bühne haben, auf der es dann verschiedene Aktionen geben wird. Letztes Jahr im November gab es die Wassertage, die eine Woche lang in 24 Städten in Deutschland stattfanden. Da haben wir auch mitgemacht und ein Fußballturnier, einen Poetry Slam und ein Konzert im Tower veranstaltet. Das wird es in diesem Jahr auch wieder geben. : Wie erfolgreich wart ihr mit euren Aktionen im letzten Jahr? Konrad Kreutzer: Wir haben im letzten Jahr 13.000 Euro gesammelt. Insgesamt haben wir in den letzten beiden Jahren ungefähr 16.000 Euro gesammelt und ich denke, dass 2012 noch einmal mindestens 10.000 bis 15.000 Euro dazu kommen werden. : Was sind eure Ziele für die Zukunft von Viva con Agua? Konrad Kreutzer: In Bremen geht es immer noch darum, mehr Leute zu finden, die mitmachen, um Viva con Agua noch bekannter zu machen. Ein Ziel wäre es, dass die Leute sagen, da gehe ich hin, weil es eine Viva con Agua-Veranstaltung ist und da weiß ich, dass es cool wird. Letztendlich sind wir eine große Familie. Klar geht es in erster Linie darum, möglichst viel Geld zu sammeln, um Leuten zu helfen, aber ein genau so großer Anteil ist, dass wir eine Gemeinschaft sind und dass wir Spaß zusammen haben. Text: Kira Kettner Foto: Philipp Johannßen
Die nächsten Termine von Viva con Agua in Bremen:
Viva con Agua-Flohmarkt im Tower am 28. Mai ab 17 Uhr Sommerfest Vorstraße vom 08. bis 09. Juni
Weitere Infos und Kontaktmöglichkeit:
https://www.facebook.com/vivaconaguabremen bremen@vivaconagua.org 35
Bremen
Wer hat die Kokosnuss geklaut?! In dem bekannten Kinderlied löst sich das Rätsel zum Ende hin auf, da das Affenbaby die Kokosnuss stibitzt hat. Die Kokosnuss ist wieder da, doch wo sind die Affen hin? Tatort: Bahnhofsvorplatz!
A
m 05. März war ordentliches Affentheater auf dem direkt über den Köpfen der Menschen. Schuhe? Um genau zu Bahnhofsvorplatz angesagt. Es wurde großes Geschütz sein baumeln dort 16 Paar Schuhe an den Schnürsenkeln zuaufgefahren: Ein Tieflader, zwei Kräne und einige gesammengebunden. Dieses Phänomen ist nicht nur in Bremen zu standene Männer, die sich mit viel Sachverstand und versierten beobachten, sondern auch in Hamburg, Berlin und in anderen Handgriffen über die Affen her machten. Kurze Zeit später verLändern wie Großbritannien oder Österreich. Es gibt viele Theluden Mensch und Maschine die Affenbande und weg waren orien, die das Phänomen erklären sollen. In den USA soll es zum die fünf Meter hohen Affen – ohne Widerstand! Die Rede ist einen ein Ritual sein, bei dem Studenten und Schüler ihren Abvon der Bronzeplastik, die seit 2007 vor dem Bremer Hauptschluss feiern, zum anderen beenden Soldaten symbolisch ihren bahnhof stand. Doch warum wurde die Skulptur entwendet und Militärdienst. Außerdem gibt es dort eine Geschichte, in der es wo ist sie nun? Die „Affenskulptur“ von Immendorff gehört zur heißt, dass in den neunziger Jahren ein streitendes Brautpaar auf Sammlung eines anonymen Bremer Leihgebers. Dieser stellte dem Highway 50 in Nevada unterwegs war. Der Streit eskalierte die Bronzeplastik 2007 für die temporäre Ausstellung über den und der Bräutigam warf die Schuhe der Braut aus dem Auto und im gleichen Jahr verstorbenen Künstler in der „Weserburg“ zur in einen Baum, aus dem sie die Schuhe nicht wieder zurückhoVerfügung. Aus diesem Grund wurde zum einen am Hauptlen konnten. Erfolglos setzten sie sich unter den Baum, sprachen bahnhof die „Affenskulptur“ aufgesich aus und vertrugen sich. Dem stellt und zum anderen eine weitere Beispiel folgen nun viele Reisende, Bronzeplastik von Immendroff – das sodass an der Pappel auf dem High„Affentor“– am Brill aufgebaut. Die way Hunderte von Paaren baumeln. Gestalt der Affen taucht immer wieEin weiterer Erklärungsansatz beder in Immendorffs Werken auf und sagt, dass die Straßenbanden damit ist eine Metapher für Selbstironie und ihr Revier markieren aber auch die die Rolle des Künstlers im Gefüge der Äußerung von Protest wird darin Gesellschaft. Die Integration der beigesehen. Dies ist nur ein kleiner Teil den Bronzeplastiken auf dem Bahnder Annahmen, die vielfältiger sind hofsvorplatz und am Brill hatte aber als die Auswahl an hängenden Schunicht nur die Funktion, die Ausstelhen. Einen eindeutigen Nachweis lung zu untermauern, sondern fügte gibt es nicht, doch so kann sich jeder sich darüber hinaus in das Programm seine Theorie zu Eigen machen und „Kunst im öffentlichen Raum“ ein, den im Wind baumelnden Schuhen welches 1973 vom Bremer Senat bemit einem Schmunzeln zusehen… Affenskulptur auf dem Bahnhofsvorplatz schlossen wurde. Dieses Programm soll vor allem die Bremer in Kontakt mit Kunst und Kultur bringen, die sonst nicht die Möglichkeit dazu haben. Es zielt UPDATE: Umbau des Bahnhofsvorplatzes darauf ab Diskussionen zu provozieren und die Öffentlichkeit Bauzeit: Voraussichtlich Herbst 2012 bis Ende 2014 mit Kunst zu konfrontieren. Mit diesem Programm von 1973 ist Investor: Mitte Februar hat der Hamburger Investor den Bremen ein bundesweiter Vorreiter, der den öffentlichen Raum Kaufvertrag unterzeichnet. Die Investition soll sich angebzur kulturellen und künstlerischen Weiterbildung stellt und solich auf 100 Millionen Euro belaufen. mit nicht nur örtlich eine Plattform bietet. Nun hat das „MuArchitekt: Der Schweizer Max Dudler übernimmt die Verseum der Moderne“ in Salzburg die Ehre, der Affenbande bis antwortung als Architekt und ist in Bremen kein unbevoraussichtlich Mitte Juli 2012 Obhut zu gewähren. Im Zuge schriebenes Blatt. Für die Jacobs University entwarf er das der Ausstellung Immendorff und Lüpertz (ein weiterer deutSports and Concention Center. scher Künstler) zeigt es erstmals einen größeren Komplex von Entwurf: Auf dem Bahnhofvorplatz werden zwei siebenstöSkulpturen, Gemälden und Grafiken beider Künstler. ckige Hochhäuser entstehen, zwischen denen ein Abstand Nachdem die Affenbande weg ist, könnte man meinen, dass ein von etwa zehn Metern gelassen werden soll, um die Innenwenig Ruhe auf dem Bremer Hauptbahnhofsplatz einkehren stadt und den Hauptbahnhof zu verbinden. würde. Falsch gedacht: Neben den bevorstehenden UmbaumaßNutzung: Folgende Einrichtungen sollen bislang einziehen: nahmen, die die Bremer Gemüter durchaus spalten, gibt es weiHotel, Gesundheitszentrum, Büros, Restaurants und Getere merkwürdige Ereignisse: Schlendert man über den noch mit schäfte Skaterrampen und Bänken bestückten Bahnhofsplatz und wagt einen Blick gen Himmel gibt es einiges zu sehen: Wahrscheinlich schweben dort über einem bremische Regenwolken, es kreiText: Katrin Pleus Foto: kunst im öffentlichen raum bremen sen dort womöglich auch ein paar Möwen – und Schuhe hängen 36
Feuilleton
Unsinnige Dialoge oder schmalzige Liebeserklärungen sind bei diesen Filmen fehl am Platz. „The Artist“ befördert den Stummfilm in alle Munde.
