15 Gemeinsame kleinräumige Bevölkerungsprognosen der Landeshauptstadt und der Region Hannover –ein Werkstattbericht
Monika Blaschke, Sabine Briem
22 Vorausberechnung der Wiesbadener Bevölkerung und Haushalte bis 2040 Jörg Härle, Dieter Butz
30 Methodenbericht zur Osnabrücker Bevölkerungsprognose 2040
Stephanie Huber, Frank Westholt
40 Berechnung von Neubaubezugsquoten und Belegungsdichten im Rahmen der kleinräumigen Bevölkerungsprognose der Stadt Münster
Susann Kowatsch
44 Demografisch bedingter Wohnungsbedarf –Methodik einer Prognose am Beispiel der Stadt Köln
André Grow-Böser, Laura Martschink, Susann Kunadt
51 SIKURS – Zur Geschichte und Zukunft eines Computerprogramms
Juliane Schapper, Beate Kaveriappa-von Ramin
54 Kleinräumige Bevölkerungsprojektionen – Bedeutung, Herausforderung, Potenziale Patrizio Vanella, Timon Hellwagner, Philipp Deschermeier, Markus Kissling
Stadtforschung
65 Generationenverhältnisse im Wandel – Analyse langfristiger Trends in ost- und westdeutschen Großstädten
Teresa Grundmann, Cornelia Müller, Jürgen Göddecke-Stellmann
73 Wanderungsgründe abfragen – Anregungen für die Umfragepraxis
Aura Moldovan, Frank Osterhage, Annett Steinführer, Cornelia Tippel
Statistik und Informationsmanagement
82 Suburban und autoabhängig? Neue Ansätze zur Ausweisung städtebaulicher Sanierungsgebiete für die Mobilitätswende Christian Gerten, Stefan Fina
90 Die normative Kritik am Konzept des „Migrationshintergrunds“ auf dem Prüfstand –Kommunalstatistische Ableitung vs. Selbstwahrnehmung der Befragten Till Heinsohn, Attina Mäding
97 Damals … Statistiken im Spiegel ihrer Zeit Jürgen Wittig
Heft 2 | 2024
Entdeckt
100 Die Geheimhaltungsmaschine für die Zensus Einzeldaten
Jan Siebert
101 Notiz aus der der KOSISArbeitsgemeinschaft KO.R –Ableitung des Migrationshintergrunds – R-App zur Plausibilisierung des Merkmals Geburtsland Daniel Schürmann
102 Notiz aus der VDSt-Arbeitsgemeinschaft Urban Data Literacy –Eine neue AG stellt sich vor Miriam Reiner-Henrich
103 Wohnen in Großstadtregionen Baden-Württembergs –Herausforderungen für die Wohnungsmärkte in Wachstumsregionen
Tobias Held, Ansgar Schmitz-Veltin
104 Der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ (SVR) zur deutschen Dateninfrastruktur Hubert Harfst
105 Dokumentation der VDSt-Frühjahrstagung vom 18. bis 20. März in Siegen Volker Holzendorf
Historie
Jana Hoymann, Steffen Maretzke, Claus Schlömer
Die Bevölkerungsprognose 2045 des BBSR
In den vergangenen Jahren haben sich die demografischen Rahmenbedingungen in Deutschland erheblich verändert. Dies betrifft vor allem die Zuwanderung aus dem Ausland. Wurden in der alten BBSR-Prognose für die Jahre 2018 bis 2022 Außenwanderungsgewinne von 1,4 Mio. Personen unterstellt, waren es tatsächlich 2,7 Mio. Deshalb hat das BBSR für alle Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland eine neue Bevölkerungsprognose bis 2045 erstellt.
Wesentliche Ergebnisse dieser Bevölkerungsprognose, die online über ein Dashboard zugänglich sind, lauten wie folgt:
- Deutschlands Bevölkerungszahl wächst weiter.
- Wachstum und Schrumpfung finden nebeneinander statt.
- Die Bevölkerung wird immer älter.
- Regionale Disparitäten nehmen zu.
- Alle Kreise verzeichnen Außenwanderungsgewinne.
Einführung
Regionale Bevölkerungsprognosen gibt es in Deutschland zahlreiche. Einerseits prognostizieren viele Städte für sich und ihre Stadtteile die künftige Bevölkerungsentwicklung, andererseits erarbeiten die meisten statistischen Landesämter regelmäßig regionalisierte Bevölkerungsprognosen. Wenn auch die grundlegende Methodik, die Nutzung der KohortenKomponenten-Methode, einen Quasi-Standard darstellt, so unterscheiden sich diese Prognosen doch erheblich in ihrer Annahmensetzung und Aktualität (Schlömer 2018). Die Nutzung bzw. der Zusammenbau der einzelnen Prognosen zu einer bundesweiten Prognose ergäbe dementsprechend sehr unplausible Ergebnisse, da jede Stadt oder jedes Land Annahmen, trotz empirischer Grundlagen, aus der individuellen Perspektive setzt, was völlig legitim ist, die überregionalen Zusammenhänge jedoch weniger berücksichtigt.
Um jedoch ein Gesamtbild der demographischen Entwicklung und der künftigen Herausforderungen zur Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu schaffen, ist eine bundesweite regionalisierte Bevölkerungsprognose erforderlich. Sie zeichnet sich durch eine konsistente, das gesamte Bundesgebiet berücksichtigende Annahmensetzung für alle demographischen Komponenten aus.
Dr. Jana Hoymann
Wissenschaftliche Projektleiterin im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung : jana.hoymann@bbr.bund.de
Dr. Steffen Maretzke
Wissenschaftlicher Projektleiter im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung : steffen.maretzke@bbr.bund.de
Dr. Claus Schlömer
Wissenschaftlicher Projektleiter im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung : claus.schloemer@bbr.bund.de
Schlüsselwörter:
Bevölkerung – Prognose – Demographie –regionalisierte Bevölkerungsprognose
Alle Ergebnisse und weiterführende Auswertungen sind in einem interaktiven Dashboard abrufbar (Abb. 1). Der QRCode führt direkt zum interaktiven Angebot. Es bietet einen direkten und sehr differenzierten Zugang zu einer Fülle an Kreisergebnissen der BBSR-Bevölkerungsprognose, inklusive eines Prognoseprofils mit Text, Grafik und einer Karte für jeden Kreis Deutschlands.
Methodik und Annahmen
Die Bevölkerungsprognose des BBSR wird mit dem Programm SIKURS berechnet. Dafür sind regionalisierte Annahmen über die Entwicklung der Fertilität, Mortalität, Binnen- sowie Außenwanderung zu treffen. Seit der letzten BBSR-Bevölkerungsprognose im Jahr 2021 haben sich die regionalen Strukturen und Trends von Geburtenentwicklung und Sterblichkeit kaum verändert. Hingegen ist die Zuwanderung aus dem Ausland deutlich stärker gestiegen als erwartet. Wurden zum Zeitpunkt der letzten Prognose für die Jahre 2018 bis 2022 noch Wanderungsgewinne gegenüber dem Ausland von etwa 1,4 Mio.
Abb. 1 Beispielhafte Darstellungen aus dem interaktiven Dashboard
Personen unterstellt, waren es tatsächlich fast doppelt so viele (2,7 Mio.). Ursächlich war vor allem der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine: Allein 2022 kamen circa 1,1 Mio. schutzsuchende Ukrainerinnen und Ukrainer nach Deutschland.
Der Prognosezeitraum 2021 bis 2045 Die kreisbasierte BBSR-Bevölkerungsprognose wurde für den Zeitraum 2021 bis 2045 berechnet. Als Basisjahr wurde das Jahr 2021 gewählt, da dies zum Zeitpunkt der Erstellung der Prognose das letzte Jahr war, für das die erforderlichen Kreisdaten in der notwendigen Struktur zur Verfügung standen. Entsprechend wurde diese Prognose auf dem 2021er-Kreisgebietsstand mit 401 Kreisen durchgeführt. Die Fusion der thüringischen Stadt Eisenach mit dem Wartburgkreis im Jahr 2022 blieb somit unberücksichtigt.
Die vorliegende Prognose basiert auf altersspezifischen Kreisdaten der männlichen und weiblichen Bevölkerung von 2021, differenziert nach mehr als 90 Altersgruppen. Die kreisbasierten Analysen zur Festlegung der Prognoseannahmen für das Geburtenniveau, die Sterblichkeit wie die Binnen- und Außenwanderungsquoten beruhen dagegen auf ausgewählten, zum Teil auch zusammengefassten Altersgruppen der männlichen und/oder weiblichen Bevölkerung.
In die Annahmen dieser Prognose gingen auch die aktuell verfügbaren Deutschland-Ergebnisse der Jahre 2022 und 2023 ein, die für die Außenwanderungen wie für die Geburtenund Sterblichkeitsentwicklung zwischenzeitlich veröffentlicht wurden.
Annahme 1: Fertilität
Orientiert an der 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes (15. kBV) wurde für das Jahr 2022 bundesweit ein Rückgang der Fertilitätsrate (total fertility rate - TFR) unterstellt, gefolgt von einem Anstieg bis 2032 auf das moderate Niveau von 1,55 Kindern je Frau (G21). Für die Jahre nach 2032 wurde die TFR unverändert belassen. Die Berechnung der Zahl der Lebendgeborenen je Prognosejahr für die einzelnen Kreise basiert auf der Berechnung
altersspezifischer Geburtenziffern (TFR) für die Altersjahre 15 bis 49 Jahre der Frauen. Auf Grundlage einer Zeitreihe (2012–2021) von Kreisdaten der Lebendgeborenen wurden je Altersgruppe der Mutter altersspezifische Geburtenziffern berechnet.
Mittels Struktur- und Entwicklungsindikatoren, berechnet auf Grundlage dieses Datensatzes, wurden über Hauptkomponenten- und Clusteranalyse sechs Kreiscluster identifiziert und mit Diskriminanzanalysen überprüft und berichtigt. Des Weiteren wurden für jedes dieser Cluster spezifische Trendanalysen durchgeführt. Konnte ein stabiler Trend identifiziert werden, wurde die Trendfunktion verwendet, um ihn für die Prognosejahre fortzuschreiben. War dies nicht der Fall, wurde der Durchschnittswert der altersspezifischen Geburtenziffer der letzten vier Jahre fortgeschrieben.
Die Kreiswerte der Geburtenziffern (sechs Altersgruppen) wurden berechnet, indem die relativen Abweichungen des Kreiswertes vom zugehörigen Clusterwert im Analysezeitraum (Mittelwert der letzten drei Jahre) jeweils fortgeschrieben wurden. Der Kreiswert folgt daher dem Clustertrend, wobei die Regionalstruktur des Clusters unverändert bleibt. Die daraus resultierenden, je Kreis vorliegenden „groben“ Geburtenziffern wurden im Weiteren je Prognosejahr, orientiert an den für Deutschland sehr differenziert vorliegenden Geburtenziffern nach dem Alter der Mutter (15 bis 49 Jahre), auf die einzelnen Altersjahre verteilt. Die Werte wurden mehrfach geglättet und anhand der jeweiligen Prognosewerte der TFR kontrolliert.
Annahme 2: Mortalität
Als Bundestrend dient die niedrige Variante der Lebenserwartung (L1) in der 15. kBV. Männer haben danach im Jahr 2045 eine Lebenserwartung bei Geburt von 80,71 Jahren, Frauen von 84,77 Jahren.
Als Stützzeitraum zur Abschätzung der regionalisierten, altersspezifischen Sterbeziffern von 2022 bis 2045 dienten Sterbedaten, die für die Jahre 2000 bis 2003 und 2018 bis 2021 vorlagen. In einem ersten Schritt wurden altersspezifische Sterbeziffern für die 5-Jahres-Altersgruppen beginnend mit
55 bis unter 60 Jahre bis zur Altersgruppe 85 Jahre und älter (8 Altersgruppen * 2 Geschlechter) für beide Basiszeiträume je Kreis berechnet.
Die aus diesen Werten berechenbaren 16 Mortalitätsraten (8 Altersgruppen * 2 Geschlechter) wurden über eine Hauptkomponentenanalyse auf drei Hauptkomponenten (mit Eigenwert größer eins) reduziert. Dadurch wurde die Redundanz reduziert, und mit den drei Hauptkomponenten (statt den 16 Variablen) wurde eine Clusteranalyse durchgeführt. Die Clusteranalyse (Ward-Verfahren) ließ fünf Gruppen plausibel erscheinen, die dann mit einer Diskriminanzanalyse berichtigt wurde. Die fünf identifizierten Cluster wurden entsprechend ihrem vergangenen Trend für die zukünftige Entwicklung der Sterbeziffern so angepasst, dass im Ergebnis die Lebenserwartung entsprechend des Bundestrends erzielt wird. Innerhalb eines Clusters werden alle Altersgruppen in der Trendfortschreibung gleichbehandelt. Dadurch wird verhindert, dass es innerhalb des Clusters zu Brüchen oder gar Unplausibilitäten kommt. Die Clustertrends werden auf die Altersjahre der Kreise übertragen, sodass die regionalen Abweichungen der Kreise von ihren zugehörigen Clustern erhalten bleiben. Zusätzlich werden die Kreistrends gewichtet, sodass der Einfluss des Bundestrends im Zeitverlauf größer wird.
Da der Bundestrend der Lebenserwartung nicht aus den Kreiswerten zusammengestellt wird, sondern gewissermaßen vorher besteht, weicht der nachträglich aus den Kreiswerten berechnete Bundeswert der Lebenserwartung geringfügig ab.
Annahme 3: Außenwanderung
Die unterstellten Annahmen orientieren sich an denen der 15. kBV, die in verschiedenen Varianten Außenwanderungssalden unterstellt. Bis 2030 wird der Pfad W2 verfolgt, der vorsieht, dass der hohe Wanderungssaldo des Jahres 2022 auf ein Niveau von 300.000 pro Jahr schmilzt. Danach wird das Niveau dieser Gewinne bis 2045 konstant gehalten. Damit liegt der langfristige Trend des Außenwanderungssaldos zwischen den Pfaden W2 mit +250.000 und W3 mit +350.000 Personen pro Jahr.
Dafür sprechen mehrere Gründe: Zum einen bemüht sich die Bundesregierung angesichts des weiterhin zunehmenden Arbeitskräftemangels darum, die Attraktivität Deutschlands für Arbeitsmarktzuwandernde deutlich zu steigern. Zum anderen ist Deutschland aufgrund zahlreicher Krisen und Kriege Zielland für viele Geflüchtete. Auch die Folgen des Klimawandels wirken sich in Form von Fluchtbewegungen verstärkend auf die Zuwanderungszahlen aus.
Basierend auf Daten der Vergangenheit werden zunächst je Kreis Annahmen für altersspezifische Fortzugsquoten ins Ausland (sechs Altersgruppen, männlich und weiblich), für alters- und geschlechtsspezifische Anteile der Kreise an den Zuzügen aus dem Ausland (sechs Altersgruppen, männlich und weiblich) und zur Verteilung der Zuzüge aus dem Ausland auf die 101 Altersgruppen der männlichen und weiblichen Bevölkerung (Durchschnitt 2017–2021) berechnet.
In der Prognose wird in einem ersten Schritt auf Basis der Fortzugsquoten die Gesamtzahl der Fortzüge ins Ausland berechnet. Aus dieser Zahl lässt sich in Verbindung mit dem für das Prognosejahr erwarteten Außenwanderungssaldo in einem zweiten Schritt die Zahl der Zuzüge aus dem Ausland
berechnen. Diese Zahl wird im Weiteren über die Anteile der 101 Altersgruppen (Männer und Frauen) auf die Einzeljahre aufgeteilt. Für jedes Einzeljahr der männlichen und weiblichen Bevölkerung lässt sich nun im nächsten Schritt für jeden Kreis
– über die kreisspezifischen Anteile an den Zuzügen aus dem Ausland – der alters- und geschlechtsspezifische Prognosewert der Zuzüge aus dem Ausland berechnen.
Die Berechnung der kreisspezifischen Fortzugsquoten ins Ausland wie deren Anteile an den Zuzügen aus dem Ausland (sechs Altersgruppen, männlich und weiblich) sind im Prognosezeitraum nicht konstant. Sie orientieren sich an Jahren aus der Vergangenheit mit ähnlichen Außenwanderungssalden:
- 2022 – sehr hohe Außenwanderungsgewinne –
Durchschnitt Jahr 2017–2021,
- Ab 2024 – mittlere Außenwanderungsgewinne –Durchschnitt der Jahr 2011–2021 (ohne 2015 & 2016)
- Ab 2031 – niedrige Außenwanderungsgewinne –Durchschnitt der Jahre 2011, 2012, 2019, 2020, 2021.
Annahme 4: Binnenwanderung
Die Prognose nutzt im Bereich der Binnenwanderung die Kreisverflechtungsmatrix aller 401 Kreise in Deutschland (Gebietsstand 2020). In das Prognosemodell gehen Fortzugsquoten differenziert nach sechs Altersgruppen und Geschlecht für jede Verflechtung der Matrix ein.
Dafür wurden die Mittelwerte aus dem Stützzeitraum 2011 bis 2021 gebildet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Kreisverflechtungsmatrizen ab dem Berichtsjahr 2018 nur noch als dreijährige Mittelwerte verfügbar sind. Eine Mittelwertbildung findet statt, da Eingriffe in die Verflechtungsmatrix sehr komplex und ihre regionalen Auswirkungen nur schwer zu kontrollieren sind. Sensitivitätsanalysen sollen in künftigen Analysen weitere Erkenntnisse dazu liefern.
Die regionale Bevölkerungsprognose muss auch die Frage beantworten, wie sich die Zuzüge aus dem Ausland künftig auf die einzelnen Kreise und Städte verteilen. Erkennbar ist dabei, dass die aktuellen regionalen Verteilungsmuster dieser Zuwanderungen auf die Kreise nicht den bekannten Mustern früherer Jahre folgen. So gilt die Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel und die Wohnsitzregelung nach AufenthG fort. So zeigen sich in den Mustern der regionalen Binnenwanderungsströme der letzten Jahre erhebliche Veränderungen. Diese resultieren zumindest teilweise daraus, dass viele Zuwandernde aus dem Ausland ihren Wohnsitz nach ihrer Registrierung, trotz Wohnsitzregelung (die meist nur für Bundesländergrenzen gilt), an einen anderen Wohnort verlegt und damit auch die Binnenwanderungen maßgeblich geprägt haben. Daraus folgend offenbaren die vorliegenden Analysen, dass sich die regionalen Muster der Binnenwanderungen in Abhängigkeit vom absoluten Niveau der Zuwanderungen aus dem Ausland gestalten. So zeigten sich spürbare Unterschiede der regionalen Binnenwanderungsverflechtungen bezogen auf Jahre mit einer sehr hohen Zuwanderung im Vergleich zu Jahren mit einer deutlich geringeren Zuwanderung. Diese Analyseergebnisse flossen in die vorliegende Prognose ein, indem sich die Festlegung der jährlichen Annahmen für die regionalen Binnenwanderungsverflechtungen an den Annahmen zur Außenwanderung orientierten: - 2022 – Durchschnitt der Jahre 2017–2021
- 2024 – Durchschnitt der Jahre 2011–2021 (ohne 2015 & 2016), - 2031 – Durchschnitt der Jahre 2011, 2012, 2019, 2020, 2021. Die Binnenwanderungsverflechtungsmatrizen zwischen den Jahren 2022 bis 2024 beziehungsweise 2024 bis 2031 wurden durch Interpolation ermittelt.
Auswertung nach Kreistypen
Im Folgenden werden die Ergebnisse der Bevölkerungsprognose für den entwicklungsbezogenen Kreistyp des BBSR gezeigt, da er räumliche Unterschiede der demographischen Entwicklung am besten abbildet (BBSR o. J.) (Abb. 2).
Deutschlands Bevölkerungszahl wächst weiter
Im Jahr 2045 werden auf Basis des Annahmengerüsts des BBSR 85,5 Mio. Menschen in Deutschland leben, etwa 0,8 Mio. Menschen mehr als Ende 2023. Diese Entwicklung resultiert vor allem aus den erwarteten Außenwanderungsgewinnen, die den wesentlichen Faktor für die Zunahme der Bevölkerungszahl bis 2045 darstellen.
Während die Bevölkerungszahlen in 249 Kreisen wachsen, schrumpfen sie in 152 Kreisen. Die Zuwächse konzentrieren
Abb. 2 Entwicklungsbezogener Kreistyp
sich vor allem auf die alten, die Verluste stärker auf die neuen Länder. In den meisten kreisfreien Städten und Landkreisen werden 2045 mehr Menschen leben als heute. Nur wenige Kreise haben diese Entwicklung sowohl Geburtenüberschüssen als auch Wanderungsgewinnen zu verdanken. Die Mehrzahl der Kreise wächst weiter, da ihre Sterbeüberschüsse absehbar durch Wanderungsgewinne mehr als kompensiert werden. Mehr als ein Drittel aller kreisfreien Städte und Landkreise muss sich dagegen auf zum Teil stark sinkende Bevölkerungszahlen einstellen, weil die Außen- und/oder Binnenwanderungsgewinne nicht mehr ausreichen, um die tendenziell steigenden Sterbeüberschüsse auszugleichen.
Gleichzeitig steigt das Durchschnittsalter der Bevölkerung und der Anteil der Älteren nimmt zu.
Auf Basis der Kreis- und Regionstypen des BBSR (o. J.) lassen sich noch weitere räumliche Muster der demographischen Entwicklung bis 2045 identifizieren (Tab. 1, Abb. 3): - Gemessen an den siedlungsstrukturellen Kreistypen des BBSR weisen städtische Regionen in der Summe eine günstigere Entwicklung als ländliche Regionen auf. Während kreisfreie Großstädte und städtische Kreise weiter wachsen, sinkt die Bevölkerungszahl ländlicher Kreise mit Verdichtungsansätzen sowie dünn besiedelter ländlicher Kreise weiter.
- Die Bevölkerungszahl verändert sich in starker Abhängigkeit von der räumlichen Lage. Zentraler gelegene Kreise haben in der Summe eine deutlich günstigere Entwicklungsperspektive als peripherer gelegene Kreise.
- Die sozioökonomische Situation eines Kreises hat den größten Einfluss auf seine Bevölkerungsentwicklung. Gemessen am „entwicklungsbezogenen Kreistyp des BBSR“, der die Entwicklungsdynamik wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren berücksichtigt, konzentrieren sich die künftigen Bevölkerungszuwächse vor allem auf stark wachsende, also eher strukturstärkere Kreise. Stark schrumpfende, also eher strukturschwache Kreise, müssen sich dagegen auf überdurchschnittlich starke Bevölkerungsverluste einstellen.
Tab. 1 Bevölkerungsentwicklung im Zeitraum 2021 bis 2045)
Ausgewählte Kreistypen / alte und neue Länder / Deutschland
stark
klaren Trend
Bevölkerungszahl 2021 2045 2021 bis 2045
Nach den Ergebnissen dieser Prognose zeigen sich die Extreme der regional differenzierten Bevölkerungsentwicklung bis 2045 vor allem auf der Ebene des entwicklungsbezogenen Kreistyps des BBSR (Abb. 2). Während stark wachsende Kreise in der Summe mit +9,6 % langfristig die höchsten Zuwächse zu erwarten haben, müssen sich stark schrumpfende Kreise auf starke Bevölkerungsverluste (-16,2 %) einstellen (Tab. 1). Auf Ebene der kreisfreien Städte und Landkreise zeigen sich nach der Prognose die stärksten Unterschiede in der Bevölkerungsentwicklung. Die Extremwerte der Entwicklungsraten reichen von +15,2 bis -24,2 %. Während sich nach dieser Prognose unter den fünf wachstumsstärksten Kreisen mit Leipzig und Potsdam zwei ostdeutsche Stadtkreise finden, liegen die fünf Kreise mit den größten Bevölkerungsverlusten durchgängig in den neuen Ländern.
Wachstum und Schrumpfung finden nebeneinander statt
-11,8 stark schrumpfend 0,4 0,3 -0,1 -16,2 alte Länder, ohne Berlin
69,8 2,7 4,1 neue Länder, inkl. Berlin 16,1 15,7 -0,5 -3,0 Deutschland 83,2
Quelle: BBSR-Bevölkerungsprognose 2045
Abb. 3 Bevölkerungsentwicklung im Zeitraum 2021 bis 2045
Die Ergebnisse der BBSR-Bevölkerungsprognose zeigen sowohl bei der Entwicklung der Bevölkerung insgesamt als auch bei jeder der hier analysierten Hauptaltersgruppen2 ein räumliches Nebeneinander von Wachstum und Schrumpfung (Abb. 4, Tab. 2).
Der bundesweite Bevölkerungszuwachs bis 2045 ist vor allem das Ergebnis steigender Zahlen der jüngeren (0- bis unter 20-Jährige) und älteren Altersgruppen (67-Jährige und Ältere). Es wachsen also vor allem jene in der Regel nicht erwerbstätigen Bevölkerungsgruppen, die im Fokus der Sozialpolitik stehen. Folge dieser Entwicklung für die betroffenen
Kreistyp: stark wachsend
Kreistyp: stark schrumpfend alte Länder, ohne Berlin neue Länder, inkl. Berlin
Deutschland
Quelle: BBSR-Bevölkerungsprognose 2045
Abb. 4 Bevölkerungsentwicklung ausgewählter Altersgruppen im Zeitraum 2021 bis 2045 Schwerpunkt
Bevölkerungsentwicklung 2021 bis 2045
gesamt
0 bis unter 20 Jahre Köln
Frankfurt/M.
20 bis unter 67 Jahre
Frankfurt/M.
67 Jahre und älter
100 km
Bevölkerungsentwicklung 2021 bis 2045 nach Altersgruppen (%) Köln
Tab. 2 Entwicklung der Bevölkerungszahl und ausgewählter Altersgruppen 2021 bis 2045
Ausgewählte Kreistypen / alte und neue Länder / Deutschland
Insgesamt 0- bis unter 20-Jährige
20- bis unter 67-Jährige 67-Jährige und Ältere
2021 (in Mio.)
Kommunen und Kreise werden steigende finanzielle und personelle Herausforderungen für die Betreuung und Ausbildung junger Menschen auf der einen und weiterwachsende Herausforderungen für die Sozialsysteme infolge des Zuwachses älterer Personen auf der anderen Seite sein. Dies ist auch im Zusammenhang mit der Altersgruppe der erwerbsfähigen Bevölkerung zu sehen, also der 20- bis unter 67-Jährigen. Diese Altersgruppe trägt im Wesentlichen das Steueraufkommen und die Beiträge in die Sozialversicherungssysteme.
Während stark wachsende Kreise in allen berücksichtigten Hauptaltersgruppen der Bevölkerung bis 2045 steigende Bevölkerungszahlen zu erwarten haben, ist in schrumpfenden Kreisen genau das Gegenteil der Fall (Tab. 2). Kreise, die den beiden Schrumpfungs-Kreistypen angehören, haben in allen Hauptaltersgruppen rückläufige Bevölkerungszahlen zu erwarten, am stärksten rückläufig ist die erwerbsfähige Bevölkerung (20- bis unter 67-Jährige).
Abb. 5 Entwicklung ausgewählter Altersgruppen 2021 bis 2045
≥ 80 Jahre
7 bis 79 Jahre
0 bis 66 Jahre
5 bis 49 Jahre
0 bis 34 Jahre
6 bis 19 Jahre
0 bis 15 Jahre
6 bis 9 Jahre
3 bis 5 Jahre
0 bis 2 Jahre
Deutschland
Quelle: BBSR-Bevölkerungsprognose 2045
Insgesamt 0- bis unter 20-Jährige 20- bis unter 67-Jährige 67-Jährige und Ältere
Quelle: BBSR-Bevölkerungsprognose 2045
Abbildung 5 veranschaulicht, dass Wachstums- und Schrumpfungsprozesse alle Altersgruppen betreffen – wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. Während nach dieser Prognose nahezu alle Altersgruppen der Bevölkerung in stark wachsenden, also vor allem westdeutschen Kreisen Zuwächse erwarten können, trifft der Rückgang vor allem stark schrumpfende, größtenteils ostdeutsche Kreise. Die zugehörigen Kreise dieses Kreistyps haben einzig bei der Altersgruppe der Hochbetagten (80 Jahre und älter) steigende Zahlen zu erwarten.
Die größten Unterschiede zwischen den Kreisen betreffen die Bevölkerung im Rentenalter (67 Jahre und älter). Während sich ihre Zahl im Landkreis Erding bis 2045 um fast die Hälfte erhöht (+44,7 %), ist im Stadtkreis Dessau-Roßlau ein Rückgang von knapp einem Fünftel (-19,1 %) zu erwarten. Während somit viele Kreise bereits einen hohen Bevölkerungsanteil im Rentenalter aufweisen, müssen andere Kreise sich bis zum Prognosehorizont erst auf diesen Prozess einstellen – auch wenn sie derzeit noch stärker von den jüngeren Altersgruppen geprägt sind.
Die Bevölkerung wird immer älter
Die Alterung der Bevölkerung beschreibt das Phänomen, dass der Anteil der älteren Altersgruppen kontinuierlich zunimmt. Diese Entwicklung kann sich sowohl bei einer wachsenden als auch bei einer schrumpfenden Bevölkerung vollziehen. Wesentlich ist, dass sich die Zahl der jüngeren Bevölkerung ungünstiger als die Zahl der älteren Bevölkerung entwickelt. Je schneller die Zahl der älteren Bevölkerung gegenüber der jüngeren Bevölkerung wächst, desto ausgeprägter ist die demografische Alterung. Dasselbe gilt, wenn die Zahl der jüngeren Bevölkerung stärker abnimmt als die der älteren Bevölkerung. Die Alterung der Bevölkerung in Deutschland ist in erster Linie das Ergebnis des niedrigen Geburtenniveaus, das den Ersatz der Elterngeneration seit Anfang der 1970er-Jahre nicht mehr sichert. Das Geburtenniveau liegt schon seit längerem in keinem Kreis mehr über dem Bestanderhaltungsniveau von 2,1 Kindern je Frau. Dadurch steigt der Bevölkerungsanteil Älterer kontinuierlich. Bundesweit kann diese Dynamik nur durch eine Steigerung des Geburtenniveaus oder über Außenwan-
derungsgewinne, an denen in der Regel überdurchschnittlich viele junge Menschen beteiligt sind, abgeschwächt oder sogar kompensiert werden. Innerhalb Deutschlands kommen altersselektive Binnenwanderungen über Kreisgrenzen hinzu, zum Beispiel für Ausbildung und Berufseinstieg. Die Binnenwanderungsgewinne eines Kreises gehen dabei zwangsläufig mit Wanderungsverlusten eines anderen Kreises einher. Während in den Zielkreisen der Binnenwanderung die demografische Alterung durch die Zuzüge meist abgeschwächt oder gar kompensiert wird, ist sie in durch Abwanderung geprägten Kreisen umso stärker ausgeprägt.
Das Durchschnittsalter der Bevölkerung unterscheidet sich in der Prognose im Vergleich der kreisfreien Städte und Landkreise erheblich. Es reicht von 39,8 Jahren im Stadtkreis Offenbach am Main bis 51,0 Jahre im Landkreis Spree-Neiße. Kreise mit einer vergleichsweise geringen Betroffenheit von demografischer Alterung sind geprägt durch: - ein niedrigeres Durchschnittsalter, - einen stärkeren Ersatz der aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Erwerbsfähigen (62- bis unter 67-Jährige) durch jüngere, neu ins Erwerbsleben einsteigende Menschen (15bis 19-Jährige) - und/oder einen geringeren Bevölkerungsanteil Hochbetagter (Tab. 3).
Solch vorteilhafte demografische Strukturen konzentrierten sich 2021 vor allem auf wachsende Kreise. Schrumpfende Kreise waren dagegen wesentlich stärker von demografischer Alterung betroffen. Menschen, die im Startjahr in stark schrumpfenden Kreisen lebten, waren im Durchschnitt bereits 49,1 Jahre alt. Das Pflegepotenzial lag hier bei fast 32 %, das heißt auf 100 ältere Erwerbsfähige (50- bis unter 67-Jährige), also den Personenkreis, der potenziell die Pflege der Elterngeneration übernehmen könnte, kamen fast 32 Hochbetagte (80-Jährige und Ältere). Weniger als die Hälfte (47,4 %) der aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Erwerbsfähigen wurde durch junge Menschen ersetzt und auch der Bevölkerungs-
anteil der Hochbetagten lag mit 9,3 % bereits weit über dem Bundesdurchschnitt (7,3 %).
Nach der BBSR-Prognose wird sich das Durchschnittsalter der Bevölkerung bis 2045 bundesweit leicht auf 44,9 Jahre (+0,2 Jahre) erhöhen. In vielen ost- und westdeutschen kreisfreien Städten wird es sich im Prognosezeitraum zum Teil sogar etwas verringern, in schrumpfenden Kreisen dagegen weiter steigen (Abb. 6).
