Deutsche Wechselbäder

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Vaterländische Achterbahnfahrt

Bodo Liermann

Deutsche Wechselbäder

Schibri-Verlag • Berlin • Milow • Strasburg

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Bodo Liermann – Deutsche Wechselbäder

© 2011 by Schibri-Verlag Dorfstraße 60 17337 Uckerland OT Milow Tel.: 03 97 53-227 57 Mail: info@schibri.de www.schibri.de Covergestaltung: Arite Nowak Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-86863-060-2


Zum Gedenken und zur Erinnerung an alle, die ihre Jugend und ihre Gesundheit im letzten großen Krieg durch die Schuld einer verantwortungslosen Führungsclique auf dem Altar des Vaterlandes opferten und die als Überlebende später noch einmal einer neuen Diktatur auf den Leim gingen, um ihre Schuld zu sühnen und eine vermeintlich bessere Welt aufzubauen.


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Zur Einleitung/Vorrede oder Der Wind der Veränderung Erinnern tut gut, auch wenn es manchmal schmerzhaft ist. Neudeutsche Betrachtungsweisen nach der Wende haben bei manchen den sonst so geraden, freien und offenen Blick trübe und schräg werden lassen. Die Hinzugekommenen lassen grüßen. Sie haben jetzt viel mit sich selbst zu tun. Es ist über uns Deutsche gekommen, wie wir es so schnell nicht vermuteten. Jetzt staunt eine Seite über die andere. Und jede macht ihre Entdeckungen. Besonders die Neudeutschen. Dass beide bis zum Ende des letzten großen Krieges eine gemeinsame Geschichte hatten, geriet über das alltägliche Geschehen in den Hintergrund, ja, fast in Vergessenheit. Wenn auch schon vorher die nationale Gemeinsamkeit seit ihrem Beginn 1871 stets etwas Fragiles an sich hatte. Siehe die unterschiedlichen landsmannschaftlichen Bestrebungen. Dass dann nach dem letzten großen Krieg den einen Freiheit und Wohlstand beschieden war und den andern die Rolle der armen Vettern, verstärkte noch einmal den Eindruck des Auseinanderbrechens der nationalen Einheit Doch das Gefühl der Zusammengehörigkeit war größer. Jetzt ist noch einmal die Zeit, auf der Jagd nach vorn in die Zukunft einen Moment inne zu halten. Wer sich erinnert, versinkt nicht so schnell in den weichen Untergrund des Vergessens, in das Meer der Oberflächlichkeiten, in den Sumpf der Beliebigkeiten. Erinnerungen, wie beide Seiten miteinander umgingen, melden sich wieder. Einmal tödlich ernsthafte, als beide Seiten Kernwaffen aufeinander richteten. Ein anderes Mal spöttische oder ironische, als zum Beispiel nach der Wende Westdeutsche allen Ernstes forderten, den Ort Lehnin im Land Brandenburg umzubenennen, da der Name des sowjetischen Politikers aus der deutschen Geografie und Geschichte getilgt werden müsste. Sie wussten nicht, dass der Ortsname schon vor dem Politiker Lenin bestanden hatte und nicht das Geringste mit ihm zu tun hatte. Oder wenn der Moderator aus Gewohnheit


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Tübingen sagt und eigentlich Thüringen meint. Wir lassen das alles Revue passieren. Manche wollen es heute immer noch nicht wahrhaben, was uns da widerfahren ist. Obwohl sie selbst daran mitgewirkt haben. Doch wie schnell wird das Leichentuch des Vergessens über das Vergangene gezogen. Die Cäsur des Jahrhunderts hat stählern anmutende Monolithe zu Fall gebracht. Hat festgezimmerte Gedankengebäude aufgelöst und zu Spinnenweben werden lassen, die der Wind der Veränderung weg geblasen hat. Einmal erinnern, ernsthaft, dann wieder spöttisch oder gar ironisch. Wie oft ging es uns so: Heute noch auf stolzen Rossen, morgen durch die Brust geschossen! Unsere großen Ideale. Und oft genug ging alles auseinander wie eine Schere, die Idee, unsere Vorstellungen davon und die Praxis. Eine Rückbetrachtung zur Selbstfindung ist ein Konglomerat, eine Gemengelage, wo nur mit viel Mühe langsam Konturen sichtbar werden. Es ist nichts anderes als eine erneute Wiederaufarbeitung ihres bisher zurück gelegten Weges. Was ist falsch gewesen, was richtig? Sie vergleichen und gelangen zu neuen Einsichten. So kommt es wie im wirklichen Leben vor, dass sich dieses mit jenem überschneidet. Da liegen fast dieselben Dinge oft nebeneinander. Nur mit dem Unterschied, sie stehen in einem anderen Zusammenhang.