W
ir befinden uns in Hollywood im Jahr 1927. Dort trifft der Stummfilmschauspieler George Valentin auf seinen Fan Peppy Miller, besorgt der jungen Schauspielerin eine Statistenrolle in seinem neusten Stück „A German Affair“ und verliebt sich in sie. Sie wird ein gefeierter Tonfilmstar während er von der Leiter des Erfolgs stürzt. Normalerweise würde man bei diesem Inhalt einen Hollywoodfilm mit viel Herzschmerz erwarten, doch „The Artist“ überrascht mit dem Gegenteil. Denn typisch ist an dem Gewinner der diesjährigen Oscarverleihung gar nichts. Nicht nur, dass der als bester Film ausgezeichnete Streifen in schwarzweiß gedreht wurde, bis auf die Musik haben wir es mit so gut wie keinem Ton zu tun – der Film ist stumm. Seit die letzten beiden Stummfilme bei den ersten Oscarverleihungen 1929 als beste Filme ausgezeichnet wurden, hat sich in der Filmbranche so einiges getan: Technicolor, Dolby Surround und dreidimensionale Digitalprojektionen sind allgegenwärtig. Und nun werden wir urplötzlich in der Zeit zurückversetzt und finden uns wieder bei den Anfängen des Films, ganz nach dem Motto „back to the roots“. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand der Stummfilm in Westeuropa und den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Filme verdrängten mit der Zeit andere Formen der Unterhaltung und zogen die Zuschauer nur so an, was dazu führte, dass dafür sogar ganze Filmpaläste gebaut wurden. Doch durch das Aufkommen des Tonfilms Ende der 1920er Jahre und dem großen Erfolg von „Der Jazzsänger“ (1927) wurde der Stummfilm innerhalb weniger Jahre verdrängt und gehörte bald der Vergangenheit an. Obwohl der Tonfilm bereits etabliert war, drehte Charles Chaplin weiterhin Stummfilme („Lichter der Großstadt“ (1931) und „Moderne Zeiten“ (1936)), die an den Kinokassen sehr erfolgreich waren. Und auch in den Jahren darauf wurden immer wieder vereinzelt Stummfilme gedreht. Im Jahre 2006 inszenierte Franka Potente die deutsche Produktion „Der die Tollkirsche ausgräbt“. Bei einer Spiellänge von 43 Minuten gibt es in dem Film nur einen Charak-
ter, der spricht. Neben diesen neueren Stummfilmen sind in den letzten Jahren viele der „klassischen“ Stummfilme auf DVD herausgebracht worden. Die ursprüngliche Filmmusik, wenn es denn eine eigene Komposition gab, wurde oft von bekannten Künstlern aus der heutigen Zeit neu eingespielt. Allerdings leiden viele dieser Stummfilme unter Qualitätsverlust, der auf das Hochrechnen von einer niedrigeren Bildgeschwindigkeit auf unsere heutige Abspielgeschwindigkeit von 24 Bildern pro Sekunde zurückzuführen ist, da diese niedrigeren Geschwindigkeiten für unseren DVD-Standard nicht konzipiert sind. Liebhaber der großen Leinwände können die stummen Streifen bei Angeboten in Filmkunstkinos (Bremer Filmkunst Theater) anschauen. Bei Filmfestivals ist das Konzept „Kino Kabaret“ ist sehr beliebt. Es besteht aus mehreren gezeigten, mitunter stummen, Kunstfilmen, die innerhalb von 48 Stunden von Kleingruppen produziert werden und das so gut wie ohne Budget. In Deutschland gibt es dies beim „Internationalen KurzFilmFestival Hamburg“ (festival.shortfilm.com) vom 29. Mai bis zum 4. Juni. Obwohl die Stummfilmzeit schon lange vorbei ist, ist das Genre nicht gänzlich tot. Ob der Erfolg von „The Artist“ nun eine Revolution ist, bleibt fraglich. Doch dass es sich um eine Hommage an die alte Zeit, in der der Ton nicht ausschlaggebend für den Filmerfolg war, handelt, liegt wohl auf der Hand. So gelangt der Zuschauer durch die Reduktion der Farben und die bekannten Elemente der melodramatischen Filme in die Atmosphäre einer Zeit, die uns nur noch aus Erzählungen bekannt ist. 100 Minuten lang bietet der Film durch die klassische Stummfilm-Inszenierung nach Hollywood-Art und die frischen Ideen mit vielen Anspielungen auf Szenen aus Klassikern eine zeitlose Unterhaltung. Vielleicht ändert dieser Erfolg von „The Artist“ etwas an dem Zustand der Stummfilme in unserer Zeit und lockt wieder mehr Menschen zum tonlosen Filmvergnügen.
Schweigen bleibt Gold
Text: Nadine Döring Illustration: Fatima Yoldas, Farrin N. Abbott
37
Feuilleton
Das Molotow: Ende einer Kiezlegende? Das Molotow auf der Reeperbahn ist einer der bekanntesten Musikclubs Hamburgs. Hier begannen die Karrieren zahlreicher namhafter Bands. Nun droht der Abriss.
N
eonlicht, Strip-Clubs, die wohl berühmteste Polizeistasenen Kneipen und Clubs werden durch Supermärkte und Fasttion des Landes und viele tausende Touristen im Jahr Food-Ketten ersetzt und die Preise für Wohnraum auf St. Pauli - das alles macht die Reeperbahn in Hamburg aus. Gesteigen kontinuierlich, so dass sich viele langjährige Kiezbewohnauso wichtig für Deutschlands „sündigste Meile“ ist und war ner ein Leben nahe der Reeperbahn nicht mehr leisten können. immer schon die Musik. Die Beatles begannen ihre Weltkarriere Diese sogenannte Gentrifizierung, wie sie in vielen „Szeneviergenau hier in einem der zahlreichen Musikclubs und auch heute, teln“ vorkommt, ist längst auch auf St. Pauli angekommen. Über über 50 Jahre später, kommen junge Bands aus aller Welt nach dem Eingang des Molotow hängt nun ein großes weißes Banner, Hamburg, um ihre ersten Bühnenerfahrungen auf deutschem das nicht etwa auf das nächste Konzert hinweist, sondern auf Boden zu sammeln. dem in Großbuchstaben „Kein Abriss!“ prangt. Was ist passiert? Die erste Anlaufstelle für eine Vielzahl hoffnungsvoller Musiker ist dann meist das Molotow. Bereits seit 1990 direkt am SpielbuDas Gebiet rund um den Spielbudenplatz, auf dem sich neben denplatz gelegen, führen 23 Treppenstufen hinunter in den rot dem Molotow auch zwei Wohngebäude und die aus zahlreichen gestrichenen Club mit den niedrigen Decken und der kleinen abendlichen Dokumentationen im Privatfernsehen landesweit Bühne im hinteren Raum. bekannte Esso-Tankstelle befinden, soll neu gestaltet werden. Hier erlebt man Musik noch so wie sie sein sollte, so nah an Auf 19000 Quadratmetern will der Investor Bayrische Hausbau, der Band, dass man den Musikern dem dieses sogenannte „Esso-Areal“ beim Spielen auf die Finger schauen seit 2009 gehört, einen Neubau mit kann und mit nur etwa 350 anderen „Die Investoren versuchen, St. Pauli Wohnungen und Gewerbefläche erMenschen, die auf der kleinen Flärichten. Dafür müssten die bishezu zerstören, indem sie es zu einer che vor der Bühne zu einer Einheit rigen Gebäude aber weichen, also Yuppie-Ausgeh- und Wohngegend auch der Block, in dessen Keller sich verschmelzen und nach einem gelungenen Auftritt alle gleichermadas Molotow befindet. machen“ ßen verschwitzt und glücklich sind. 2014 sollen die Bagger und Kräne Das Molotow ist einer dieser so selanrücken, doch St. Pauli wäre nicht ten gewordenen Orte, an denen noch alles möglich scheint: Lädt St. Pauli, wenn sich die Anwohner nicht zu wehren wüssten. die Band das Publikum zur Zugabe spontan auf die Bühne ein? Inzwischen hat sich die Initiative Esso-Häuser gegründet, die Entdeckt man seine neue Lieblingsband oder hört man zum sich gegen den Abriss und für eine Sanierung der betroffenen ersten Mal diesen einen ganz besonderen, lebensverändernden Gebäude einsetzt. Song? In diesem Club gibt es keine fünf Meter breiten BühnenDenn die Sorge ist groß, dass die bisherigen Anwohner durch gräben, die Band und Fans voneinander trennen und so ist es steigende Mietpreise in den neuen Wohnhäusern gezwungen gut möglich, dass sich nach dem Konzert Musiker und Konzertwerden, ihr Zuhause zu verlassen und Platz zu machen für Bübesucher an der Bar treffen, um gemeinsam ein Bier zu trinken. ros und vermögende Neumieter, die dem Lockruf des nächsten Im Molotow werden Geschichten geschrieben und deshalb ist Trendviertels folgen. „Die Investoren versuchen St. Pauli zu zeres nicht verwunderlich, dass viele Bands, die heute zehn Mal so stören, indem sie es zu einer Yuppie-Ausgeh-, und Wohngegend große Hallen füllen, genau hier ihr Debüt auf einer deutschen machen“, fasst Andi Schmidt, der das Molotow seit 1994 leitet, Bühne feierten. Unter anderem spielten im Keller unterhalb des das Problem zusammen. Spielbudenplatzes schon The Killers, Mando Diao, Gossip oder St. Pauli aber lebt von der Vielfalt der Menschen, eben dieser Wir Sind Helden. Allesamt Bands, die heute große Festivals einzigartigen Mischung aus Künstlern, Rotlicht-Größen und headlinen. Kreativen aller Art sowie den außergewöhnlichen Geschäften Das alles könnte jedoch schon bald ein Ende haben, denn seit und Kneipen, die den Kiez teilweise schon seit vielen Jahrzehneinigen Jahren verändert sich die Reeperbahn. Die alteingesesten ihre Heimat nennen und maßgeblich dazu beigetragen ha38
Feuilleton
ben, dass sich dieser Stadtteil zu einem der beliebtesten Besuchsziele in ganz Deutschland entwickelt hat. Auch das Molotow selbst will nicht so einfach kampflos aufgeben. Inzwischen hat sich die Facebook-Gruppe „Molotow Must Stay“ gegründet, die sich für den Erhalt des Clubs und damit für ein wichtiges Stück Hamburger Kultur einsetzt. Die Seite hat momentan fast 5000 Fans und informiert fortlaufend über den neuesten Stand der Entwicklungen und die Möglichkeiten für Besucher und Freunde des Clubs, sich für den Erhalt des Molotows zu engagieren. Diese Unterstützung und der positive Zuspruch von vielen Seiten ist besonders wichtig für den Club, wie Nils Warkentin vom Molotow verdeutlicht: „Am meisten hilft es, wenn das Thema aktuell bleibt und die Politik und die Investoren den kulturellen Wert des Molotows begreifen. Dies kann der „normale“ Besucher unterstützen, indem er bei uns vorbeikommt und hilft, das gesamte Problem weiterzuerzählen.“ Hilfe kommt auch von prominenter Seite. Die Band Sportfreunde Stiller wird am 26. Mai ein Support-Konzert im Molotow spielen. Die Münchner, deren letztes Album „MTV Unplugged in New York“ wochenlang auf Platz 1 der deutschen Charts stand, spielten ihr erstes Hamburger Konzert vor Jahren selbst im Molotow und fühlen sich dem Club immer noch persönlich und musikalisch eng verbunden. Die Karten für ihre Rückkehr zur Rettung des Musikclubs waren bereits nach wenigen Minuten restlos ausverkauft. Trotz mehrerer Runder Tische zur Vermittlung zwischen den Investoren und der Bürgerinitiative verkündete die Bayrische Hausbau im Februar ihre Entscheidung für den endgültigen Abriss des Esso-Areals. Es gibt jedoch immer noch Hoffnung, wie Nils Warkentin erklärt: „Grundsätzlich ist es so, dass der
Investor das gesamte Areal abreißen will. Hierfür fehlt jedoch die Rückendeckung der Politik, die erst weiterführende Gespräche mit Bewohnern, Mietern und Gewerbetreibenden fordert. Da sich die Bayrische Hausbau hierzu noch nicht geäußert hat, ist es offen, wie es weitergeht. Es sah aber in der Vergangenheit wesentlich schlechter aus als momentan.“ Eine Stadt wie Hamburg lebt von Vierteln wie St. Pauli und ihre Kultur profitiert ungemein von Musikclubs wie dem Molotow. Klinisch wirkende Glasbauten, Starbucks und vermeintlich hippe Designer-Läden gibt es mittlerweile in jeder mittelgroßen deutschen Stadt. Sie sind wie das Gesicht einer auf ewig jugendlich gebotoxten Neureichen, die nur aus der Ferne ganz hübsch anzusehen ist, aber nichts zu sagen hat. Die Hafenstadt Hamburg und gerade St. Pauli waren aber seit jeher immer eher wie der bärtige Kapitän mit dem herben Gesicht, der bei einem Bier den einen oder anderen Schwank aus seinem langen Leben voller Abenteuer erzählt und zu fortgeschrittener Stunde Seemannslieder anstimmt. Es wäre eine Schande, ihn für immer aus der Stadt zu verbannen.