Regionale Disparitäten nehmen zu
Die Prognoseergebnisse zeigen, dass die künftige Bevölkerungsentwicklung in Deutschland mit einer weiteren Zunahme der regionalen Disparitäten und einem anhaltenden Konzentrationsprozess der Bevölkerung zugunsten wachsender Regionen einhergehen wird (Tabelle 4). Die absehbaren Muster der demografischen Entwicklung bis 2045 unterscheiden sich dabei kaum von denen der Vergangenheit. Während sich der Bevölkerungsanteil wachsender Kreise langfristig weiter erhöht, sinkt der Bevölkerungsanteil schrumpfender Kreise, zum Teil um weit mehr als 10 %. Damit nimmt auch die Bedeutung dieser Kreise im Siedlungssystem Deutschlands ab.
Von gesellschaftlichem wie regionalem Interesse ist auch die Veränderung der Hauptaltersgruppen der Bevölkerung zueinander. Während die Jüngeren (unter 20-Jährige) und Älteren (67-Jährige und Ältere) dem Arbeitsmarkt in der Regel noch nicht oder nicht mehr mehr zur Verfügung stehen, müssen die Erwerbsfähigen (20- bis unter 67-Jährige) die Betreuung und Versorgung dieser Altersgruppen finanziell und personell absichern. Für die Regionen ist daher von besonderem Interesse, wie sich die Relationen der Jüngeren und Älteren zu den Erwerbsfähigen langfristig verändern. Nach den Berechnungen des BBSR werden langfristig immer mehr jüngere und ältere Menschen auf 100 Erwerbsfähige kommen (Abb. 7). Besonders hohe Werte haben im Jahr 2045 schrumpfende Kreise zu erwarten.
Tab. 3 Entwicklung ausgewählter Indikatoren der demografischen Alterung 2021 bis 2045
Ausgewählte Kreistypen / alte und neue Länder /
* Ersatzquote: Dieser Indikator quantifiziert, in welchem Maße die Übergänger in den Ruhestand (62- bis unter 67-Jährige) durch Jüngere (15- bis 19-Jährige) ersetzt werden.
** Hochbetagte: Dieser Indikator quantifiziert den Bevölkerungsanteil der 80-Jährigen und Älteren.
*** Pflegepotenzial: Dieser Indikator quantifiziert wieviel Hochbetagte (80-Jährige und Ältere) auf 100 ältere Erwerbsfähige (50- bis unter 67-Jährige) kommen.
Quelle: BBSR-Bevölkerungsprognose 2045
Abb. 6 Regionalstruktur des Durchschnittsalters der Bevölkerung im Jahr 2045
Angesichts dieser Entwicklungstrends bis zum Jahr 2045 ist absehbar, dass in allen Regionen Deutschlands künftig ein wachsender Teil der Erwerbsfähigen in die Betreuung (Bildung, Gesundheit, Pflege) dieser jungen und älteren Menschen eingebunden werden sollte. Vor dem Hintergrund, dass schon heute Regionen unabhängig von ihren Wachstums- oder Schrumpfungstendenzen unter Arbeitskräftemangel leiden, resultieren aus diesen Veränderungen für alle Regionen zum Teil enorme ökonomische und soziale Herausforderungen.
Alle Kreise verzeichnen Außenwanderungsgewinne
Nach der BBSR-Prognose wird es im Prognosezeitraum bis Ende 2045 deutschlandweit einen kumulierten Außenwanderungsüberschuss von etwa 9,1 Mio. Menschen geben. Dies entspricht einem durchschnittlichen Jahreswert von rund 400.000 Personen. Von diesen Zuwanderern finden im Jahresdurchschnitt rund 81 % der Menschen ihren neuen Wohnsitz in den alten und rund 19 % in den neuen Ländern. Nach den dieser Prognose zugrundeliegenden Annahmen ist davon auszugehen, dass alle 401 Kreise im Prognosezeitraum kumulierte Wanderungsgewinne gegenüber dem Ausland aufweisen – eine Annahme, die wohl in keiner der früheren BBSR-Bevölkerungsprognosen so getroffen wurde.
Durchschnittsalter der Bevölkerung 2045 (in Jahren) Durchschnittsalter der Bevölkerung wird im Zeitraum 2021 bis 2045 ... bis unter 42,5
42,5 bis unter 44,0
44,0 bis unter 45,5
45,5 bis unter 47,0
47,0 bis unter 48,5
48,5 bis unter 50,0
50,0 und mehr nur unterdurchschnittlich steigen oder sich leicht verringern weit überdurchschnittlich steigen
Der Einfluss der Wanderungen sowie von Geburten und Todesfällen auf die Bevölkerungsentwicklung wird sich in den Kreisen bis 2045 sehr vielfältig gestalten (Abb. 8). Die zu erwartenden Bevölkerungszuwächse resultieren aus Geburtenüberschüssen und/oder Binnen- und/oder Außenwanderungsgewinnen. Im Prognosezeitraum können 249 der 401 Kreise in Deutschland (62,1 %) von steigenden Bevölkerungszahlen ausgehen. In mehr als zwei Dritteln dieser wachsenden Kreise sind vor allem Außenwanderungsgewinne für diese Entwicklung verantwortlich. In 79 dieser 249 Kreise (31,7 %) werden die kumulierten Binnenwanderungsgewinne die Außenwanderungsgewinne sogar übersteigen. Bundesweit wird die Zahl der Geburten bis 2045 nur in 30 Kreisen die Zahl der Todesfälle übersteigen. Dazu zählen auch der Landkreis Eich-
Tab. 4 Entwicklung ausgewählter Indikatoren im Zeitraum 2021 bis 2045
Ausgewählte Kreistypen / alte und neue Länder / Deutschland
Bevölkerungsanteil
25- bis unter 39-Jährige Frauen je 100 Frauen 20- bis unter 67-Jährige 67-Jährige und Ältere Bevölkerungsanteil 25- bis 38-jährige Frauen je 100 Frauen 20- bis unter 67-Jährige 67-Jährige und Ältere je 100 Erwerbsfähige je 100 Erwerbsfähige 2021 (Anteil in %)
stätt sowie die Städte Ingolstadt, Leipzig und Münster. Diese vier Kreise und Städte sind die einzigen bundesweit, die zu den Geburtenüberschüssen auch Binnen- und Außenwanderungsgewinne zu erwarten haben.
Dass die Außenwanderungsgewinne bis 2045 den stärksten Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung der Kreise haben werden, zeigt sich auch daran, dass im Prognosezeitraum in 166 Kreisen (41,4 %) die kumulierten Salden der Binnenwanderungen sowie der natürlichen Bevölkerungsentwicklung weit unter den kumulierten Außenwanderungsgewinnen liegen. Gemessen an der Zahl der betroffenen Kreise gehen im Prognosezeitraum auch von der Entwicklung der Geburten und Sterbefälle beachtliche Wirkungen auf die regionale Bevölkerungsentwicklung aus. In 193 Kreisen (48,1 %) wird die demografische Entwicklung maßgeblich von den kumulierten
Abb. 7 Jüngere und Ältere je 100 Erwerbsfähige im Jahr 2045
unter 20-Jährige
unter 20-Jährige
Düsseldorf
unter 20-Jährige je 100 Er werbsfähige
unter 20-Jährige je 100 Er werbsfähige
bis unter 29
bis unter 29
29 bis unter 31
29 bis unter 31
31 bis unter 33
31 bis unter 33
33 bis unter 35
33 bis unter 35
35 bis unter 37
Geburten- oder Sterbeüberschüssen dominiert. Während in vielen westdeutschen Kreisen sowohl die Wanderungen als auch die natürliche Bevölkerungsentwicklung einen großen Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung haben, resultieren die Bevölkerungsverluste der schrumpfenden Kreise in Ost und West im Prognosezeitraum einzig aus Sterbeüberschüssen, also aus der natürlichen Bevölkerungsentwicklung. Deutschlandweit wird die Zahl der Todesfälle bis 2045 die Zahl der Geburten um 6,1 Mio. übersteigen.
Ein Blick auf die kumulierten Daten des Saldos der Lebendgeborenen und Gestorbenen wie der Binnen- und Außenwanderungssalden auf Ebene der Kreistypen zeigt, dass sich der Einfluss dieser Faktoren auf die regionale Bevölkerungsentwicklung sehr unterschiedlich gestaltet (Tab. 5). Während die steigenden Bevölkerungszahlen in wachsenden Regionen vor
Abb. 9 Außenwanderungssaldo und Kreise mit höchsten Binnenwanderungsgewinnen und -verlusten im Zeitraum 2022 bis 2045 Schwerpunkt Bevölkerungsprognosen
Wanderungssaldo
Düsseldorf
Saarbrücken
Wiesbaden Frankfurt/M.
Stuttgart
Freiburg i.Br.
Kumulier ter Außenwanderungssaldo 2022 bis 2045 je 1.000 Einwohner 2021
Diese Kreise weisen im Prognosezeitraum je 1.000 Einwohner bundesweit die mit Abstand ... auf. bis unter 40
40 bis unter 60
60 bis unter 80
80 bis unter 100
100 bis unter 120 höchsten Binnenwanderungsgewinne höchsten Binnenwanderungsverluste 120 und mehr
allem durch Außenwanderungsgewinne begründet sind (Abbildung 9), resultieren die rückläufigen Bevölkerungszahlen schrumpfender Regionen vor allem aus mehr Todesfällen als Geburten. Die zu erwartenden Außen- und/oder Binnenwanderungsgewinne können diese Verluste nicht kompensieren.
Fazit
Die Ergebnisse der BBSR-Bevölkerungsprognose zeigen, dass die Bevölkerungszahl Deutschlands bis 2045 auf 85,5 Mio. Einwohnende wachsen dürfte – deutlich stärker als bislang angenommen. Der wesentliche Treiber dieser Entwicklung ist der positive Außenwanderungssaldo. Alle 401 Kreise in Deutschland werden im Prognosezeitraum (2021–2045) Außenwanderungsgewinne realisieren. Daraus resultiert für sie alle die Aufgabe, die zugewanderten Menschen erfolgreich in den Arbeitsmarkt sowie in das Leben vor Ort zu integrieren und konsequent in das breite Spektrum an unterstützenden Integrationsmaßnahmen zu investieren.
Ursächlich für die differenzierten regionalen Trends sind die sehr unterschiedlichen Effekte der Wanderungen, der Geburten- und Gestorbenenentwicklung sowie der Altersstruktur der Bevölkerung. Neben wenigen Kreisen, deren Bevölkerungszahl aufgrund von Außen- und Binnenwanderungsgewinnen sowie Geburtenüberschüssen weiter wachsen wird, finden sich viele Kreise, deren Bevölkerungszahl trotz ihrer Außenwanderungsgewinne weiter schrumpft. Dieser langfristig absehbare Bevölkerungsrückgang resultiert aus starken Binnenwanderungsverlusten und/oder hohen Sterbeüberschüssen.
Die regionalen Entwicklungsmuster der Bevölkerungsentwicklung zeigen bis 2045 eine hohe zeitliche Stabilität. Strukturstärkere Regionen, die schon in der Vergangenheit eine vorteilhaftere demografisch Entwicklung aufwiesen, können auch in den nächsten 20 Jahren von einer relativ günstigeren Entwicklung ausgehen. Strukturschwächere Regionen sind dagegen von starken Bevölkerungsverlusten und einer hohen Intensität der demografischen Alterung betroffen. Die Prognoseergebnisse zeigen auch, dass in immer mehr Kreisen Sterbeüberschüsse verzeichnet werden. Ohne kontinuierliche Wanderungsgewinne müssen sich daher immer mehr Kreise auf eine ungünstigere demografische Entwicklung sowie eine höhere Intensität der demografischen Alterung einstellen.
Literatur
BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, o. J.: Raumgliederungen des BBSR. Zugriff: https://www.bbsr.bund. de/BBSR/DE/forschung/raumbeobachtung/ Raumabgrenzungen/raumabgrenzungenuebersicht.html [abgerufen am 14.11.2023].
Hoymann, J., 2024: Dashboard zur BBSR-Bevölkerungsprognose 2045. Zugriff: https://tab-
Im Ergebnis dieser Entwicklung verstärken sich bis 2045 die räumlichen Disparitäten. Zum einen setzt sich die Konzentration der Bevölkerung auf wachsende Regionen weiter fort. Zum anderen stehen Kreise mit Bevölkerungszuwachs vor völlig anderen ökonomischen, sozialen und siedlungsstrukturellen Herausforderungen als Kreise mit Bevölkerungsverlusten. Entsprechend geht es für manche Kreise um einen steigenden Bedarf an Arbeitsplätzen, mehr Wohnraum sowie Bildungsund/oder Betreuungsinfrastrukturen, während für andere das rückläufige Arbeitskräfteangebot sowie die fehlende Auslastung der vorhandenen Wohnungen und Infrastrukturkapazitäten immer problematischer wird. Eine einfache, sehr grobe Hochrechnung zur Entwicklung des absehbaren Arbeitskräfteangebots beziehungsweise des Wohnungsnachfragepotenzials in den Kreisen Deutschlands illustriert dies beispielhaft: Die letzte Erwerbspersonenprognose des BBSR erwartete für das Jahr 2040 eine durchschnittliche Erwerbsbeteiligung der Bevölkerung von 48,8 % (Maretzke et al. 2021: 3 f.). Die letzte Haushaltsprognose des BBSR ging für das Jahr 2040 von durchschnittlich 1,94 Personen je Haushalt aus (Hoymann u. Schlömer 2021: 6). Ohne die Berücksichtigung weiterer Einflussfaktoren würde im Ergebnis dieser aktuellen Prognose des BBSR bis 2045 allein infolge des Bevölkerungszuwachses in wachsenden Kreisen mit einem Anstieg des Arbeitskräfteangebotes um 1,9 Mio. Personen beziehungsweise einer Steigerung um 2 Mio. Haushalte zu rechnen sein. In Kreisen mit Bevölkerungsrückgang würde sich das Arbeitskräfteangebot dagegen um 793.000 Personen und die Zahl der Haushalte um 839.000 verringern.
1 Das Statistische Bundesamt berechnet in seinen koordinierten Bevölkerungsvorausberechnungen mehrere Varianten der Bevölkerungsentwicklung. Die Varianten unterscheiden sich in den Annahmen für die Fertilität, die Sterblichkeit und die Außenwanderung. Die Varianten für die Annahmen der Prognosekomponenten werden wie folgt bezeichnet: G1 niedrige Fertilität, G2 mittlere Fertilität, G3 hohe Fertilität, L1 geringer Anstieg der Lebenserwartung, L2 mittlerer Anstieg der Lebenserwartung, L3 hoher Anstieg der Lebenserwartung, W1 niedriger Außenwanderungssaldo, W2 mittlerer Außenwanderungssaldo, W3 hoher Außenwanderungssaldo. Die genaue Definition der Annahmen ist unter https://www.destatis.de/ DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsvorausberechnung/begleitheft.html nachzulesen.
2 Hauptaltersgruppen: 0 bis unter 20 Jahre, 20 bis unter 67 Jahre, 67 Jahre und Ältere
leau.bsh.de/t/bbr/views/Raumordnungsprognose2045/Titel [abgerufen am 19.06.2024].
Maretzke, S.; Hoymann, J.; Schlömer C.; Stelzer, A., 2021: Raumordnungsprognose 2040. Bevölkerungsprognose: Ergebnisse und Methodik. Herausgeber: BBSR – Bundesinstitut
für Bau-, Stadt- und Raumforschung. BBSRAnalysen KOMPAKT 03/2021. Bonn.
Destatis – Statistisches Bundesamt, 2022: 15. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Annahmen und Ergebnisse (15. kBV). Zugriff: https://www.destatis.de/DE/Themen/ Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsvorausberechnung/begleitheft.html [abgerufen am 01.11.2023].
Schlömer, C., 2018: Demographische Prognosen. Per Annahme in die Zukunft. In: Informationen zur Raumentwicklung 1/2018, Bonn, S. 4–9.
Monika Blaschke, Sabine Briem
Gemeinsame kleinräumige Bevölkerungsprognosen der Landeshauptstadt und der Region Hannover
Ein Werkstattbericht
Die Landeshauptstadt Hannover und die Region Hannover rechnen seit über 40 Jahren gemeinsam kleinräumige Bevölkerungsprognosen. Hauptmotiv für das Gemeinschaftsprojekt sind die sehr engen Verflechtungen zwischen der Landeshauptstadt und ihrem Umland insbesondere Binnenwanderungen betreffend, aber auch in Hinsicht auf den Wohnungs- und Arbeitsmarkt oder Bildung und Kultur. Die kleinräumigen Prognosen werden innerhalb der Landeshauptstadt, der Region und der Umlandkommunen als eine wichtige Grundlage für verschiedene Infrastrukturplanungen benötigt.
Das diesjährige Jubiläum der zehnten gemeinsamen kleinräumigen Bevölkerungsprognose von Landeshauptstadt Hannover und Region Hannover ist ein deutlicher Beleg für die Sinnhaftigkeit und den Erfolg, in einem engen Verflechtungsraum kleinräumige Bevölkerungsprognosen über Verwaltungsgrenzen hinweg als Gemeinschaftsprojekt zu begreifen.
Einleitung
Die gemeinsame Herstellung kleinräumiger Bevölkerungsprognosen durch die Landeshauptstadt Hannover und die Region Hannover hat eine lange, über 40-jährige Tradition. Nach der ersten Veröffentlichung 1982 und weiteren acht in den Jahren bis 2020 wird momentan die zehnte gemeinsame kleinräumige Bevölkerungsprognose für den Zeitraum 2024 bis 2035 erarbeitet. Dieses Jubiläum ist ein beeindruckender Beleg für erfolgreiche interkommunale Kooperation. Hauptmotiv für das Gemeinschaftsprojekt sind die sehr engen Verflechtungen zwischen der Landeshauptstadt und ihrem Umland insbesondere Binnenwanderungen betreffend, aber auch in Hinsicht auf den Wohnungs- und Arbeitsmarkt oder Bildung und Kultur.
Die Region Hannover ist ein bundesweit besonderes Modell für die Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben: Die neue Gebietskörperschaft „Region Hannover“ ging 2001 aus dem Zusammenschluss des Landkreises Hannover und des Kommunalverbandes Großraum Hannover (1992–2001) hervor und umfasst als Rechtsnachfolgerin die zuvor 20 kreisangehörigen Städte und Gemeinden des ehemaligen Landkreises und die Landeshauptstadt Hannover (Rühmann 2001).
Dipl.-Geogr. Monika Blaschke wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sachgebiet Stadtentwicklung der Landeshauptstadt Hannover : Monika.Blaschke@hannover-stadt.de
Dipl.-Geogr. Sabine Briem wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team Steuerungsunterstützung und Statistik der Region Hannover : Sabine.Briem@region-hannover.de
Die kleinräumigen Prognosen werden innerhalb der Landeshauptstadt, der Region und der Umlandkommunen als eine wichtige Grundlage für verschiedene Infrastrukturplanungen benötigt. Beispielhaft seien hier Planungen bezüglich Bildungseinrichtungen, Alteneinrichtungen, Sportstätten und der Ver- und Entsorgung (z. B. Abwasser) genannt. Gesamtstädtische Prognosen, wie sie beispielsweise das Landesamt für Statistik Niedersachsen (LSN), die Bertelsmann-Stiftung oder die NBank für die Landeshauptstadt Hannover vorlegen, sind hierfür häufig nicht ausreichend.
Zudem werden gesamtstädtische, von übergeordneten Organisationen oft für alle oder zumindest die größeren Kommunen des Bundeslandes Niedersachsen errechnete Prognosen entweder als reine Status quo-Prognosen errechnet – die allein auf der durchschnittlichen tatsächlichen Entwicklung der Basisjahre fußen – oder es werden aufgrund der Vielzahl der Kommunen in der Regel nur pauschale Annahmen getroffen. Kleinräumige Bevölkerungsprognosen selbst zu rechnen bietet die entscheidende Möglichkeit, aus der Ortskenntnis heraus individuelle Annahmen zu treffen. Denn diese Annahmen zur natürlichen Entwicklung, den Wanderungen und dem Wohnungsbau haben einen wesentlichen Einfluss auf die Prognoseergebnisse.
Historie der gemeinsamen kleinräumigen Bevölkerungsprognosen
Die erste gemeinsame Prognose „Integrierte Einwohner-, Arbeitsplatz- und Wohnungsbedarfsprognose“ für den Prognosezeitraum 1980 bis 2000 wurde für die Landeshauptstadt Hannover und ihre 30 Prognosebezirke gerechnet sowie für den Landkreis Hannover und den damaligen Zweckverband Großraum Hannover gesamt (Landeshauptstadt Hannover 1982). Die Prognosebezirke der Landeshauptstadt Hannover werden in der Regel aus einem oder mehreren Stadtteilen gebildet und die Ergebnisse zudem aggregiert für die 13 Stadtbezirke.
Seit der zweiten Prognose „Einwohnerentwicklung für den Zeitraum 1990 bis 2000. Alternative Prognoserechnungen“ (Landeshauptstadt Hannover 1990) wird das Gebiet der heutigen Region Hannover für die Prognoserechnungen stets in 50 Prognosebezirke unterteilt: Die 30 Prognosebezirke der Landeshauptstadt Hannover und die 20 Städte und Gemeinden des Umlands stellen jeweils einen Prognosebezirk dar. Zusätzlich werden die Ergebnisse für die Ebene der 13 Stadtbezirke der Landeshauptstadt, die Landeshauptstadt Hannover gesamt, das Umland gesamt und die Region Hannover gesamt ausgewiesen.
1990 existierte neben der Landeshauptstadt Hannover und dem Landkreis Hannover noch der Zweckverband Großraum Hannover (1980–1992). Bei der dritten Prognoserechnung „Einwohnerentwicklung 1992 bis 2000 – Prognosen für den
Großraum, die Landeshauptstadt Hannover und den Landkreis Hannover“ (Landeshauptstadt Hannover 1993) war der Zweckverband bereits durch den Kommunalverband Großraum Hannover abgelöst worden. Auch bei der vierten Prognose „Einwohnerentwicklung 1995 bis 2010 – Prognosen für den Kommunalverband, die Landeshauptstadt und den Landkreis Hannover“ (Landeshauptstadt Hannover 1996): existierte diese räumliche Gliederung noch. Zur Zeit der fünften Prognose „Einwohnerentwicklung 2000 bis 2010 – Prognosen der Landeshauptstadt Hannover und der Städte und Gemeinden des Umlandes“ (Landeshauptstadt Hannover 2002) existierte bereits die Region Hannover. Sie hat den Kommunalverband und den Landkreis ersetzt. Das Gesamtgebiet der Region Hannover hat sich im Zeitraum der Prognoserechnungen in seinen Außengrenzen nicht verändert.
Anwendersoftware SIKURS
Die erste gemeinsam von der Landeshauptstadt Hannover und dem damaligen Zweckverband Großraum Hannover 1982 veröffentlichte „Integrierte Einwohner-, Arbeitsplatz- und Wohnungsbedarfsprognose“ wurde von der Landeshauptstadt Hannover mit dem MINIBEPRO-Modell der Prognos AG durchgeführt, ebenso die Prognosen von 1993, 1996 und 2002. Das MINIBEPRO-Modell wurde von der Prognos AG, Basel, in Zusammenarbeit mit der Landeshauptstadt Hannover und dem Zweckverband Großraum Hannover entwickelt.
Mit der Prognose „Einwohnerentwicklung 2007 bis 2015/2020 – Prognosen der Landeshauptstadt Hannover und der Städte und Gemeinden des Umlandes“ (Landeshauptstadt Hannover/Region Hannover 2008) erfolgte der Wechsel der Prognoserechnung zur Anwendersoftware SIKURS (Statistisches Informationssystem Kleinräumige Umlegung (Projektion) einer Regionalen Bevölkerungs-Struktur) des KOSIS-Verbundes (vergleiche den Artikel „SIKURS – Zur Geschichte und Zukunft eines Computerprogramms“ in diesem Heft). Die SIKURS-Gemeinschaft ist eine von zurzeit zwölf selbstständigen KOSIS-Gemeinschaften im KOSIS-Verbund (https:// www.staedtestatistik.de/ueber-uns/kosis 2024). Das SIKURSBevölkerungsprognosemodell ist ein ausgereiftes Instrument zur Herstellung kleinräumiger Bevölkerungsprognosen. Das SIKURS-Programmsystem ist als Prognosebaukasten konzipiert: Die einzelnen Bausteine können zu unterschiedlichen Prognosevarianten zusammengestellt werden.
Mit der Anwendersoftware SIKURS wurden nach 2008 auch die nächsten drei veröffentlichten gemeinsamen Prognosen gerechnet.
Die Prognose für den Zeitraum 2007 bis 2015/2020 brachte als weitere Neuerung eine Differenzierung des Prognosehorizonts: Die Ergebnisse für Landeshauptstadt Hannover, Umland gesamt und Region gesamt wurden für einen fünf Jahre längeren Zeitraum veröffentlicht als die kleinräumigen Ergebnisse auf Ebene der 50 Prognosebezirke. Dies trug dem Umstand Rechnung, dass im Prognosezeitverlauf die Unsicherheit der Ergebnisse auf kleinräumiger Ebene tendenziell gegenüber zusammengefassten größeren Raumeinheiten steigt. Diese Differenzierung des Prognosehorizonts wurde auch in den folgenden beiden Prognosen „Bevölkerungsprognose für die Region Hannover, die Landeshauptstadt Hannover und die Städte und Gemeinden des Umlands 2012 bis 2020/2025 (https://www.staedtestatistik.de/arbeitsgemeinschaften/kosis/ sikurs 2023) und „Bevölkerungsprognose für die Region Hannover, die Landeshauptstadt Hannover und die Städte und Gemeinden des Umlands 2014 bis 2025/2030“vorgenommen (Landeshauptstadt Hannover/Region Hannover 2012).
Bei der bislang letzten gemeinsamen Prognose „Bevölkerungsprognose für die Region Hannover, die Landeshauptstadt Hannover und die Städte und Gemeinden des Umlands 2019 bis 2030“ wurde der Prognosezeitraum nicht differen-
ziert veröffentlicht, sondern die Ergebnisse bis 2035 wurden lediglich auf Nachfrage für interne kommunale Zwecke zur Verfügung gestellt (Landeshauptstadt Hannover/Region Hannover 2020). Solche methodischen Variationen im Zeitverlauf hängen auch mit personellen Veränderungen in der Besetzung der gemeinsamen Arbeitsgruppe Bevölkerungsprognose im Laufe der Jahre zusammen.
Plausibilitätsprüfung der Bevölkerungsprognose 2019 bis 2030
Auch mit Blick auf die anstehende nächste gemeinsame Prognose wurde eine Plausibilitätsprüfung der Bevölkerungsprognose 2019 bis 2030 durchgeführt, d. h. die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung der Jahre 2020 bis 2023 wurden mit den Prognosezahlen dieser Jahre verglichen.
Die bislang gültige Prognose basiert auf dem Bevölkerungsstand am 30.06.2019 und umfasst einen zehnjährigen Prognosezeitraum von 2019 bis 2030 (31.12.2029). In der Prognose wird von einem moderaten Bevölkerungswachstum um 2,5 Prozent von 1,18 auf 1,21 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner in der Region Hannover ausgegangen. Im Vergleich zur tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung wurde die Bevölkerungszahl für die Region Hannover per 31.12.2023 um knapp 6.900 Personen unterschätzt (Prognose niedriger als Bestand), was einer Abweichung von 0,6 Prozent entspricht. Damit bildet die Prognose die regionale Bevölkerungsentwicklung gut ab.
Methodische Grundlage der Bevölkerungsprognose war eine Status quo-Prognose. Für beide Komponenten der Bevölkerungsentwicklung – die natürliche Entwicklung (Geburten und Sterbefälle) und die Wanderungen (Zu- und Fortzüge) –wurde die tatsächliche Entwicklung der letzten Jahre als Basis genommen. Für das Geburtenverhalten und die Sterblichkeit waren dies die Jahre 2015 bis 2018, für die Wanderungen die Jahre 2010 bis 2012 sowie 2016 bis 2018. Das Ausnahmejahr 2015 mit vielen Geflüchteten wurde nicht berücksichtigt. Das Hinzuziehen von drei früheren Jahren stellte die Struktur der Wanderungen auf eine breitere Basis. Zusätzlich wurden individuelle Annahmen getroffen, unter anderem zum Volumen des Außenzuzugs im Prognosezeitraum. Berücksichtigt wird auch
Abb. 2 Einwohnerentwicklung von 2008 bis 2029 in der Landeshauptstadt Hannover und im Umland der Region Hannover
Tab. 1 Vergleich der Bevölkerungszahl der Prognose 2019 bis 2030 mit dem Bestand für die Region Hannover, das Umland und die Landeshauptstadt Hannover für die Jahre 2020 bis 2023 (31.12.)
2020 Prognose
2021 Prognose
2022 Prognose
die quantitative Neubautätigkeit im Wohnungsbau. Insbesondere größere Neubaugebiete mit ihren positiven Einflüssen auf die kleinräumige Bevölkerungsentwicklung flossen im Prognosezeitraum ein.
Kurzfristige temporäre Sondereffekte, wie die Coronakrise und der Ukrainekrieg, konnten in der Prognose nicht berücksichtigt werden, haben aber einen Einfluss auf die tatsächliche Bevölkerungsstruktur und -entwicklung. Daher sind deren Auswirkungen in der Folgeprognose einzubeziehen. Für die Jahre 2020 und 2021 sind die Abweichungen zwischen den Prognosedaten und den Bestandsdaten eher marginal (siehe Tab. 1). Die Bevölkerungszahl für die Region Hannover insgesamt wurde für die Jahre 2020 und 2021 knapp überschätzt, jeweils um 0,5 Prozent und 0,7 Prozent. Während das Umland im Jahr 2020 nur eine Differenz von 0,2 Prozent (1.123 Personen) aufweist, fällt diese für die Landeshauptstadt Hannover mit 0,8 Prozent etwas höher (4.484 Personen) aus. Eine ähnliche leichte Abweichung ist auch zwischen den Prognoseund Bestandsdaten für die Region Hannover im Jahr 2021 zu erkennen.
Für die Jahre 2022 und 2023 wurde die Bevölkerungszahl für die Region Hannover leicht unterschätzt. 2022 wurde die Region Hannover mit 1.192.259 um 5.114 Personen unterschätzt. Diese Abweichung schlägt sich vor allem im Umland nieder, welches um 3.642 Personen zu niedrig prognostiziert wurde. Relativ gesehen liegt die Differenz aber nur bei -0,6 Prozent. 2023 wurde die Bevölkerungszahl der Region um 6.856 Personen unterschätzt, recht gleichmäßig verteilt auf das Umland (-3.295) und die Landeshauptstadt (-3.561).
In Abbildung 3 ist die erwartete prozentuale Bevölkerungsveränderung der Landeshauptstadt Hannover gesamt und der 20 Städte und Gemeinden des Umlands von 2019 bis 2030 dargestellt.
Eine kleinräumige Auswertung der Prognoseergebnisse und der realen Bevölkerungsdaten zeigt Abbildung 4. 2020 wurden zwölf Städte und Gemeinden des Umlands und die Landeshauptstadt Hannover leicht überschätzt. Die relativ größte Abweichung mit 2,9 Prozent zeigt sich in Barsinghausen mit einer Differenz von 991 Personen. In den übrigen Städten und Gemeinden, bis auf die Gemeinden Wedemark (1,2 %), Seelze (1,1 %) und Isernhagen (1,0 %) bewegen sich die Abweichungen zwischen der prognostizierten und realen Bevölkerungszahl zwischen 1,0 Prozent und -0,7 Prozent.
Ein anderes Bild zeigen die Jahre 2022 und 2023. Die leicht unterschätzte prognostizierte Bevölkerungszahl für die Jahre 2022 und 2023 betrifft vor allem die Städte und Gemeinden des Umlands. Im Jahr 2022 wurden 14 Städte und Gemeinden des Umlands sowie die Landeshauptstadt Hannover unterschätzt. Vor allem in Neustadt am Rübenberge (-2,75 %), Sehnde (-2,38 %) und in Barsinghausen (-1,81 %) leben mehr Personen als die Prognose erwartet hat. Die mit Abstand höchsten Abweichungen sind 2023 in Neustadt am Rübenberge mit -1.454 Personen (-3,2 %) und Sehnde mit -595 Personen (-2,4 %) zu verzeichnen. Hier lebten Ende 2023 somit mehr Personen als in der Prognose erwartet worden sind. In Pattensen hingegen wurde die Bevölkerung um 344 Personen (+2,3 %) überschätzt, hier leben weniger Personen als in der Prognose erwartet wurde.