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Vaterländische Achterbahnfahrt Was mich mein Vaterland lehrte oder Der Lebensgang eines Chamäleons Was mich mein Vaterland lehrte, philosophiere ich heute manchmal. Die Schauspielkunst vor allem, denke ich, die Verwandlungskünste auf der vaterländischen Drehbühne. Als Heranwachsender agierte ich als Schwankender und Vagabund zwischen den Fronten, zwischen Rot und Braun damals in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Sympathisant war ich auf beiden Seiten. Ich spielte meine Rolle gut. Aus meinem Mund gurgelten flammende Sprüche. Mal rief ich emphatisch Rot Front, mal Sieg Heil. Bald war ich in jeder Rolle wie zu Hause. Da ich als Mime, denn nichts anderes war ich zusammen mit den anderen, mich nach Glanz und Selbstdarstellung sehnte und eigentlich, wie ich damals meinte, auch ein bisschen deutsch bleiben wollte, zog ich das Braunhemd an. Erneut agierte ich sehr gefühlvoll und erhielt dafür viel Beifall. Die Rolle als reinrassiger Germane lag mir sehr. Obwohl das äußere Bild nicht ganz stimmte. Meine Haare waren dunkel und die Augen braun. Vielleicht wollte ich deshalb besonders germanisch sein. Doch ich merkte auch deutlich, wie ich mich selbst spielte. Der tobende Applaus aus nah und fern verwirrte mich allerdings manchmal, so dass ich unwillkürlich vom vorgegebenen Text abwich. Das Publikum aber verzieh mir stets, ja, es fand meine Eskapaden oft als angenehm. Zum Beispiel wenn ich mit andern sang: Haut´ se haut´ se, immer in die Schnauze, bis die rote Soße fließt. Außerdem meinten die Leute, dass sich die Anfangsfehler mit der Zeit von selbst geben würden. Später dann machte ich eine gute Marschfigur und warf die Beine bei der jetzt massenhaft geforderten Art der Fortbewegung weit von mir, wie es die Regieanweisung verlangte. Ich marschierte, was das Zeug hielt. Dabei hatte ich ein überwältigendes Gefühl und glaubte zu bemerken, dass ich eine neue Lebensqualität erreicht hatte. Ich bildete mir ein, dass es mir wohl täte. Gleichzeitig brüllte ich auf


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der vaterländischen Drehbühne aggressive und sentimentale Lieder so lange, bis ich heiser war. Da ich nun warm geworden war, fiel es mir nicht sonderlich schwer, in die nächste Rolle zu schlüpfen. Auf Geheiß des größten Theaterdirektors aller Zeiten, der mit der schrägen, dunklen Mähne, begab ich mich in ein anderes Kostüm. Es war das des Soldaten im grauen Ehrenkleide. Danach hatte ich mich schon lange gesehnt. Für Führer, Volk und Vaterland, lautete jetzt mein Text. Wenn es auch welche gab, die neben mir nicht ganz mit der neuen Existenz einverstanden waren, gewöhnten sie sich doch daran. Mir aber schien, als hätte ich nie solch eine leicht zu spielende Rolle gehabt. Mir wurde alles bis ins einzelne gesagt, und ich tat alles, wie mir befohlen. Dabei empfand ich scheinbar das Gefühl völlig neuer Kräfte. Wollte ich doch für das Vaterland die beste Rolle meines Lebens spielen. In den bald folgenden Detonationen, die ich zunächst für nichts anderes als Theaterdonner hielt, wurde der Part, den ich jetzt zu spielen hatte allmählich doch schwieriger. Wenngleich ich auch als deutsche Ordnungsmacht zum Anfang noch Anwandlungen von rassischem Selbstbewusstsein empfand. Etwas später jedoch musste ich immer öfter die Rolle eines Stücks Abfalls spielen. Das heißt, ich unterschied mich in meinem Rollenspiel nicht mehr wesentlich vom Schmutz und Dreck, in den ich mich bei den Detonationen werfen mußte oder geworfen wurde. Zuerst sagte ich mir, ein Mime wie ich müßte alles können. Doch je öfter ich an das Vaterländische dachte, desto schwerer wurde mir das Agieren. Dazu kam, dass mich das Publikum im Gegensatz zu früher auf meinen verschiedenen europäischen Schauplätzen als Vandale, als Verbrecher und Mörder bezeichnete. Mit solcher Rolle konnte ich mich schon früher von zu Hause aus nicht identifizieren. Denn ich war Beifall gewohnt. Bald darauf erhielt ich dann auch einen anderen Part. Ich übernahm die Rolle des Verlierers und Geprügelten, der mit erhobenen Händen zum Zeichen seiner Hilflosigkeit daherkam. Diesmal war es nicht die heimische Bühne.