Weitere Infos: http://www.molotowclub.com/ http://www.facebook.com/pages/Molotow-Must-Stay
Text: Kira Kettner Fotos: Kira Kettner
39
Howler
Lautsprecher Howler:
Minnesota ist ein Bundesstaat im Norden der USA, an der Grenze zu Kanada. Dessen größte Stadt Minneapolis ist zwar der Geburtsort von Prince, abgesehen davon aber nicht gerade bekannt für seine musikalische Geschichte. Dies könnte sich in diesem Jahr ändern, denn genau von hier aus schicken sich Howler an, die Musikwelt zu erobern. Obwohl die vier Bandmitglieder alle gerade einmal Anfang 20 sind, konnten sie im vergangenen Jahr einen Plattenvertrag mit Rough Trade Records abschließen. Genau der Plattenfirma also, die in der Vergangenheit immerhin schon die Alben namhafter Größen der alternativen Musikszene, wie zum Beispiel The Smiths, Arcade Fire oder The Libertines veröffentlicht hat. Im Januar erschien nun Howlers Debütalbum, das geradezu herausfordernd betitelte „America Give Up“. Songs wie „Back Of Your Neck“ (den man auf der Homepage der Band auch kostenlos downloaden kann) oder „I Told You Once“ beleben den leicht schrammeligen Garagen-Rock wieder und sind dabei so eingängig, dass man sich gut vorstellen kann, zu dieser Musik die ein oder andere Nacht durchzutanzen. Ob Howler wirklich DIE Band des Jahres 2012 werden bleibt abzuwarten, den Soundtrack für einige unvergessliche Momente könnten sie aber durchaus liefern. Weitere Infos: http://www.howlerband.com/
dem Westerwald. Doch trotz seines unscheinbaren Aussehens und der Herkunft bringt der 33-Jährige stetig die bedeutendsten Technoclubs des Landes zum kochen und wird auch immer häufiger international gebucht. Dominik Eulberg ist MinimalTechno DJ und einer der bekanntesten der deutschen Elektroszene. Sein musikalisches Alleinstellungsmerkmal ist die Vereinigung der Kontroverse. Der Biologiestudent verwendet für seine Musik Laute und Geräusche aus der freien Natur und füttert diese mit satten Beats und Bässen. Wenn wir uns im Moloch der Großstadt in einem verranzten Elektroschuppen zu Dominik Eulbergs minimalistischen Arrangements ausgelassen tanzend wiederfinden, wird einem unweigerlich die Reinheit der weit verdrängten Natur nahe gebracht. Dominik Eulberg erschuf den Öko-Techno. Weitere Infos: http://www.dominik-eulberg.de/
Dominik Eulberg:
Er hat weder Metallschmuck, der sich durch seinen Körper bohrt, noch auffällige, gefährlich wirkende Tattoos oder einen freakigen, szenischen Kleidungsstil. Er ist der Naturbursche aus 40
Dominik Eulberg
Feuilleton
Baskery:
Die Musikgeschichte ist voll von erfolgreichen Brüderbands, man nehme nur die Bee Gees, Oasis oder Kings Of Leon. Aber auch Schwestern können zusammen allerfeinste Musik machen. Bestes Beispiel dafür sind Greta, Stella und Sunniva Bondesson alias Baskery, aus Schwedens Hauptstadt Stockholm. Zusammen machen sie Musik, die hörbar vom amerikanischen Country inspiriert wurde, dabei aber ganz ohne Cowboyhüte und Karohemden daherkommt. Ganz im Gegenteil, Baskery fügen noch einen Schuss Rock und jede Menge tanzbare Melodien hinzu und heraus kommt Countrymusik, wie sie im Jahr 2012 klingen sollte. Aus genau diesem Grund konnten sie schon Auftritte beim britischen Glastonbury Festival und dem texanischen SXSW Festival, sowie als Vorband ihrer Landsmänner Mando Diao verbuchen. In diesem Januar standen Baskery dann aber auch im Rahmen ihrer eigenen Tour auf der Bühne des Bremer Lagerhaus. Dabei glänzen die Schwestern nicht nur als Multiinstrumentalistinnen, sondern alle drei auch mit ihren Fähigkeiten als Sängerinnen. Mehr von den talentierten Schwedinnen gibt es auf ihrem aktuellen Album „New Friends“ zu hören. Weitere Infos: http://www.baskery.com/ Text: Kira Kettner, Lukas Niggel Fotos: Rough Trade/Beggars Group (Howler), Blue Rose Records (Baskery), Thorsten Kohlhaas (Eulberg)
Baskery
Kolumne
Dank Boulevard-Umbau zurück in die Offline-Realität Seit diesem Frühjahr ist es für niemanden mehr zu übersehen und genauso wenig zu überhören: Der Boulevard wird umgebaut. Die Notwendigkeit zu diesem Großprojekt kann wohl niemand bezweifeln. Im Frühling und Herbst ist lustiger Pfützen-Slalom angesagt, auch wenn man dann riskiert, sich von den rettenden Pfeilern zu weit zu entfernen und bei der nächsten Windböe wieder zum Ausgangspunkt zurückgefegt zu werden. Einzig und allein im Sommer kann man dieses immer wieder fragwürdige Konstrukt halbwegs angstfrei betreten ohne den Launen der Jahreszeiten allzu schutzlos ausgeliefert zu sein. Schön macht das den Boulevard, wie wir ihn kennen, aber noch lange nicht. Die Fertigstellung im Jahre 2014 werden die Allermeisten von uns leider nicht mehr miterleben, aber für zukünftige Studierende scheint sich einiges zu ändern. Nein, damit ist nicht der sichere Weg in Mensa, Bibliothek oder Keksdose gemeint, sondern eher eine Annäherung an die bisher photogeshoppte Pseudo-Realität der Bremer Uni-Internetpräsenz. Wer
kennt nicht die tollen Bilder? Aber viel wichtiger: Wer war beim ersten Besuch an der Uni nicht ziemlich schnell wieder zurück in der Offline-Realität? Es wird zwar keinen größeren Hörsaal geben, oder mehr Lehrende, um den wachsenden Studierendenansturm halbwegs auszugleichen. Auch das GW 2 bleibt in seiner vollen Herrlichkeit bestehen. Aber Hauptsache, es entsteht ein neues Motiv für die universitätseigene Internetpräsenz. Freuen wir uns also auf Jahre voller Dreck, Staub und Lärm für eine neue Offline-Realität, die sich der OnlineRealität anpasst. In der Zwischenzeit aber bleibt irgendwie alles beim Alten, nur die Wegführung wird ein wenig kreativer und abwechslungsreicher. So ganz scheint aber auch das noch nicht bei allen angekommen zu sein. Nicht selten verirrt sich der ein oder andere immer wieder auf die Baustelle ohne es wirklich zu merken. Und das sagt mehr über den wahren Zustand des Boulevards aus, als jedes Wort. Text: Benjamin Reetz
41
Ein unrentables Geschäft Der Vergleich mit anderen Ländern zeigt ein auffälliges Desinteresse an Poesie im Land der Dichter und Denker. Dabei ist die deutsche Lyrikszene sehr aktiv. Doch kaum jemand kennt, geschweige denn liest moderne deutsche Gedichte.