Abb. 3 Ergebnisse der Bevölkerungsprognose 2019 bis 2030 für die Region Hannover auf Ebene der Landeshauptstadt Hannover und der 20 Städte und Gemeinden des Umlands in Prozent
Quelle: Landeshauptstadt Hannover/Region Hannover (2020): Bevölkerungsprognose für die Region Hannover, die Landeshauptstadt Hannover und die Städte und Gemeinden des Umlands 2019 bis 2030
Abb. 4 Kleinräumiger Vergleich der Bevölkerungszahl der Prognose 2019 bis 2030 mit dem Bestand für die Region Hannover, das Umland und die Landeshauptstadt Hannover für die Jahre 2020 bis 2023 (31.12.)
Innerhalb der Altersgruppen liegen die Abweichungen zwischen der Prognose und den Bestandsdaten in den Prognosejahren meist zwischen eher geringen -2,0 Prozent und 2,0 Prozent. Die Herausforderungen durch den Demographischen Wandel sind seit Jahren viel diskutiert. Vor dem Hintergrund, dass in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge ca. 1955 bis ca. 1965 sukzessiv aus dem Arbeitsleben ausscheiden werden und gleichzeitig die Zahl der Hochbetagten stark zunehmen wird, spielen jenseits der Frage, wie hoch der genaue Bevölkerungsbestand am Ende eines Prognosezeitraums sein wird, auch qualitative Veränderungen eine große Rolle. Dieser Wandel in den Bedürfnissen der Menschen, seien es die Ansprüche an das Wohnumfeld als auch ein höheres Risiko der Pflegebedürftigkeit, müssen langfristig berücksichtigt werden. Gleichzeitig braucht es einen weitsichtigen Blick, die sozialen, strukturellen, weichen Komponenten (wie Kita, Schule, Nahverkehr etc.) für Familien langfristig vorzuhalten.
Die Plausibilitätsprüfung zeigt, dass die Abweichungen der Bevölkerungsprognose 2019 bis 2030 mit der realen Bevölkerungszahl bislang marginal sind und die aktuelle Bevölkerungsprognose insgesamt die Realität gut abbildet. Die Sondereffekte der letzten Jahre schlagen sich vor allem kleinräumig nieder, gleichen sich aber bis Ende 2023 weitgehend aus.
Zehnte gemeinsame Bevölkerungsprognose 2024 bis 2035
Nach der letzten Veröffentlichung 2020 wird zurzeit die nächste gemeinsame kleinräumige Bevölkerungsprognose erstellt. Sie ist auch als ein Instrument der vorausschauenden Regions- und Stadtentwicklungsplanung zu sehen, und die Nachfrage nach aktuellen kleinräumigen Prognosezahlen ist ungebrochen hoch. Es gibt keinen festen Turnus der Prognoserechnung, der mehrjährige Abstand richtet sich jeweils nach den aktuellen Bedingungen (z. B. Grad der Abweichung der Prognose von der Realität, personelle Kapazitäten).
Die aktuelle Bevölkerungsprognose für den Zeitraum 2024 bis 2035 (Basis 31.12.2023) wird wie in der Vergangenheit von einer Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Verwaltungen der Landeshauptstadt Hannover und der heutigen Region Hannover erarbeitet. Der Arbeitsgruppe gehören traditionell seitens der Landeshauptstadt Hannover die Stadtentwicklung (aktuell Sachgebiet Stadtentwicklung) sowie die Statistikstelle (aktuell Sachgebiet Wahlen und Statistik) an, von der Region Hannover die Regionalplanung (aktuell Team Regionalplanung) sowie die Statistikstelle (aktuell Team Steuerungsunterstützung und Statistik). Schwerpunkt des Beitrags der Statistikstellen ist die Datenbereitstellung für die gewählten Basisjahre. Die Annahmen werden von der Arbeitsgruppe gemeinsam erörtert und getroffen. Die Berechnungen wie auch die textliche Beschreibung der Ergebnisse werden wie in der Vergangenheit von der Stadtentwicklung der Landeshauptstadt Hannover in enger Abstimmung mit der Arbeitsgruppe vorgenommen.
Der Ergebnisband wird in Arbeitsteilung erstellt. Herausgeberinnen der Veröffentlichung werden dementsprechend Landeshauptstadt und Region gemeinsam sein.
Die Vorarbeiten für die aktuelle Prognose begannen im März 2023 mit einem Treffen von ein paar Beschäftigten der
Stadtentwicklung der Landeshauptstadt und der Regionalplanung der Region Hannover. Hierbei wurde neues Personal vorgestellt und vereinbart, 2024 die nächste gemeinsame Prognose zu rechnen.
Im ersten Halbjahr 2024 fanden zwei Treffen der Arbeitsgruppe Bevölkerungsprognose statt. Beim ersten Termin Anfang April 2024 wurde eine Bilanz der letzten Prognose für den Zeitraum 2019 bis 2030 gezogen und über Ursachen der insgesamt nur geringen Abweichungen von der tatsächlichen Entwicklung diskutiert. Weitere Themen waren vor allem die Festlegung der Basisjahre und die erforderlichen Datenlieferungen hierfür, die Kommunikation nach innen und außen sowie der Zeitplan. Weiterhin wurden das Pro und Contra des Rechnens bzw. Veröffentlichens verschiedener Prognosevarianten diskutiert. Erste Annahmen u. a. zur Fertilität und den Außenzuzügen wurden andiskutiert.
Hinsichtlich der zu wählenden Basisjahre wurde auch mit Blick darauf, dass die letzte Prognose die tatsächliche Entwicklung der Jahre bis 2018 berücksichtigte, der Zeitraum 2019 bis 2023 (fünf Jahre) für sinnvoll erachtet. Während bei der letzten Prognose 2019 bis 2030 das Ausnahmejahr der Flüchtlingskrise 2015 nicht einfloss, wurde auch die Position vertreten, Sonderjahre nicht auszuschließen, da in der Realität unerwartbare, die Bevölkerungsentwicklung beeinflussende Entwicklungen eher die Regel als die Ausnahme darstellen. Andiskutiert wurde der Umgang mit Sondereffekten, insbesondere Coronaauswirkungen und der Kriegsausbruch in der Ukraine auf die natürliche Entwicklung und die Wanderungen.
Die Lieferung der für die Eingabedateien in SIKURS erforderlichen Zahlen an die Stadtentwicklung erfolgte seitens der Statistikstellen der Region und der Landeshauptstadt Hannover im Laufe des April und Mai 2024.
Schwerpunkt des zweiten Treffens der Arbeitsgruppe Bevölkerungsprognose Ende Mai 2024 war das gemeinsame Herleiten der Annahmen für den Prognosezeitraum. Dies erfolgte insbesondere unter Betrachtung der Situation in den Basisjahren sowie der Diskussion möglicherweise zu erwartender Sondereffekte im Prognosezeitraum. Da SIKURS modular aufgebaut ist – erst nach Berechnung der natürlichen Prognose werden die Wanderungen einbezogen – bezog sich die Diskussion der Annahmen primär auf die natürliche Entwicklung. In einem dritten Treffen der Arbeitsgruppe im Sommer sollen die Ergebnisse der natürlichen Prognoserechnung beurteilt und die Annahmen zu den Wanderungen diskutiert und getroffen werden. Bei Redaktionsschluss waren die Annahmen noch nicht abschließend festgelegt.
Das diesjährige Jubiläum der zehnten gemeinsamen kleinräumigen Bevölkerungsprognose von Landeshauptstadt Hannover und Region Hannover ist ein deutlicher Beleg für die Sinnhaftigkeit und den Erfolg, in einem engen Verflechtungsraum kleinräumige Bevölkerungsprognosen über Verwaltungsgrenzen hinweg als Gemeinschaftsprojekt zu begreifen. Die kontinuierliche Nachfrage nach kleinräumigen, altersgruppenspezifischen Prognosezahlen für die Region Hannover durch verwaltungsinterne Fachstellen und durch externe Institutionen bestätigt den anhaltenden Bedarf und zeigt den Mehrwert der langjährigen Zusammenarbeit zwischen Landeshauptstadt Hannover und Region Hannover.
Literatur
Rühmann, Angela (2001): Die unterschiedlichen Verbandsmodelle im Großraum Hannover. In: Großraum Hannover Eine Region mit Vergangenheit und Zukunft. Beitrag zur regionalen Entwicklung Heft 96 Hg.: Kommunalverband Großraum Hannover. Hannover, S. 31–49.
Landeshauptstadt Hannover (1982): Integrierte Einwohner-, Arbeitsplatz- und Wohnungsbedarfsprognose. Hannover. Schriften zur Stadtentwicklung Band 24.
Landeshauptstadt Hannover (1990): Einwohnerentwicklung 1990 bis 2000 Alternative Prognoserechnungen. Hannover. Schriften zur Stadtentwicklung Band 49.
Landeshauptstadt Hannover (1993): Einwohnerentwicklung 1992 bis 2010 Prognosen für den Großraum, die Landeshauptstadt und den Landkreis Hannover. Hannover. Schriften zur Stadtentwicklung Band 64.
Landeshauptstadt Hannover (1996): Einwohnerentwicklung 1995 bis 2010 Prognosen für den Kommunalverband, die Landeshauptstadt und den Landkreis Hannover. Hannover. Schriften zur Stadtentwicklung Band 74. Landeshauptstadt Hannover (2002): Einwohnerentwicklung 2000 bis 2010 Prognosen der Landeshauptstadt Hannover und der Städte und Gemeinden des Umlandes. Hannover. Schriften zur Stadtentwicklung Band 92.
Landeshauptstadt Hannover/Region Hannover (2008): Einwohnerentwicklung 2007 bis 2015/2020 Prognosen der Landeshauptstadt Hannover und der Städte und Gemeinden des Umlandes. Hannover. Schriften zur Stadtentwicklung Band 102.
https://www.staedtestatistik.de/ueber-uns/ kosis, abgerufen am 10.05.2024.
Landeshauptstadt Hannover/Region Hannover (2012): Bevölkerungsprognose für die Region Hannover, die Landeshauptstadt Hannover und die Städte und Gemeinden des Umlands 2012 bis 2020/2025. Hannover. Schriften zur Stadtentwicklung Band 112.
Landeshauptstadt Hannover/Region Hannover (2014): Bevölkerungsprognose für die Region Hannover, die Landeshauptstadt Hannover und die Städte und Gemeinden des Umlands 2014 bis 2025/2030. Hannover. Schriften zur Stadtentwicklung Band 120.
Landeshauptstadt Hannover/Region Hannover (2020): Bevölkerungsprognose für die Region Hannover, die Landeshauptstadt Hannover und die Städte und Gemeinden des Umlands 2019 bis 2030. Hannover. Schriften zur Stadtentwicklung Band 134.
Jörg Härle, Dieter Butz
Vorausberechnung der Wiesbadener Bevölkerung und Haushalte bis 2040
Mit der im Juli 2023 vorgelegten Bevölkerungsvorausberechnung wird die Einwohnerentwicklung Wiesbadens bis zum Jahr 2040 fortgeschrieben. Kleinräumige Ergebnisse bis 2035 liegen für die 26 Ortsbezirke vor. Einen Schwerpunkt dieses Beitrags bilden die methodische Vorgehensweise sowie die Beschreibung und Begründung der für die Prognose getroffenen Annahmen. Gezeigt wird unter anderem die hohe Abhängigkeit künftiger Entwicklungen vom Volumen und von der Realisierung geplanter Neubautätigkeit. Als Anschlussprognose wurde die Zahl und Größenstruktur der Haushalte vorausberechnet. Ein Vergleich mit den Ergebnissen überregionaler Prognosen rundet den Beitrag ab.
Bevölkerungsvorausberechnungen haben in der Landeshauptstadt Wiesbaden eine lange Tradition; sie wurden bisher regelmäßig in Zeitabständen von rund fünf Jahren durchgeführt. Ihr Anspruch ist es aufzuzeigen, wie sich die Bevölkerung unter bestimmten, aus heutiger Sicht plausiblen Annahmen über einen festgelegten Zeitraum hinweg entwickeln wird. Sie bieten insoweit eine Datengrundlage für kommunalpolitisches Handeln und insbesondere eine Entscheidungshilfe bei mittelfristigen Investitions- und Infrastrukturplanungen. Die vorletzte Bevölkerungsprognose des Amtes für Statistik und Stadtforschung stammt aus dem Jahr 2017 und umfasst den Prognosezeitraum bis 2035. Ende 2022 lag die tatsächliche Einwohnerzahl Wiesbadens bei 296.127 und damit um rund 1.000 unter dem, was aufgrund der damaligen Vorausberechnung zu erwarten war. Die Abweichung ist vergleichsweise gering und hätte allein nicht die Berechnung einer neuen Prognose gerechtfertigt. Doch erst die jüngste Bevölkerungsentwicklung des Jahres 2022 mit über 3.000 Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine hat dazu geführt, dass die reale Einwohnerzahl über dem seinerzeit prognostizierten Wert liegt. Zudem entsprachen auch die Bevölkerungszahlen in einigen Teilgruppen sowie in den Ortsbezirken nicht mehr der 2017 vorausberechneten Entwicklung. Die veränderten Rahmenbedingungen machten also eine Überarbeitung und Aktualisierung der Prognose erforderlich; gleichzeitig wurde der Prognosehorizont für die Gesamtstadt bis ins Jahr 2040 verlängert. Alle Ergebnisse sind in der Publikationsreihe „Stadtanalysen“ des Amtes für Statistik und Stadtforschung veröffentlicht (Landeshauptstadt Wiesbaden 2023).
Jörg Härle
Dipl.-Statistiker, Amt für Statistik und Stadtforschung der Landeshauptstadt Wiesbaden : joerg.haerle@wiesbaden.de
Dieter Butz
Anthropologe M.A., Amt für Statistik und Stadtforschung der Landeshauptstadt Wiesbaden : dieter.butz@wiesbaden.de
Um die künftigen Entwicklungen nicht nur gesamtstädtisch, sondern auch stadtteilbezogen aufzeigen zu können, wurde die Bevölkerungsprognose kleinräumig, und zwar auf Ebene der 26 Wiesbadener Ortsbezirke, vorgenommen. Insbesondere für infrastrukturelle Fachplanungen sind kleinräumige Prognoseergebnisse von Bedeutung. Zugleich sind aber Vorausberechnungen auf kleinräumiger Ebene mit zusätzlichen Unwägbarkeiten verbunden; deshalb greift die Prognose für die Ortsbezirke nur bis zum Jahr 2035.
Seit 2008 wird in den Wiesbadener Bevölkerungsprognosen hinsichtlich der Staatsangehörigkeit nicht nur zwischen Deutschen und Ausländer/-innen differenziert; vielmehr wird die Bevölkerung in drei Gruppen aufgegliedert:
- Deutsche ohne Migrationshintergrund, - Deutsche mit Migrationshintergrund, also Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit und ausländischen Wurzeln und
- Ausländerinnen und Ausländer, also Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit.
Die kleinräumige Bevölkerungsprognose beruht auf einem Rechenmodell, das die Bevölkerung unter Berücksichtigung der getroffenen Annahmen für die Zukunft Jahr für Jahr fortschreibt. Die Rechenschritte wurden mit dem Programm SIKURS umgesetzt, das vom KOSIS-Verbund eigens für kleinräumige Bevölkerungsvorausberechnungen entwickelt wurde und in zahlreichen Städten eingesetzt wird.
Entscheidend für die Qualität der Prognose ist die Tragfähigkeit der Annahmen. Die Annahmen werden im Wesentlichen aus Daten und Informationen abgeleitet, die für einen bestimmten Zeitraum der Vergangenheit (sogenannter Referenzzeitraum, in der Regel 2018 bis 2022) analysiert werden. Zusätzlich werden Hypothesen über die künftige Entwicklung aufgestellt, so beispielsweise zur Lebenserwartung, zum Fertilitätsverhalten oder zu Haushaltsbildungsprozessen. Die folgende Übersicht dokumentiert die getroffenen Annahmen (Tab. 1).
An dieser Stelle sollen anhand von zwei Beispielen die Annahmen noch etwas präzisiert werden:
Sterbefälle: Für den Start der Prognose wurden die geschlechts- und altersspezifischen Sterberaten der Jahre 2018 bis 2022 zugrunde gelegt. Sie entsprechen einer derzeitigen durchschnittlichen Lebenserwartung von 79,3 Jahren für Wiesbadener Männer und von 83,5 Jahren für Wiesbadener Frauen. Zusätzlich wurde eine Dynamisierung vorgenommen: Nach der 2022 vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten „15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung“ wird die Lebenserwartung der Männer von 2019/2021 bis 2040 um 2,7 Jahre und die der Frauen um 2,0 Jahre ansteigen (Annahme „L2“). Unter Berücksichtigung der aktuellen Lebenserwartung in Wiesbaden bedeutet diese Steigerung bis 2040 einen Zielwert von 82,0 Jahren (Männer) bzw. 85,5 Jahren (Frauen). Für das Prognosemodell wurden die Sterberaten innerhalb des Prognosezeitraums Jahr für Jahr linear vermindert, so dass im letzten Prognosejahr 2040 die verlängerte Lebenserwartung erreicht wird.
Tab. 1 Annahmen der Wiesbadener Bevölkerungsvorausberechnung
Prognosekomponente Annahmen
Bevölkerungsgruppenwechsel: Die Differenzierung der Prognose nach drei Bevölkerungsgruppen (Deutsche ohne Migrationshintergrund, Deutsche mit Migrationshintergrund, Ausländer/-innen) macht es notwendig, auch Wechsel zwischen diesen Gruppen abbilden zu können. Der Wechsel von der Gruppe „Ausländer/-innen“ zur Gruppe „Deutsche/r mit Migrationshintergrund“ entspricht einer Einbürgerung; diese wird durch alters- und geschlechtsspezifische Einbürgerungsraten operationalisiert. Ein weiterer prognoserelevanter Gruppenwechsel ist der Übergang vom „Deutschen mit Migrationshintergrund“ zum „Deutschen ohne Migrationshintergrund“. Dieser betrifft fast ausschließlich Kinder mit familiärem Migrationshintergrund (also mit mindestens einem Elternteil fremder Herkunft), die das Volljährigkeitsalter erreichen und bei denen der Migrationshintergrund der Eltern dann keine Rolle mehr spielt bzw. aus melderechtlichen Gründen auch gar nicht mehr zur Verfügung steht.
Nützliches Hilfsmittel: Ex-post-Prognosen
Sind die Raten, Quoten und Prognoseparameter berechnet, so bietet es sich an, eine sogenannte Ex-post-Prognose durchzuführen. Das Prinzip: Mit den ermittelten Raten und Quoten wird der Bevölkerungsbestand aus der Vergangenheit in die Gegenwart prognostiziert. Beziehen sich beispielsweise die Eingabeparameter auf den Referenzzeitraum 2018 bis 2022, so startet man mit der Bevölkerung zum 31.12.2017 und prognostiziert bis zum 31.12.2022. Abweichungen der generierten Bewegungsdaten bzw. des Endbestandes von der Realität sind mögliche Indizien für fehlerhafte Ratenberechnungen, für zu grobe Zusammenfassungen oder für zu radikale Glättungen. Am Schluss wird dann jene Konstellation von Parametern „für den Echtbetrieb“ ausgewählt, die die geringsten Abweichungen zur Realität produziert. Voraussetzung für einen solchen Vergleich ist natürlich, dass die Bevölkerungsbewegungen der Vergangenheit zu den jeweiligen Bestandsveränderungen kompatibel sind.
Geburten Die Geburtenraten entsprechen dem Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2022. Sterbefälle Startwert sind die durchschnittlichen Sterberaten 2018 bis 2022. Lineare Erhöhung der Lebenserwartung bis 2040 um 2,2 Jahre (Männer) bzw. 1,7 Jahre (Frauen).
Einbürgerungen Die Einbürgerungsraten entsprechen dem Durchschnitt der Jahre 2017 bis 2021.
Zuzüge nach Wiesbaden 17.000 Zuzüge pro Jahr plus Zuzüge in Neubauwohnungen (abhängig vom jährlich geplanten Neubauvolumen). Demographische Struktur wie im Referenzzeitraum 2018 bis 2022. Bestand an Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften bleibt konstant.
Fortzüge aus Wiesbaden Die Fortzugsraten entsprechen dem Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2022.
Umzüge innerhalb Wiesbadens Die Umzugsraten entsprechen dem Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2022.
Neubautätigkeit Zahl der voraussichtlichen Neubauwohnungen bis 2040 gemäß Angaben des Stadtplanungsamtes. Belegung mit 2,5 Personen, demographische Struktur wie im Referenzzeitraum 2018 bis 2022.
Weitere Annahme: 42 % der Neubaubezieher kommen von außerhalb.
Haushaltsbildungsverhalten Die Haushaltsmitgliederquoten entsprechen dem Stand vom 31.12.2022.
Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung
Abb. 1 Bevölkerung 2000 bis 2022 und vorausberechnete Bevölkerung 2023 bis 2040
Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung
Typisierung der Ortsbezirke und Glättung von Parametern
Eine wiederkehrende Herausforderung ist die Frage, ob und wie kleinere Gebietseinheiten zu „Typen“ zusammengefasst werden sollen. Empfohlen wird üblicherweise eine Grenze von 10.000 Einwohnern, unterhalb derer Stadtteile für die Ratenund Quotenbildung nicht isoliert behandelt werden sollten.
Zur Beantwortung dieser Frage wurden Ex-post-Prognosen gerechnet, deren Ergebnisse je nach Bewegungsart unterschiedliche Entscheidungen zur Folge hatten:
Für die Geburtenraten wurden die Ortsbezirke in vier Typen unterteilt; hierzu wurden pro Ortsbezirk die (zusammengefassten) Geburtenziffern der letzten fünf Jahre berechnet und anhand einer sortierten Liste in Quartile gruppiert.
Auch für die Sterberaten mussten die Ortsbezirke typisiert werden, da ex post die Sterbefälle der Vergangenheit nicht mit gebietseinheitlichen Sterberaten zu reproduzieren waren. Die Typisierung geschah anhand der prozentualen Abweichung der Ex-post-Werte von den realen Sterbefallzahlen. Hier reichte es aus, zwei Gebietstypen zu definieren.
Hinsichtlich der Wanderungsbewegungen scheiterten alle Typisierungsversuche: Anhand von Ex-post-Prognosen konnte keine geeignete Zusammenfassung gefunden werden, die vernünftige Ergebnisse reproduziert hätte. Letztlich wurde entschieden, ohne Typisierung der Ortsbezirke zu arbeitenobwohl die Hälfte der 26 Wiesbadener Ortsbezirke weniger als 10 000 Einwohner/-innen hat. Für die SIKURS-Anwendung heißt das: In der Datei REFTYP wird jeder Ortsbezirk einem eigenen Typ zugeordnet.
Die in SIKURS angebotene Möglichkeit, Raten und Quoten zu glätten, wurde genutzt; verwendet wurde dabei fast durchgehend die Savitzky-Golay-Glättung (2. Ordnung, Gleitfensterbreite: 6).1
Ergebnisse der Bevölkerungsvorausberechnung
Zu Beginn des Prognosezeitraums am 31.12.2022 lebten in Wiesbaden 296.127 Einwohnerinnen und Einwohner. Mit dieser Zahl, differenziert nach Alter, Geschlecht, Migrationsstatus und Ortsbezirk startet die Vorausberechnung, und zwar in drei Varianten:
- Die mittlere Variante: Sie geht davon aus, dass die Neubautätigkeit in dem geplanten Umfang und auch in dem anvisierten Zeitraum stattfindet.
- Die untere Variante basiert auf der Annahme, dass die Neubautätigkeit nicht in dem geplanten Umfang stattfindet. Gerade die Realisierung der als Perspektivflächen ausgewiesenen Gebiete in den 2030er Jahren ist mit Unsicherheiten behaftet.
- Die obere Variante geht davon aus, dass alle Neubaugebiete wie geplant entwickelt werden und dass alle durch Neubaubezug freiwerdenden Altbauwohnungen vollumfänglich wiederbelegt werden und zwar mit einem leicht erhöhten Zuzugsvolumen von außerhalb.
Die mittlere Variante ist die Hauptvariante, deren Ergebnisse in diesem Beitrag dokumentiert sind und die auch gegenüber Verwaltung und Politik als realistische Grundlage für Fachplanungen empfohlen wurde. Obere und untere Variante sind lediglich „begleitende“ Varianten, die auf Gesamtstadtebene zeigen sollen, wie alternative Entwicklungen verlaufen könnten und welche Bevölkerungsentwicklung bei geänderten Vorgaben zu erwarten ist.
Folgt man der mittleren Variante, so dürfte die Bevölkerung Wiesbadens bis 2030 um 3,9 % wachsen, wobei schon im Verlauf des Jahres 2025 die Marke von 300 000 erreicht werden könnte. Ab 2030 setzt sich das Wachstum sogar leicht beschleunigt fort, 2040 beträgt das Plus gegenüber heute 10,9 %.
Hohe Abhängigkeit von der künftigen Neubautätigkeit
Die künftige Entwicklung der Bevölkerungszahlen wird ganz wesentlich von der weiteren Neubautätigkeit abhängig sein. Ohne Neubau würde auch die Bevölkerungsentwicklung stagnieren. Die Zahl der Zuzüge müsste im Vergleich zur Vergangenheit etwas steigen, um den zunehmenden Sterbeüberschuss auszugleichen, ansonsten wäre - bei diesem rein hypothetischen Szenario - sogar mit einem Bevölkerungsrückgang zu rechnen. Neben dem Umfang der Neubautätigkeit stellt sich für die Vorausberechnung auch die Frage, wer die Neubauwohnungen bezieht. Neubauwohnungen werden sowohl von außerhalb (durch Zuzug) als auch aus der Stadt (durch Umzug) bezogen. In den letzten Jahren hat sich hier ein Verhältnis von 42 zu 58 eingependelt. D.h. von 100 Neubaubeziehern kommen 42 von außerhalb und 58 aus der Stadt selbst. Dieses Verhältnis war nicht immer so. In den Jahren vor 2015 kamen (nur) knapp über 30 % der Neubaubezieher von außerhalb. Dass früher die Baugebiete deutlich häufiger von alteingesessenen Wiesbadenerinnen und Wiesbadenern bezogen wurden als heute, lässt sich unter anderem damit erklären, dass es über lange Zeit einen Trend zur stetigen Haushaltsverkleinerung gab. Dieser Trend ist in dieser Form für die letzten Jahre nicht mehr festzustellen. Übrigens: Wenn eine Altbauwohnung leer wird, weil ihre Bewohnerinnen und Bewohner in einen Neubau gezogen sind, dann wird der Altbau
Abb. 2 Aufbau der Wiesbadener Bevölkerung 2040 (Vorausberechnung) und 2022
Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung
im gleichen Verhältnis (durch Zuzug und Umzug) wiederbelegt wie die Neubauten.
Achtung: keine Wohnungsbedarfsprognose!
In die Bevölkerungsvorausberechnung gehen Annahmen zum künftigen Neubau und damit das zu erwartende Wohnungsangebot ein. So können die (kleinräumigen) Auswirkungen bekannter Wohnbauprojekte berücksichtigt werden. Das heißt aber auch: Das Neubauvolumen führt zu Zuzügen von außen und beeinflusst damit die Bevölkerungsentwicklung. Umgekehrt verbietet es sich daher, die prognostizierte Zahl der Bevölkerung bzw. der Haushalte mit der Nachfrage nach zusätzlichem Wohnraum gleichzusetzen.
Altersaufbau der Bevölkerung
Abbildung 2 zeigt den prognostizierten Aufbau der Wiesbadener Bevölkerung nach Geschlecht, Alter und Migrationsstatus am 31.12.2040. Zum Vergleich zeigt die durchgezogene rote Linie den heutigen Stand.
Die heutige Bevölkerungspyramide zeigt ihre stärksten „Ausschläge“ bei den 55- bis 60-Jährigen. Das sind die besonders geburtenstarken Jahrgänge aus den 1960er Jahren. Auch der „Pillenknick“ aus den 1970er Jahren ist noch gut
an den weniger stark besetzten Altersjahrgängen der 45- bis 50-Jährigen zu erkennen. Selbst der Zweite Weltkrieg hinterlässt auch heute noch seine Spuren in der Alterspyramide. Die geringeren Geburtenraten und die höhere Kindersterblichkeit zeigen sich noch deutlich bei den heute um die 75-Jährigen.
Zum Ende des Prognosezeitraums im Jahr 2040 hat sich der Aufbau der Pyramide deutlich geändert. Alle heute lebenden Personen sind in der Pyramide um 18 Jahre älter geworden und nach „oben gewandert“. Die Basis der Pyramide wird von den Geburtsjahrgängen der nächsten Jahre besetzt. Die heute unter 18-Jährigen werden zu den jungen Erwachsenen im Jahr 2040; sie stellen dann den stärksten Bevölkerungsanteil. Der ausgeprägte „Bauch“ der Pyramide bei den 30-Jährigen im Jahr 2040 im Vergleich zum heutigen Bevölkerungsaufbau ist in ganz wesentlichen Teilen auf die rege Neubautätigkeit zurückzuführen. Die geburtenstarken Jahrgänge der 60er Jahre sind dann schon über 70 Jahre alt, sind aber immer noch deutlich in der Pyramide auszumachen.
Abbildung 3 verdeutlicht – zunächst für drei Altersklassen – die Veränderung der Bevölkerungsentwicklung im Vergleich zu heute. Für Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren ist in den nächsten Jahren mit einem moderaten Zuwachs zu rechnen. Bedingt durch die intensive Neubautätigkeit ab 2031 steigt die Zahl der Jungen deutlich an. Gegen Ende des Berech -
Abb. 3 Prognostizierte Bevölkerung 2023 bis 2040 in drei Altersklassen Veränderung gegenüber 2022
Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung
Abb. 4 Prognostizierte Bevölkerung (Kinder und Jugendliche) 2023 bis 2040 Veränderung gegenüber 2022
Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung
nungszeitraums ist mit etwas über 61.000 unter 20-Jährigen zu rechnen, was einem Zuwachs von 8,4 % gegenüber heute entspricht.
Die Entwicklung der Personen im erwerbsfähigen Alter von 20 bis 64 Jahren verläuft nahezu gleich wie bei den Jungen. Auch hier ist ein leichter Zuwachs bis zum Jahr 2030 zu erwarten. Gegen Ende des Prognosezeitraums steigt die Zahl der Personen im Erwerbsalter von heute 181.000 auf dann fast 195.000, was insgesamt einem Zuwachs von 7,8 % entspricht.
Ganz anders sieht die Entwicklung bei den Älteren ab 65 Jahren aus. Über den gesamten Prognosezeitraum wird die Zahl der Älteren kontinuierlich zunehmen. Derzeit leben etwa 58.000 Personen in der Stadt, die 65 Jahre und älter sind. Gegen Ende des Prognosezeitraums werden es 72 000 sein, was einer Zunahme von 23 % entspricht.
Kinder und Jugendliche (unter 20-Jährige)
Die Zahl der Kinder im Vorschulalter wird in den kommenden Jahren leicht zurückgehen. Gegen 2030 wird wieder das heutige Niveau erreicht. Mit der geplanten Neubautätigkeit in den 2030er Jahren steigt auch die Zahl der Vorschulkinder an, so dass es im Jahr 2040 fast 19.000 sein werden.
Bei den Kindern von 6 bis 9 Jahren schwankt der Kurvenverlauf sehr stark, zumindest zu Beginn des Prognosezeitraums. Dies hat auch gute Gründe. In den Jahren 2016 und 2017 gab es außergewöhnlich viele Geburten. Diese geburtenstarken Jahrgänge kommen ab 2023 in die Gruppe der 6- bis 9-Jährigen. Deshalb legen die Grundschulkinder am Anfang des Beobachtungszeitraums so stark zu. Nach 2017 sanken die Geburtenzahlen wieder auf die Werte der Vorjahre, was sich dann auch entsprechend durch einen Rückgang in der Prognose bemerkbar macht. Wie bei den Vorschulkindern ist aber in den 2030er Jahren wieder mit einem deutlichen Anstieg zu rechnen.
Die Zahl der Jugendlichen von 10 bis 19 Jahren wird von heute 28.400 auf 30.000 bis Ende des Jahrzehnts steigen, was einem Zuwachs von etwa 6 % entspricht. Danach ist zwar noch mit einer leichten Zunahme in dieser Altersgruppe zu rechnen, doch der Anstieg bleibt moderat.