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Mehr schlecht als recht spielte ich dann in der Kriegsgefangenschaft die Rolle des deutschen Schweins, wie man mich seitens der Gewahrsamsmacht bezeichnete. Dabei hatte ich genügend Anlaß und Zeit, gründlich über meine bisherigen Partien, die ich mit soviel Eifer gespielt hatte, nachzudenken. Auch darüber, ob ich nicht die Bühne wechseln sollte. Schließlich wurde mir meine Rolle als deutsches Schwein aufgekündigt, worüber ich zum ersten Mal erfreut war. Wieder zu Hause, bemerkte ich schnell, dass die vaterländische Drehbühne sich inzwischen erneut weiter gedreht hatte. Mimen wie ich wurden wieder dringend gesucht. Die Schauspiel- oder Verwandlungskunst stand wieder in voller Blüte. Ich erlebte und bewunderte die Rolle meines früheren Lehrers, der vorspielte, wie sich nach dem Krieg ein blonder, reinrassiger Arier und Parteigenosse in einen anerkannten Friedenskämpfer des Ostens verwandelt. Er hatte die Jungen seiner Schule noch fünf Minuten nach Zwölf mit kernigem Befehl als Werwolf -Kämpfer mit ein paar Karabinern bewaffnet gegen die einmarschierende Rote Armee in den Tod gejagt. Das war schnell vergeben und vergessen. Jetzt stand die vaterländische Drehbühne in voller Blüte. Wenn sie auch einen anderen Anstrich hatte. Durch den Zufall des Wohnorts begann mein Engagement an der mir in dieser Form bisher fast unbekannten proletarischen Bühne. Wiederum spielte ich eine Rolle, mit der ich es innerlich ernst meinte. Mein besonderer Part war der des Kriegsgegners und Friedenskämpfers. Da jedes Theaterstück, wenn es über längere Zeit gespielt worden ist, einmal abgesetzt wird, übernahm ich anschließend die Rolle eines proletarischen Klassenkämpfers. Ohne die vorherige zu vergessen Es war die logische Folge von dem, was ich bisher getan hatte. Da ich mich durch meine beiden großen Rollen, die im grauen Ehrenkleid und die als deutsches Schwein, innerlich stark gewandelt hatte, fiel es mir anfänglich nicht schwer, mein schauspielerisches Engagement für die neuen Figuren zu entwickeln. Ja, ich muß sagen, es bedurfte gar keiner besonderen Zutat oder Anstrengung. Ich spielte einfach wieder mich selbst. Ich war auf der neuen Bühne der Mann, der den Krieg hasste und der glaubte, die Ursachen dafür gefunden zu haben. Alles schien klar und einleuchtend zu sein. Die Rollen auf dieser neuen Bühne waren recht verschiedenartig und doch waren