D
ie Situation der Poesie hierzulande ist widersprüchlich. Die miesen Verkaufszahlen lassen vermuten, dass Poesie ihre besten Tage hinter sich hat: Von den ungefähr 500 Lyrikbänden, die im Jahre 2011 erschienen sind, haben sich die wenigsten gut verkauft. Die Auflagen liegen meistens zwischen 100 und 1000 Exemplaren, wobei letzteres schon als Erfolg gilt. Dabei war die stilistische Bandbreite „selten so hoch wie heute“, sagt der Dichter und Journalist Gerrit Wustmann. Sein letzter Gedichtband „Beyoglu Blues“, der 2011 im Fixpoetry Verlag erschienen ist, verkaufte sich 700 Mal. Für die Lyrikszene ein Bestseller. Gedichte werden hierzulande fast nur von engagierten Kleinverlagen verlegt. Selbst das namenhafte „Jahrbuch der Lyrik“ wird seit Jahrzehnten von Verlag zu Verlag gereicht, weil es sich nicht rentiert. „Die Beobachtung, dass es diese Texte gibt und keiner sie sich anschaut, ist eine Zuspitzung, aber das trifft schon das Problem“, sagt Professor Thomas Althaus, Literaturprofessor der Universität Bremen. Dabei gilt gerade die Poesie traditionell als Königsdisziplin der Sprache. Schon seit dem späten 18. Jahrhundert führt sie jedoch ein Schattendasein: „Früher war Versdichtung die Dichtung, Prosa war eher ein Problem. In den Buchhandlungen finden sie heutzutage Lyrikbände in einer verstaubten Ecke. Alles andere ist Romanprosa. Darauf hat sich die Wahrnehmung sehr stark eingestellt“, sagt Althaus. Früher waren Studierende der Literatur- und Geisteswissenschaften im Zweifelsfall noch die letzten Lyrikleser. 42
Doch wie viel Poesie gibt es heutzutage noch im Bachelor und Master? Professor Althaus ist gelassen, was die Stellung der Lyrik in den Lehrplänen betrifft. „Man macht schon noch Gedichte zum Thema. Doch unter den Bedingungen eines ganz effektiv angelegten Studiums kann überhaupt nur noch wenig gelesen werden.“ Das Vorlesungsverzeichnis des Bachelorstudiengangs English-Speaking Cultures (ESC) lässt wenig Optimismus aufkommen: Im gesamten sechssemestrigen Studium gibt es keinen Pflichtkurs, bei dem Gedichte umfassend besprochen werden. Im Einführungskurs in Englische Literaturen erwartet man neue Herangehensweisen an Gedicht vergebens, es bleibt bei der formalen Suche nach Alliterationen und Metaphern. Im Multiple-Choice-Test wird man anschließend gebeten, Reime zu klassifizieren. Danach müssen die Bachelorstudenten der ESC nie wieder ein Gedicht sehen. In der Germanistik ist es nicht ganz so schlimm. „Galileis Fernrohr und Guerickes Sperling – frühmoderne Wissenschaft in der postmodernen Lyrik“ heißt das Seminar, das Althaus im Sommersemester 2012 hält: „Moderne Lyrik setzt sich stark mit der Geschichte moderner Wissenschaften auseinander, in der sich die Wissensgebiete von den Wahrheitsfragen, die Leute bedrängen, abgespalten haben.“ Die Lyrik, die er in seinem Seminar behandelt, ist nicht einfach: „Es gibt einen neuen Hang zu so etwas wie kulturkritischer Gelehrtendichtung“. Wustmann sieht darin einen weiteren Grund für die Unpopularität der Lyrik: „Schwierig und komplex“ werde oft mit „intellektuell und
Feuilleton künstlerisch hochwertig“ gleichgesetzt. Damit könne die Masse mache nur Projekte, die mir etwas bedeuten“, sagt Polozkova. der Leser nichts anfangen. Außerdem herrsche im Lyrikbetrieb Die Autorin gilt zwar als Ausnahmeerscheinung, jedoch ist sie viel Gegeneinander: „Viele halten sich für wichtige Künstler nicht die Einzige, die so populär ist: Die vierundzwanzigjährige trotz schlechter Verkaufszahlen. Nennenswerte Kooperationen Poetin Alja Kudrjaschova kommt aus St. Petersburg und führt zwischen Lyrikverlagen, um große Marketingkampagnen auf die unter dem Nickname izubr ebenfalls einen Blog, der von über Beine zu stellen, gibt es nicht. Jeder kocht sein eigenes Süppchen. 13.000 Lesern verfolgt wird. Jedes Gedicht Kudrjaschovas, die So steht sich die Lyrikszene selbst im Weg.“ Die Situation der bereits mehrere Wettbewerbe gewonnen hat, sammelt hunderte Lyrik ist nicht überall so trist wie in Deutschland: „Lyrik hat von Kommentaren. In der außerordentlich aktiven russischen in einigen arabischen und lateinamerikanischen Ländern einen Blogosphäre haben aber auch viele Dichter der älteren Generation sehr hohen Stellenwert; in Dubai werden Wettbewerbe und ihre Chance entdeckt, eine größere Leserschaft zu finden. Lesungen teils zur Primetime im TV ausgestrahlt. Davon kann Auch Madjid Mohit macht sich für Gedichte stark. Der Inhaman hier nur träumen“, seufzt Wustmann. ber des Bremer Sujet Verlags hat vor kurzem die Lyrikanthologie Es wäre jedoch voreilig, den Bachelor an sich für alles „Hier ist Iran!“ mit Gedichten persischer Autoren in deutschverantwortlich zu machen. Denn ein Blick auf die sprachigen Ländern verlegt. Für Mohit ist Lyrik „die schönste Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten im Ausland zeigt, dass Form der Sprache, in der ein paar Zeilen so viel auszudrücken, kaum irgendwo so wenig Literatur gelesen wird wie hierzulande. dass man sich stundenlang damit befassen kann“. Mohit selbst Laura Beck promoviert an der Universität Bremen in Germanistik kommt aus dem Iran, wo er bereits als Verleger gearbeitet hat. und hat ihre Gedichte bereits in diversen Zeitschriften Er kam nach Deutschland, da er wegen staatlicher Zensur nicht veröffentlicht. Während ihres zweijährigen Auslandsstudiums weiter in seiner Heimat arbeiten konnte und lebt seitdem zwiin Frankreich bemerkte die 26-Jährige den Unterschied: „Man schen zwei Kulturen: „Die Situation der Literatur im Iran ist merkt es auch daran, worüber sich Studenten unterhalten. Es nicht vergleichbar mit Deutschland. Ein Gedicht hat eine anwäre sicherlich falsch, zu pauschalisieren, aber mein Gefühl war, dere Funktion in der Gesellschaft als hier. In Europa redet man dass in Frankreich generell mehr Interesse an Kultur besteht.“ über Tatsachen. In Iran liest man ein Gedicht vor, um seine Regina Dyck ist die Festivalleiterin von „Poetry on the Road“. Behauptungen zu stützen, einen Beweis zu geben oder einfach Das internationale Literaturfestival, das dieses Jahr vom 30. Mai zum Schlusspunkt und jeder versteht das sehr gut.“ Teilweise bis zum 4. Juni stattfindet, gehört werden Dichter sogar als Propheten bereits seit zwölf Jahren zur Bremer betrachtet – die Gesellschaft vertraut Kulturlandschaft – und hat sich zu auf ihre Worte. Dass Gedichte sich „In Dubai werden Wettbewerbe und schlechter verkaufen, überrascht den einer weltweit renommierten Marke entwickelt. „Über die Jahre ist das Lesungen teils zur Primetime im TV Verleger nicht: „Gedichte zu lesen ist Festival kontinuierlich gewachsen eine Übungssache. Über Bestseller ausgestrahlt“ und lockt immer mehr Publikum“, braucht man in der Regel nicht viel sagt Dyck. Internationale nachdenken. Auf Lyrik muss man Größen wie Cees Nooteboom, sich konzentrieren.“ Professor AltUlla Hahn und viele andere lesen während des Festivals an haus sieht das genauso: „Gerade bei moderner Lyrik gibt es einen unterschiedlichen Orten, zum Beispiel auch vor Schülern eines Moment des Hermetischen, man muss mit ihnen kämpfen, wähBremer Gymnasiums. „Dass die Poesie in Deutschland eher ein rend die Texte, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt als sehr Nischendasein pflegt, liegt vielleicht auch am Deutschunterricht populär erwiesen haben, diesen Widerstand nicht haben.“ in der Schule“, stimmt Dyck zu, die selbst Germanistik Viele Lyriker und Poesiebegeisterte beschwören oft das baldige auf Lehramt studiert hat. Vermiesen uns die Schulen das Aussterben der Lyrik. „Ich bin anderer Meinung“, sagt Mohit, Interesse an Poesie? Wustmann erinnert sich an die eigene „Ein Gedicht lässt sich nicht nur schnell lesen, sondern man kann Schullaufbahn. Die Lehrer würden ihre Schüler mit unsinnigen lange darüber nachdenken. Ich denke, das ist sogar notwendig Interpretationen nerven: „Sie plappern bloß auswendig gelernte für Menschen in unserer schnellen Zeit. Die Lyrik wird eine Schemata nach, anstatt die Schüler frei lesen zu lassen, ihnen zu Stelle finden.