Altenbevölkerung (65-Jährige und Ältere)
Am auffälligsten werden die Veränderung im Altersaufbau der Bevölkerung im Renten- und Pensionsalter sein. Heute leben in der Stadt knapp über 58.000 Einwohner und Einwohnerinnen, die 65 Jahre und älter sind. Das wird sich in den nächsten Jahren merklich ändern. Im Jahr 2030 werden es schon über 65.000 sein, 2035 sind es nahezu 70.000. Gegen Ende des Berechnungszeitraums im Jahr 2040 werden 72.000 Personen in der Stadt leben, die zum älteren Teil der Bevölkerung zählen. Im Vergleich zu heute sind das 23 % mehr. Gravierend zeigt sich der Anstieg bei den „jungen Alten“. Es handelt sich dabei um die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre, die langsam vom Arbeitsleben in das Rentenalter überwechseln. Derzeit leben 28.000 der jungen Alten im Alter von 65 bis unter 75 Jahren in der Stadt. 2035 werden es über 36.000 sein und damit fast ein Drittel mehr als heute. Gegen Ende des Prognosehorizonts geht die Zahl der jüngeren Alten wieder etwas zurück, denn die geburtenstarken Jahrgänge haben dann diese Altersklasse durchwandert und erreichen die nächste. Die nicht so stark besetzte Gruppe
der Kriegs- und direkten Nachkriegsgeneration ist zu Beginn des Prognosezeitraums zwischen 75 und 85 Jahre alt. Knapp über 21.000 leben heute aus dieser Generation in der Stadt. Nach einem leichten Rückgang bis 2030 steigt ihre Zahl steil an, denn dann erreichen die Babyboomer der 1960er Jahre diese Altersklasse.
Deutliche Zuwächse wird es auch bei den Hochbetagten geben. Derzeit sind in Wiesbaden 8.900 Menschen 85 Jahre und älter. Gegen Ende des Prognosehorizonts werden es über 11.000 sein, was einem Zuwachs von fast 30 % entspricht.
Entwicklung in den Ortsbezirken
Je kleiner die Gebiete einer Bevölkerungsvorausberechnung gewählt werden, desto unsicherer werden die Ergebnisse. Während sich kleinere prognostische Unsicherheiten auf Gesamtstadtebene verlieren oder gegenseitig ausgleichen, können sie auf der Ebene der Ortsbezirke größere Auswirkungen haben. Mehr noch als in der Gesamtstadt ist die künftige Bevölkerungsentwicklung auf kleinräumiger Basis abhängig von der Realisierung geplanter Neubauvorhaben. Da gerade die Neubautätigkeit in der zweiten Hälfte der 2030er Jahre mit großen prognostischen Unsicherheiten behaftet ist, wird die kleinräumige Prognose für die Wiesbadener Ortsbezirke nur bis zum Jahr 2035 durchgeführt.
Im Großen und Ganzen sind die Ergebnisse nicht überraschend. Grob vereinfachend lässt sich sagen: Wo gebaut wird, wächst die Bevölkerung, wo nicht gebaut wird, stagniert (oder schrumpft) sie.
Im Ergebnis ist in acht Ortsbezirken bis 2035 mit einem (leichten) Bevölkerungsrückgang zu rechnen. Neun Ortsbezirke können mit Zuwächsen bis zu 5 % rechnen. In weiteren neun Ortsbezirken ist ein Bevölkerungswachstum von mehr als 5 % zu erwarten. Den Extremfall bildet ein Ortsbezirk, in dem ab 2030 eine umfangreiche städtebauliche Entwicklungsmaßnahme realisiert werden soll, was dann bis 2035 zu einem 60-prozentigen Einwohnerplus führen dürfte. Ob und wann die – umstrittenen - Pläne realisiert werden, ist indes zum heutigen Stand nicht sicher.
Abb. 5 Prognostizierte Bevölkerung (65 Jahre und älter) 2023 bis 2040 Veränderung gegenüber 2022
Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung
Vorausberechnung der Privathaushalte
Informationen über die künftig mögliche Entwicklung der Wiesbadener Privathaushalte bis 2040 liefert eine Haushaltsprognose, die im Anschluss an die Vorausberechnung der Bevölkerung durchgeführt wurde. Aufgrund der Unsicherheit kleinräumiger Hypothesen zum Haushaltsbildungsverhalten beschränkt sie sich auf die Gesamtstadt. Die Haushaltsprognose wurde nicht mit dem in SIKURS integrierten Modul HHPROG gerechnet, sondern außerhalb von SIKURS mit der Statistik-Software SAS.
Über einen langen Zeitraum stieg die Zahl der Privathaushalte in Wiesbaden stärker als die Bevölkerungszahl selbst, verbunden mit einem kontinuierlichen Haushaltsverkleinerungsprozess. Seit etwa fünf Jahren scheint jedoch der Trend zu immer kleineren Haushalten in Wiesbaden gebrochen: Zwar stieg die Zahl der Einpersonenhaushalte überproportional, gleichzeitig erhöhte sich aber gerade in den letzten Jahren auch die Zahl größerer Haushalte mit vier und mehr Personen. Auf Hypothesen zu künftigen Veränderungen im Haushaltsbildungsverhalten wurde deshalb verzichtet. Die vorliegende Haushaltsprognose stellt somit eine „Status-Quo-Prognose“ dar, die ein konstantes Haushaltsbildungsverhalten (auf dem Stand von 2022) unterstellt.
Für die Haushaltsprognose musste noch die prognostizierte Bevölkerung (am Ort der Hauptwohnung) umgerechnet werden in die Bevölkerung in Privathaushalten.2 Dies geschah durch Multiplikation der Bevölkerungszahlen mit Faktoren, die das spezifische Verhältnis der Bevölkerung in Privathaushalten zur Bevölkerung am Ort der Hauptwohnung, differenziert nach Alter, Geschlecht und Migrationsstatus, wiedergeben. Unter diesen Annahmen verläuft die künftige Entwicklung der Bevölkerung in Privathaushalten nahezu parallel zur prognostizierten Hauptwohnsitz-Bevölkerung, liegt aber stets knapp darunter.
Die Berechnung der Haushalte selbst wurde nach dem Haushaltsmitgliederquotenverfahren vorgenommen – einem Vorgang, bei dem die vorausberechnete Bevölkerung mittels Quoten auf die verschiedenen Haushaltsgrößen verteilt wird. Die Haushaltsmitgliederquoten zum Stichtag 31. Dezember 2022 wurden - in der Differenzierung nach Geschlecht und Altersgruppen - mit der prognostizierten und gleichermaßen gruppierten Bevölkerung in Privathaushalten multipliziert. Auf diese Weise erhält man die Zahl der Personen, die in Haushalten einer bestimmten Mitgliederzahl leben. Um schließlich die zukünftige Zahl der Privathaushalte zu ermitteln, wird die Zahl der Personen einer bestimmten Haushaltsgröße durch die Zahl ihrer Mitglieder dividiert.
Im Ergebnis steigt die Zahl der Haushalte nur geringfügig stärker als die Bevölkerungszahl. Ein überproportionaler Zuwachs ist bei den Ein- und Zweipersonenhaushalten zu erwarten; die Ursache hierfür ist eine Verschiebung der Altersverteilung zugunsten älterer Jahrgänge, für die kleine Haushalte eine besonders häufige Form des Zusammenlebens darstellen. Bei größeren Haushalten wird künftig ebenfalls ein Zuwachs erwartet, der allerdings weniger stark ausfällt. Mit einem (schwachen) Absinken der durchschnittlichen Haushaltsgröße ist somit – allein aufgrund der demographischen Entwicklung – in Zukunft zu rechnen.
Weitere Bevölkerungsprognosen für Wiesbaden
Für die Landeshauptstadt Wiesbaden liegen die Ergebnisse weiterer regionalisierter Bevölkerungsvorausberechnungen vor. Sie beziehen sich ausschließlich auf die räumliche Ebene der Gesamtstadt, weisen also im Gegensatz zur städtischen Prognose keine Zahlen für Ortsbezirke aus. Auch können sie naturgemäß keine Informationen über begonnene oder geplante Neubaumaßnahmen berücksichtigen.
- Auf Basis der 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung von Bund und Ländern hat das Hessische Statistische Landesamt (HSL) für die kreisfreien Städte und Landkreise eine Prognose bis 2050 veröffentlicht. Den Berechnungen zufolge gewinnt Wiesbaden innerhalb des Jahres 2023 noch rund 200 Einwohner hinzu; danach sinkt die Bevölkerungszahl, ab 2030 sogar in beschleunigtem Tempo, was 2040 gegenüber 2022 zu einer um 3,2 % niedrigeren Einwohnerzahl führt.
- Im Jahr 2019 hat die „HA Hessen Agentur GmbH“ im Auftrag des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen ebenfalls eine regionalisierte Bevölkerungsvorausschätzung für Hessen vorgelegt. Bis 2040 wird ein Plus von 4,1 % erwartet.
- Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung hat im Februar 2021 eine Raumordnungsprognose erstellt, die den Zeitraum von 2017 bis 2040 umfasst. Ähnlich wie die Hessen-Agentur sieht auch das BBSR für Wiesbaden einen stetigen, gleichwohl etwas geringeren Einwohnerzuwachs: bis 2040 um 2,0 %.
Alle drei überregionalen Prognosen beruhen auf der amtlichen Bevölkerungszahl, während die neue städtische Prognose auf dem Wiesbadener Einwohnermelderegister basiert. Die Bevölkerungszahl des Registers liegt derzeit um rund 13.000 höher als die amtliche Fortschreibung.
Insbesondere die Vorausberechnung des HSL hat in der Wiesbadener Öffentlichkeit für Diskussionen gesorgt, bei denen – angesichts schrumpfender Bevölkerungszahlen – die Notwendigkeit größerer Neubauprojekte in Frage gestellt wurde. Die Gründe für die gegensätzlichen Entwicklungen sind schnell ausgemacht: Abgesehen von unterschiedlichen Referenzzeiträumen sind es vor allem die Annahmen bezüglich der Neubautätigkeit (und damit des Wohnraumangebots), die nur in der städtischen Prognose, nicht aber in der des HSL Berücksichtigung finden konnten.
Animierte Grafiken
Ergänzend zur herkömmlichen Berichtsform wurden auf https://statistik.wiesbaden.de/ ausgewählte Ergebnisse der Prognose in einem digitalen und interaktiven Format bereitgestellt. Hier lassen sich
- anhand einer animierten Bevölkerungspyramide3 der Altersaufbau der Wiesbadener Bevölkerung in Vergangenheit und Zukunft (2000 bis 2040) verfolgen,
- Kurvendiagramme mit selbst ausgewählten Altersgruppen erzeugen und - mit animierten Balkendiagrammen die Bevölkerungsentwicklung in den Ortsbezirken Jahr für Jahr illustrieren. Außerdem besteht die Möglichkeit, Tabellen im Excel-Format zur Weiterverarbeitung herunterzuladen.
Veröffentlichung und weitere Planung
Im September 2023 wurden die Ergebnisse der Wiesbadener Bevölkerungsvorausberechnung im Rahmen einer Pressekonferenz den Medienvertretern vorgestellt. Gleichzeitig wurde eine ausführliche Pressemitteilung herausgegeben. Mehrere Zeitungen des Rhein-Main-Gebiets griffen das Thema auf. Die Erfahrung zeigt, dass nicht oft genug auf den „Wenndann“-Charakter jeder Prognose hingewiesen werden kann: Auf der Grundlage heute verfügbarer Erkenntnisse werden zukünftige Entwicklungen dargestellt und deren Auswirkungen analysiert. Wie schnell sich demographische Rahmenbedingungen im Prognosezeitraum verändern können, hat zuletzt die Zuwanderung von Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine seit 2022 gezeigt.
Da ungewiss ist, wie sich Zuwanderungen und andere Einflussfaktoren auf die Bevölkerungszahl in der Zukunft tatsächlich entwickeln, werden die Prognoseannahmen re -
gelmäßig mit der realen Entwicklung abgeglichen. Sollten sich die Annahmen grundlegend verändern, muss über die Notwendigkeit einer Neuberechnung entschieden werden.
1 Eine Ausnahme bildeten die Raten zum Bevölkerungsgruppenwechsel, da hierbei u.a. die exakte Altersgrenze „18 Jahre“ relevant ist.
2 Der Unterschied zwischen den beiden Bevölkerungsbegriffen besteht zum einen darin, dass in Privathaushalten auch Personen mit Nebenwohnsitz gezählt werden, wenn diese mit Hauptwohnsitzlern zusammenleben; zum anderen gehört jener Teil der Bevölkerung, der in Pflegeheimen oder Gemeinschaftsunterkünften ohne eigene Haushaltsführung lebt, nicht zur Bevölkerung in Privathaushalten.
3 Der Quellcode für die Pyramide wurde dankenswerterweise vom Statistischen Bundesamt zur Verfügung gestellt.
Literatur
Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung (2021): Raumordnungsprognose 2040. BBSR-Analysen KOMPAKT 03/2021.
HA Hessen Agentur GmbH (2019): Ergebnisse der Bevölkerungsvorausschätzung für Hessen und seine Regionen als Grundlage der Landesentwicklungsplanung. HA-Report 990.
Hessisches Statistisches Landesamt (2023): Regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnung für Hessen bis 2070. Statistische Berichte A I 8. Landeshauptstadt Wiesbaden (2023): Vorausberechnung der Wiesbadener Bevölkerung und Haushalte bis 2040. Wiesbadener Stadtanalysen Nr. 130.
Stephanie Huber, Frank Westholt
Methodenbericht zur Osnabrücker
Bevölkerungsprognose
2040
Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Doch kommunale Fachplanungen und Stadtspitzen interessieren sich sehr für mögliche Zukunftsaussichten auf die demographische Struktur (am liebsten noch kleinräumig) ihrer Stadt. Die Statistikstelle der Stadt Osnabrück sah sich daher im Jahr 2023 vor der Aufgabe gestellt, eine neue Vorausberechnung durchzuführen. In einem ersten Schritt wurde eine ausgeklügelte Methodik angelegt, bevor diese im zweiten Schritt im Rahmen eines breit aufgestellten Beteiligungsprozesses mit den betroffenen Fachplanungen sowie dem Vorstand der Stadt Osnabrück abgestimmt wurde. Auf diese Weise stimmten sich alle Beteiligten auf vier Modelle ein, von denen eines als das wahrscheinlichste Basismodell benannt werden konnte. Die zugrundeliegende Methodik inklusive der getroffenen Annahmen soll im Folgenden kurz vorgestellt werden.
Einstieg
„Von 171.994 auf 160.001 bis 190.000 Einwohnende“ – so groß war die Spannweite der Antworten der Expertinnen und Experten bzgl. ihrer Einschätzung der Einwohnerzahl der Stadt Osnabrück im Jahr 2040, die im ersten gemeinsamen Workshop zur Neuauflage der städtischen Bevölkerungsprognose erhoben worden sind. Diese Feststellung belegt die zentrale Herausforderung bei der Erstellung eines solch komplexen Produktes wie einer Bevölkerungsprognose – die Zukunft ist ungewiss. Keine noch so ausgefeilte kommunale Prognose wird jemals absolute Sicherheit in der Vorhersage erreichen können. Vor diesem Hintergrund ist es jedoch umso bedeutsamer, einen methodisch nachvollziehbaren und (zumindest zum Aufstellungszeitpunkt der Prognose) plausiblen Ansatz zu entwickeln. Diesem Ziel hat sich die aktuelle Ausgabe der Bevölkerungsprognose der Statistikstelle der Stadt Osnabrück verschrieben. Dazu wurde dem Kern der Prognose eine Analyse des demographischen Wandels in Deutschland und der Stadt Osnabrück zur Einordnung vorangestellt. Die von uns als Demographiebericht bezeichnete Veröffentlichung wirft damit einen Blick zurück, einen über die Stadtgrenze hinaus und einen in die Zukunft. Einen kleinen Einblick in den methodischen Ansatz veranschaulichen die folgenden Ausführungen. Der vollständige Bericht findet sich unter www.osnabrueck. de/statistik.
Stephanie Huber
M.A. Wirtschafts- und Sozialgeographie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Sachgebiet Statistik, Stadtforschung und Wahlen der Stadt Osnabrück : huber@osnabrueck.de
Frank Westholt
M.A. Wirtschafts- und Sozialgeographie, Sachgebietsleiter Statistik, Stadtforschung und Wahlen der Stadt Osnabrück : westholt@osnabrueck.de
Die letzte Prognose der Stadt Osnabrück hatte das Basisjahr 2019 und wurde von den Folgen der Coronavirus-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine überholt. Eine Neuauflage musste also her, die gleichzeitig den gestiegenen Anforderungen der Fachplanungen der Stadt Osnabrück entsprechen musste. Beispielsweise richtet das geplante Verkehrsmodell der Stadt seinen Blick bis in das Jahr 2040, was eine Erweiterung des Prognosehorizontes nach sich zog. Auch die Forderungen nach kleinräumigen Ergebnissen wurden aus Richtung der Jugendhilfe- und der Schulplanung immer lauter und konnten nicht mehr länger ignoriert werden, weshalb die aktuelle Prognose erstmals auch kleinräumige Ergebnisse liefert.
In zwei Workshops mit den beteiligten Fachplanungen aus so unterschiedlichen Bereichen wie der gesamtstädtischen Planung, Stadtentwicklung, Sozialplanung, Schulplanung, Kita-Planung, Jugendhilfeplanung, Friedhofsverwaltung oder der Diversitätsbeauftragten werden die zentralen Modellannahmen gemeinsam erarbeitet und nachjustiert. Diese Annahmen sind insofern von besonderer Bedeutung, da wir zur
Berechnung der Prognose mithilfe des SIKURS-Programms ein deterministisches Bevölkerungsmodell anlegen müssen. Die ermittelten Ergebnisse werden anhand von vier möglichen Szenarien berechnet und den beteiligten Fachplanungen sowie dem Vorstand der Stadt Osnabrück vorgestellt. Dabei wird sich außerdem auf ein am wahrscheinlichsten angesehenes Basisszenario geeinigt, dass als Grundlage aller angeschlossenen Fachplanungen Verwendung finden soll. Die jährlichen Ergebnisse des Basisszenarios werden als Zielwerte der kleinräumigen Prognose vorgegeben, woraufhin sich eine Prognose auf Basis der Baublockebene anschließt. Die Ergebnisse werden alle zwei Jahre auf ihre Zielsicherheit hin überprüft und bei Bedarf an die neuen Gegebenheiten angepasst. Zurzeit wird der Demographiebericht in verschiedenen Ausschüssen wie etwa dem Schul- und Sportausschuss, dem Jugendhilfeausschuss, dem Ausschuss für Stadtentwicklung und Umwelt sowie Gesundheit und Soziales vorgestellt.
Benutzte Modellparameter
Grundlage der Modellberechnung ist die Vorausberechnung der verschiedenen Elemente der demographischen Grundgleichung (Geburten, Sterbefälle, Zuzüge, Wegzüge). Der Bevölkerungsgruppenwechsel zwischen der Gruppe der Deutschen und der Nichtdeutschen wird hier ergänzt, da die Prognoserechnung sinnvollerweise nach Staatsangehörigkeit differenziert sein sollte. Zur besseren Übersicht werden diese Faktoren in statische und dynamische Modellparameter aufgeteilt. Statisch in dem Sinne, dass die Annahmen über alle Szenariovarianten hinweg gleich bleiben, und dynamisch, dass diese zur Ausgestaltung der verschiedenen Modellvarianten herangezogen werden.
Die einzelnen Modellparameter orientieren sich jeweils an den historischen Werten und werden um jeweils unterschied-
Abb. 1 Statische und Dynamische Modellparameter.
liche Ausreißerjahre bereinigt. In einem zweiten Schritt werden alle Parameter bis auf den Bevölkerungsgruppenwechsel mittels des Savitzky-Golay-Filters geglättet. Hierdurch werden Zufallseinflüsse insbesondere an den schwächer besetzten Altersrändern (also den geringsten und den höchsten Altersjahren) minimiert. In SIKURS gibt es hierzu für die Geburtenrate alternativ auch die Hadwiger Funktion. Diese wird ebenfalls für die vorliegende Berechnung getestet, aufgrund unplausibler Werte dann allerdings verworfen. Auch aus Gründen der Einheitlichkeit bietet sich hier die Savitzky-Golay-Glättung an. Die Raten des Bevölkerungsgruppenwechsels werden manuell angepasst und erfordern daher keine zusätzliche Glättung. Abb. 1 gibt einen Überblick über die verwendeten Modellparameter.
Statische Parameter
Der erste statische Modellparameter, der an dieser Stelle vorgestellt werden soll, ist die Geburtenrate. Die Datengrundlage zur Bestimmung der Geburten je Prognosejahr sind die gemittelten Fruchtbarkeitsraten aus den historischen Bestands- und Bewegungsdaten. Die Fruchtbarkeitsraten beziffern die Wahrscheinlichkeit von Frauen ein Kind zu bekommen je Altersjahr und nach Staatsangehörigkeit. Eine Betrachtung je Altersjahr erscheint angebracht, da die Wahrscheinlichkeiten ein Kind zu bekommen über die Altersjahre äußerst unterschiedlich verteilt sind. Darüber hinaus wird zwischen den Gruppen Deutsch und Nichtdeutsch unterschieden, da die beiden Bevölkerungsgruppen ein unterschiedliches generatives Verhalten aufweisen, beispielsweise deutsche Frauen erst später Kinder bekommen als nicht-deutsche Frauen. Die herangezogenen Basisjahre sind 2019, 2020 und 2022. Das Jahr 2021 wurde gezielt ausgespart, da es sich hierbei aufgrund des Corona-Baby-Peaks um ein Ausreißerjahr handelt (Destatis 2022a).
Quelle: eigene Darstellung 2023
Die Sterberate stellt das Pendant zur Geburtenrate dar. Als Basis dienen hier die Jahre 2019, 2020 und 2021. Das Jahr 2022 wurde aufgrund einer starken Grippewelle und die damit verbundenen deutlich höheren Sterbefallzahlen ausgeklammert (Destatis 2023a). Die Sterberate wird nach Geschlecht und Alter differenziert, da die Sterbewahrscheinlichkeit mit zunehmendem Alter ansteigt und Männer früher sterben als Frauen (Sauerberg et al. 2023: 1052 f.). Nach Bevölkerungsgruppen wurde hierbei explizit nicht unterschieden, da die ausländische Bevölkerung insgesamt eine unterdurchschnittlich geringe Sterberate aufweist. Mögliche Ursachen hierfür sind sowohl der healthy-migrant-effect, durch welchen insbesondere junge und gesunde Personen das Heimatland verlassen und nach Deutschland ziehen, als auch der salmon-bias-effect, welcher die Rückkehr in das Heimatland mit zunehmenden Alter beschreibt (Domnich et al. 2012: 2 f.). Bei älteren Personen ab 65 Jahren zeigt sich der healthy-migrant-effect nicht. Vielmehr ist die Sterberate von Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft in den höheren Altersjahren aufgrund sozialer und ökonomischer Benachteiligungen und einer damit verbundenen schlechteren gesundheitlichen Versorgung höher als die von Deutschen (Kibele et al. 2008: 392). Mit berücksichtigt wurde zusätzlich eine ansteigende Lebenserwartung. Diese war während der Corona-Zeit deutschlandweit um durchschnittlich 0,6 Jahren zurückgegangen (Destatis 2023b), es wird aber, angelehnt an die 15. Koordinierten Vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes (Destatis 2022b), angenommen, dass sich dieser Trend wieder umkehrt und die Lebenserwartung bis zum Jahr 2040 durchschnittlich um +2,91 Jahren bei Männern und +2,28 Jahre bei Frauen ansteigen wird. Bei der späteren Berechnung mit SIKURS und der Ergebnisinterpretation ist darüber hinaus zu beachten, dass in SIKURS nur die Altersjahrgänge 0 bis 99 berücksichtigt werden. Personen, die älter als 99 Jahre sind, werden durch diese Einschränkung im Modell im ersten Prognosejahr 2023 sterben. Dies führt zu deutlich höheren prognostizierten Sterbefällen 2023.
Da in der durchgeführten Berechnung zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen Deutsch und Nichtdeutsch unterschieden wird, ist es notwendig, auch den Übergang
Abb. 2 Implementierung der ukrainischen Geflüchteten als Modellparameter.
Quelle: eigene Darstellung 2023
zwischen diesen beiden Gruppen abzubilden. Das Modell konzentriert sich hierbei auf den Übergang aus der Gruppe der Nichtdeutschen in die Gruppe der Deutschen. Die gegensätzliche Bewegung ist deutlich seltener und hat deshalb wenig Einfluss auf die Projektion. Zwischen den Jahren 2014 und 2022 sind pro Jahr im Durchschnitt 1,2 % aller anwesenden Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft eingebürgert worden. Mit der Beantragung von zwei weiteren Stellen für die Bearbeitung dieser Aufgabe im Stellenplan 2024 macht das Bürgeramt der Stadt Osnabrück hier einen großen Schritt voran. Vor diesem Hintergrund wird der Prozentsatz in allen Prognosejahren auf einen Wert von 1,5 festgelegt. Außerdem wird angenommen, dass 60 % aller Kinder von ausländischen Müttern die Möglichkeit der Optionseinbürgerung nutzen werden. Diese erhalten also sofort die deutsche Staatsbürgerschaft, wobei sich der Wert am Beispiel des KOSIS Verbundes orientiert (KOSIS-Verbund 2019: 15).
Das Jahr 2022 stellt mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine und dessen Folgen ein klassisches Schockereignis dar. Der Angriff Russlands hat eine der größten Fluchtbewegungen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges ausgelöst. Auch nach Osnabrück sind viele Ukrainerinnen und Ukrainer geflohen, bis zum 31.12.2022 suchten insgesamt 2.357 von ihnen Schutz in Osnabrück (Migrationsdatenbank der Stadt Osnabrück 2023). Die Entwicklung des Krieges ist aktuell nicht abzuschätzen. Eine Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), des Forschungszentrums des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) und des Sozioökonomischen Panels (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) mit mehr als 11.000 Personen je Iteration (Brücker et al. 2022: 3 f.) zeigt, dass mit andauernder Kriegsdauer die Bleibeabsicht der Geflüchteten zunimmt und bis zur zweiten Befragungswelle im Jahr 2023 etwa die Hälfte aller befragten Ukrainer:innen beabsichtigt, dauerhaft in Deutschland zu bleiben (Brücker et al. 2023: 383).
Dies gilt es bei der Formulierung von Annahmen ebenso zu berücksichtigen wie den hohen Anteil an weiblichen Geflüchteten und Kindern.
Vor diesem Hintergrund werden die ukrainischen Geflüchteten nicht als Sondergruppe der Bevölkerung in die Prognose aufgenommen, die von sämtlichen Bevölkerungsbewegungen herausgerechnet werden. Ein solches Vorgehen würde die Gruppe von den Geburten, Sterbefällen sowie Zu- oder Wegzügen exkludieren und die Sondergruppe am Ende eines jeden Prognosejahres zum Ergebnis hinzuaddieren. Stattdessen gehen ukrainische Geflüchtete vollständig in der nichtdeutschen Bevölkerungsgruppe auf und es wird ein extra Außentyp angelegt, aus dem die Gruppen der Geflüchteten stammen. Für das Jahr 2023 kann so ein weiterer Zuzug von insgesamt 600 Geflüchteten angenommen werden. Dieser Wert orientiert sich an den vorliegenden Zahlen bis zum dritten Quartal 2023. Die Dauer des Kriegs ist schwer abzuschätzen, weshalb für die Folgejahre keine expliziten Werte angegeben werden. Der Vorteil der Anlegung eines extra Außentypes besteht in der Flexibilität des Modells: je nach neuem Erkenntnisstand lässt es sich schnell und unkompliziert anpassen.
Zwar zählt die Gruppe der Geflüchteten aus der Ukraine zur nichtdeutschen Bevölkerung, jedoch muss an dieser Stelle noch eine Anpassung beim Parameter Geburtenrate gemacht werden. Die ukrainischen Frauen weisen höchstwahrscheinlich kein altersentsprechendes generatives Verhalten auf, da ihre Partner teilweise noch in der Ukraine sind oder die Flucht ihnen die Perspektive auf die Familiengründung unsicher erscheinen lässt. Daher muss die Fruchtbarkeitsrate aller Frauen in der ausländischen Bevölkerungsgruppe angepasst werden. Eine Reduktion um 5 % entspricht damit etwa dem Anteil der ukrainischen Frauen in der Gruppe zwischen 15 und 49 Jahren. Die Dauer des Krieges in der Ukraine ist nicht vorherzusagen, als Modellannahme wird davon ausgegangen, dass diese Reduktion ab dem Jahr 2024 jedoch sukzessive abnimmt
und im Jahr 2027 das Ausgangsniveau wieder erreichen wird. Eine Übersicht über die Implementierung der ukrainischen Geflüchteten in die Bevölkerungsprognose bietet die vorrangegangene Abb. 2.
Dynamische Parameter
Neben den statischen Parametern fließen je nach Szenario unterschiedlich ausgeprägte dynamische Parameter in die Berechnung ein. Diese umfassen die Zu- und Wegzugsraten, die ebenfalls auf historischen Daten basieren. Sie stellen die Wechselbeziehung der Stadt Osnabrück mit einem Außenraum dar. Dabei zeigt sich für Osnabrück eine besonders starke regionale Bedeutung. Um diese in der Berechnung berücksichtigen zu können, werden anstelle eines Außenraumes vier Außentypen definiert, deren Festlegung auf den Saldi vergangener Jahre basiert. Diese Typen werden, wie oben beschrieben, um einen fünften zur Berücksichtigung von Geflüchtetenzuzügen ergänzt.
Die Abb. 3 und Abb. 4 geben einen Einblick in die Datengrundlage:
Abb. 3 enthält dabei zwei Dimensionen. Im oberen Part werden die Wanderungsbewegungen bezogen auf die Bevölkerungsgruppe der Person abgebildet. Dabei zeigt sich ein sehr starker positiver Saldo der Gruppe der Nichtdeutschen (grün dargestellt) und ein demgegenüber schwacher negativer Saldo der Deutschen (rot dargestellt). Im unteren Part finden sich die Bewegungen differenziert nach Herkunftsund Zielgebiet wieder. Hier zeigt sich mit +16.469 der größte Zuwachs bei Personen, die aus dem Ausland kommen (unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft). Daher ist es sinnvoll,
Abb. 3 Wanderungssaldi für die Stadt Osnabrück nach Nationalität, Herkunfts- und Zielgebiet für die Jahre 2014–2022.
Quelle: Melderegister der Stadt Osnabrück
einen der vier Außentypen als „Ausland“ zu definieren. Bei den innerdeutschen Wanderungen bilden sich heterogene Entwicklungen ab mit Wanderungsverlusten in die Umlandgemeinden und Wanderungsgewinnen aus dem Landkreis bzw. aus Niedersachsen. Zur Festlegung der verbliebenen Außentypen werden diese Wanderungsdaten in Abbildung 4 detaillierter dargestellt:
Abb. 4 Mittlerer jährlicher Wanderungssaldo aus den innerdeutschen Herkunftsregionen in die Stadt Osnabrück (2014–2022).
Quelle: Melderegister der Stadt Osnabrück
In diesem Chord-Diagramm repräsentieren grün gefärbte Kreissegmente positive gemittelte Jahressaldi, also Wanderungsgewinne, für die Stadt Osnabrück. Besonders viele Personen werden aus Niedersachen gewonnen, was sich in der breiten Kreisfläche zeigt. Aber auch aus Nordrhein-Westfalen können insgesamt vermehrt Personen gewonnen werden. Im Gegensatz dazu zeigt sich ein jährlicher Wanderungsverlust für die übrigen Bundesländer, verdeutlicht durch das rot eingefärbte Segment. Bezogen auf absolute Zahlen liegt dieser Verlust jedoch deutlich unter den Gewinnen aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Aus der Datengrundlage lassen sich drei innerdeutsche Außentypen, nämlich Niedersachsen (in dem auch der Landkreis aufgeht), Nordrhein-Westfalen und das übrige Bundesgebiet, ableiten. Je nach Außentyp variieren die Ausprägungen der dynamischen Modellparameter. Als erster dynamischer Modellparameter fließt die Wegzugsrate, sprich die Wahrscheinlichkeit in jedem Altersjahr, nach Geschlecht und Staatsangehörigkeit, aus Osnabrück wegzuziehen, in die Berechnung ein. Dabei werden die Jahre 2018, 2019 und 2021 als Basisperiode herangezogen. Das Jahr 2020 wurde aufgrund des großen Einflusses der COVID19-Pandemie auf den (studentischen) Wohnungsmarkt ausgespart. Ebenfalls wurde das Jahr 2022 ausgelassen, da es aufgrund des Krieges in der Ukraine zu überdurchschnittlich vielen Bevölkerungsbewegungen nach Osnabrück und aus Osnabrück kam. Die automatisiert durch SIKURS angelegte Rate liegt rund 2 % über den historischen Werten, daher werden zwei unterschiedliche Varianten angenommen. Variante eins
bezieht sich auf die etwas pessimistischere Wegzugsrate des SIKURS Algorithmus und Variante zwei umfasst reduziertere Wegzugsraten, die sich den historischen Entwicklungen annähern. Diese optimistischere Schätzung geht von einer höheren Adhäsion der Stadt aus, d.h. die Stadt Osnabrück ist insbesondere durch die Bereitstellung passender Wohnmöglichkeiten dazu in der Lage, die Wegzüge (vor allem) in das Umland zu reduzieren. Auf diese Weise können etwa 200 Personen pro Jahr mehr in der Stadt an der Hase gehalten werden. Der wichtigste Einflussfaktor auf die Bevölkerungsentwicklung der Stadt Osnabrück ist die Variation der Zuzüge sowie deren Verteilung auf unterschiedliche Altersjahre, Geschlechter und Bevölkerungsgruppen. Neben den gewichteten Zuzugsraten wird an dieser Stelle auch das Zuzugsvolumen in Summe benötigt, um das Prognosemodell zu bedienen. Die Raten werden auf dem bekannten Weg anhand der historischen Daten abgeleitet. Auch hier bedarf es der Wahrscheinlichkeit in jedem Altersjahr nach Geschlecht und Staatsangehörigkeit. Die Basisjahre stellen in diesem Fall 2018, 2019 und 2021 dar. Wie auch bei Ermittlung der Wegzugsrate werden die Jahre 2020 und 2022 aus den oben genannten Gründen ausgeklammert.