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sie auch sehr gleich. Bei mir ging es vom Enttrümmerungsarbeiter über Aufbauhelfer und Fernstudent, Familienvater bis hin zum Gegner der Exquisitläden in der DDR In meinen letzten Spielstücken geriet ich wieder wie an meinem Anfang in die Rolle des Schwankenden, der mal die eine Ansicht vernünftig fand, mal die andere. Zuletzt dann drehte sich die vaterländische Bühne wieder sehr schnell, und ich übernahm die Rolle des Wendehalses, in die Ich mich auch gut fügte. Das war relativ einfach. Schließlich hatte ich meine Erfahrungen mit den vielen Verwandlungen. Denk an den Kaiser, sagte ein Älterer neben mir. Der musste gehen. Danach hatten wir den Ebert mit seiner Republik. Dann den Anstreicher, den größten Führer aller Zeiten. Oder den Gröfaz, wie sie ihn genannt haben. Danach hier im Osten die Genossen Kommunisten und jetzt haben wir wieder den Kapitalismus. Es bleibt nicht so, es kommt immer wieder anders, sagte ich mir. Neben dem Wendehals übernahm ich auch noch die Rolle des doofen Ossi, der mit leeren Händen dasteht. Das war nicht schwer. Wozu hatte ich auf der vaterländischen Drehbühne den Beruf des Verwandlungskünstlers gelernt. Allerdings bemerke ich neuerdings in meiner darstellerischen Tätigkeit eine gewisse Gefahr. Das ist die Routine. Heute in meine Rollen zu schlüpfen, bedeutet für mich so gut wie keine Anstrengung. Ich spiele einfach nach dem Motto, das mir ein Regisseur einmal mit auf den Weg gab: In dieser windigen Ecke muß jeder sehen, wie er mit dem Rücken an die Wand kommt. Heute so, morgen so, rede ich mir zu. Du musst hier zwei oder noch mehr Gesichter haben. Für jede Situation ein anderes. In der großen Politik wird es täglich vorexerziert Es gefällt mir nicht. Von wegen des Charakters. Aber das Eigenartige ist, das Publikum klatscht wie immer Applaus. Ich bin sicher, die Verwandlungen hier werden nicht aufhören, die Bühne wird sich immer weiterdrehen. Meine nächste Rolle wird vermutlich die eines Sozialbettlers sein, was für mich auch keine Schwierigkeit bedeutet. Schwierig wird es nur, wenn ich daneben auch noch Europabürger spielen soll. Irgendwie, finde ich, passt beides nicht zusammen. Wo ich nun einmal bei den Nachdenklichkeiten über meine wundersamen Verwandlungen bin,


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entsteht mir noch ein anderes Bild von unserer schönen deutschen Landschaft. Das ist das Bild vom deutschen Karussell, das einer einzigen Achterbahnfahrt gleich kommt Denn eins geht ins andere über.

Das deutsche Karussell oder Bilder einer Landschaft Denn das deutsche Karussell, es macht absolut schwindlig. Kein Wunder, dass dem angeschnallten Publikum bei den schnellen Drehungen kotzübel wird und es nie weiß, wo es sich befindet. Ob im siebenten Himmel oder beim Höllenfürsten, ob rechts oder links. Die Landschaften wechseln schnell. Taubheit, Orientierungslosigkeit und Schleudertraumen sind die natürlichen Folgen. Es ist eine einzige Höllenfahrt und Ochsentour. Keine Zeit bleibt zur inneren Sammlung. Kein Zu-sich-selbst-kommen. Die Geschichte zeigt es. Zuerst ist man mit der Allwissenheit und Allmacht kaiserlicher Selbstherrlichkeit mit jugendlicher Kraft begeistert nach Verdun gestürmt und hat es nie erreicht. Hat wie hypnotisiert am Chemin des Dames megaliterweise Blut vergossen, die Erde megatonnenweise mit zerfetztem Fleisch gedüngt. Wollte überall das deutsche Wesen verbreiten. Mit Millionen Krüppeln, Witwen und Waisen schwindlig und ohnmächtig ohne Obrigkeit, mit dem Gefühl allein gelassen zu sein, ist man in die neue Republik gestolpert. In die Weimarer. Ohne inneren Halt und mit hohen Kriegsschulden. Unter der strengen Aufsicht der Siegermächte wurden haushohe Reparationen gezahlt. Und was sollte man mit der neuen Fahne in Schwarz-Rot-Mostrich anfangen, wie die Anhänger von SchwarzWeiß-Rot die neue Flagge ironisch-abwertend nannten? Wie Pilze schießen Millionäre aus dem Boden. Jeder Deutsche ist ein Millionär, ein vielfacher sogar, der vor Hunger nicht in den Schlaf kommen kann. Das ist die Inflation Damit die Schulden auf den leinen Mann abgewälzt werden können. Das deutsche Karussell macht jetzt kleine Fahrt. Man kommt mit der neuen Republik, mit der Weimarer, nicht zurecht. Bis die Blonden und Blauäugigen kommen.