“ Außerdem gebe es neue Formen von Lyrik, zum erklären, dass jeder Gedichte anders verstehen darf, und ihnen Beispiel Slam Poetry, die der jüngeren Generation entsprächen. die Angst vor vermeintlich schwierigen Texten nehmen.“ Die „Kein Lyriker ist so naiv zu glauben, er könne von der Lyrik Festivalleiterin hofft, dass Poesie durch Literaturfestivals noch leben“, sagt Wustmann. „Gottfried Benn hat mal errechnet, dass mehr Wertschätzung und mehr Leser gewinnt. Im Ausland er mit seiner lyrischen Arbeit zu Lebzeiten kaum sechs Mark geschehe dies bereits: „In Kolumbien beispielsweise kamen im verdient hat.“ Aufhören zu schreiben wird er nicht. „Gedichte letzten Jahr 5.000 Besucher zur Eröffnung des Poesiefestivals zu schreiben ist ein innerer Drang, den ich schon als Kind in Medellín, die Gedichte der teilnehmenden Autoren wurden hatte. Lyrik ist die prägnanteste literarische Form, mit ihr kann herumgereicht, teilweise auswendig rezitiert“, erzählt Dyck. man auf minimalstem Raum sehr viel ausdrücken und zugleich Der Blog der Dichterin Vera Polozkova, besser bekannt unter experimentieren, neue Bedeutungsebenen erschließen. Das dem Nickname vero4ka, hat 25.000 Leser, weit mehr als der fasziniert mich als Autor und als Leser.“ Der Kölner Dichter durchschnittliche Gedichtband in Deutschland. Polozkova gilt nimmt die Situation mit Humor: „Selbst wenn zeitweise die als Wunderkind der russischen Lyrikszene, sie schreibt seit sie Leser komplett verschwinden, wie es immer wieder passiert, liest 15 ist und wurde in der Presse viel beachtet. Ihre Lesungen sind die Lyrikszene sich eben gegenseitig“. überfüllt, sie versteht es, mit ihren Gedichten zu unterhalten Text und Foto: Natalia Sadovnik und zu berühren. „Ich muss zugeben, ich bin ein Glückspilz und 43
Feuilleton
“Da kann man nur noch von Antisemitismus sprechen” Der Scheinwerfer im Gespräch mit der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde im Land Bremen, Elvira Noa.
Was gesagt werden muss Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist und in Planspielen geübt wurde, an deren Ende als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind. Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte, weil in dessen Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird. Doch warum untersage ich mir, jenes andere Land beim Namen zu nennen, in dem seit Jahren - wenn auch geheimgehalten ein wachsend nukleares Potential verfügbar aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung zugänglich ist? Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes, dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, empfinde ich als belastende Lüge und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird; das Verdikt „Antisemitismus“ ist geläufig.
Jetzt aber, weil aus meinem Land, das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird, wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert, ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll, dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will, sage ich, was gesagt werden muß. Warum aber schwieg ich bislang? Weil ich meinte, meine Herkunft, die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten. Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden? Weil gesagt werden muß,
was schon morgen zu spät sein könnte; auch weil wir - als Deutsche belastet genug Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre. Und zugegeben: ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien, den Verursacher der erkennbaren Gefahr zum Verzicht auf Gewalt auffordern und gleichfalls darauf bestehen, daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird. Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben und letztlich auch uns zu helfen.
(C) 2012 Günter Grass + Steidl Verlag
44
: Frau Noa, wie haben Sie persönlich die Debatte um Grass‘ Gedicht wahrgenommen, insbesondere die Antisemistismusvorwürfe. Hat Grass nicht hauptsächlich mit der israelischen Außenpolitik abgerechnet? Noa: Wenn es so konkret und differenziert um israelische Außenpolitik gegangen wäre, dann hätte wohl kein Mensch über Antisemitismus geredet. Das Manko an Grass‘ Gedicht liegt vor allem darin, dass er unglaublich pauschalisiert, dass er Stereotypen und Vorurteile bedient, die aus dem Antisemitismus herrühren. Beispielsweise die Behauptung, Israel bedrohe den Weltfrieden. Vielleicht bedroht Israel den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern, Israelis und Iranern oder umgekehrt. Er verdreht die Tatsachen: Wer den Weltfrieden bedroht, wer überhaupt Frieden bedroht, sind doch all die Länder, die Israel von der Landkarte verschwinden lassen möchten. Aber auch unabhängig von Israel besteht doch eine viel größere Bedrohung durch radikalislamischen Terrorismus – obwohl die nach meiner Auffassung auch nichts mit dem Islam zu tun haben. Diese Gruppen verüben weltweit Anschläge, bei denen tausende von Menschen sterben, das sind die Feinde des Weltfriedens. Da kann auch ein deutscher Literat und Nobelpreisträger, in seiner sehr rudimentären Sprache – Gedicht kann ich das nicht nennen – nicht glauben, auf diese Weise den Deutschen ihre Schuldgefühle nehmen zu dürfen, indem er die Opfer des Holocaust jetzt zu Tätern, ja sogar zu Mördern macht. Da kann man nur noch von Antisemitismus sprechen! : Aber hat unsere zweifellose Verantwortung für den Staat Israel und dessen Existenz etwas mit Schweigen zu tun? Können wir mit Blick auf unsere Geschichte die Problematik nicht differenziert genug betrachten? Noa: Ja, ich denke das geht in die richtige Richtung. Leider wird es hier nicht differenziert genug gesehen. Wenn man über diese Themen spricht, scheint immer die Angst mitzuschwingen, etwas falsch zu machen. Diese Angst kann ich niemandem nehmen. Das ist eine Folge der Geschichte. Genauso wie Sie heute in der Verantwortung des Geschehenen stehen, haben wir das Leid unserer vorangegangenen Generationen miterlebt. Wenn Sie sehen, von welchen gebrochenen und körperlich kranken Menschen der Staat Israel aufgebaut wurde, laufen Ihnen kalte Schauer über den Rücken. Davon können die nachfolgenden Generationen nicht frei sein, auch wenn das leider oftmals zu Überreaktionen führt, wenn man sich bedroht fühlt. Ähnlich ist es bei euch, die nachfolgenden Generationen der Täter haben ebenfalls Ängste entwickelt und da muss man vorsichtig sein. Aber – ein dickes Aber! - wir leben im 21. Jahrhundert, Israel ist eine Demokratie und hat eine Politik, die man auch kritisieren darf und muss. : Sie nehmen das Gedicht also so wahr, dass er die iranischen Gräueltaten damit rechtfertigt? Noa: Ja, er sagt doch, das Ahmadinedschad ein „Großschwätzer“ ist, wo nichts dahinter steht und das arme iranische Volk jetzt bald in Israel ausgelöscht wird. Das ist doch wahnsinnig! Wenn Israel angreift, dann nur, um das Atomprogramm zu stoppen und nicht, um das iranische Volk auszulöschen. Israel will ebenso wenig das palästinensische Volk auslöschen und das behauptet Grass. Das ist Antisemitismus, wie er leibt und lebt. Den Juden werden hier Dinge vorgeworfen, die man nicht will! Natürlich gibt es Diskriminierungen und auch katastrophale Fehltritte israelischer Soldaten im Gazastreifen, aber das wird auch – genau wie beispielsweise Fehltritte von US-Truppen im Irak oder in Afghanistan – verurteilt. Aber auch die Art und Weise, wie so etwas verurteilt wird diskutiert man in Israel sehr stark... : ...auch das Grass- Gedicht?