Das Zuzugsvolumen insgesamt kann jedoch, anders als die anderen Raten, nicht durch eine einfache Berechnung aus den historischen Daten ermittelt werden, da beispielsweise stadtentwicklungspolitische Entscheidungen wie die Ausweisung weiterer Wohngebiete in der Zukunft kein historisches Echo aufweisen können. Die Bereitstellung neuer Wohneinheiten spielt auch in Bezug auf die kleinräumige Prognose eine zentrale Rolle. Um solche Sonderentwicklungen in die Berechnung zu integrieren, wird das in Abb. 5 beschriebene Modell entworfen. Die auf diese Weise ermittelte Zuwanderung muss für jedes Jahr individuell berechnet werden.
Am Fuße der dargestellten jährlichen Berechnung steht der Basiswert der Zuwanderung, der jeweils 13.800 Personen umfasst. Dies ist ein relativ hoher Grundwert. Werfen wir beispielsweise einen Blick in die historische Zuwanderungsent-
Abb. 5 Ermittlung des jährlichen Zuzugsvolumens nach Osnabrück.
Quelle: eigene Darstellung 2023
wicklung kommen in einem „guten“ Zuwanderungsjahr etwa 14.000 Neuosnabrückerinnen und -osnabrücker in die Stadt. In „schlechten“ Jahren wie 2020 kamen aufgrund der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und dem wegfallenden Abiturjahrgang in Niedersachsen nur knapp 12.000 Personen. Der Vorteil des hoch angesetzten Basiswertes ist die Fokussierung auf die größten Baugebiete in der Betrachtung der Bautätigkeit. Ein geringer Basiswert bedürfte einer Integration auch kleiner Bauvorhaben in die Betrachtung, die das Modell überfrachten würden. Je nach Szenario werden zu diesem Basiswert ein verändertes Zuzugsvolumen aus dem Ausland sowie durch Neubaubezug generierte Zuwanderungen addiert und Verluste durch den wegfallenden Abiturjahrgang in NRW 2026 (welcher zu ausbleibender studentischer Zuwanderung führen wird) subtrahiert, sodass sich verschiedene Zuzugsvolumina ergeben. Da Neubautätigkeiten hierbei eine zentrale Rolle zukommt, wird der Umgang mit ihnen im folgenden Abschnitt näher erläutert.
Vorweg kann festgehalten werden, dass der Zusammenhang zwischen der Fertigstellungen neuer Wohneinheiten und dem Zuzug nach Osnabrück eher schwach ausgeprägt ist. Neu errichtete Wohneinheiten führen nicht 1 : 1 zu stärkeren Zuzügen, dies zeigt sich auch im für den Zeitraum 1991 bis 2022 berechneten Korrelationskoeffizienten nach Bravais-Pearson (0,387). Eine Betrachtung der Zuwanderungsentwicklung in bereits bestehende Baugebiete der Stadt Osnabrück konnte diese Feststellung untermauern, da 70 % der Erstbeziehenden im Neubau bereits in der Stadt Osnabrück gelebt haben. Es ist davon auszugehen, dass auch in Zukunft ein Großteil der Zuziehenden in neue Baugebiete bereits in Osnabrück gemeldet waren und nun die Chance auf eine Anpassung ihres Wohnraumes nutzen, vielfach aufgrund von Familiengründung. Doch wie viele Wohneinheiten können jährlich zur Verfügung gestellt werden? In enger Abstimmung mit dem Sachgebiet „Gesamtstädtische Planung“ wird hierzu ein Verfahren entwickelt, in Rahmen dessen größere Neubautätigkeiten ab 79 Wohneinheiten als „prognostizierte fertiggestellte Wohneinheiten“ Berücksichtigung finden. Kleinere Neubautätigkeiten werden als „Hintergrundrauschen“ bereits durch den Basiswert abgedeckt. 79 Wohneinheiten wurden hier als Minimum ausgewählt, da ein zu berücksichtigendes Projekt genau 79 Wohneinheiten umfasst. Die in der Datenbank Bauleitplanung zu findenden Angaben beziehen sich stets auf die Summe der auf Basis vorhandener städtebaulicher Konzepte geschätzten planungsrechtlich gesicherten Wohneinheiten. Es handelt sich hierbei um reine Prognosewerte auf Basis aktueller Bauleitplanverfahren sowie angestrebter städtebaulicher Entwicklun-
Tab. 1 Übersicht der Szenariovarianten.
gen. Es ist nicht davon auszugehen, dass diese Wohneinheiten sofort alle zur Verfügung stehen. Zur Darstellung des zeitlichen Ablaufes stützen wir uns auf die Modellannahmen, die bereits im Konzept der Stadt Osnabrück zur Kostenbeteiligung von Vorhabenträgerinnen und Vorhabenträgern an den sozialen Infrastrukturkosten bei der Baulandentwicklung angelegt wurden (siehe Vorlage VO/2020/5545 (Stadt Osnabrück (2020)): Ein Bauleitplanverfahren zur Schaffung von Planungsrecht für ein neues Wohngebiet beansprucht im Regelfall mindestens einen Zeitraum von zwei Jahren (u. a. auch aufgrund erforderlicher Untersuchungen und Beteiligungen). Anschließend erfolgt die Erschließungs- und Bauphase. Für die vollständige Realisierung der geplanten Wohneinheiten werden sechs Jahre angesetzt. Zur Vereinfachung gehen wir davon aus, dass jedes Jahr ein Sechstel des Bauvolumens fertiggestellt wird. Für die Berechnung des zusätzlichen Zuzugsvolumens wird die Summe des gesamtstädtischen Bauvolumens mit der durchschnittlichen Haushaltsgröße der Stadt, 1,8 Personen, multipliziert. Damit es nicht zu übermäßigen Schwankungen zwischen den einzelnen Prognosejahren kommt, wurden die angenommenen Wohneinheiten in vier Baustufenklassen eingeteilt.
Übersicht der Szenariovarianten
Die Annahmen der unterschiedlichen gesamtstädtischen Szenarien werden im Folgenden zusammengefasst. Bei der Interpretation des Best-Case- bzw. des Worst-Case-Szenarios ist zu beachten, dass diese Begriffe im Kontext von Demographie und Erwerbstätigkeit und damit in Bezug auf Wirtschaftsstandorte zu lesen sind. Das Best-Case-Szenario skizziert eine wachsende Bevölkerung, in der ein hohes Erwerbspersonenpotential vorhanden ist. In dem in Hinblick auf die Bevölkerungsentwicklung am pessimistischsten eingestellten, sogenannten Worst-Case-Szenario, nimmt diese allerdings ab, sodass wenige erwerbstätige Personen einer alternden Gesellschaft mit vielen Personen im Renten- und Hochbetagtenalter gegenüberstehen.
Methodik für die kleinräumige Analyse
Über die gesamtstädtische Perspektive hinaus wird in der neu aufgelegten Prognose auch erstmals eine kleinräumige Betrachtungsebene berücksichtigt, denn: „In urbanen Räumen ist häufig auch ein unmittelbares Nebeneinander von schrumpfenden und wachsenden Quartieren zu beobachten.
Quelle: eigene Darstellung 2023
Abb. 6 Räumliche Dimensionen der Prognose.
Quelle: eigene Darstellung 2023
Dieser demographische Divide bzw. die demographische Fragmentierung eines Stadtgebiets in unterschiedlich alte, wachsende und schrumpfende Bezirke oder Nachbarschaften stellen eine permanente Herausforderung für eine vorausschauende Stadtentwicklungsplanung dar“ (Wehrhahn 2016: 50 f.). Gesamtstädtische Entwicklungen sind folglich nicht immer für alle kleineren räumlichen Ebenen repräsentativ. Darüber hinaus sind kleinräumige Ergebnisse insbesondere für interne Planungen wie beispielsweise die Schulentwicklungsplanung besonders relevant. Abb. 6 gibt einen Überblick über die verschiedenen räumlichen Dimensionen der vorliegenden Prognose.
Als Grundlage der kleinräumigen Prognose dienen die Ergebnisse aus dem gesamtstädtischen Basisszenario. Diese werden in einem ersten Schritt auf eine möglichst kleinräumige Ebene, in unserem Fall die Baublöcke der Stadt, heruntergebrochen. Ein Baublock stellt dabei eine feinkörnige kleinräumige Ebene dar und umfasst mehrere Gebäude, die durch Straßenzüge voneinander abgegrenzt sind. Insgesamt besteht die Stadt Osnabrück zum 31.12.2022 aus 1.902 Baublöcken, von denen einige zum Teil nur spärlich bewohnt sind. Diese geringen Fallzahlen bergen mathematische Unsicherheiten, weshalb sich diese Raumebene zwar als Zwischenschritt in der Berechnung, nicht jedoch als Ergebnisebene eignet. Bei der Modellierung bietet SIKURS hier die Möglichkeit, mithilfe der Monte-Carlo-Simulation Zufallswerte auf gering ausgeprägte Fallzahlen hinzuzurechnen und negative Werte durch den sogenannten Zombie-Killer zu vermeiden. Bei einem Testdurchlauf ergeben sich hierdurch jedoch für die Stadt Osnabrück unplausible Entwicklungen, weshalb die Werte auf Baublockebene so wie sie sind als rechnerischer Zwischenschritt beibehalten werden. Sie bieten dabei den Vorteil, höheren räumlichen Aggregaten wie Stadtteilen, Schulbezirken oder Quartieren eindeutig zuordenbar zu sein, sodass sie sich wie Legosteine zu sehr unterschiedlichen räumlichen Aggregaten zusammenfügen, um dann Aussagen über deren jeweilige demographische Entwicklung möglich zu machen. Um die
mathematische Sicherheit bereits bei der Betrachtung auf Baublockebene zu maximieren und, um räumliche Muster von Bewegungsdaten innerhalb der Stadt berücksichtigen zu können, werden die Gebietseinheiten der Baublöcke zu Gebietstypen, sogenannten Clustern, zusammengefasst.
Die Grundidee der Clusterung besagt, dass sich bestimmte Gebietseinheiten, also Baublöcke, in den Bewegungsmustern ihrer Bevölkerung ähneln. Diese Baublöcke werden zu Clustern zusammengefasst, die in sich möglichst homogen und im Vergleich zu anderen Clustern möglichst heterogen sind. Als Messgrößen der Bewegungsmuster werden dabei zentrale Variablen herangezogen. Nach Prüfung auf Aktualität, Aussagekraft und Korrelation mit anderen Variablen kristallisieren sich dabei folgende vier Variablen heraus: Personen je Baublock, Durchschnittsalter, Wegzüge je 100 Personen und Zentralität, gemessen anhand der Distanz zum Mittelpunkt des Marktplatzes der Stadt Osnabrück.
Um möglichst repräsentative Ausprägungen dieser Variablen zu berücksichtigen, gehen insgesamt 730 bewohnte Baublöcke mit mindestens 80 Einwohnerinnen und Einwohnern als sogenannte Basisbaublöcke in die Clusteranalyse ein. Der Stand der Daten ist dabei der 31.12.2020 bzw. die Bewegungen aus dem Jahr 2021. Diese Stände werden ebenfalls für eine möglichst repräsentative Darstellung der Bewegungsströme zwischen den Ausnahmejahren 2020 und 2022 gewählt.
Die Baublöcke werden auf Basis der Ausprägung dieser vier Merkmale ihren jeweiligen Clustern zugeordnet. Dafür wird eine zweistufige Clusteranalyse mithilfe des Statistikprogramms SPSS durchgeführt, wobei zunächst die hierarchische Clusteranalyse zur Festlegung der Clusteranzahl und anschließend die Zuordnung zu Clustern mittels des K-means-Algorithmus erfolgt. Tab. 2 gibt eine Übersicht über die Clusterzentren und damit über die jeweiligen Clustercharakteristika.
Darüber hinaus werden 887 weitere bewohnte Baublöcke mit weniger als 80 Einwohnenden manuell den bestehenden Clustern zugeordnet. Dabei wird auf das Prinzip der ähnlichen Umgebung zurückgegriffen, sodass Baublöcke gemäß ihrer
räumlichen Nähe dem Cluster in ihrer nächsten Nachbarschaft zugeordnet werden. Darüber hinaus fließen Zusatzinformationen etwa zu Neubauprojekten oder lokalen Strukturen ein, sodass beispielsweise das Landwehrviertel im Stadtteil Atter und das Stadtteilzentrum von Pye Cluster 2 (und nicht Cluster 3) zugeordnet werden. Es ergibt sich folgende Clusterung der Gesamtstadt:
Tab. 2 Clusterzentren der endgültigen Lösung.
Cluster 1 2 3
Einwohner je Adresse 9,5011731027 6,5276056561 5,9357178086
Durchschnittsalter 40,225882563
Wegzüge insgesamt je 100 Einwohner
Quelle: eigene Berechnung 2023
Abb. 7 Clusterung der Baublöcke mit mindestens 80 Einwohnenden.
Die weißen Lücken in der Karte stellen insgesamt 285 zum Vergleichszeitraum unbewohnte bzw. seitdem neu errichtete Baublöcke dar. Es lassen sich aus Abb. 8 in Kombination mit Tab. 2 folgende Clusterprofile ablesen: In Gelb dargestellt findet sich mit Cluster 1 ein sehr zentrales und dicht besiedeltes Cluster, dessen Baublöcke im Schnitt 1,5 km um den Marktplatzmittelpunkt liegen. Die mit 40,2 Jahren vergleichsweise junge Bevölkerung zeichnet sich durch eine stärkere Dynamik, ausgedrückt in einer hohen Wegzugsrate, aus. Daneben stellt Cluster 2 in gewisser Weise einen Mittelweg dar. Die Wegzugsrate nimmt mit zunehmender Distanz ab, sodass sich ein grauer Gürtel um Cluster 1 legt. Hier leben weniger, dafür mit 43,7 Jahren etwas ältere Personen. In den äußeren Gebieten findet sich das türkis gefärbte Cluster 3. Die Trends aus Cluster 2 setzen sich hier mit zunehmender Distanz zum Zentrum fort und verstärken sich noch. Die Bewohnerstruktur von Cluster 3 ist mit 44,1 Jahren älter, die Baublöcke weniger dicht besiedelt als in den beiden anderen Clustern. Zudem ist der Wegzugsanteil deutlich geringer und mit 5,9 fast halb so groß wie die Rate aus Cluster 1.
Quelle: eigene Darstellung 2023
Die Clusterzuordnung wirkt sich direkt auf die kleinräumige Bevölkerungsprognose aus, da für jedes der drei Cluster eine Prognose für die Entwicklung der Zu- und Wegzugsraten angelegt wird. In Verbindung mit den Raten der natürlichen Bevölkerungsbewegungen aus der Gesamtstadtprognose können die auf Ebene der drei Cluster gewonnenen Raten zu den räumlichen Bevölkerungsbewegungen im nächsten Schritt auf die jeweilige Baublockbevölkerung pro Prognosejahr bezogen und in ihrer Veränderung abgebildet werden. Um dabei laufende und geplante Neubauprojekte berücksichtigen zu können, werden insgesamt 13 zusätzliche „Pseudobaublöcke“ angelegt, welche nicht in der Karte verortet sind. Sie repräsentieren 18 größere Neubauprojekte und können eindeutig Stadtteilen und Schuleinzugsgebieten zugeordnet werden. Neben der Clusteranalyse ist an dieser Stelle auf eine Änderung bei den Grundannahmen zu verweisen. Da bei der kleinräumigen Prognose und der Berücksichtigung von Neubauten insbesondere Binnenwanderungen zu beobachten sind, erfolgt eine methodische Anpassung der Außentypen. In der
Vergangenheit wurden 70 % des Neubauerstbezuges durch Binnenwanderung generiert. Der Großteil der Erstbezieher wohnte also bereits in Osnabrück und weniger als ein Drittel zog direkt von außen in den Neubau. Um durch die vormals fünf festgelegten Außentypen keine Genauigkeit vorzuspielen, die es in dieser Form nicht gibt, werden die Außentypen für die kleinräumige Prognose zusammengefasst. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass der Großteil der von außen stammenden Neubaubeziehenden (20 %) aus dem nahen Außengebiet (Niedersachen und NRW, ehemals Außentyp 1 und 2) kommt und nur ein kleiner Anteil (10 %) aus dem fernen Außengebiet (übrige Bundesländer und Ausland, ehemalige Außentypen 3, 4 und 5).
Zusammenfassung der Methodik
Für einen besseren Überblick wird auf der folgenden Seite das methodische Vorgehen nochmals zusammengefasst.
Melderegisterbestand der Einwohner mit Hauptwohnsitz zum 31.12.2022
Jahresende 2023 bis Jahresende 2040
Gesamtstadtprognose und kleinräumige Übertragung
3 geclusterte Gebietstypen auf Basis der Baublöcke Clusterverfahren Hierarchisch zur Clusteranzahlermittlung k-Means-Algorithmus zur Verteilung
Datengrundlagen
Bestands- und Bewegungsdaten aus dem Einwohnermelderegister Datenbank Bauleitplanung der Stadt Osnabrück
Geschlechtergruppen 2 (männlich und weiblich)
Bevölkerungsgruppen 2 (Deutsche und Ausländer)
Altersjahre
Glättung
Fazit und Ausblick
100 (0 bis 99 Jahre)
Um zufällige Schwankungen auszugleichen, wurde der Savitzky-Golay-Filter zur Glättung der verschiedenen Raten benutzt
Quelle: eigene Darstellung 2023
„Zwischen 171.928 und 180.509“ – auf diesen Bereich haben sich die beteiligten Expertinnen und Experten nach dem zweiten Abstimmungsworkshop einigen können. Eine deutliche Verkleinerung, lag die Spannweite der Angaben der ersten Runde doch bei 30.000 Personen. Eine erfreuliche Entwicklung, die nicht zuletzt auf die überzeugende Methodik und den kommunikativen Ansatz zurückzuführen sind. Zwar hat sich der Prognosekorridor deutlich verkleinert, von absoluter Sicherheit der Aussagen kann aber noch immer keine Rede sein. Es zeigte sich, dass die Bevölkerungsprognose 2040 und der Demographiebericht in Gänze weniger die Funktion einer
Literatur
Brücker, H.; Ette, A.; Grabka, M. M.; Kosyakova, Y.; Niehues, W.; Rother, N.; Spieß, C. K.; Zinn, S.; Bujard, M.; Cardozo Silva, A.; Décieux, J. P.; Maddox, A.; Milewski, N.; Naderi, R.; Sauer, L.; Schmitz, S.; Schwanhäuser, S.; Siegert, M. und Tanis, K. (2022): Geflüchtete aus der Uk-raine in Deutschland. Flucht, Ankunft und Leben. Nürnberg, Wiesbaden, Berlin: Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB), Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und Soziooekonomisches Panel (SOEP).
Brücker, H.; Ette, A.; Grabka, M. M.; Kosyakova, Y.; Niehues, W.; Rother, N.; Spieß, C. K.; Zinn, S.; Bujard, M.; Décieux, J. P.; Maddox, Schmitz, S.; Schwanhäuser, S.; Siegert, M. und Steinhauer, H. (2023): Geflüchtete aus der Ukraine: Knapp die Hälfte beabsichtigt längerfristig in Deutschland zu bleiben. In: DIW Wochenbericht, 2023(28): 381–394.
Domnich, A.; Panatto, D.; Gasparini, R. und Amicizia, D. (2012): The “healthy immigrant” effect: does it exist in europe today? In: Italian Journal of Public Health, 9(3): 1–7.
Kibele, E.,;Scholz, R. und Shkolnikov, V. M. (2008): Low migrant mortality in germany for men
Glaskugel erfüllen können oder sollen, sondern vielmehr eine Einschätzung möglicher Folgen der demographischen Entwicklung in Osnabrück liefern. Sie dient deshalb vielmehr als Diagnoseinstrument, um sich auf wahrscheinliche Entwicklungen vorzubereiten. Werden beschriebene Entwicklungen als nicht wünschenswert diagnostiziert und durch entsprechende Maßnahmen gegengesteuert, kann eine Prognose ebenfalls perspektivisch überholt werden. Aber auch in diesem Fall hätte sie ihre Aufgabe erfüllt. Der vollständige Bericht findet sich unter www.osnabrueck.de/statistik.
aged 65 and older: fact or antifact? In: European Journal of Epidemiology, 23(6): 389–393.
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Pressemitteilungen/2022/08/PD22_326_12. html (Stand: 07.02.2023).
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Susann Kowatsch
Berechnung von Neubaubezugsquoten und Belegungsdichten im Rahmen der kleinräumigen Bevölkerungsprognose der Stadt Münster
Umfangreiche Wohnbautätigkeit führt in Städten kleinräumig zu strukturellen Veränderungen und beeinflusst die Verteilung der Bevölkerung. Für die bedarfsgerechte Planung von Infrastruktureinrichtungen ist es deshalb von großem Interesse, das zukünftige Zuzugsverhalten möglichst genau abzubilden. Im Rahmen der zweijährlich durchgeführten, kleinräumigen Bevölkerungsprognose der Stadt Münster werden zu diesem Zweck detaillierte Belegungsdichten und Neubaubezugsquoten berechnet. Der Artikel beschreibt, wie diese Berechnung mithilfe von Daten aus der Baustatistik, Bewegungsdaten aus dem Einwohnermelderegister, sowie mit Daten zu Anstalten, Heimen und geförderten Wohnraum durchgeführt werden kann.
Einleitung
Im Rahmen einer Bevölkerungsprognose ist es mitunter von Interesse, die Anzahl sowie Alters- und Geschlechtsstruktur der Personen zu ermitteln, die in zukünftige Neubaugebiete einziehen, um die Bevölkerungsentwicklung vor Ort abschätzen zu können. Insbesondere in Städten mit umfangreicher Wohnbautätigkeit führt die Neuansiedlung großer Bevölkerungsgruppen in kurzer Zeit zu strukturellen Veränderungen von Stadtteilen und beeinflusst die kleinräumige Verteilung der Bevölkerung. Im Folgenden wird die Ermittlung der Neubaubezugsquoten und Belegungsdichten beschrieben, wie sie im Rahmen der Bevölkerungsprognose der Stadt Münster durchgeführt wird, um genau diese Entwicklung abzuschätzen. Dabei wird sowohl auf Datenbedarfe und dessen Aufbereitung, Kombination und Herausforderungen, sowie auf die spezifische Berechnung der genannten Werte eingegangen. Die kleinräumige Bevölkerungsprognose wird von der Stadt Münster in einem zwei jährigen Rhythmus durchgeführt und berechnet jeweils die Bevölkerung der nächsten elf Jahre voraus. Die im Folgenden beschriebene Analyse wird jedoch jährlich durchgeführt, um stets die neuesten Entwicklungen berücksichtigen zu können.
Datenbedarfe und -aufbereitung
Als Datengrundlage für die Abschätzung des Neubauzuzugverhaltens dienen der Stadt Münster folgende Daten:
- Wanderungsdaten
- Baufertigstellungen aus der Baustatistik
- Daten zu Heim- und Anstaltsbewohnenden, und
- Adressen sozialgeförderter Wohnungen.
Susann Kowatsch ist Demografin und seit 2021 Mitarbeiterin in der Fachstelle Statistik und Stadtforschung im Stadtplanungsamt der Stadt Münster. : Kowatsch@stadt-muenster.de
Ziel der Datenanalyse ist es, alle Daten so miteinander zu verknüpfen, dass repräsentative Werte für die Neubaubezugsquoten und Belegungsdichten ermittelt werden können.
Dafür werden die relevanten Wanderungsdaten (Zuzüge, Umzüge, Geburten) anhand der eindeutigen Bezugsadresse (Straße, Hausnummer, Hausnummerzusatz) denselben Adressen zugeordnet, auf denen in den vergangenen Jahren Neubauten zu Wohnzwecken errichtet wurden. Letztere Information findet sich in der Baustatistik. Dabei werden nur jene Bebauungen zu Wohnzwecken betrachtet, die auf Flächen durchgeführt wurden, die zuvor entweder unbebaut
oder nicht zu Wohnzwecken bebaut waren. Ausgeschlossen werden demnach Erweiterungen bestehender (Wohn-)Gebäude; eingeschlossen jedoch Umbauten von beispielsweise Bürogebäuden zu Wohngebäuden. In den Daten entspricht die Anzahl der neu errichteten Wohneinheiten (= Wohnungen) somit in jedem Fall der Anzahl der insgesamt existierenden Wohneinheiten auf der Adresse. Dies ist elementar, um ausschließlich die Struktur der Personen zu erfassen, die in die neuen Wohnungen einziehen.
Es werden außerdem jene Adressen ausgeschlossen, auf denen Anstalten oder Heime liegen. Dies können Einrichtungen wie etwa Altenheime, Unterkünfte für Geflüchtete oder psychiatrische Anstalten sein, für die ein außergewöhnliches Wanderungsverhalten angenommen wird, welches die Struktur der übrigen Wanderungen verzerren würde.
Die Daten werden weiterhin so bereinigt, dass nur noch Adressen enthalten sind, auf denen die Anzahl der Bewegungen mindestens so groß ist wie die der neu entstandenen Wohneinheiten. Dies bedeutet in der Theorie, dass keine der Wohneinheiten leerstehend ist, auch wenn natürlich keine Information darüber vorliegt, welche Wohnung von welcher/n Person/en bezogen wird. Da für die Stadt Münster davon ausgegangen wird, dass es keinen längerfristigen Leerstand gibt, wird mit dem Ausschluss der Adressen, auf denen es weniger Bewegungen als entstandene Wohnungen gibt, sichergestellt, dass nur bereits vollständig bezogene Neubauten in die Analyse eingehen und die zu berechnenden Belegungsdichten (= Anzahl der Personen, die eine Wohnung beziehen) nicht verzerrt werden. Gegebenenfalls ist bei den verbleibenden Daten eine Sichtung spezifischer Fälle notwendig. Beispielsweise kann es vorkommen, dass es innerhalb des betrachteten Zeitraums bereits zu Um- bzw. Fortzügen kam, wobei die Nachmietenden keine Neubaubeziehenden im eigentlichen Sinne mehr sind und sowohl die Belegungsdichten als auch die Neubaubezugsquoten verzerren können. Wie hoch hier der Toleranzspielraum in Relation zu den neuen Wohnungen ist, sollte eigens festgelegt werden. Auch sollte definiert werden, inwieweit Bezüge vor dem statistisch genannten Fertigstellungsdatum toleriert werden, da einzelne Wohnungen gegebenenfalls schon vor der offiziell datierten Fertigstellung des gesamten Objekts bezogen werden können.
Die Daten werden weiterhin mit den Adressen der sozialgeförderten Wohnungen verknüpft, was ebenfalls anhand der eindeutigen Bezugsadresse (Straße, Hausnummer, Hausnummerzusatz) erfolgt. Dadurch kann für die Adressen ein Förderstatus vergeben werden. Diese Differenzierung ist von Interesse, da sich das Zuzugsverhalten zwischen sozialgeförderten und nicht-sozialgeförderten Wohneinheiten unterscheidet. Zudem wird die Information eingepflegt, ob sich die Fläche des Neubaus bzw. des Neubaugebiets im städtischen Besitz befindet.
An dieser Stelle können auch weitere Merkmale hinzugefügt werden, die für die Auswertungen von Interesse sind. In der Stadt Münster betrachten wir den Kinder- sowie Seniorenanteil in Neubauten. Dafür berechnen wir den Anteil der Kinder bzw. der Personen im Seniorenalter an den insgesamt erfolgten Bewegungen auf ein und dieselbe Adresse. Der resultierende Datensatz enthält nun ausschließlich Einträge von zu Wohnzwecken neu errichteten Gebäuden, die
weder Anstalten noch Heime sind, und in die mindestens so viele Personen ziehen, wie es Wohneinheiten gibt. Dies bietet die Grundlage für die Berechnung der Neubaubezugsquoten sowie der Belegungsdichten.
Belegungsdichten
Die Belegungsdichte gibt die durchschnittliche Anzahl der Personen an, die in Wohnungen einzieht. Diese kann je nach Wohnungsart unterschiedlich ausfallen und wird deswegen von der Stadt Münster für verschiedene Merkmale getrennt berechnet, generell jedoch nur für Baugebiete. Betrachtet werden die Belegungsdichten in - Einfamilienhäusern (Efa) insgesamt, - Einfamilienhäusern auf Flächen im städtischen Besitz, - Mehrfamilienhäusern (Mefa) mit Sozialförderung und mindestens 30 % Kinderanteil, - Mehrfamilienhäusern ohne Sozialförderung und einem Seniorenanteil von kleiner 75 %, - Mehrfamilienhäusern mit einem Seniorenanteil von mindestens 75 %.
Bei Einfamilienhäusern handelt es sich um Häuser mit ein bis zwei Wohnungen; bei Mehrfamilienhäusern um jene mit drei oder mehr Wohnungen. Die Information zum Häusertyp wird aus der Baustatistik gezogen. Das Zugrunde legen dieser spezifischen, unterschiedlichen Belegungsdichten ermöglicht die besonders genaue Abschätzung der Anzahl der Zuziehenden und damit die bedarfsgerechtere Planung der Infrastruktur vor Ort.
Für die Berechnung wird ein extra Datensatz erstellt, in dem jede Adresse nur noch einmal enthalten ist. Jedoch sollten weiterhin auch die Informationen zu den insgesamt gebauten Wohnungen und erfolgten Zugängen (Zuzüge, Umzüge [nach] und Geburten) auf dieser Adresse beibehalten werden. Der Originaldatensatz enthält weiterhin mehrere Zeilen mit derselben Adresse, da dieser auf Basis der Bewegungen
Datensatz der Neubauten
Adresse Wohnungsart Anzahl Wohneinheiten
Straße 1 a Efa 1
Weg 2 c Mefa 5
Zum Weg 15 Efa 1
Datensatz der Bewegungen
Bewegung Adresse Wohnungsart Anzahl Wohneinheiten
Zuzug Straße 1 a Efa 1
Zuzug Straße 1 a Efa 1
Zuzug Straße 1 a Efa 1
Umzug (nach) Weg 2 c Mefa 5
Umzug (nach) Weg 2 c Mefa 5
Zuzug Zum Weg 15 Efa 1
aufgesetzt ist, die ja mehrfach auf ein und dieselbe Adresse erfolgen. Für die jeweiligen Merkmale oder Merkmalskombinationen, die zuvor stichpunktartig genannt wurden, ergeben sich die Belegungsdichten nun aus der Anzahl der Bewegungen, geteilt durch die Summe der gebauten Wohnungen. Die Wohnungen müssen den Merkmalen entsprechen; bei den Bewegungen werden nur die herangezogen, die auf solche Wohnungen erfolgen. Für die Belegungsdichten der Einfamilienhäuser insgesamt, würde sich in dem unten dargestellten, sehr kompakten Beispiel eine Rechnung von 4 Bewegungen, die in Einfamilienhäuser erfolgen, geteilt durch 2 neugebaute Einfamilienhäuser, ergeben; also würde man bei neugebauten Einfamilienhäusern in Baugebieten von durchschnittlich 2 zuziehenden Personen ausgehen.
Die für Münster ermittelten Belegungsdichten aus den Jahren 2020 bis 2022 sind in Tabelle 1 dargestellt. Dort wird sichtbar, dass sich diese, in Abhängigkeit der ausgewählten Merkmale, deutlich unterscheiden können.