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Mit einer neuen, ganz anderen Ordnung, die doch nur dasselbe will wie bisher. Nur wenige sehen es. Wir werden weiter marschieren, heißt es jetzt wieder. Das marschiert sich was weg. Mit den blanken Stiefeln macht es besonderen Spaß. Die Leute springen tatsächlich wieder auf. Das Marschieren kennen sie noch. Sie wollen sich nicht erinnern, wohin das Marschieren beim Kaiser geführt hat. Diesmal wird alles ganz anders Das Karussell dreht sich wieder schneller. Da kommt bei vielen Freude auf. Die neue Landschaft mit Kraft durch Freude und mit Autobahn und Urlauberschiffen flitzt vorbei. Das Karussell hat jetzt voll aufgedreht. Solch ein Tempo hat es noch nie gegeben. Die Leute jauchzen vor so viel Glück. Ein bebender Volkskörper. Das Schwindelgefühl ist kolossal. Es geht alles so wunderbar vorwärts. Nur wenige haben ein ungutes Gefühl. Und dann kommt das, was kommen muss: Bomben und Granaten. Sie machen es tatsächlich ganz anders. Wollt ihr den totalen Krieg, schreien die Unvernünftigen, bar jeglicher Vernunft. Sie wollen es mit Jubelgeschrei. Abspringen geht jetzt nicht mehr. Wer es trotzdem versucht, fällt auf die Nase. Dann kommt alles wieder wie beim Kaiser. Nur dieses Mal ganz total. Bis alles in Scherben fällt. Ganze Städte, ganze Landschaften verschwinden. Liegen in Schutt und Asche. Jetzt endlich steht das Karussell still. Doch keine Angst, es dauert nicht lange. Man liebt das Karussellfahren hier. Langsam fängt sich alles wieder an zu drehen. Irgendwie sind die Deutschen hart im Nehmen, sagt H. Nichts Vernünftiges beginnen können, was die Zeit den Deutschen in den Schoß gelegt hat? Ich weiß nicht, redet H. Wie soll man mit dem Mischmasch von Gelerntem leben, fragt er. Zuerst ein Arier sein und hart wie Kruppstahl. Dann bei uns im Osten Proletarier mit Klassenkampf und roter Fahne und nun ein freier Bürger? Ich hab den ganzen Mist eine Zeit lang geglaubt, tatsächlich. Jetzt herrscht im Kopf totales Chaos. Wir sind zu spät gekommen. Jetzt hier im Osten hast du ein Gefühl als wie im Krieg. Das prasselt auf dich ein. Das ganze Neue, das dir Gutes bringen soll. In Wirklichkeit kommen unheilvolle Ahnungen auf dich zu. Das neue Geld wird knapp. Die Arbeit weg. Du bist dem Angriff dir bisher unbekannter Kräfte ausgesetzt, du kannst nichts ändern. Ausharren musst du. Musst ständig mit dem Schlimmsten rechnen.


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Und alles über dich ergehen lassen. Irgendwas dagegen unternehmen? Hat es noch Zweck? Die alten Werte? Sind entleert. Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch Zeugnis wider deinen Nächsten reden. Das alles hast du gegen die Gebote machen müssen. Im Krieg. Das war Befehl. Als Kind schon haben sie dich an die Hand genommen und in die Schlacht geschickt. Aber: Der Dank des Vaterlandes ist dir gewiss. Sagten die, die schon den ersten Krieg mitgemacht hatten. So viel steht fest: Was kommt, sagt H., kann niemand wissen. Was dein Vaterland aber für dich bereit hält, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Ganz im Sinne des Wortes. Zu allen Zeiten glänzende Versprechungen, die nie eingehalten wurden. Der Staat, mein Vaterland, hat meine Familie zweimal kaputtgemacht. Der kriegsverletzte Vater, nur mit einem Bein, im ersten Krieg. Der Tod von Mutter und vom Bruder im zweiten Krieg. Von den Toten und Verletzten in der übrigen Verwandtschaft gar nicht zu reden. Und jetzt soll ich mein Land noch sympathisch finden und ihm dienen? Wer weiß, was noch auf mich zukommt! Vorläufig steht fest, ich habe in meinem Leben drei deutsche Landschaften kennen gelernt. Wenn man so will, war es ein abwechslungsreiches, interessantes Leben, sagt H., und noch ist kein Ende abzusehen. Ich war immer unterwegs, immer auf Reisen. Meine erste große Fahrt auf den deutschen Highways, den neuen Autobahnen, war die durch die stählernen waffenstarrenden Kraft – durch – Freude – Landschaften des Tausendjährigen Reiches, zuletzt durch die Trümmermeilen deutscher Städte. Die zweite Reise führte mich durch die futuristischen Regionen der Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung in Ostdeutschland, am Ende durch gespenstische Potemkinsche Dörfer, wo alles langsam verfiel Bei meinem dritten Trip bin ich jetzt endlich angekommen in der Welt des Kapitals, sozialer Marktwirtschaft und demokratischer Verhältnisse. Bei Blechlawinen, Crime und Sex, bei leerem, blödem Gequatsche in den Glotzen. Bei Horror, Sensationen und Betrug. Aber ich muß es endlich lernen: C‘est la vie, so ist das wirkliche Leben.


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