Noa: Natürlich wird auch dieses Gedicht heftig diskutiert. Günter Grass hat vollkommen daneben gelegen! Er hat keinesfalls das Recht, Israel auf diese pauschale Weise zu Verdammen und zu Verurteilen, sodass alle jetzt sagen: „Wir haben Recht!“, die Israel sowieso schon immer in eine Ecke gestellt haben. Wenn man sich mit der Entwicklung von Antisemitismus auskennt, passt auch das leider in eine Reihe. Es gab Jahrhunderte lang durch die Kirchen vorgepredigte Vorurteile, die Juden seien an der Pest schuld, die Juden haben christliche Kinder ermordet, um ihre Matzen zu backen, die jüdische Weltverschwörung der Nazis und jetzt die Juden als Gefahr für den Weltfrieden. Was soll man da noch sagen? Und das aus dem Mund eines deutschen Literaturnobelpreisträgers! Alles andere was wir diskutiert haben, kann und muss diskutiert werden, aber so ein sogenanntes Gedicht zu veröffentlichen, nein! : Frau Noa, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Text: Benjamin Reetz Foto: Phillip Johannßen
Kommentar: Die zwei Seiten der Medaille Das Grass- Gedicht sorgte vor Wochen für einen wahren medialen Aufschrei. Von Antisemitismus bis zum Vorwurf, der Literaturnobelpreisträger hinge immer noch der Ideologie des Nationalsozialismus an, war einfach alles zu lesen. Jeder, der glaubte etwas zum Thema beitragen zu müssen, konnte sich frei von der Leber weg in offenbar allen deutschen Medien äußern. Das Bild des Ganzen fiel leider weniger differenziert aus, als man es sich wünschen konnte. Ja, die Sprachwahl Günter Grass‘ und seine in Teilen zweifelhafte Stammtischdialektik à la „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“ können nicht kritiklos im politischen Raum stehen gelassen werden. Der Öffentlichkeit jedoch zu suggerieren, alles und jeder, der nur einen Anflug von Kritik am Staate Israel äußert, sei gleich ein Antisemit, dürfte es in einer freiheitlichen Gesellschaft auch nicht. In diesem seltenen Falle aber schienen mediale und politische Funktionsträger – sonst so streitbar und entzweit – einmütig im Kampf um den Status Quo des „Bloß-nichts-gegen-Israel-Sagens“. Doch die damit suggerierte Einigkeit im Kampf gegen angebliche Grass‘sche Verschmähungen finden in der Realität wenig Anklang. Kaum jemand versteht es, wenn man für Kritik an israelischen Kriegsplänen gleich als Sympathisant des iranischen Terrorregimes eingestuft wird. Und noch viel weniger ist es verständlich, warum unsere zweifellose Verantwortung für den Staat Israel mit dem Verschweigen von offensichtlichen Fehlern und Waffenlieferungen gleichgesetzt wird. Eine Debatte, wie wir sie um das Grass- Gedicht erlebten, macht erneut einmal deutlich, wie groß noch die Angst davor ist, mit dem NSRegime gleichgesetzt zu werden und wie wenig wir selbst gelernt zu haben scheinen. In jedem anderen Falle legt die Weltöffentlichkeit bei Verstößen gegen die Menschenrechte den Finger auf die Wunde, um bloß nicht glauben zu machen, man könnte dies tun ohne internationale Isolation zu fürchten. In den meisten anderen Fällen ist man sich einig, dass durch Waffengewalt kein Frieden hervorgebracht werden kann. Doch wenn es um Israel geht, gilt all das nicht. Es gehört viel Mut dazu, in einer derart verängstigten Gesellschaft ohne jegliche Debattenkultur einmal den Mund aufzumachen und sich dem Dogma des Verschweigens unangenehmer Tatsachen zu widersetzen. Israel ist eine Besatzungsmacht, die durch ihre eigene Politik – allem voran den ungehinderten Siedlungsbau in palästinensischen Gebieten – den Hass der eigenen Nachbarländer schürt. Israel lebt in einer ständigen Existenzangst, die zu großen Teilen selbst gemacht ist. Wenn nun mit einem Erstschlag gegen den Iran – oder, um im Duktus israelischer Offizieller zu bleiben, gegen iranische Atomanlagen – kokettiert wird, dann ist dies eine Heraufbeschwörung eines neuen Krieges mit unabsehbaren Folgen. Atomwaffen in den Händen der iranischen Mullahs will niemand, aber Atomwaffen in den Händen der momentan in Israel regierenden Nationalisten sind nicht weniger gefährlich. Ein Staat, der diese schlimmste aller menschengemachten Technologien illegal besitzt und zudem gleich neben Nordkorea den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, versucht mit allen Mitteln, den Iran vom ebenso illegalen Besitz der Atombombe abzuhalten - und wir dürfen schweigen. Text: Benjamin Reetz
45
Feuilleton
Fernweh Berlin „Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?“, fragte schon vor einigen hundert Jahren Johann Wolfgang von Goethe. In diesem Fall ist das Gute - und zwar Berlin - 395 Kilometer von Bremen entfernt.
B
erlin ist von einer starken Kiez-Kultur geprägt und jeder Stadtteil weist seine speziellen Eigenarten auf. Als einer der interessantesten Stadtteile Berlins ist wohl Kreuzberg zu nennen. Dieses Viertel bietet unheimlich viel: Bummeln auf dem Markt am Landwehrkanal, Pizza im Prisma Pavillon, Minigolf im Görlitzer Park und vegan/ vegetarisches Fastfood bei Yellow Sunshine. Es reicht aber auch schon aus, sich in ein gemütliches Straßencafé zu setzen und die vorbeigehenden Passanten zu beobachten: Stil- und Sprachvielfalt sind allgegenwärtig. Im Straßenbild zeigt sich weiterhin eine hohe Affinität zur Kunst, Musik, Literatur und Politik. Das Foto von dem Bücherturm ist ebenfalls in Kreuzberg aufgenommen. Bei Regen lohnt sich das Kreuzbergmuseum (kein Eintritt), welches unter anderem die Geschichte des Häuserkampfes im Kiez anschaulich darstellt. Inzwischen gehört Kreuzberg zu den Szenevierteln Berlins und ist deshalb stark von Gentrifizierung betroffen. Weitere Informationen zu Kreuzberg findet man auf der Seite www.kreuzberg24.net. Gleich nebenan liegt Neukölln. Leider zu Unrecht medial in Verruf geraten, weist auch dieser Stadtteil eine Vielzahl von Ausgehmöglichkeiten, Restaurants und Ve r a n s t a l t u n g s ze n t re n auf. Für diejenigen, die dem Trubel der Millionenstadt mal 46
entfliehen möchten, lohnt sich ein Spaziergang über das riesige Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Dort kann man sich den Wind um die Nase wehen lassen und die Eindrücke des Tages verarbeiten. Weiterhin zeigt sich deutlich, was Menschen – wenn man ihnen die Möglichkeit lässt – mit ein wenig Kreativität aus einem Brachland machen können. Es gibt kleine Gärten und Äcker, verschiedenste Sportmöglichkeiten und vieles mehr. Besonders sehenswert in Neukölln ist die heutige Ortslage Rixdorf rund um den Richardplatz. Aus einer kleinen im Jahre 1737 gegründeten Gemeinde protestantischer Flüchtlinge aus Böhmen entstand der heutige Ortsteil Neukölln im Bezirk Neukölln. Interessant sind der Friedhof (Böhmischer Gottesacker, 1751), die Rixdorfer Schmiede, die zuerst 1624 erwähnt wurde, und die Bethlehemskirche auf dem Richardplatz aus dem Jahr 1481. Beim Schlendern durch die Kirchgasse fühlte ich mich, aufgrund der kleinen alten Häuser und des
Feuilleton
abgetretenen Kopfsteinpflasters, in längst vergangene Zeiten zurückversetzt. Aber nicht nur dort, im unterschätzten Neukölln, sondern in ganz Berlin ist die historische Bedeutung dieser Stadt zu spüren. Aus diesem Grund ist für mich bei jedem Berlin-Besuch eine Aktivität absolute Pflicht: Ein Spaziergang vom Alexanderplatz zur Siegessäule. Für Lauffaule lohnt sich die Buslinie 100, die viel preiswerter ist als ein Sightseeing-Bus für Touristen, und ebenfalls die wichtigsten Stationen abfährt. Aber dann verpasst man natürlich das Großstadt-Flaneur-Gefühl. Auf dem Alexanderplatz fällt der Blick als Erstes auf den riesigen Fernsehturm. Wenn man mit dem Fahrstuhl hinauffährt, hat man zwar einen wunderschönen Blick über Berlin, ist jedoch auch um elf Euro ärmer. Das Geld kann man besser investieren. Weiter geht’s Richtung Westen. Links kann man das Rote Rathaus sehen, das zwischen 1861 und 1869 erbaut wurde. Es folgt auf der rechten Seite der Berliner Dom, der in Anlehnung an die italienische Hochrenaissance und den Barock errichtet wurde, und dahinter die Museumsinsel. Dort befinden sich einige der bedeutendsten Berliner Museen (unter anderem Bode- und Pergamonmuseum). Gleich nebenan ist das Deutsche Historische Museum im alten Zeughaus. All diese Museen bieten einen ermäßigten Eintrittspreis für Studierende an (4 Euro bis 6,50 Euro). Auf der linken Seite kann man sich den Platz ansehen, auf dem einmal der Palast der Republik stand und zukünftig das Stadtschloss teilweise wieder aufgebaut werden soll. Der Weg führt weiter an dem Palais am Festungsgraben, der Reiterstatur Friedrichs des Großen und dem Hauptgebäude der HumboldtUniversität vorbei. Dort findet sehr häufig ein Bücherflohmarkt statt, bei dem man das eine oder andere Schnäppchen abstauben kann.