Tab. 1 Belegungsdichten der Stadt Münster (aus Daten von 2020 bis 2022)
Merkmal(e) Belegungsdichte
Efa insgesamt
Efa auf Flächen
Mefa ohne Sozialförderung und einem Seniorenanteil von kleiner 75 %
Mefa mit einem Seniorenanteil von mindestens 75
Neubaubezugsquoten
Die Neubaubezugsquoten geben an, wie sich die Zuziehenden auf die Merkmale Geschlecht und Alter verteilen. Auch hier wird von verschiedenen Typen ausgegangen, die mitunter städtespezifisch sind, und auch hier sind für Münster vor allem Bezugsquoten in Baugebiete von Interesse. Im Folgenden werden nur die Typen der Einfamilienhaus- und Mehrfamilienhaus-Zuziehenden, sowie ein daraus gemischter Typ innerhalb von Baugebieten betrachtet.
Für die Berechnung der Neubaubezugsquoten der Einfamilienhäuser werden alle Bewegungen in Einfamilienhäuser nach Alter und Geschlecht ausgezählt und der Anteil des jeweiligen Werts pro Geschlecht und Alter an diesen Bewegungen insgesamt berechnet. Das gleiche wird für die Neubaubezugsquoten der Mehrfamilienhäuser durchgeführt. Die Anteilswerte pro Typ summieren sich dann entsprechend zu 100 %. Beim gemischten Typ wird der Durchschnitt dieser beiden Typen, jeweils pro Geschlecht und Alter, berechnet.
In Abbildung 1 findet sich eine Übersicht der berechneten Quoten aus den Daten der Jahre 2020 bis 2022 (kräftigere Linien), im Vergleich zu den für die vorherige Prognose berechneten Quoten aus den Daten der Jahre 2014 bis 2018 (schwächere Linien). Dort zeigen sich deutliche Unterschiede in den Anteilen der Altersgruppen, sowie Schwankungen der altersspezifischen Verteilungen innerhalb eines Typs zwischen den Jahren. Die Abbildung ist nicht nach Geschlecht differenziert. Die Berechnung und Anwendung der differenzierten Quoten ist aber dennoch wichtig, um zukünftige Geburten abschätzen zu können.
Abb. 1 Vergleich der Neubaubezugsquoten der KBP 2022–2033 und KBP 2019–2030 innerhalb von Baugebieten nach Gebäudetyp und Alter
Herausforderungen
Das Ergebnis dieser Auswertungen sind repräsentative, aktuelle Werte, die die Prognoserechnung genauer gestalten, jedoch ist dies auch mit einem gewissen Aufwand verbunden.
Während die grobe Aufbereitung und Berechnung der Werte relativ schnell programmiert ist, sind es vor allem die Sichtung einzelner Fälle und fallspezifische Entscheidungen, die eine zeitintensivere Beschäftigung verlangen.
Zudem muss bei der regelmäßigen Berechnung beachtet werden, dass die Adressdaten in der Baustatistik maximal zwei Jahre gespeichert werden dürfen und danach gelöscht werden. Da dann eine Verknüpfung der Bewegungen mit den Neubauten auf Basis der Adressen nicht mehr möglich ist, müssen Vorkehrungen getroffen werden, wenn Daten von mehr als zwei Jahren für die Analyse verwendet werden sollen. Prinzipiell ist dies von Vorteil, da so natürlich eine größere Grundgesamtheit für die Berechnung zur Verfügung steht. Dies wurde so gelöst, dass der Datensatz für die Bewegungen und der für die Neubauten separat für ein „abgeschlossenes“ Jahr gespeichert werden. Dabei werden nur die Fertigstellun-
gen eines Jahres, z. B. x = 2020, betrachtet, und Einzüge aus den Jahren x, x-1 und x+1 toleriert. Wie bereits erwähnt, erklärt sich dieser Spielraum daraus, dass Einzüge teilweise schon lange vor dem statistischen Fertigstellungsdatum erfolgen können, aber bei Fertigstellungsdaten zum Ende des Jahres auch Zuzüge, die im darauffolgenden Jahr erfolgen, relevant sind. Beispielsweise kann das Jahr 2023 nicht abgeschlossen werden, wenn es noch keine Bewegungsdaten aus 2024 gibt, da die Zuzüge in einen Neubau, der gegen Ende 2023 fertiggestellt wurde, im anschließenden Jahr erfolgen.
Da in dem Datensatz der Neubauten jede Adresse bzw. jeder Neubau nur einmal vorkommt und hier nur die Anzahl der Wohnungen nach Merkmalskombination relevant ist, können bei „Abschluss“ des Jahres die Adressdaten gelöscht und die Daten trotzdem für spätere Analysen verwendet werden. Auch in dem Bewegungsdatensatz können die Adressdaten gelöscht werden, da hier nur noch Alter, Geschlecht und andere auszuwertende Merkmale von Interesse sind.
André Grow-Böser, Laura Martschink, Susann Kunadt
Demografisch bedingter Wohnungsbedarf
Methodik
einer
Prognose am Beispiel der Stadt Köln
Wohnungsbedarfsprognosen spielen eine wichtige Rolle für die Wohnungs- und Sozialpolitik. Bei der Erstellung solcher Prognosen stellt die Berechnung des demografisch bedingten Wohnungsbedarfs – dem Wohnungsbedarf, der sich aus der Veränderung der Bevölkerungsgröße und -struktur ergibt – oft die größte Herausforderung dar. Die kommunale Statistikstelle der Stadt Köln hat eine Methode entwickelt, mit der der rein demografisch bedingte Wohnungsbedarf prognostiziert werden kann. Der Beitrag beschreibt diese Methode und bespricht Herausforderungen, die sich bei der Erstellung von Wohnungsbedarfsprognosen ergeben.
Einleitung
Die Versorgung der Bevölkerung mit ausreichendem Wohnraum ist eine zentrale Aufgabe der Wohnungs- und Sozialpolitik (Iwanow 2017: 71). Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, sind Prognosen über den zukünftigen Wohnungsbedarf wichtig. Ist zu erwarten, dass die Bevölkerung wächst und damit die Nachfrage nach Wohnraum steigt, dann muss unter Umständen neuer Wohnraum geschaffen werden. Sinkt hingegen die Nachfrage aufgrund demografischer Schrumpfungsprozesse, können Umbau- oder sogar Rückbaumaßnahmen im Wohnungsbestand sinnvoller sein (Koschitzki, 2014: 333). Je nach erwarteter Entwicklung der Wohnungsnachfrage sind somit unterschiedliche politische Maßnahmen zu ergreifen.
Dr. André Grow-Böser
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sachgebiet Analysen, Berichte, Umfragen im Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Köln, Themenschwerpunkt Bauen und Wohnen : andre.grow-boeser@stadt-koeln.de
Dipl.-Geogr. Laura Martschink
Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sachgebiet Analysen, Berichte, Umfragen im Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Köln, Themenschwerpunkt Bevölkerung und Haushalte : laura.martschink@stadt-koeln.de
Dr. Susann Kunadt
Sachgebietsleitung Analysen, Berichte, Umfragen im Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Köln : susann.kunadt@stadt-koeln.de
Die kommunale Statistikstelle der Stadt Köln hat eine Methode entwickelt, mit der zukünftig in regelmäßigen Abständen der demografisch bedingte Wohnungsbedarf prognostiziert werden kann. Der demografisch bedingte Wohnungsbedarf ergibt sich aus der Zahl der im Stadtgebiet lebenden Haushalte, die Wohnungen nachfragen. Steigt die Zahl der Haushalte, so steigt in der Regel auch der Wohnungsbedarf. Die Veränderung der Zahl der Haushalte wird durch demografische Prozesse (Fertilität, Mortalität, Migration und Haushaltsbildung) bestimmt. Der demografisch bedingte Wohnungsbedarf berücksichtigt hier keine qualitativen Anforderungen an den Wohnraum wie Wohnform (Geschosswohnung oder Ein-/Zweifamilienhaus), Wohnungsgröße und -ausstattung. Im Mittelpunkt steht die Anzahl der benötigten Wohnungen, die sich allein aus der Veränderung der Bevölkerungsgröße und -struktur ergibt, die oft den größten Einfluss auf den Wohnungsbedarf haben. Der demografisch bedingte Wohnungsbedarf für Köln für den Zeitraum 2022 bis 2050 wurde mit der hier vorzustellenden Vorgehensweise erstmals im Jahr 2023 prognostiziert und im ersten Kölner Wohnungsmarktbericht 2024 (Stadt Köln 2024) veröffentlicht.
Methode und Ergebnisse
Der gängigste Ansatz zur Ermittlung des Wohnungsbedarfs sind Bilanzmodelle, bei denen sich der Bedarf an neuen Wohnungen bis zum Tag X aus der Differenz zwischen Wohnungsnachfrage und Wohnungsangebot ergibt (Forum KomWoB/ NRW.Bank 2012: 4). Das hier vorgestellte Modell konzentriert sich auf den demografisch bedingten Wohnungsbedarf und
somit auf die Nachfrageseite dieser Bilanz, da dieser Faktor in der Regel am dynamischsten und am schwierigsten zu prognostizieren ist. Die zentrale Fragestellung lautet somit: Wie viele Haushalte werden bis zum Tag X im Stadtgebiet Kölns leben und wie viele Wohnungen werden diese Haushalte nachfragen?
Wie in Abbildung 1 dargestellt, erfolgt die Prognose des demografisch bedingten Wohnungsbedarfs in drei Schritten:
1. Der erste Schritt besteht aus einer Bevölkerungsprognose, in der die zukünftige wohnberechtigte Bevölkerung (Einwohner*innen mit Haupt- und Nebenwohnsitz) bestimmt wird.
2. Der zweite Schritt besteht aus einer Haushalteprognose, in der die Verteilung der prognostizierten Bevölkerung auf Haushalte bestimmt wird.
3. Im dritten Schritt wird schließlich eine Bedarfsnorm bestimmt, mit der berechnet werden kann, wie viele Wohnungen von den prognostizierten Haushalten nachgefragt werden.
Die einzelnen in Abbildung 1 dargestellten Schritte werden im Folgenden erläutert.
Ausgenommen sind bei allen Berechnungen Einwohner*innen und Haushalte, die in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind (zum Beispiel in Senior*innenwohnheimen, Studierendenwohnheimen oder Flüchtlingsunterkünften).
Der Grund ist, dass Veränderungen in der Zahl der Haushalte in Gemeinschaftsunterkünften und auch die Bereitstellung
Abb. 1 Berechnungsschritte in der Prognose des demografisch bedingten Wohnungsbedarfs
Abb. 2 Entwicklung der wohnberechtigten Bevölkerung zwischen 2022 und 2050 auf Basis von drei Varianten der Bevölkerungsprognose
von Wohnungen für diese Haushalte anderen Mechanismen unterliegen als Angebot und Nachfrage auf dem regulären Wohnungsmarkt.
Schritt 1: Bevölkerungsprognose
Ausgangspunkt ist die Bevölkerungsprognose der Stadt Köln für den Zeitraum 2022 bis 2050 (Stadt Köln 2022). Der zugrundeliegende Ansatz dieser Prognose ist die in der amtlichen Statistik etablierte Kohorten-Komponenten-Methode. Dabei wird die Bevölkerung unter Berücksichtigung der Entwicklung in der Vergangenheit (Referenzzeitraum) und Annahmen über die zukünftige Entwicklung der Geburtenhäufigkeit, der Lebenserwartung und des Wanderungsgeschehens kohortenbasiert fortgeschrieben. Die getroffenen Annahmen stellen Hypothesen über die Zukunft dar und sind daher mit Unsicherheiten behaftet. Die zentralen Stellschrauben der Bevölkerungsprognose der Stadt Köln sind die Annahmen zum zukünftigen Wanderungsgeschehen. Den Referenzzeitraum bilden die Jahre 2012 bis 2021. Die Berechnung der Prognose erfolgt mit dem Programm SIKURS, das durch den KOSISVerbund bereitgestellt wird.1
In der sogenannten Basisvariante dieser Prognose werden die durchschnittlichen Entwicklungen bei Geburten und Wanderungen im Referenzzeitraum auch für die Zukunft angenommen. Da jedoch bereits kleine Änderungen im Wanderungsverhalten, das durch unterschiedliche gesellschaftliche,
politische und wirtschaftliche Entwicklungen beeinflusst wird, zu deutlich abweichenden Prognoseergebnissen führen können, wurden neben der Basisvariante acht weitere Varianten der Kölner Bevölkerungsprognose erstellt. Sie rechnen mit variierenden Zuzügen (konstante, abnehmende, zunehmende) aus Deutschland und dem Ausland.
Bei der Prognose des demografisch bedingten Wohnungsbedarfs stehen neben der Basisvariante (V5) zwei weitere Varianten im Mittelpunkt.2 Variante 4 geht davon aus, dass die Zuwanderung aus dem Ausland und aus dem übrigen Bundesgebiet bis 2050 zunimmt und führt von allen Varianten zum höchsten Bevölkerungswachstum.3 Variante 6 geht dagegen davon aus, dass die Zuwanderung aus dem Ausland und aus dem übrigen Bundesgebiet bis 2050 abnimmt und führt zum geringsten Bevölkerungswachstum.4 Zusammen beschreiben diese drei Varianten mögliche untere, mittlere und obere Werte der zukünftigen Bevölkerungsentwicklung und eignen sich daher zur Bestimmung des minimalen, mittleren und maximalen zukünftigen demografischen Wohnungsbedarfs. Abbildung 2 zeigt die Ergebnisse der Bevölkerungsprognose für die drei berücksichtigten Varianten. In allen Varianten steigt die wohnberechtigte Bevölkerung bis zum Jahr 2050 an, jedoch unterschiedlich stark.5 In der Basisvariante (V5) steigt die wohnberechtigte Bevölkerung zwischen 2021 und 2040 von 1.052.516 auf 1.087.712 (+3,3 % 2021/2040) und sinkt dann bis 2050 wieder auf 1.086.437 (-0,1 % 2040/2050). In der Variante mit dem geringsten Bevölkerungswachstum (V6) nimmt die Bevölkerung bis 2040 auf 1.074.242 zu (+2,1 % 2021/2040), um dann bis 2050 auf 1.058.720 abzusinken (-1,4 % 2040/2050). In der Variante mit dem höchsten Bevölkerungswachstum (V4) steigt die Bevölkerung kontinuierlich auf zunächst 1.105.328 im Jahr 2040 (+5 % 2021/2040) und dann auf 1.123.119 im Jahr 2050 (+1,6 % 2040/2050).
Schritt 2: Haushalteprognose
Da nicht Personen, sondern Haushalte Wohnungen nachfragen, muss die Verteilung der prognostizierten Bevölkerung auf Haushalte bestimmt werden (Forum KomWoB/NRW.Bank, 2012: 12).
Hierzu werden zunächst für das Ausgangsjahr der Prognose (das Jahr 2021) Quoten und Indikatoren für die Verteilung der Kölner Bevölkerung auf Haushalte berechnet. Da sich die zugrundeliegenden Einwohnermeldedaten auf Personen beziehen und keine Informationen über Haushaltszugehörigkeit vorhanden sind, müssen die Haushaltsbeziehungen zwischen den Einwohner*innen generiert werden. Dies geschieht mit Hilfe des Programms HHGen, das durch den KOSIS-Verbund bereitgestellt wird.6 Auf dieser Basis kann dann beispielsweise berechnet werden, wie viele Personen im Schnitt in einem Haushalt leben und wie viele Kinder in jedem Haushalt leben. Die so ermittelten Quoten werden sodann auf die wohnberechtigte Bevölkerung in jedem Prognosejahr angewendet und hypothetische Haushalte generiert. Hierzu wurde das Modul HHProg aus dem Programm SIKURS verwendet. Es wird hier unterstellt, dass das im Jahr 2021 beobachtete Haushaltsbildungsverhalten bis zum Jahr 2050 konstant bleibt. Das Ergebnis ist für jedes Prognosejahr eine Schätzung der Zahl der Haushalte nach Größe (Personenzahl) und Familienform (zum Beispiel Haushalte mit und ohne Kinder).
Tabelle 1 zeigt die Anzahl der Haushalte nach Größe für ausgewählte Prognosejahre. Abbildung 3 zeigt die Entwicklung der Haushalte nach Größe bis 2050 im Vergleich zu 2021 im Zeitverlauf.
Entsprechend der unterschiedlichen Bevölkerungszahlen in den verschiedenen Prognosevarianten unterscheiden sich auch die Prognosen zur Anzahl der Haushalte; darüber hinaus
Tab. 1 Anzahl der Haushalte für ausgewählte Prognosejahre nach Prognosevariante
Konstante Zuwanderung/Basisvariante (V5)
Abb. 3 Entwicklung der Haushalte nach Haushaltsgröße, relativ zum Ausgangsjahr (2021 = 100) auf Basis von drei Varianten der Bevölkerungsprognose
Höchstes Bevölkerungswachstum (V4)
Höchstes Bevölkerungswachstum (V4)
Einpersonenhaushalte
Einpersonenhaushalte
unterscheidet sich auch die Verteilung der Haushalte nach Größe zwischen den Prognosevarianten. In der Variante mit dem höchsten Bevölkerungswachstum (V4) wächst die Anzahl der eine Wohnung nachfragenden Ein-, Zwei- und Drei- und Mehrpersonenhaushalte nahezu kontinuierlich bis 2050 an. In der Basisvariante (V5) hingegen sinkt die Zahl der nachfragenden Drei- und Mehrpersonenhaushalte ab 2028 und die Zahl der nachfragenden Einpersonenhaushalte ab 2043, während die Zahl der nachfragenden Zweipersonenhaushalte kontinuierlich steigt. In der Variante mit dem geringsten Bevölkerungswachstum (V6) sinkt die Anzahl der eine Wohnung nachfragenden Drei- und Mehrpersonenhaushalte ab 2028, die Zahl der nachfragenden Einpersonenhaushalte ab 2040 und die Zahl der nachfragenden Zweipersonenhaushalte ab 2046.
Schritt 3: Bedarfsnorm und demografisch bedingter Wohnungsbedarf
Die Frage, was eine angemessene Versorgung der Haushalte mit Wohnraum ausmacht, kann präskriptiv oder deskriptiv beantwortet werden (Forum KomWoB/NRW.Bank, 2012: 6–7). Häufig wird präskriptiv davon ausgegangen, dass jedem Haushalt eine Wohnung zur Verfügung stehen sollte. Entgegen dieser Vorgabe fragen oft nicht alle Haushalte eine eigene Wohnung nach, während einige Haushalte mehrere Wohnungen nachfragen. Beispiele hierfür sind Untermietverhältnisse und Wohngemeinschaften, in denen mehrere Haushalte zusammenleben, die auch bei ausreichendem Wohnungsangebot nicht unbedingt je eine eigene Wohnung beziehen würden. Umgekehrt bewohnen einige Haushalte mehrere Wohnungen in Form von Zweitwohnungen. Da Köln von studentischem Wohnen (Wohngemeinschaften) und Berufspendlern (Zweitwohnungen) geprägt ist, wurde zur Ermittlung der Bedarfsnorm ein Ansatz gewählt, der stark deskriptiv ausgerichtet ist, sodass der Status quo der Verteilung der Haushalte auf Wohnungen aus dem Referenzzeitraum über den Prognosezeitraum konstant gehalten wird. Dazu wurde zunächst ermittelt,
wie viele Wohnungen die Kölner Haushalte im Durchschnitt bewohnen. Diese Quote wurde dann auf die Haushalteprognose übertragen und für die Zukunft konstant gehalten.
Bei der Bestimmung der deskriptiven Bedarfsnorm für die Stadt Köln ergibt sich die Schwierigkeit, dass für den Referenzzeitraum keine verlässlichen Daten zur Verteilung der Haushalte über Wohnungen vorliegen. Diese Verteilung muss daher durch eine Gegenüberstellung der Anzahl der Haushalte und der Anzahl der verfügbaren Wohnungen unter Berücksichtigung von Wohnungsleerständen geschätzt werden. Informationen zur Zahl der Haushalte liegen in Form der weiter oben beschriebenen Generierung auf Basis des Einwohnermelderegisters vor. Ebenso liegen Informationen zum Wohnungsbestand in Form einer Fortschreibung der Gebäude- und Wohnungszählung aus dem Zensus 2011 vor. Verlässliche Informationen zum Wohnungsleerstand in der Stadt Köln im Referenzzeitraum liegen hingegen nicht vor. 7 Daher wurde ein gängiger buchhalterischer Ansatz zur Fortschreibung von Leerständen verwendet, um den Leerstand näherungsweise zu ermitteln (BBSR 2019: 51). Mit diesem Ansatz wird der Leerstand im Jahr t wie folgt berechnet:
In dieser Gleichung wird der Leerstand im Jahr t aus dem Leerstand im Vorjahr (t-1), der Anzahl der fertiggestellten Wohnungen, der Anzahl der abgegangenen Wohnungen und der Veränderung in der Anzahl der Haushalte von Jahr t-1 zu t bilanziert. Steigt die Anzahl der Haushalte schneller als die Anzahl der Wohnungen, dann nimmt der Leerstand ab. Steigt die Anzahl der Wohnungen schneller als die Anzahl der Haushalte, dann nimmt der Leerstand zu.
Bei genauer Betrachtung der obigen Gleichung wird deutlich, dass eine präskriptive Bedarfsnorm für die Schätzung von Leerständen benötigt wird. Implizit wird in der Gleichung unterstellt, dass jeder hinzukommende/abgehende Haushalt
genau eine Wohnung belegt/freigibt. Ein alternativer Ansatz wäre es, die Bedarfsnorm aus dem Ausgangsjahr, für das sich diese Norm in der Regel verlässlich berechnen lässt, bei der Bilanzierung des Leerstands in den Folgejahren zu berücksichtigten. Auch dies würde der Anlegung einer präskriptiven Norm (zumindest in den Folgejahren) gleichkommen, jedoch wäre in diesem Fall die empirische Bestimmung der Bedarfsnorm im Zeitverlauf zirkulär, da sich die Ermittlung der Bedarfsnorm für ein gegebenes Folgejahr teilweise aus der Ermittlung der Bedarfsnorm für das Ausgangsjahr ergeben würde. Um dieses Problem zu vermeiden wurde zur Bilanzierung der Leerstände ein konservativerer Ansatz gewählt, bei dem jeder hinzukommende/abgehende Haushalt eine Wohnung belegt/freigibt, ohne Bezug auf die Bedarfsnorm aus dem Ausgangsjahr zu nehmen.8
Für die Stadt Köln wurden zum Zeitpunkt der Erstellung der hier beschriebenen Prognose verlässliche Leerstandsdaten zuletzt im Rahmen der Gebäude- und Wohnungszählung des Zensus 2011 erhoben. Hier betrug der gesamte Leerstand 2,45 % (sowohl marktaktiver Leerstand als auch nicht marktaktiver Leerstand), was unterhalb der damaligen bundesweiten Leerstandsquote liegt. Dieser Leerstand wird in Tabelle 2 auf Basis der obigen Gleichung bis 2021 fortgeschrieben. Hiernach betrug der geschätzte Wohnungsleerstand im Jahr 2021 3,63 %, was 20.314 leerstehenden Wohnungen entspricht gegenüber 539.353 bewohnten.9 Bei 559.854 Haushalten ergibt sich, dass sich 20 501 Haushalte ihre Wohnungen mit anderen Haushalten teilen. Dies entspricht einer Nachfrage von 0,963 Wohnungen pro Haushalt. Dieser Wert entspricht auch dem Mittel zwischen 2012-2021, welches hier als Bedarfsnorm
Tab. 2 Schätzung des durchschnittlichen Wohnungsbedarfs je Haushalt
Haushalte1
Wohnungen in Gebäuden mit Wohnraum Bewohnte Wohnungen
1 Ohne Haushalte in Wohnheimen
2 Ohne Wohnungen in Wohnheimen
Abb. 4 Entwicklung des demografischen Wohnungsbedarfs (Anzahl Wohnungen) zwischen 2022 und 2050 auf Basis von drei Varianten der Bevölkerungsprognose
verwendet wird. Durch Multiplikation der prognostizierten Haushaltezahlen mit dieser Quote ergibt sich die Zahl der Wohnungen, die benötigt wird, um alle Haushalte entsprechend des aktuellen Status quo mit Wohnraum zu versorgen. Legt man die Quote von 0,963 Wohnungen pro Haushalt an die prognostizierten Haushaltezahlen an, dann ergibt sich der in Abbildung 4 dargestellte Wohnungsbedarf. In der Basisvariante (V5) steigt der demografische Wohnungsbedarf zwischen 2021 und 2040 von 539.139 auf 562.499 Wohnungen (+4,3 % 2021/2040) und sinkt dann bis 2050 wieder auf 562.175 Wohnungen (-0,1 % 2040/2050). In der Variante mit dem geringsten Bevölkerungswachstum (V6) nimmt der demografische Wohnungsbedarf bis 2040 auf 555.678 Wohnungen zu (+3,1 % 2021/2040), um dann bis 2050 auf 548.334 Wohnungen abzusinken (-1,3 % 2040/2050). In der Variante mit dem höchsten Bevölkerungswachstum (V4) steigt der demografische Wohnungsbedarf kontinuierlich auf zunächst 571.337 Wohnungen im Jahr 2040 (+6 % 2021/20240) und dann auf 580.386 Wohnungen im Jahr 2050 (+1,6 % 2040/2050).
Diskussion
Die vorliegende Arbeit beschreibt eine Methode zur Prognose des demografisch bedingten Wohnungsbedarfs am Beispiel der Stadt Köln. Das Ergebnis ist die Zahl der Wohnungen, die benötigt werden, um in Zukunft alle Haushalte entsprechend des Status quo im Zeitraum 2012–2021 mit Wohnraum zu versorgen. Über den demografisch bedingten Wohnungsbedarf hinaus gibt es weitere Faktoren auf der Nachfrage- und Angebotsseite, die bestimmen, ob und wie viele Wohnungen in Zukunft neu gebaut werden müssen.
Auf der Angebotsseite wird zum Beispiel häufig eine sogenannte Leerstandsreserve (oder auch Fluktuationsreserve) berücksichtigt, die sicherstellen soll, dass der Wohnungsmarkt reibungslos funktionieren kann. Die Annahme ist hier, dass Haushalte bei Umzügen für kurze Zeit mehrere Wohnungen belegen und, dass einige Modernisierungsmaßnahmen nur in leerstehenden Wohnungen möglich sind (Forum KomWoB/NRW. Bank 2012: 15). Sofern solch ein Reserve vorgesehen ist, muss diese auf den Wohnungsbedarf aufgeschlagen werden. Zusätzlich kann sich im Ausgangsjahr ein sogenannter Nachholbedarf ergeben, zum Beispiel, wenn das Verhältnis von Haushalten zu Wohnungen nicht der angelegten Bedarfsnorm entspricht. In der hier vorgestellten Methode ergibt sich kein Nachholbedarf, da die Bedarfsnorm dem Status quo der Verteilung der
Haushalte auf Wohnungen zu Beginn der Prognose entspricht. Sollte das Ziel sein, diesen Status quo zu ändern, so dass den Haushalten in Zukunft mehr Wohnungen zur Verfügung stehen (etwa um den Wohnungsmarkt zu entspannen), dann würde sich ein Nachholbedarf ergeben, der bei der Berechnung des gesamten Wohnungsbedarfs berücksichtigt werden müsste.
Auf der Angebotsseite muss neben dem Wohnungsbestand im Ausgangsjahr zum Beispiel berücksichtigt werden, dass über die Zeit Wohnungen durch Abriss, Zusammenlegung oder Umnutzung abgehen. Hierdurch kann sich das Verhältnis von Angebot und Nachfrage verschlechtern, sodass zusätzlicher Neubau nötig wird, um alle Haushalte angemessen mit Wohnraum zu versorgen.
Die hier vorgestellte Methode steht in der Tradition klassischer Bilanzmodelle, die auf Bevölkerungsprognosen beruhen. Ein Problem mit solchen Modellen ist, dass sie die Trends aus der vergangenen Bevölkerungsentwicklung in die Zukunft fortschreiben und somit zu einem gewissen Grad zirkulär sind (Özşahin, 2019: 11). Das Bevölkerungswachstum von Städten und Gemeinden wird oft maßgeblich durch Zuwanderung bestimmt, die wiederum durch die Verfügbarkeit von Wohnungen und damit der Bautätigkeit beeinflusst wird. Schreibt man das Bevölkerungswachstum auf Grund von Zuwanderung in die Zukunft fort, dann geht die Prognose implizit davon aus, dass sich die Bautätigkeit der Vergangenheit auch in Zukunft fortsetzt. Die vergangene Bautätigkeit bestimmt in solch einem Modell somit die für die Zukunft prognostizierte nötige Bautätigkeit (paraphrasiert von Özşahin, 2019: 11). In der hier vorgestellten Methode besteht dieses Problem nur bedingt, da lediglich in der Basisvariante der Bevölkerungsprognose das in der Vergangenheit beobachtete Zuwanderungsgeschehen fortgeschrieben wird. In den beiden anderen Varianten wurden Szenarien gebildet, die das Wanderungsgeschehen von der Bautätigkeit der Vergangenheit loslösen. In diesem Beitrag haben wir uns auf die Bestimmung der Zahl der Haushalte und die Bestimmung einer deskriptiven Bedarfsnorm konzentriert, da dies häufig die schwierigsten Schritte bei der Erstellung einer Wohnungsbedarfsprognose sind. Wir hoffen, dass unsere Ausführungen auch für andere Städte und Gemeinden die Möglichkeit eröffnet, eigene Wohnungsbedarfsprognosen zu erstellen. Der Grund ist, dass die verwendeten Programme (SIKURS und HHGen) bereits in vielen Städten und Gemeinden zum Einsatz kommen und die nötigen Daten (Einwohnermelderegister, Wohnungsbestand und Wohnungsleerstand aus dem Zensus) häufig bereits vorhanden sind.
1 Für mehr Informationen siehe https://www.staedtestatistik.de/ arbeitsgemeinschaften/kosis/sikurs.
2 In der Basisvariante (V5) wird für die Zuwanderung aus dem übrigen Bundesgebiet ein Volumen von 39.900 Personen pro Jahr angenommen und für die Zuwanderungen aus dem Ausland ein Volumen von 16.800 Personen pro Jahr. Diese Zahlen bilden die Grundlage für die Zu- und Fortzugsraten in den Prognosejahren und wurden über die Zeit konstant gehalten. Einzige Ausnahme bilden die Zuzüge aus dem Ausland, die aufgrund der empirisch beobachteten unterjährigen Entwicklung im Jahr 2022 für dieses Prognosejahr einmalig auf 25.000 gesetzt wurden.
3 Die Zuzüge aus dem übrigen Bundesgebiet steigen bis auf 42.200 Personen und die Zuzüge aus dem Ausland bis auf 18.800 Personen.
4 Die Zuzüge aus dem aus dem übrigen Bundesgebiet sinken bis auf 37.700 Personen und die Zuzüge aus dem Ausland bis auf 15.900 Personen.
5 Für die Berechnung des demografisch bedingten Wohnungsbedarfs wurde die wohnberechtigte Bevölkerung (Bevölkerung mit Haupt- oder Nebenwohnsitz) berücksichtigt. In der offiziellen Bevölkerungsprognose der Stadt Köln (2022) hingegen wird nur die Bevölkerung mit Hauptwohnsitz berücksichtigt. Hierdurch ergeben sich Unterschiede in den prognostizierten Bevölkerungszahlen.
6 Für mehr Informationen siehe https://www.staedtestatistik.de/ arbeitsgemeinschaften/hhstat/hhgen
7 Der CBRE-empirica-Leerstandsindex wird üblicherweise herangezogen um den Leerstand in Köln zu bestimmten. Dieser Index
konzentriert sich jedoch nur auf den marktaktiven Leerstand im Geschosswohnungsbau und berücksichtigt somit keine Leerstände im Ein-/Zweifamilienhausbau und anderen Gebäudeformen sowie in Bauruinen. Aus diesem Grund tendiert dieser Index dazu den gesamten Leerstand zu unterschätzen (BBSR 2014: 7). Informationen zur Berechnung des CBRE-empirica-Leerstandsindex sind hier zu finden: https://www.empirica-institut.de/thema/regionaldatenbank/ einzeldaten-cbre-empirica-leerstandsindex/.
8 Ein Vergleich beider Ansätze hat gezeigt, dass die resultierende mittlere Bedarfsnorm für den Referenzeitraum in beiden Fällen nahezu identisch ist.
9 Der Anstieg im berechneten Leerstand in den Jahren 2020 und 2021 ergibt sich aus der beobachteten Bevölkerungsschrumpfung in der Stadt Köln im Zusammenhang mit der Corona Pandemie. Im Jahr 2022 hat verstärkte Zuwanderung die Einwohner*innenverluste aus der Pandemie mehr als ausgeglichen, wodurch auch der berechnete Leerstand wieder unter 3 Prozent gesunken ist. Ein Anstieg mit anschließender Abnahme im Leerstand in den Jahren 2021 und 2022 ist auch in der Schätzung des CBRE-empirica-Leerstandsindex zu verzeichnen, allerdings wird die Fluktuation dort mit +/-0,1% niedriger geschätzt. Seit dem 25. Juni 2024 liegen die Leerstandsdaten aus der Gebäude- und Wohnungszählung im Zensus 2022 vor. Hiernach betrug der gesamte Wohnungsleerstand in der Stadt Köln im Jahr 2022 2,46 Prozent. Dieser Wert kann als neuer Ausgangswert für zukünftige Fortschreibungen des Wohnungsleerstandes verwendet werden.
Literatur
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) (2014): Aktuelle und zukünftige Entwicklung von Wohnungsleerständen in den Teilräumen Deutschlands: Datengrundlagen, Erfassungsmethoden und Abschätzungen.
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) (2019): Künftige Wohnungsleerstände in Deutschland: Regionale Besonderheiten und Auswirkungen.
Forum KomWoB/NRW.BANK (Hrsg.) (2012): Prognosen zum Wohnungsmarkt. Eine Arbeits-
hilfe für die Wohnungsmarktbeobachtung. Stand Januar 2012.
Iwanow, Irene; Gutting, Robin (2017): Kleinräumige Wohnbauflächenprognosen – ein quantitativ orientiertes Instrument zur Reduktion der Flächenneuinanspruchnahme für Wohnzwecke. In: disP - The Planning Review, 53, 4, 71–89.
Koschitzki, Robert (2014): Prognosen, Szenarien und ihre Zeithorizonte – Anforderungen und Erfahrungen der Praxis. In: Meinel, Gotthard; Schumacher, Ulrich; Behnisch, Martin (Hrsg.): Flächennutzungsmonitoring VI. Innenent-
wicklung – Prognose – Datenschutz. IÖRSchriften; 65. Berlin. Özșahin, Ersin (2019): Über die Schwierigkeit des Umgangs mit Wohnungsbedarfsprognosen. In: Stadtforschung und Statistik: Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker, 32, 1, 10–16.
Stadt Köln (2022): Bevölkerungsprognose für Köln 2022 bis 2050 Mit kleinräumigen Berechnungen bis 2035. Kölner Statistische Nachrichten 14/2022.
Stadt Köln (2024): Wohnungsmarktbericht Köln 2024. Kölner Statistische Nachrichten 2/2024.
Juliane Schapper, Beate Kaveriappa-von Ramin
SIKURS Zur Geschichte und Zukunft eines Computerprogramms
Das Statistische Informationssystem zur Kleinräumig gegliederten Umlegung und Projektion einer regionalen BevölkerungsStruktur, kurz SIKURS, gibt es seit mehr als vier Jahrzehnten. Vom Forschungsprojekt zum Programm, vom kleinen Kreis zu 117 Anwenderinnen und Anwendern, von der Kleinstadt bis zum Bundesinstitut – SIKURS ist ein etabliertes Tool aus der Städtestatistik für die Städtestatistik.
Vom Projekt zum Programm
Statistisches Informationssystem zur Kleinräumig gegliederten Umlegung und Projektion einer regionalen BevölkerungsStruktur. Hätten Sie es gewusst? Selbst die Anwendenden, die frisch aus einer SIKURS Schulung kommen, werden es sich kaum gemerkt haben. Dabei passt der komplexe Name wunderbar zu diesem Programm, welches die Nutzenden mit seinem vielfältigen Methodenbaukasten tausende verschiedene Rechenwege beschreiten lässt. Die Methode, die SIKURS zu Grunde liegt, ist ein deterministischer, stromorientierter Prognoseansatz. Bewegungen (z. B. Geburten, Wanderungen) werden mit Hilfe von Raten bzw. Quoten in das Modell eingebracht.
Die Festlegung der Rechenmethode (Prognosevariante) erfolgt über die besagten Bausteine anhand eines Methodenassistenten.
Aber wie kam es eigentlich zu SIKURS?
Juliane Schapper
M.Sc. Demographie; seit 2015 wiss. Mitarbeiterin im Amt für Stadtforschung und Statistik für Nürnberg und Fürth; Bevölkerung, Vorausberechnung, Bildung, Gesundheit : juliane.schapper@stadt.nuernberg.de
Beate Kaveriappa-von Ramin
Geographin M. A.; seit 2020 wiss. Mitarbeiterin im Amt für Stadtforschung und Statistik für Nürnberg und Fürth; Betreuende Stelle SIKURS : beate.kaveriappa@stadt.nuernberg.de
Schlüsselwörter:
SIKURS – Bevölkerungsvorausberechnung
SIKURS entstammt einem Förderprojekt des Bundesministeriums für Forschung und Technologie, welches in den Jahren 1978 bis 1981 das Forschungsvorhaben „Entwicklung von Methoden und Verfahren für Planungs- und Entscheidungshilfen auf der Basis des automatisierten Einwohnerwesens“ mit öffentlichen Mitteln förderte. Das Projekt trug seinerzeit den Namen PENTA I. Einer der Arbeitsschwerpunkte des Projekts war, das zuvor entwickelte theoretische Bevölkerungsprognosemodell in die Anwendungspraxis umzusetzen. Ergebnis der Umsetzung war ein EDV-gestützter Bevölkerungsprognose-Baukasten zur Kleinräumig gegliederten Umlegung und Projektion einer regionalen Bevölkerungs-Struktur oder kurz: KURS. Das „SI“ für „Statistisches Informationssystem“ kam erst in späteren Jahren hinzu.
Die enge Einbindung von Vertreterinnen und Vertretern kommunaler Statistischer Ämter und Fachbehörden gewährleistete dabei von Anfang an eine praxisnahe und anwendungsorientierte Programmentwicklung. Die Entwicklungsziele wurden in einem kommunalen Arbeitskreis definiert, der sich als projektbegleitendes Gremium in regelmäßigen Abständen vom Stand der Entwicklungsarbeiten berichten ließ. So berichtet es Hannes Tüllmann in der Historie zu SIKURS‘ methodischem Konzept. Das Förderungsvorhaben wurde 1983 abgeschlossen. SIKURS und seine Anwendergemeinschaft aber gibt es noch immer und das nun seit über 40 Jahren.
Abb. 1 Karte der SIKURS Wartungsgemeinschaft
Dass dem so ist liegt daran, dass SIKURS mit seinem Bausteinkasten kontinuierlich weiterentwickelt und weitergepflegt wurde: Vom Einsatz auf dem Großrechner hin zum PC, von der Anpassung der Programmiersprache Fortran auf C++ und darüber hinaus war die Wartungsgemeinschaft stets aktiv dabei, den Baukasten auszubauen und weiterzudenken. Dazu gehören z. B. das Einbringen von Eckwerten, die Möglichkeit Neubau und Rückbau zu modellieren, die Attraktivität von Gebieten zu berücksichtigen oder Sondergruppen zu betrachten. Aktuell gibt es 17 mögliche Bausteine mit unzähligen Kombinationen, wie diese Bausteine genutzt werden können.
Durch die standardisierte Erzeugung der SIKURS Eingabedaten, aber auch durch die Möglichkeit, DST-Dateien, also die Standarddatensätze Bestand und Bewegung aus dem Melderegister, zu Makrodateien verarbeiten zu können, ist SIKURS weitestgehend ohne zusätzliche Statistikprogramme nutzbar. Die Eingabedaten können im Programm mittels Glättungs- oder Dynamisierungstool nachbearbeitet werden. Die programminterne Clusteranalyse kann hingegen für die Typisierung dieser Daten genutzt werden. Das Zeitreihen- und das Reportingtool sowie die Indikatorenberechnung schließen letztlich an die Vorausberechnung an – ebenso wie das SIKURS-Modul HHProg, mit dem nach einer Bevölkerungsvorausberechnung eine Haushalteprognose erstellt werden kann.
Entwicklung der Wartungsgemeinschaft
Der Zielsetzung des KOSIS-Verbunds entsprechend wurde für den Programmkomplex SIKURS eine Wartungsgemeinschaft gebildet: Teile des kommunalen Arbeitskreises führten das ehemalige Forschungsprojekt weiter. Des Weiteren sind seit über 40 Jahren die Namen Hannes Tüllmann und Wilhelm Braunschober unzertrennbar mit dem SIKURS-Programm verbunden. Hannes Tüllmann als SIKURS-Methodenspezialist entwickelte seinerzeit die methodische Konzeption für die Softwareanwendung, während der SIKURS-Systementwickler Wilhelm Braunschober die Methode in Programmiersprache übersetzte und das Programm wartet und pflegt. Die Stadt Nürnberg hat im Auftrag der Wartungsgemeinschaft die Betreuung und Koordination von SIKURS übernommen.
Die Gemeinschaft selbst ist über die Jahre stetig gewachsen. Von der Kleinstadt bis zum Bundesinstitut erfreut sich SIKURS mittlerweile einer Vielzahl verschiedener Anwenderinnen und Anwender. Heute ist SIKURS in 101 Städten, Stadtstaaten, Kreisen und Kantonen sowie 16 Landesämtern, Verbänden und Institutionen in drei Ländern im Einsatz: in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Karte veranschaulicht, wie verbreitet SIKURS ist (Abb. 1).
So ist es nicht schwer, innerhalb der Wartungsgemeinschaft SIKURS Gleichgesinnte zu finden, die sich ähnlichen Problemen, Fragestellungen, Bevölkerungszahlen, regionalen Besonderheiten oder planerischen Ansprüchen gegenübersehen. Dabei entsteht ein enormer Mehrwert für den „Blick in die Zukunft“ und ein Austausch, von dem alle nur profitieren können. Zwei Kooperationen seien hier beispielhaft hervorgehoben: zum einen die im Rahmen der KOSIS Gemeinschaft KO.R entstandenen R-Dashboards. Mit diesen ist es möglich, die SIKURS Eingabe- bzw. Ausgabedaten zu visualisieren. Eine Errungenschaft, die zeigt, wie viel Fachwissen und Kreativität in der Städtestatistik vorhanden sind. Interessierte an den Dashboards können sich direkt an die KOSIS Gemeinschaft KO.R wenden (https://www.staedtestatistik.de/arbeitsgemeinschaften/kosis/kor).
Eine weitere Kooperation ist der regelmäßige virtuelle Austausch im SIKURS Treff. Von Anwendenden für Anwendende gedacht, wurde hier eine Plattform geschaffen, auf der Erfahrungen weitergegeben und gemeinsam Fragen zur Nutzung von SIKURS auf den Grund gegangen wird. Der SIKURS Treff steht allen offen. Interessierte wenden sich gerne an Sandra Majer (Sandra.Majer@stadt-pforzheim.de) von der Kommunalen Statistikstelle der Stadt Pforzheim.
Ein Blick in die Zukunft
Nach über 40 Jahren SIKURS ist es nun nicht verwunderlich, dass das wichtigste Thema derzeit der Generationenwechsel ist. Zunächst folgten in der Betreuenden Stelle Beate Kaveriappa-von Ramin und Juliane Schapper den Kolleginnen Annelie Hohenberger-Krieg und Barbara Lux-Henseler nach. Die methodische Betreuung durch Hannes Tüllmann geht in die Hände der SIKURS Lenkungsgruppe über. Diese hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Programm noch besser zu verstehen, und bei Bedarf eigene Weiterentwicklungskonzepte zu erstellen. Als letztes wird die Wartung und technische Betreuung von SIKURS in naher Zukunft an eine andere IT-Firma übertragen werden, nachdem Wilhelm Braunschober seit vier Jahrzehnten dem Projekt und den Anwendenden mit Rat und Tat zur Seite stand.
Und dann? – Derzeit bemüht sich die Betreuende Stelle um die Vorbereitung einer Ausschreibung der Programmwartung und technischen Betreuung des SIKURS-Programms. Dazu stellte sich die SIKURS Lenkungsgruppe sehr genau die Frage, wie wird SIKURS in der Zukunft gebraucht? Welche Funktionen sind unerlässlich? Wo können wir noch weitere Verbesserungen einbringen und wie passt das Ganze in unser Budget? Wenn Sie sich etwas wünschen könnten, was wäre Ihre Idee?
Patrizio Vanella, Timon Hellwagner, Philipp Deschermeier, Markus Kissling
Die zukünftige Entwicklung der lokalen oder regionalen Bevölkerung ist für kommunale Planungen von großer Bedeutung. Diese zentrale Rolle erfordert, dass kleinräumige Bevölkerungsprojektionen auf entsprechend valider Methodik beruhen. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick zu ebensolchen methodischen Ansätzen und spiegelt diese mit Erfahrungsberichten aus der kommunalen Planung. Dabei werden die Herausforderungen und Potenziale, die in der Umsetzung kleinräumiger Bevölkerungsprojektionen zu finden sind, illustrativ diskutiert. Der Beitrag leitet daraus Empfehlungen ab, wie eine bessere Informationsbasis für kleinräumige Bevölkerungsprojektionen aussehen könnte und wie sich die Projektionen methodisch ausbauen ließen.
Dr. Patrizio Vanella
seit 2022 Statistiker in der Abteilung Gesundheitsberichtserstattung & Biometrie am aQua-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen (Göttingen), sowie seit 2023 Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Empirische Sozialforschung und Demographie der Universität Rostock. Themenschwerpunkte: Demografische und epidemiologische Prognosen, Kausalanalysen, (gesundheitsökonomische) Evaluationen, GKV-Routinedatenanalysen, empirische Gesundheitsforschung. : patrizio.vanella@aqua-institut.de und patrizio.vanella@uni-rostock.de
Timon Hellwagner
seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA, Nürnberg); Themenschwerpunkte: Demografische Schrumpfung, Arbeitsangebot. : timon.hellwagner@iab.de
Dr. Philipp Deschermeier
seit 2022 Senior Economist im Themencluster Internationale Wirtschaftspolitik, Finanz- und Immobilienmärkte am Institut der deutschen Wirtschaft (Köln). Themenschwerpunkte: Wohnungsmärkte, Wohnungspolitik und Demografie. : deschermeier@iwkoeln.de
Markus Kissling
seit 2013 Geschäftsführer des Praxisnetzwerks für Soziale Stadtentwicklung, Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Soziale Brennpunkte Niedersachsen (Hannover). Themenschwerpunkte: Integrierte Kommunalentwicklung, Gemeinwesenarbeit. : markus.kissling@lag-nds.de
Praktischer Nutzen und Anwendungsfelder regionaler Bevölkerungsprognosen
Kleinräumige Bevölkerungsprojektionen dienen sowohl auf regionaler als auch auf kommunaler Ebene als wichtige Informationsgrundlage für Planungen. So leiten sich beispielsweise die zukünftige Nachfrage nach Kinderbetreuungs- oder Schulangeboten (siehe aQua-Institut 2024: Interview 2) und der zukünftige Bedarf an Gesundheitsleistungen, wie Arztpraxen, therapeutischen Angeboten, Krankenhausbehandlungen oder auch Plätzen in Pflegeheimen (Vanella et al. 2023), primär aus der demografischen Entwicklung ab. Ebenso ist die demografische Entwicklung ein wesentlicher Treiber der Wohnungsnachfrage, die neben der Änderung individuellen Bedarfs und Wohnformen maßgeblich von der Entwicklung der kommunalen Bevölkerungsgröße und -struktur abhängt (siehe aQua-Institut 2024: Interview 1, Interview 3; Krüger 2020; Deschermeier 2023). Auch die Angebotsseite regionaler Märkte hängt stark von der Bevölkerungsentwicklung ab. Insbesondere regionale und sektorale Fachkräfteengpässe am Arbeitsmarkt erfordern Bevölkerungsprojektionen als quantitative Grundlage zur Planung und Steuerung (Vanella et al. 2022a). Der Fachkräftemangel wird langfristig aufgrund niedriger Geburtenzahlen nicht gelindert, während eine Netto-Emigration der Erwerbspopulation aus bereits strukturschwachen Regionen die negative wirtschaftliche Entwicklung vor Ort noch weiter verstärkt (Vanella et al. 2023; Vanella u. Hassenstein 2024). Die (internationale) Immigration qualifizierter Arbeitskräfte, die sich schnell in den Arbeitsmarkt integrieren lassen, kann einen potenziell wichtigen Baustein bei der Linderung von Arbeitskräfteengpässen darstellen (Fuchs et al. 2018; Marois et al. 2020; Zika et al. 2020; Vanella et al. 2022a). Diese ausgewählten Beispiele verdeutlichen die hohe Bedeutung von validen kleinräumigen Bevölkerungsprognosen – und verweisen zugleich auf die zugrundeliegende Komplexität. Vor diesem Hintergrund verfolgt der vorliegende Beitrag zweierlei Zielsetzungen: Zum einen wird ein Überblick zu An-
sätzen von (kleinräumigen) Bevölkerungsprojektionen gegeben. Zum anderen werden diese Ansätze mit den Ergebnissen einer offenen schriftlichen Befragung1 gespiegelt – und dabei illustrativ die Herausforderungen und Potenziale diskutiert.
Detailgrad regionaler
Bevölkerungsprojektionen
Räumliche Dimension
Bevölkerungsprojektionen unterscheiden sich grundsätzlich hinsichtlich der gewählten Methodik und des modellierten Detailgrads. Diese Dimensionen stehen oftmals in unmittelbarem Zusammenhang mit der gewählten räumlichen Auflösung. Auch die zur Verfügung stehende Datenbasis kann eine Rolle bei der Wahl der Methodik sowie des Detailgrads spielen. Die gängigsten Projektionen beziehen sich auf die nationale Ebene (z. B. Destatis 2024a), da diese aus gesellschaftlicher, fiskalischer und makroökonomischer Sicht eine zentrale Rolle spielt, beispielsweise als Grundlage für die Projektion der zukünftigen Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung (z. B. Vanella et al. 2022b). Offenkundig sind nationale Projektionen jedoch nicht für alle Zwecke geeignet. So basiert die Verteilung von Geflüchteten von der nationalen auf die Bundeslandebene u.a. auf der Verteilung der Bevölkerung im Vergleich der Bundesländer. Folglich ist für die Einschätzung der zukünftigen Belastung von regionalen Aufnahmezentren die Simulation der bundeslandspezifischen Bevölkerung wichtig (Vanella et al. 2022a). Außerdem sind in vielen Zusammenhängen Prognosen auf Ebene von Funktionsräumen, also über die Grenzen üblicher Verwaltungseinheiten hinaus, wichtig. Beispiele umfassen die Einzugsgebiete starker Arbeitsmärkte oder den Umkreis gesättigter Wohnungsmärkte. So veröffentlicht das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) regelmäßig Projektionen für die Bevölkerungsentwicklung in 96 Raumordnungsregionen (Maretzke et al. 2021)2. Diese basieren auf der feingliedrigeren geografischen BBSRBevölkerungsprojektion für die rund 400 deutschen Kreise (Maretzke et al. 2021). Für die kommunale Planung wird aber selbst eine Simulation auf der Ebene der Kreise teilweise als zu grob und ungenau empfunden (siehe aQua-Institut 2024: Interview 2, Interview 3), sodass die Kommunen häufig ihre eigenen Projektionen erstellen oder in Auftrag geben müssen (z. B. plan-lokal 2023; Mäding u. Schmitz-Veltin 2018). Diese reichen dann häufig hinunter bis auf die Ebene von Stadtteilen und sogar Wohn- sowie Gewerbegebieten (plan-lokal 2023).
Demografische Dimension
Neben der räumlichen Betrachtungsebene ist der Detailgrad auf demografischer Ebene ein wichtiger Aspekt der Projektionen. Großräumige Simulationen werden häufig nach Altersjahren und Geschlechtern, zum Teil auch nach Staatsangehörigkeit, stratifiziert erstellt (Vanella u. Deschermeier 2020; Hellwagner et al. 2023), was neben einem hohen Detailgrad auch einen Vorteil hinsichtlich der jährlichen Fortschreibung mit sich bringt. Für kleinräumige Bevölkerungsprojektionen ist dies zum Teil nur eingeschränkt möglich, wie ein Blick etwa auf Migrationsdaten zeigt: So sind Zahlen zu Zuwanderung und Abwanderung von und aus Deutschland für einzelne Altersjah-
re verfügbar (siehe Destatis 2024b), auf Ebene der Kreise aus Datenschutzgründen aber nur für relativ breite Altersgruppen (siehe Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2024). Ebenso kann es im Rahmen von regionalen Planungsprozessen von hoher Bedeutung sein, die Bevölkerungsprojektion auch inhaltlich weiter zu untergliedern. Beispielsweise könnten bei der Planung eines Neubaugebiets sozioökonomische Merkmale wie das Bildungsniveau und das Einkommen der (potenziell zuziehenden) Bevölkerung für die planenden Akteure von Interesse sein, um möglichst bedarfsgerechte Wohnungsangebote (Scholz u. Meyer 2010) oder passende Infrastrukturangebote (Mehl et al. 2023) anzubieten. Hierzu lässt sich der Ansatz der Altersgruppierung noch weiter spezifizieren, sodass bspw. alters-, geschlechts-, bildungs- und/ oder nationalitätsspezifische Bevölkerungsprojektionen erstellt werden können (Vanella u. Deschermeier 2018; Marois et al. 2020; Studtrucker et al. 2022; Hellwagner et al. 2023). Auch in diesem Zusammenhang stellt sich in Abhängigkeit der gewählten räumlichen Auflösung die Frage der Datenverfügbarkeit. Diese und andere Herausforderungen sind im Rahmen kleinräumiger Simulationen also nicht ungewöhnlich und sollten methodisch adäquat adressiert werden. So muss etwa bei der Altersgruppierung darauf geachtet werden, dass diese zu repräsentativen Schätzern führt, d.h., z.B. das Verhindern unrealistischer Schätzer für manche Altersgruppen aufgrund von Ausreißern oder Fehlern in den Basisdaten (Vanella et al. 2020; Vanella u. Hassenstein 2024). Eine Möglichkeit ist die Bildung von alters- und geschlechtsspezifischen Raten auf Basis von Interpolationen und Glättungsverfahren (engl. smoothing). In der einschlägigen Literatur finden sich verschiedene Anwendungen, beispielsweise in Form eines cubic splines-Ansatzes zur Disaggregation von altersgruppierten Raten auf einzelne Altersjahre (Deschermeier 2011; Vanella et al. 2022c). Im folgenden Abschnitt werden die genannten und weitere methodische Aspekte kleinräumiger Bevölkerungsprojektionen im Detail diskutiert und übersichtlich aufbereitet.
Neben der Definition der demografischen und räumlichen Dimensionen der Projektion ist die Entscheidung für einen adäquaten Modellansatz zentral. Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob die zentralen demografischen Komponenten Fertilität, Migration und Mortalität separat projiziert und in einem Kohorten-Komponenten-Ansatz kombiniert werden oder ob simplistische Modelle genutzt werden, die mit Wachstumsannahmen in der Bevölkerung arbeiten. Es ist in diesem Rahmen festzulegen, ob sich auf Personen oder Raten als Einheiten bezogen wird.
Ein simpler Modellansatz zur Projektion der Bevölkerung in Region r in Altersgruppe a mit Geschlecht g in Jahr j, basierend auf einem Basisjahr 0, wäre
wobei E(ΔBy,a+y,g,r) die erwartete Änderung des Bevölkerungsstands in Altersgruppe a+y von Geschlecht g in Region r im Jahr y beschreibt. Alternativ dazu könnten Netto-Wachstumsraten angenommen werden:
wobei E(wy,a+y,g,r) die erwartete Wachstumsrate der Bevölkerung der gleichen Kohorte im Projektionszeitraum bezeichnet. Die Grundidee bei der Kohorten-Komponenten-Methode (KKM) ist die Überführung der demografischen Grundgleichung für eine beliebige Region
mit - Bj: Bevölkerung an 31.12.j, - Lj: Lebendgeburten im Jahr j, - Tj: Todesfälle im Jahr j, - Ij: Zuzüge im Jahr j, - Wj: Fortzüge im Jahr j,
in ein alters- und geschlechtsdifferenziertes Matrixmodell (Deschermeier 2011). Dabei wird jede Kohorte, die neben der Geburtskohorte und dem Geschlecht auch weitere Merkmale, wie die Staatsangehörigkeit oder Nationalität (Fuchs et al. 2018; Vanella u. Deschermeier 2018; Hellwagner et al. 2023), sowie sozioökonomische Merkmale, wie das Bildungsniveau bzw. die berufliche Ausbildung, umfassen kann, fortgeschrieben (Marois et al. 2020). So ließe sich die alters- und geschlechtsspezifische Fortschreibung auf regionaler Ebene formulieren als (angelehnt an Vanella et al. 2020):
mit - Bj,a,g,r: Wohnbevölkerung in Region r im Alter a von Geschlecht g am 31.12.j,
- Lj,g,r: In Region r gemeldete Lebendgeborene von Geschlecht g im Jahr j,
- Tj,a,g,r: In Region r gemeldete Verstorbene von Geschlecht g im Jahr j, die an Jahresende a Jahre alt gewesen wären, - Ij,a,g,r: Zuzüge in Region r in Jahr j von Geschlecht g, die an Jahresende a Jahre alt sind, - Wj,a,g,r: Fortzüge aus Region r in Jahr j von Geschlecht g, die an Jahresende a Jahre alt sind.
Wie zu sehen ist, bezieht sich das Alter idealerweise auf das Jahresende, was den Kohortencharakter der Fortschreibung unterstreicht und Inkonsistenzen verhindert. Da sich die verfügbaren Daten zu den Bevölkerungsbewegungen jedoch nicht immer auf die Kohorte, sondern das Alter zum Zeitpunkt des fraglichen Ereignisses beziehen, müssen die Kohortendaten für die Fortschreibung teils über mathematische Annahmen approximiert werden. Die Modellversion in (4) lässt sich, wie erwähnt, dem Ziel der Fortschreibung anpassen. Eine Fortschreibung, die die Kohorten zusätzlich nach Nationalitätsgruppen (n) unterteilt, könnte beschrieben werden durch
In (5) können auch Aspekte wie Einbürgerungen explizit (durch weitere Summanden) oder implizit (inkludiert in die beiden Migrationssummanden) einbezogen werden. Somit handelt es sich hier nicht um eine geschlossene Form; (5) kann dem Zweck angepasst werden. Auch an dieser Stelle sei erwähnt, dass eine sehr detaillierte Kohortenbetrachtung zwar sehr informativ sein kann (siehe Marois et al. 2020), aber statistisch mit Problemen hoher Dimensionalität (Vanella et al. 2023) und ungenaueren Schätzern aus den Daten (Vanella u. Deschermeier 2020) verbunden ist. Diese Aspekte müssen im konkreten Fall gegeneinander abgewogen werden. Eine Bevölkerungsprojektion auf dieser Basis kann erfolgen, indem die Basisbevölkerung zu Beginn des Projektionshorizonts über diesen fortgeschrieben und gemäß der erwarteten Bevölkerungsänderungen adjustiert wird:
Im Beispiel erstellen wir im Jahr 0 eine Projektion der Bevölkerung für das Jahr j, d. h. die Erwartungswerte in (6) beziehen sich auf den Kenntnisstand im Jahr 0. Aus Vereinfachungsgründen ist hier eine verkürzte Schreibweise gewählt. In dieser Form können Staatsangehörigkeitswechsel (Personen mit zwei oder mehr Staatsangehörigkeiten werden in unserer Betrachtung primär als Inländer interpretiert) über Ij,a+j,n,g,r (für Einbürgerungen in die fragliche Nationalitätsgruppe) und Wj,a+j,n,g,r (für Ausbürgerungen aus der fraglichen Nationalitätsgruppe) einbezogen werden. Gängiger ist der explizite Einbezug des Staatsangehörigkeitswechsels ins Modell (z. B. Fuchs et al. 2018):
mit
- Ej,a,n,g,r: Einbürgerungen in Nationalitätsgruppe n in Jahr j von in Region r wohnhaften Personen von Geschlecht g, die an Jahresende a Jahre alt sind,
- Aj,a,n,g,r: Ausbürgerungen aus Nationalitätsgruppe n in Jahr j von in Region r wohnhaften Personen von Geschlecht g, die an Jahresende a Jahre alt sind.
Ein Modell wie in (7) hat die Limitationen, dass es die Größe und Struktur der Bevölkerung nur unzureichend einbezieht und zudem bei sehr kleinen Kohorten zu negativen Bevölkerungsschätzungen führen kann (Fuchs et al. 2021). Somit ist eine ratenbasierte Projektion häufig zu bevorzugen. Ein solches Modell könnte wie folgt aussehen (angelehnt an Vanella et al. 2020; Sarajan et al. 2024):
mit - Bj-1,a-1,n,f,r: Weibliche Wohnbevölkerung in Region r im Alter a von Geschlecht g und Nationalität n am 31.12.j,
ιj,a,n,g,r: Kohortenspezifische Zuwanderungsrate, - ωj,a,n,g,r: Kohortenspezifische Abwanderungsrate, - εj,a,n,g,r: Kohortenspezifische Einbürgerungsrate, - αj,a,n,g,r: Kohortenspezifische Ausbürgerungsrate, - λj,a,n,r: Kohortenspezifische Fertilitätsrate in Bezug auf die Mutter, - γj,a,n,g,r: Kohortenspezifischer Geschlechteranteil unter den Lebendgeburten für Geschlecht g.
Dabei sei bedacht, dass es sich bei diesem Ansatz im Falle der Zuzüge nicht um tatsächliche Immigrationsraten, sondern nach Vanella et al. (Fuchs et al. 2021; Vanella et al. 2023) um Pseudo-Immigrationsraten handelt, weil die Berechnung in diesem Fall auf der Bevölkerung der Zielregion basiert. Das korrektere Vorgehen wäre die Berechnung der Immigrationsraten auf Basis der Herkunftsregionen, was in der Regel für Wanderungen innerhalb Deutschlands machbar ist, aber bei internationalen Migrationsbewegungen aufgrund von Datenlimitationen häufig problematisch ist (Vanella et al. 2023).
Berücksichtigung der Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung
Eine fundamentale Frage bei der Erstellung von Bevölkerungsprojektionen ist der Einbezug zukünftiger Unsicherheit. Die langfristige Größe und Struktur der Bevölkerung unterliegt im Allgemeinen einer hohen Unsicherheit (Vanella u. Deschermeier 2020), was insbesondere mit der eingeschränkten Prognostizierbarkeit zukünftiger Migrationsbewegungen zusammenhängt (Vanella u. Deschermeier 2018, 2020; Fuchs et al. 2021; Vanella et al. 2023). Das macht sich im regionalen Kontext besonders bemerkbar, wo die Robustheit demografischer Trends und die Sensitivität gegenüber abrupten Migrationsanstiegen sehr heterogen sind (Deschermeier 2011; Vanella et al. 2023; Vanella u. Hassenstein 2024). Gerade bei kommunalen Bevölkerungsprojektionen wird diese Unsicherheit teils gar nicht erfasst und sich nur auf das als am vermeintlich wahrscheinlichsten erachtete Szenario, wie oben vorgestellt, bezogen (siehe z. B. aQua-Institut 2024: Interview 2). Dieses Vorgehen ist allerdings insofern problematisch, als dass die statistische Wahrscheinlichkeit, dass dieses Erwartungswertszenario tatsächlich eintreffen wird, asymptotisch bei null liegt (Vanella et al. 2023); d. h. eine Projektion, die sich nur auf die Erwartungswerte beschränkt, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ex post falsch. Somit beziehen sich darauf aufbauende Regionalplanungen gezwungenermaßen auf eine fehlerhafte Informationsbasis, was die Gefahr politischer Fehlentscheidungen erhöht (Vanella et al. 2020). Das verdeutlicht die Bedeutung des Einbezugs von Zukunftsunsicherheit in regionale Bevölkerungsprojektionen.
Ein praktikables und etabliertes Vorgehen ist die deterministische Identifikation alternativer und als realistisch erachteter Szenarien, die z.B. quantitativ-empirisch fundiert oder qualitativ durch Experten festgelegt werden, die auf Basis der regionalen Gegebenheiten einen realistischen Rahmen mit Ober- und Untergrenzen identifizieren (Vanella et al. 2020).