Kulturzentrum sowie Produktionsstätte für verschiedenste Bereiche der kreativen Arbeit. Dazu zählen Theater, Opernund Konzerthäuser. Durch den Studierendenrabatt ist ein Besuch in einer dieser Einrichtungen erschwinglich und lohnt sich unbedingt. (Zum Beispiel: Deutsches Theater neun Euro, Deutsche Oper 25 Prozent, Berliner Philharmoniker acht Euro im Kammermusiksaal.) Wer jetzt stur geradeaus läuft kommt direkt zum Pariser Platz und dem Brandenburger Tor. Es wurde in den Jahren von 1788 bis 1791 auf Anweisung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. errichtet und ist die bekannteste Sehenswürdigkeit der Stadt. Der Bau ist dem frühklassizistischen Stil zuzuordnen. Jetzt Endspurt: Das Brandenburger Tor passieren, einen kurzen Blick auf den Reichstag erhaschen und dann durch den Tiergarten zur Siegessäule. Diese wurde von 1864 bis 1873 nach einem Entwurf von Heinrich Strack erbaut. Auch diese Berliner Sehenswürdigkeit kann bestiegen werden, kostet im Gegensatz zum Fernsehturm nur lächerliche 2,50 Euro und ermöglicht wegen der geringeren Höhe auch den nicht ganz Schwindelfreien einen Blick über Berlin. Natürlich hat Berlin nicht nur positive Seiten. In keiner anderen deutschen Großstadt wird die Schere zwischen arm und reich so deutlich wie in Berlin. Zum ersten Mal wurde ich dort von einem Kind um Geld gebeten und zum ersten Mal sah ich in der U-Bahn eine Person Koks nehmen, mitten am Tag, und keinen hat es wirklich interessiert. Diese Eindrücke stehen im starken Kontrast zu den durchgestylten Leuten in Mitte oder Prenzlauer Berg. Ich kann nur empfehlen, sich einen eigenen Eindruck von der Ambivalenz der Stadt zu machen.
Text und Fotos: Anna Tappe
Auf der linken Seite folgt das Gebäude der Komischen Oper Berlin. Berlin fungiert innerhalb Deutschlands als Kunstund 47
Feuilleton
Das Symptom ACTA Es verspricht geistiges Eigentum international zu schützen und die Märkte vor gefälschten Produkten zu bewahren, doch es wird befürchtet, dass es Zensur und Überwachung bedeutet: ACTA! Wofür steht dieses Abkommen und was ist das eigentliche Problem hinter den Protesten?
D
ie moderne Welt funktioniert mit und durch das Internet: Social Media, wie Facebook und Twitter, bestimmen unseren Alltag, organisieren unsere Geburtstagspartys und halten uns im Sekundentakt über alles auf dem Laufenden, was wir wissen sollten. Vor einem Jahr beeinflusste das Internet maßgeblich die Aufstände gegen die autoritären Regime in der arabischen Welt. Die Musik, die wir hören, haben wir eventuell von einem Freund kopiert, der sie von seinem Cousin bekommen hat und Serien und Filme können wir als Stream im Internet anschauen. Und nun soll also ein Abkommen in Kraft treten, das uns irgendwie im Internet beschränken soll und auch noch im Geheimen ausgehandelt wurde, ohne dass die Öffentlichkeit davon informiert worden wäre. ACTA (Anti Counterfeiting Trade Agreement), oder zu deutsch: andelsübereinkommen zur Bekämpfung von Produkt- und Markenpiraterie, ist ein Abkommen zwischen der EU, den USA, Japan, Kanada, Südkorea, Mexiko, Australien, Marokko und noch ein paar anderen Ländern. Neben der Verfolgung von nachgeahmten Markenprodukten und mit welchen Massnahmen im Falle von Produktpiraterie ACTA-Recht durchgesetzt werden soll, beschäftigt sich ein großer Teil des Abkommens mit der Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums im digitalen Umfeld, also zum Beispiel illegalem Downloaden von Musik, 48
Filmen oder Raubkopien und wie man diese in internationaler Zusammenarbeit eindämmen kann. Die EU-Kommission wirbt für das Abkommen mit protektionistischen Argumenten: Gefälschte Produkte überfluten den Markt und gefährden somit die europäische Wirtschaft, die jährlich angeblich Schäden in Milliardenhöhe verzeichnet. Nach Angaben der Kommission haben sich Piraterieprodukte im Zeitraum von 2005 bis 2010 verdreifacht. So betrachtet wäre eine Verschärfung der Urheberrechte (auch im Internet) und eine weltweite Angleichung der Gesetze diesbezüglich im Sinne der EU-Gemeinschaft. Trotz alledem ist ACTA höchst umstritten und wird weltweit kritisiert. Seitdem eine nicht autorisierte Version des Vertrages im März 2010 ins Internet gestellt wurde, beäugt die Netzgemeinde argwöhnisch die ACTA-Verhandlungen, die zunächst hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem undemokratischen Verfahren stattfanden. So gab es bereits im Jahr 2006 Treffen zwischen den USA und Japan, bei denen das Konzept „ACTA“ entworfen wurde. Außerdem wird vermutet, dass an den Verhandlungen auch Vertreter der amerikanischen Unterhaltungsindustrie teilgenommen haben und somit Einfluss auf das Regelwerk nehmen konnten. Die größte Befürchtung, die von ACTA-Gegnern geäussert wurde, ist die Berechtigung der Provider auf Grundlage des Abkommens Netzinhalte zu löschen und Seiten sperren zu können, ergo zu zensieren. Darüber hinaus rief Amnesty International die Regierungen dazu auf, ACTA nicht zu unterschreiben, da es die Menschenrechte verletzen könnte, wie das Recht auf Achtung des Privatlebens und auf Informations- und Meinungsfreiheit. Die Partei Die Linke befürchtet, dass durch das Abkommen generische Medikamente (Kopien von Markenmedikamenten) und Saatgut an Ländergrenzen konfisziert werden könnten, da die Verträge die teilnehmenden Länder dazu berechtigten, verdächtige Waren zu beschlagnahmen und zu zerstören. Entwicklungsländern, die auf diese Medikamente angewiesen sind, würde dadurch der Zugang zu solchen Medikamenten verwehrt. Auch die Sorge, dass ACTA Privatpersonen anstelle von Gerichten dazu berechtigen könnte, die Bestimmungen durchzusetzen, wurde geäußert. Dies gleicht einer Horrordarstellung, da dadurch zum Beispiel Internetanbieter, bei einem Missbrauchsverdacht von Seiten ihrer Nutzer, dazu berechtigt wären ohne gerichtliche Grundlage Seiten oder Nutzer zu sperren. Der Widerstand gegenüber ACTA ist enorm. In etlichen Städten Europas fanden am 11. Februar Demonstrationen gegen das umstrittene Abkommen statt. In Sofia, Warschau, Prag, Bukarest, Paris, Brüssel, Dublin sowie in mehreren Städten Deutschlands protestierten Gegner und Kritiker gegen die Verträge. Auch in Bremen versammelten sich (bei Minusgraden) nach Angaben des Weser Kuriers rund 2500 Menschen in der Innenstadt,
um mit “Stop ACTA!”, “Netzzensur im ganzen Land – unsere Antwort Widerstand!” oder “Schlachtet den Datenkraken!” ihre Abneigung zu ACTA zu demonstrieren. Es sind vor allem junge Leute, die an den Aktionen teilgenommen haben, also die Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist und von einem limitierten Internet am stärksten betroffen wäre. Aber was würde ACTA wirklich verändern, wenn es ratifiziert und umgesetzt würde? Wenn man sich den Vertragstext anschaut, steht dort nichts von Netzsperren oder ähnlichem. Viele Regelungen, die in ACTA genannt werden, sind durch das deutsche Recht schon abgedeckt. Das Urheberrecht zu verletzen, indem man illegal Musik oder Filme herunterlädt, ist strafbar. Viele Befürchtungen über das Ausmaß, das ACTA annehmen könnte, finden keine Stütze im Vertragstext. Dass Internetprovider z.B. dazu verpflichtet würden Inhalte im Netz zu kontrollieren oder dass im Falle einer Grenzüberschreitung (die Befürchtnug liegt vor allem auf generischen Medikamenten) verdächtige Waren beschlagnahmt werden können, sind im deutschen Recht schon verankert. Dennoch gibt es gute Gründe, sich gegen ACTA auszusprechen. So bezeichnet Thomas Stadler, Fachanwalt für IT- Recht und Gewerblichen Rechtsschutz, auf seiner Homepage das Abkommen als eine Entscheidung „die einseitig die Rechteinhaber begünstig und wenig Rücksicht auf das Gemeinwohl nimmt.” ACTA ebnet somit den Weg in eine falsche Richtung bezüglich des Urheberrechtes. In großem Maße werden die Interessen der Vermittler von kreativen Werken, z.B. Buchverlagen gestärkt, die von den Geschäften mit künstlerischen Produkten im Verhältnis zu den Urhebern sehr viel Profit schlagen. Die Leistungen der eigentlich Kreativen (zum Beispiel Autoren und Musikern) wird nicht angemessen honoriert, wie der Rechtswissenschaftler KarlNikolaus Peifer betont. Wie es scheint geht es bei den Demonstrationen und Diskussionen um viel mehr als nur um dieses Abkommen. Es ist einerseits die
Wut der Bürger darüber, dass ihnen Gesetze vorgelegt werden, die nicht in einem demokratischen Verfahren entstanden sind. Es ist die Ungerechtigkeit über die Gegebenheiten der heutigen Welt, die von den Interessen der mächtigen Konzerne gelenkt wird, die auch in der Occupy-Bewegung ihren Ausdruck findet. Und es geht um das heutige Urheberrecht, das längst nicht mehr zeitgemäß ist und seit Beginn des Internetzeitalters in einer Legitimationskrise steckt. Mehrere Faktoren kommen zusammen, die einen öffentlichen Diskurs benötigen, der von allen mitgetragen wird. Das europaweite Ausmaß der Protestaktionen ist beeindruckend und bestätigt die Unerlässlichkeit bürgerlicher Teilnahme am demokratischen Prozess. Anfang diesen Jahres unterzeichnete die EU und 22 ihrer Mitgliedsstaaten den Vertragstext, Deutschland unter anderem setzte zunächst bei der Unterzeichnung aus, beziehungsweise verschob diese auf einen späteren Zeitpunkt. Die EU-Kommission hatte die Idee, ACTA an den Europäischen Gerichtshof weiterzureichen, diese Entscheidung wurde jedoch abgelehnt. ACTAGegner begrüßen dies, denn andernfalls hätte sich die Abstimmung zu ACTA im EU-Parlament um Monate verschoben. Solange, bis ACTA in öffentliche Vergessenheit geraten und still und leise in Kraft treten könnte. So jedoch werden die Parlamentarier im Juni diesen Jahres über das Anti-Counterfeiting-TradeAgreement abstimmen und angesichts der vielen Proteste scheinen die Chancen gut für diejenigen zu stehen, die hoffen, dass ACTA demokratisch abgelehnt wird.
Text: Sophie Czilwik Fotos: Sophie Czilwik
4
Feuilleton
m u r t n als Ze d oren un l r e v r u o en Rush- H e. In den groß r u z e aun tröm nschens ten Tag gute L n sie meine e M r s e itten d rung a graues um eine e a m n r m n n i T a i r r r t i s e E b d , die ich m icht ir sel icht o käme hr beschert m ie Verbindung einer Wahl, n in Wahrheit n s , s o l n d, d rt m ich dt to mO eine Sta Lied in meine der völlig frem en an einem O Menschen, die fühls. h c i e t e o t-Ge s Leb r die etracht r. Das richtige hen, bekannt zenlose oder fü ation des Stad n h e r c o c i s g v n m n e i m dM , me rpret h für einsa Zeit sin nd Inte Realität Welt? Lebe ic r u e e s n g i e i n e d u m einer nehm Städten hte. Doch ist anken s ätze der Wahr r h c i c h S c e s i s Ge ,d Drei An anderen kenne?
Die B
Die Macht der Entscheidungen Nemo n einer fernen Zukunft ist der 118 Jahre alte Welt, nachdem Nobody der letzte sterbliche Mensch auf der chkeit zu die Menschheit es geschafft hat, die Unsterbli hologen befragt, erlangen. Von einem Reporter und einem Psyc weiß nicht, wie soll er sich an sein Leben zurückerinnern. Er ein steril weißes er an den Ort, an dem er sich gerade befindet– das oft bei älteren Krankenzimmer – gekommen ist, doch wie nerungen noch Menschen ist, sind länger zurück liegende Erin nkt Mr. Nobody in präsent. Zwischen Träumen und Wachen versi dlungssträngen folgt seinen Gedanken, wobei er verschiedenen Han n, als der neunjährige – Ausgangspunkt ist die Trennung seiner Elter n soll: Will er bei seiner Nemo eine unmögliche Entscheidung treffe en sich zunächst zwei Mutter oder seinem Vater leben? Daraus ergeb eiten aufgabeln. Doch Möglichkeiten, die sich in weitere Möglichk ist wirkliche Erinnerung welcher Handlungsstrang ist der reale? Was ger die einer einzigen wahren und was ist Traum? Die Erzählung ist weni te von allem, was möglich Lebensgeschichte, als vielmehr die Geschich mit der depressiven Elise gewesen wäre: Ehe mit der reichen Jeanne oder a. Wir tauchen mit Nemo oder Wiedersehen mit seiner Jugendliebe Ann was zunächst verwirrend in seine widersprüchlichen Erinnerungen ein, es im Verlauf des Films immer weniger ist. Lässt man sich jedoch darauf ein, wird ert ist. Klar wird: Abhängig von seinen wichtig, welche der Geschichten wirklich passi verschiedene Leben geführt haben, Entscheidungen könnte Nemo unendlich viele Darüber hinaus verdeutlicht der Film, doch womöglich hat er sich nie entschieden? ndteil unserer Persönlichkeit sind – ohne dass unsere Erinnerungen ein wichtiger Besta and. eine klare Geschichte sind wir am Ende niem Jared Leto, Diane Kruger. Auf DVD mit ael; Dorm Van Jaco R: 9); Mr. Nobody (200 erhältlich (Director’s Cut + Kinofassung).
I
Text: Christina Freihorst
50
Feuilleton
s n e b e l r E s de Musik in der u rb
anen Lebenswe
lt
„New York, New York“ von Fran k Sinatra, „Lon aber „Dickes B don Calling“ vo “ von Seeed: N ach dem klassi n The Clash od wohl eines der sc er he n Liebeslied ist beliebtesten So ngthemen der die Ode an eine nach der Heim M Stadt us at, Fernweh na ikgeschichte. E ch der Traumst gal ob aus Sehn eigenen Wohno ad su t cht od rt, Städte inspir er einfach als L ieren, und das iebeserklärung dazugehörig un sc an ho n immer den d gleichzeitig so alleine, nirgendw . Nirgendwo fühlt man sich und dennoch so so o hat man so vi viele Beschränk ele Möglichkei ungen wie in ei man an nur eine ten ner Großstadt m Tag in ganz und nirgendwo unterschiedliche je nachdem in kann musikalische W welchem Viert elten eintauchen el man sich au für die Aufnahm fh , äl t. D avid Bowie zog en seiner Berlin -Triologie gleich in den 70ern Hauptstadt un fü d auch die brit r mehrere Jahr ische Band Th e in die deutsc allzu langer Zei e Ting Tings fo he t seinem Beisp lgte vor gar nich iel. In Berlin na namens „Kunst t hm en sie zunächst “ auf, dass dann ein Album aber wieder ko aktuelle Album mplett verworfe produzierten Th n wurde. Das e T Südspanien un ing Tings schlie d betitelten es ßlich in einem pa kleinen Ort in ss enderweise „Sou Stadt als Gefän nds from Now gnis der Kreativ heresville“. Die ität, auch das is t also möglich. Text: Kira Kett
ner
Laufen und sehen
W
o ist die Stadt nur zuende? Ihr Rand ist endlos, endloses Ausfransen; also bleibt August nichts anderes übrig, als immer weiterzugehen. Er verpasst ja nichts mehr, er ist ja immer wach, aber auch immer müde, benommen, nie richtig wach, immer wach, aber falsch, immer falsch wach. August Kreuzer, der Protagonist in Albrecht Selges Debütroman ’Wach’, wird von andauernder Schlaflosigkeit durch Berlin getrieben. Und er sieht und beschreibt alles: Eckkneipen, Friedhöfe, Einkaufscenter und fremde Passanten. Der Roman weist kaum Interaktionen zwischen August und seinen Mitmenschen auf und erzählt weniger eine zusammenhängende Geschichte als vielmehr eine Aneinanderreihung von detaillierten Beobachtungen, von Reflexionen über diese, von endlosen Straßenzügen, Hausfassaden und Kilometern. Der Autor reaktiviert die Figur des Flaneurs und Herumschweifers. Der originellen Erzählform sind zwar gewisse Textlängen geschuldet, die aber durch die oft lyrisch und philosophisch anmutenden Gedankenstränge wieder ausgeglichen werden. Das perfekte Buch für Freunde von Berlin und ausgiebigen Spaziergängen durch diese ambivalente und vielschichtige Stadt. Albrecht Selge: „Wach“. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2011. 256 S., geb., 19,95 Euro. Text: Anna Tappe Fotos: Katrin Pleus
51
Impressum
Sprechzeiten Für alle Interessenten, Kritiker und Mitwirkende wird ab sofort jeden Montag zwischen 12 und 14 Uhr ein Redakteur des Scheinwerfer als Ansprechpartner im Redaktionsraum (Sportturm, C3180) vor Ort sein..
Redaktion:
Scheinwerfer - Bremens freies Unimagazin c/o Allgemeiner Studierendenausschuss der Universität Bremen Bibliothekstraße 3/StH D-28359 Bremen scheinwerfer@uni-bremen.de
Chefredaktion:
Anne Glodschei (V.i.S.d.P.; 01573/7614628), Lukas Niggel (V.i.S.d.P.; 01573/7616384)
Ressortleitung:
Fabian Nitschmann (Hochschulpolitik), Natalie Vogt (Campusleben), Benjamin Reetz (Bremen), Jessica Heidhoff (Feuilleton)
Layout:
Valerie Schröder (Ressortleitung), Kai Ole Laun, Jan-Philipp Goslar, Björn Knutzen, Christian Guttendörfer
Grafik:
Katrin Pleus (Ressortleitung), Philipp Johannßen, Wienke Menges, Hanna Düspohl, Fatima Yoldas, Johannes Lang
Mitwirkende Redakteure:
Björn Knutzen, Kira Kettner, Natalia Sadovnik, Jan-Hagen Rath, Anna Tappe, Christina Freihorst, Nadine Döring, Elisabeth Schmidt, Helge Wohltmann, Marie Bornickel, Neele Meyer, Alice Echtermann, Jacqueline Niemeyer, Sofie Czilwik
Lektorat:
Tabea Herrera
Druck: Druckerei Peter von Kölln, Scipiostraße 5a, 28279 Bremen Auflage: 3000 Für den Inhalt der einzelnen Artikel sind die Autoren verantwortlich. Die in Artikeln oder Kommentaren zum Ausdruck kommende Meinung spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider. Alle Angaben ohne Gewähr. Herausgeber dieser Zeitung ist die Studierendenschaft der Universität Bremen. Der Scheinwerfer finanziert sich durch die allgemeinen Studierendenbeiträge.