Maretzke et al. (2021) folgen dabei eher einem quantitativen Ansatz, während Kommunen dem Einbezug von „Vor-Ort-Wissen“ lokaler Experten in Projektionen eine hohe Bedeutung beimessen (siehe z. B. aQua-Institut 2024: Interview 3; Franke und Strauss 2010; Krüger 2020). Da der Ansatz der Szenarioanalyse zwar die Zukunftsunsicherheit zu einem bestimmten Grad in die Projektion einbezieht, aber dennoch lediglich eine begrenzte Anzahl an zukünftigen Entwicklungen abdeckt, die in der Regel nicht mit Eintrittswahrscheinlichkeiten belegt sind, empfehlen Prognostiker, insbesondere auf der nationalen Ebene, seit einigen Jahren die stochastische Prognose der zukünftigen Bevölkerung (z. B. Lutz et al. 1998; Keilman et al. 2002; Bomsdorf et al. 2008; Deschermeier 2015; Azose et al. 2016; Fuchs et al. 2018; Vanella u. Deschermeier 2020). Stochastische Ansätze für kleinräumige Prognosen sind hingegen bisher erst sehr wenig verbreitet, obwohl ihre Vorteile bereits an einigen Stellen aufgezeigt worden sind (Cameron u. Poot 2011; Deschermeier 2011; Wilson et al. 2022; Vanella et al. 2023; Vanella u. Hassenstein 2024).
Ein wesentlicher Vorteil liegt darin, dass eine stochastische Prognose nicht nur eine geringe Anzahl an zukünftigen Pfaden aufzeigt, sondern eine hohe Anzahl an Trajektorien identifiziert, aus denen Wahrscheinlichkeitsverteilungen für die zukünftigen Ausprägungen verschiedenster Größen geschätzt werden können, wie z. B. die Struktur und Größe der Bevölkerung (Vanella u. Deschermeier 2020; Vanella et al. 2020) und darauf aufbauende Größen wie die zukünftige Haushaltsanzahl und -größe (Christiansen u. Keilman 2013), was offenkundig für die Lokalplanung von hoher Relevanz ist. Somit wird nicht nur eine mögliche zukünftige Entwicklung präsentiert, sondern es können Wahrscheinlichkeitsaussagen getroffen werden. Ein Beispiel könnte wie folgt lauten: „Mit einer Wahrscheinlichkeit von xx% wird es im Jahr 2040 zwischen yy und zz Einpersonenhaushalte in diesem Kreis geben.“ Das eröffnet einen ganzheitlicheren und breiteren Entscheidungsspielraum im politischen Umfeld (Vanella et al. 2020).
Stochastische Ansätze sind äußerst flexibel und können dem Angebot und der Qualität der quantitativen Daten angepasst werden, auch ein Einbezug von qualitativem Wissen ist möglich (Vanella et al. 2020). Hierzu können die Modelle in (6)-(8) formell einfach um die Stochastizität erweitert werden. Im Beispiel von Modell (8) lässt sich schreiben
wobei der Index t die konkrete Ausprägung der fraglichen Variablen in der Trajektorie t beschreibt. Stochastische Prognosen können ausschließlich quantitativ, ausschließlich qualitativ oder über eine Kombination beider Herangehensweisen erfolgen.
Ausschließlich quantitative Modelle werden auch als frequentistische Modelle bezeichnet. Dabei werden die Prognosen ausschließlich aus empirischen Daten hergeleitet. Beispielsweise ließe sich ein Prognosemodell zur Vorhersage der zukünftigen Emigrationsraten für 25-jährige EU-ausländische Männer aus der Stadt Wolfsburg im Jahr 2030, ω2030,25,EU,m,WOB, formulieren als (angelehnt an Vanella 2018): (9)
wobei f(t) eine Trendfunktion darstellt, die die langfristige Entwicklung der Migration erfasst und rt die Zukunftsunsicherheit auffängt. Der Langfristtrend lässt sich dabei idealerweise anhand einer Kombination aus grafischen (z. B. Zeitreiheninspektion) und statistischen Kriterien (z. B. klassische Signifikanztests, Informationskriterien) determinieren. Dabei empfehlen sich parametrische Modelle3 rt ist das Residuum in Periode t zwischen der beobachteten Emigrationsrate und der Prädiktion nach dem Trendmodell. Die Residuen lassen sich über die von Box und Jenkins (Box et al. 2015) entwickelten autoregressiven Moving Average (ARMA) Modelle modellieren, was auch die Schätzung ihrer Stochastizität im Rahmen von Prognosen ermöglicht (Vanella 2018). Ein ARMA-Modell ist ein lineares Modell, das die fragliche Größe (hier: die Residuen) über ihre vergangenen Beobachtungen (Lags bzw. Verzögerungen, autoregressiver Teil) und nicht direkt beobachtete Schocks (Moving Average Teil) modelliert. Ein ARMA(p,q)-Modell lässt sich beschreiben als (angelehnt an Vanella 2018) mit - rt-j: j-tes Lag von r, - εt: Schock/Störterm in Periode t, - øi: Koeffizient des j-ten Lags von r, - θi: Koeffizient des i-ten Lags des Störterms.
Es sei dabei bedacht, dass ein ARMA-Modell annimmt, dass die modellierte Zeitreihe stationär ist. (Schwache) Stationarität ist dann gegeben, wenn eine Zeitreihe asymptotisch erwartungswertstationär und autokovarianzstationär ist (Shumway
Abb. 1 Emigrationsrate 25- bis 29-jähriger Männer aus Wolfsburg, 1996–2019, mit 1. und 2. Differenzen.
Quellen: Vanella et al. (2023): Supplementary file 3; eigene Berechnung und Darstellung
u. Stoffer 2011). Erwartungswertstationarität impliziert, dass der Erwartungswert der Zeitreihe in jeder Periode gleich ist:
Autokovarianzstationarität bedeutet, dass die Autokovarianz zwischen den Beobachtungen einer Zeitreihe zwischen zwei Zeitpunkten nicht davon abhängt, wann diese Zeitpunkte sind, sondern nur, wie lang der Zeitraum zwischen ihnen ist:
Sollte eine Zeitreihe instationär sein, muss sie zuerst in eine stationäre Zeitreihe transformiert werden, bevor ein ARMAModell an sie angepasst wird. Das kann über eine Differenzenbildung erfolgen. Dabei wird eine neue Zeitreihe erstellt, die die Differenzen zwischen einer Zeitreihe und ihrem ersten Lag darstellt:
Dieser Prozess kann beliebig oft wiederholt werden, bis eine stationäre Zeitreihe vorliegt. Das wird anhand eines Beispiels in Abbildung 1 illustriert, die sich mit der jährlichen Emigrationsrate 25- bis 29-jähriger Männer aus Wolfsburg über den Zeitraum 1996–2019 beschäftigt.
Die obere Grafik zeigt, dass die Zeitreihe der Emigrationsrate instationär ist, was sich sowohl in einem positiven Trendverhalten als auch in einer variierenden Volatilität äußert. Die Bildung der ersten Differenzen, die in der mittleren Grafik dargestellt ist, weist bereits schwächere Trends als auch kleinere Oszillationen auf, sodass es sich hierbei um eine stationäre Zeitreihe handeln könnte. Das lässt sich grafisch anhand der Autokorrelationsfunktion (ACF) sowie der partiellen Autokorrelationsfunktion (PACF) und statistisch über den Augmented Dickey-Fuller (ADF)-Test sowie den ARCH-LM Test prüfen.
Abb. 2 Autokorrelationsfunktionen und partielle Autokorrelationsfunktionen zu den Zeitreihen aus Abbildung 1
Quellen: Vanella et al. (2023): Supplementary file 3; eigene Berechnung und Darstellung
Für regionaldemografische Daten bieten sich die grafischen Tests besonders an, weil die Zeitreihen vergleichsweise kurz sind, was die Aussagekraft der statistischen Tests abschwächt. Daher wird sich in unserem Fall auf die grafische Analyse beschränkt. Ein praktisches Beispiel zur Anwendung der beiden angesprochenen statistischen Tests in der Demografie findet sich für die interessierten Leser z. B. in Vanella (2018). Für unser Beispiel sind die ACF und PACF in Abbildung 2 dargestellt. Es ist an dieser Stelle nicht von größerem Interesse, wie sich die ACF und PACF berechnen. Die interessierten Leser finden eine detailliertere Beschreibung hierzu z. B. in Shumway und Stoffer (2011). Im Kern lässt sich sagen, dass die ACF die gesamte Autokorrelation zwischen den Ausprägungen an zwei Zeitpunkten einer Zeitreihe bei einem definierten Lag darstellt. Die PACF misst den direkten, kausalen Zusammenhang zwischen diesen zwei Perioden. Neben den Punktschätzern illustriert Abbildung 2 die 95 %-Konfidenzintervalle (KI) unter der Stationaritätsannahme als blaue, gestrichelte Linien. Werte, die die KI-Grenzen überschreiten, werden als statistisch signifikant interpretiert. Die Kombination aus ACF und PACF gibt gute Hinweise darauf, welcher datengenerierende Prozess der beobachteten Zeitreihe zugrunde liegen könnte. Eine detaillierte Beschreibung dazu sprengt den Rahmen dieses Beitrags; es sei aber auf einige Kernpunkte hingewiesen. Eine stationäre Zeitreihe kann eine autoregressive oder eine moving average Struktur aufweisen. Eine autoregressive Struktur ist daran zu erkennen, dass die ACF eine absolut exponentiell abfallende Struktur bei steigenden Lags hat, während in der PACF ein abrupter Abfall nach den signifikanten Lags zu erkennen ist. So ist beispielsweise ein AR(1), im Übrigen identisch zu einem ARMA(1,0)-Prozess, gut daran zu erkennen, dass die ACF absolut exponentiell schrumpft, während die PACF nach dem ersten Lag abrupt insignifikant wird. Eine moving average Struktur verhält sich gegensätzlich dazu. In diesem
Fall schrumpft die PACF absolut exponentiell, während die ACF nach dem letzten wichtigen Lag abrupt abfällt. Ist die Struktur nicht so eindeutig, kann es sich um eine Mischform handeln (Shumway u. Stoffer 2011; Vanella 2018).
Im Beispiel weist die Emigrationszeitreihe eine klare autoregressive Struktur auf, was an der ersten Zeile von Abbildung 2 gut zu erkennen ist. Insbesondere entspricht diese einem AR(1)-Prozess mit einem ø von knapp unter 0,8. Das Beispiel verdeutlicht jedoch sehr gut, wie wichtig es ist, eine komplette grafische Analyse durchzuführen. Wie wir in Abbildung 1 gut sehen konnten, ist die Zeitreihe der Emigrationsrate instationär, sodass die ACF und PACF an dieser Stelle irreführend sind. Die jeweils zweiten Zeilen von Abbildung 1 und 2 zeigen jedoch zusammen gut, dass eine einfache Differenzenbildung der Zeitreihe zu einem stationären Prozess führt, der nicht weiter mit einem ARMA-Modell geschätzt werden muss. Ein solcher Prozess wird auch als Random Walk oder ARIMA(0,1,0)Prozess bezeichnet. Das „I“ dabei steht dafür, dass der Prozess integriert ist und, wie gezeigt, differenziert werden muss, um zu einem stationären ARMA-Prozess zu gelangen.
Im Kontext von Prognosen sind diese Grundlagen der Zeitreihenanalyse äußert wichtig, allerdings führen reine ARIMA-Modelle häufig zu sehr schwachen und irreführenden Prognosen, weshalb sie, wie bereits in Gleichung (10) präsentiert, lediglich ergänzend zu Trendmodellen genutzt werden sollten, um insbesondere das Zukunftsrisiko über Prognoseintervalle (PI) einzubeziehen (Vanella et al. 2023). Theoretisch können diese über mathematische Modelle aufgestellt werden. Das ist aber im Kontext von Bevölkerungsprognosen nahezu unmöglich, da eine Vielzahl an Variablen, wie z. B. in (9) dargestellt, zu prognostizieren ist. Für diesen Komplex ist eine Berechnung von PI kaum in eine geschlossene mathematische Form zu bringen. Daher sind Simulationen hierfür der gängige Ansatz.
Für die quantitativen Modelle ist insbesondere die Monte Carlo-Methode zu nennen, bei der aus den empirisch geschätzten Verteilungen, wie im Beispiel der Emigrationsrate, eine hinreichend große Anzahl an Zufallsziehungen erfolgt (Vanella et al. 2020). Im Kontext von regionalen Bevölkerungsprognosen sind dabei Werte ab 1000 Simulationen gängig (Vanella et al. 2023). Das erfolgt in der Form für alle modellierten Größen, d. h. z. B. 1.000 Trajektorien jeweils für den zukünftigen Verlauf der Migrations-, Mortalitäts- und Fertilitätsraten werden berechnet und kombiniert, sodass 1.000 Trajektorien für die zukünftige Bevölkerungsentwicklung generiert werden (Vanella u. Deschermeier 2020). Dabei können, wie in (10) illustriert, nach Anpassung von Trendfunktionen ARIMA-Modelle an die Residuen angepasst werden. Die ARIMA-Modelle eignen sich dann sehr gut dazu, um über Monte Carlo-Simulationen Trajektorien zu generieren, aus denen für jede beliebige Größe empirische PI geschätzt werden können (Vanella u. Hassenstein 2024). Haben wir bspw. für einen Kreis die Gesamtbevölkerung in 1.000 Trajektorien im Jahr 2040 berechnet, können wir diese der Größe nach sortieren, woraus bspw. der 100. Wert als Schätzer der Untergrenze eines 80 %-PI genutzt werden kann und der 500. Wert als Schätzer des Medians. Rein qualitative Modelle unterscheiden sich in ihrem Ansatz vollständig von den vorgestellten quantitativen. Dabei wird, z. B. über Expertenmeinungen, eine Variation an realistischen Szenarien vorgeschlagen, die dann einen Rahmen der zukünftigen Entwicklung abbilden. Da eine rein deskriptive Betrachtung der möglichen Zukunft wenig informativ für Planungen ist, ist an dieser Stelle zu überlegen, wie sich aus diesen auch PI erstellen lassen. Lutz et al. (1998) stellen dazu einen Ansatz bereit, bei dem zunächst aus Experteninterviews realistische Szenarien gewonnen werden, aus denen dann randomisiert wird, um Trajektorien zu erhalten, die dann wiederum zur Erstellung von PI (bei qualitativen Ansätzen ist der Begriff credible intervals gängiger, siehe Vanella et al. 2020) dienen können.
Eine Schwierigkeit, die sich ergibt, ist die Quantifizierung dieser qualitativen Szenarien mit Wahrscheinlichkeiten, da sie nicht aus Fakten, sondern aus Vermutungen generiert sind (Lee 1998). Somit steht den Vorteilen eines qualitativen Ansatzes, wie der Absteckung eines realistischen Rahmens der zukünftigen Entwicklung und dem Einbezug von Fachwissen, welches sich nicht immer in Daten widerspiegelt, der Nachteil gegenüber, dass sie anfällig gegenüber menschlichen Fehleinschätzungen sind. Quantitative Ansätze sind hingegen robuster gegenüber einer fehlerhaften Informationsbasis (Vanella et al. 2020). In manchen Fällen, insbesondere im kleinräumigen Kontext, sind qualitative Ansätze jedoch alternativlos, weil die Daten nicht in ausreichendem Umfang vorliegen, wenn z. B. Zeitreihendaten zu kurz zur Anpassung von Zeitreihenmodellen sind, komplett fehlen oder aufgrund kleiner Fallzahlen nicht statistisch repräsentativ sind, sodass eine Modellanpassung auf ihrer Basis zu Fehlschlüssen führen könnte (siehe aQua-Institut 2024: Interview 2; Bryant u. Zhang 2016; Wilson et al. 2022).
Die dargestellten Limitationen beider Ansätze implizieren in regionalen Prognosen die Kombination von quantitativen und qualitativen Ansätzen in gemischten Modellen. Dabei werden quantitative Informationen aus Daten mit qualitati-
ven Informationen aus dem Wissen und den Einschätzungen regionaler Experten kombiniert, was dabei helfen kann, die Limitationen beider isolierter Ansätze zu mitigieren und das Maximum aus den verfügbaren Informationen zu gewinnen (Bryant u. Zhang 2016). Dieser Idee folgen z. B. auch Maretzke et al. (2021) in ihrer Raumordnungsprognose. So könnten im Rahmen eines bayesianischen Modellansatzes z. B. aus Experteneinschätzungen für die demografischen Größen zunächst sogenannte priors gebildet werden, d. h. Verteilungen, die auf mathematischen Modellen beruhen, welche wiederum auf subjektiven Einschätzungen beruhen. Ein Beispiel: Es werde angenommen, dass aufgrund des verfügbaren Wohnraums die Nettoimmigration in unsere Kommune die Grenze von 50.000 nicht überschreiten kann. Gleichzeitig werde es aufgrund einer großen Universität in der Stadt und/oder eines großen ansässigen Arbeitgebers für unrealistisch gehalten, dass es zu einer Nettoemigration kommt. In diesem Fall können diese Beschränkungen in einer Verteilung mit Untergrenze 0 und Obergrenze 50.000 mathematisch formuliert werden. Dabei ergeben sich allerdings schnell die Probleme, wie die genaue Verteilung aufzustellen ist. Ist die prior allerdings formuliert, kann diese dann im Rahmen eines Bayesian Updating um verfügbare quantitative Daten „aktualisiert“ werden, sodass daraus eine sogenannte posterior distribution entsteht, die beide Informationsquellen einbezieht. Aus dieser können dann wiederum über Monte Carlo Simulation Trajektorien zur Schätzung von PI berechnet werden (Wiśniowski et al. 2015). In der Tat wird die regionale Bevölkerungsprojektion für Italien auf Basis eines bayesianischen Ansatzes erstellt, der auf einem Modell von Billari et al. (2012) beruht und Kohärenz zur nationalen Projektion einhält (Istat 2018). Bayesianische Ansätze weisen philosophisch, wie dargestellt, große Vorteile insbesondere für kleinräumige Bevölkerungsprognosen auf, sind aber mit großen Problemen verbunden, die im nächsten Abschnitt genauer erklärt werden.
Umgang mit Korrelationen und hoher Dimensionalität in regionaldemografischen Prognosen Ein besonders schwerwiegendes Problem in regionalen Prognosen ist die hohe dimensionale Komplexität. So sind, wie in Abschnitt 3.1 dargestellt, nicht nur verschiedene Größen wie die Fertilität, Mortalität, die Emigration und die Immigration zu prognostizieren. Dies muss auch, wie in den Abschnitten 2.1 und 2.2 beschrieben, demografisch stratifiziert und kleinräumig unterteilt erfolgen. So unterscheiden sich Fertilitäts-, Mortalitäts-, und Migrationsraten stark nach der Alters- und Geschlechtsstruktur. Auch regionale Muster sind äußerst heterogen, da bspw. strukturschwächere Regionen höhere Emigrationsraten aufweisen und sich die Altersstruktur der Immigration in den Zuzugsstädten stark unterscheidet. So ziehen die Regiopolen und mittelgroßen Städte mehr Familien (d. h. Kinder und Personen über 30 Jahre) an, während die Metropolen und universitär geprägte Städte (wie z. B. Göttingen) viel Zuzug von jungen Erwachsenen aufweisen (Vanella et al. 2023). Auch die Fertilitätsraten sind abhängig von den regionalen Gegebenheiten. So spielen bspw. die ökonomische Situation vor Ort und eine familienfreundliche Infrastruktur der Kreise eine wichtige Rolle für hohe Fertilitätsraten (Vanella u. Hassenstein 2024).
Somit muss für jede Kombination aus demografischer Komponente, demografischer Dimension und Region eine Prognose generiert werden, was zu einer hohen Dimensionalität des Prognoseproblems führt, insbesondere bei einer hohen Anzahl an Szenarien. Zusätzlich ist dabei damit umzugehen, dass nicht nur viele Größen zu prognostizieren sind, sondern diese auch noch stark miteinander korreliert sind. So sind beispielsweise hohe Korrelationen unter altersspezifischen Fertilitätsraten zu beobachten, die sich in einem sogenannten Tempo- und einem Quantumeffekt zeigen. Der Letztere betrifft gemeinsame Sensitivitäten der Fertilitätsraten, d.h. steigt das Quantum, steigen alle Fertilitätsraten (jedoch nicht in gleichem Ausmaß). Der Tempoeffekt wiederum beschreibt das Verzögern von Geburten in spätere Lebensabschnitte, das bedeutet im deutschen Fall in etwa sinkende Fertilitätsraten für unter 30-jährige Frauen bei gleichzeitigen Anstiegen der Fertilitätsraten über 30-jähriger Frauen (Vanella u. Deschermeier 2019).
Auch auf geografischer Ebene herrschen starke Korrelationen, die sich besonders stark bei den Wanderungsmustern zeigen. So beobachten Vanella et al. (2023) stark negative Korrelationen in den Wanderungsmustern zwischen den Großstädten und ihren Nachbarkreisen. Besonders stark fallen z.B. die divergierenden Trends zwischen Berlin und Brandenburg bei den unter 25-jährigen sowie den über 30-jährigen Personen auf. Während Berlin eher ein Zuzugsort für junge Erwachsene im Rahmen der beruflichen und akademischen Ausbildung sowie der ersten Berufstätigkeiten ist, ziehen seine Brandenburger Nachbarkreise stärker Familien und ältere Personen an. Diese Beispiele illustrieren die Bedeutung des Einbezugs dieser Korrelationen in eine regionale Prognose. Hierfür ist ein bayesianischer Ansatz ungeeignet, da die Dimensionalität dabei schnell viel zu hoch wird, um effiziente Berechnungen durchzuführen.
Ein klassischer Ansatz hierfür ist die Prognose auf Basis von Hauptkomponenten, die Linearkombinationen aus den zugrundeliegenden Größen (z. B. die Migrationsraten aller Kreise in einer bestimmten Region nach Geschlechtern und Altersgruppen) bilden (Vanella 2018). Diese Indizes können dann vergleichsweise effizient simuliert werden, wobei gleichzeitig die Korrelationen zwischen den Altersgruppen und den Regionen einbezogen werden. Eine genauere mathematischstatistische Beschreibung der Methode sprengt den Rahmen unseres Beitrags; interessierte Leser seien für die beispielhafte Anwendung in demografischen Anwendungen z.B. auf Vanella (2018) verwiesen. Vanella et al. haben entsprechende Prognosemodelle für Wanderungen und Fertilitätsraten für alle Kreise in Deutschland erstellt (Vanella et al. 2023; Vanella u. Hassenstein 2024). Vergleichbare Ansätze wären auch für andere demografische oder geografische Einteilungen denkbar und theoretisch zu empfehlen, wobei allerdings auch hier – wie bei allen Ansätzen – die Verfügbarkeit und Qualität der Daten kritisch analysiert werden muss. Liegt der Fokus der Analyse auf einem höheren geografischen Detailgrad, kann auch eine andere Einteilung der Altersgruppe helfen, höhere Fallzahlen und damit robustere Schätzungen zu erreichen.
Fazit und Ausblick
Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, einen primär an Städtestatistiker und Regionaldemografen gerichteten kurzen Überblick über die wesentlichsten Ansätze zur Erstellung von Bevölkerungsprognosen zu geben. Dabei liegt ein Fokus in der Illustration der Komplexität und der hohen Unsicherheit, mit der regionale Bevölkerungsprognosen konfrontiert sind. Beides sollte mit Hilfe angemessener methodischer Ansätze einbezogen werden. Das erfolgt bisher allerdings nur selten in adäquater Form im regionaldemografischen Kontext. Kleinräumige Bevölkerungsprojektionen4 werden zumeist deterministisch auf Basis einer Kombination der Einschätzung der zukünftigen Entwicklung durch die zuständigen Statistikstellen erstellt, die sich aus der qualitativen Einschätzung des Einflusses der regionalen Gegebenheiten in Kombination mit vorliegendem Datenmaterial speisen. In Anbetracht der starken Limitationen, die bei der Erstellung kleinräumiger Bevölkerungsprognosen bestehen, ist dieser Ansatz durchaus nachvollziehbar.
Allerdings sind dabei die Besonderheiten kleinräumiger Bevölkerungsprojektionen zu beachten. Wie dargestellt, liegen diese in einer sehr hohen Dimensionalität, da nicht nur die demografische Ebene in Form des Alters und des Geschlechts zu simulieren ist, sondern auch die räumliche Ebene, wenn z. B. die Bevölkerung in Gemeinden innerhalb eines Landkreises oder Bezirke in größeren Städten simultan prognostiziert werden soll. Dabei ist auf Konsistenz zu achten, sodass z.B. die prognostizierte Emigrationszahl aus Tempelhof-Schöneberg nach Berlin-Mitte nicht von der prognostizierten Immigrationszahl in Berlin-Mitte aus Tempelhof-Schöneberg abweicht. Dies illustriert auch bereits den Punkt der Korrelationen in der Bevölkerungsentwicklung sowohl zwischen demografischen Gruppen als auch zwischen verschiedenen Regionen, die bei der Erstellung kleinräumigen Prognosen nicht zu vernachlässigen sind. Auf demografischer Ebene sind z.B. hohe Korrelationen zwischen der Migration von Kindern und der Migration von Personen ab 30 Jahren festzustellen, die sich aus Familienmigrationen speisen (Vanella et al. 2023). Es wäre entsprechend irreführend, beide Altersgruppen für sich separat zu projizieren, was u. a. zu einer fehlgeleiteten Wohnraumplanung führen könnte.
Eine große Betonung unseres Beitrags lag auf dem adäquaten Einbezug von Unsicherheit in Projektionen der zukünftigen Bevölkerung. Der Beitrag lieferte Argumente, weshalb zukünftige Unsicherheiten im Rahmen einer Prognose einzubeziehen sind. Die Einschränkung auf eine „Erwartungswertprognose“ hat statistisch gesehen eine Eintrittswahrscheinlichkeit von fast null, auch der gängige Ansatz mit der Beschreibung einer Ober- und Untergrenze schlägt häufig fehl. So haben Vanella und Deschermeier (2020) gezeigt, dass vergangene Vorausschreibungen des Statistischen Bundesamts teils sogar in ihren Extremszenarien nicht die tatsächliche ex post Bevölkerungsentwicklung auffangen konnten. Eine Planung auf Basis von Wahrscheinlichkeiten und Prognoseintervallen anstelle von wenigen Szenarien gibt einen klareren Ausblick auf die zukünftige Entwicklung, bei dem sich nicht auf wenige Pfade versteift und stattdessen auf Bandbreiten der Bevölkerung gebaut wird. Das hat planerisch auch den Vorteil, dass die Risikoaversion der
Politik und der lokalen Interessengruppen einbezogen werden kann. Bspw. könnte die lokale Wohnungsbauplanung anstelle des Erwartungswerts mit der oberen Grenze des 75 %-Prognoseintervalls arbeiten, wenn sie aus Wohnungsangebotssicht konservativ planen möchte.
Offensichtlich ist es bei der Prognose kleinräumiger Bevölkerungen häufig schwieriger, die genannten Aspekte einzubeziehen, da teils die hierfür nötigen Daten nicht in der gewünschten Form vorliegen (zu kurze oder gar nicht vorliegende Zeitreihen, mangelnder Detailgrad in den Daten). Auch eine fehlende technische Ausstattung zur Datenaufbereitung, das Fehlen entsprechend qualifizierter Mitarbeiter aus dem Bereich der Demografie und angrenzender Disziplinen und/oder das komplette Fehlen einer Statistikstelle, die die Aufgabe der Bevölkerungsprognose in ihrem Portfolio hätte, verhindern das Erstellen valider eigener Bevölkerungsprognosen (siehe aQua-Institut 2024: Interview 1, Interview 3). Insbesondere bei kleineren Kommunen ist das ein häufig zu beobachtendes Problem. Auch die Repräsentativität der Daten kann im regionalen Kontext häufig aufgrund kleiner Fallzahlen problematisch sein. So ist es grds. wünschenswert, möglichst detaillierte Prognosen nach Altersjahren, Geschlecht, sowie ggfs. weiteren Unterscheidungen zu erstellen. Allerdings ist dabei darauf zu achten, dass die gewonnenen Schätzer robust sind. Hierfür kann die Definition breiterer Altersgruppen zur Schätzung demografischer Raten sinnvoll sein (Vanella et al. 2021). Wie im vorigen Abschnitt dargelegt, kann es sich empfehlen, qualitative Informationen ergänzend zu den quantitativen Daten in die Modelle einzuspeisen. Somit werden zusätzliche Informationen genutzt, die nicht in den Daten vorliegen, allerdings die Qualität der Projektionen verbessern können. Das könnten z. B. für eine Stadt die Ansiedlung eines großen Konzerns oder auch die Erschließung von Neubaugebieten sein, die statistisch ausgedrückt zu Strukturbrüchen im Vergleich zu den empirischen demografischen Trends führen können. Insbesondere im Bereich der Lokalpolitik ist diese Nutzung von qualitativem Wissen in Projektionen teils sogar unabdingbar, da die Politik nicht einfach informiert werden möchte, sondern auch daran glaubt, die demografische Zukunft selbst beeinflussen zu können (siehe aQua-Institut 2024: Interview 2, Interview 3). So kann der Diskurs zwischen Wissenschaft, kommunaler Verwaltung und Lokalpolitik durchaus fruchtbar sein (siehe aQua-Institut 2024: Interview 3). Allerdings ist dabei darauf zu achten, dass eine Sachlichkeit und Objektivität so weit wie möglich eingehalten wird. Schließlich birgt ein qualitativer Ansatz immer das Risiko, nicht nur durch subjektive Fehleinschätzungen, sondern auch durch Wunschdenken zu Verzerrungen in den Projektionen zu führen. Das ist insbesondere im Rahmen von Migrationsprojektionen der Fall (Vanella u. Deschermeier 2018).
Hieraus lässt sich schlussfolgern, dass die kontinuierliche Führung detaillierter Daten, unter anderem zur Bevölkerung und den Haushalten, in der Städtestatistik unverzichtbar ist
und für eine gute städtische Planung im Zweifelsfall auch zum Aufbau von Statistikstellen finanzielle Mittel bereitgestellt werden müssen. Die dargestellte Komplexität bei der Erstellung kleinräumiger Prognosen erfordert neben einer entsprechenden akademischen Ausbildung auch fachliche Expertise, da nicht jede Prognose gleich gebaut werden kann, sondern der Qualität der Daten, regionaler Besonderheiten und der Robustheit, die in den Daten zu erkennen ist, angepasst werden muss. Hierfür braucht es neben der spezifischen Berufserfahrung eine starke demografische Ausbildung, die bisher nur unzureichend angeboten wird.
Beiträge der Autoren
Konzept: PV; Recherche: PV; Befragungsdesign: TH und PV; Befragungsdurchführung: MK; Text – Originalfassung: PV und TH; Text – Überarbeitung und Editierung: PV, TH und PD; Darstellung: PV; Alle Autoren haben die finale Fassung des Manuskripts geprüft und haben der Einreichung zugestimmt.
Danksagung und Anmerkungen
Wir danken den Teilnehmenden der Blitzumfrage unter niedersächsischen Kommunen, die unseren Beitrag signifikant bereichert hat. Die durchgeführten Interviews sind protokolliert und unter der angegebenen Webseite abrufbar. Aus Gründen der Anonymisierung wurden persönliche Daten, Informationen zu den Kommunen sowie von den Teilnehmenden angegebene Weblinks entfernt.
1 Die offene schriftliche Befragung wurde unter Expertinnen und Experten in unterschiedlichen Referaten städtischer Verwaltungen der niedersächsischen Großstädte durchgeführt. Die Auswahl der befragten Personen erfolgte auf Basis der ausgeübten Tätigkeiten und Rollen in genanntem Bereich. Das Sampling erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität. Vielmehr werden mit Hilfe der Antworten der befragten Personen Herausforderungen und Potenziale kleinräumiger Bevölkerungsprojektionen beispielhaft diskutiert (zu den unterschiedlichen Rollen explorativer Experteninterviews im Rahmen wissenschaftlicher Aufsätze siehe auch Bogner et al. 2014, Seite 23). Die anonymisierten Fragebögen sind unter aQua-Institut 2024 zu finden.
2 Raumordnungsregionen bilden räumliche Verflechtungen auf Ebene der Bundesländer ab. Die Abgrenzung der einzelnen Regionen erfolgt dabei im Zusammenspiel von Politik und Wissenschaft (BBSR 2024). Einem ähnlichen Konzept folgt das Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB), das empirisch und methodisch fundierte Arbeitsmarktregionen betrachtet, die primär berufsbedingte Pendlerbeziehungen in die Betrachtung einbeziehen (Kropp u. Schwengler 2016).
3 Bei parametrischen Modellen wird ein mathematisch-funktionaler Zusammenhang zwischen den erklärenden Variablen (hier: das Jahr) und der Zielvariablen (hier: der Migrationsrate) angenommen, der dann statistisch geschätzt wird. Beispiele für verschiedene Trendfunktionen im Prognosekontext finden sich bei Vanella u. Deschermeier (2020).
4 Zur Unterscheidung zwischen Prognosen und Projektionen sei auf Deschermeier et al. (2020) verwiesen.
Literatur
aQua-Institut (2024): Befragung im Rahmen der Studie „Kleinräumige Bevölkerungsprojektionen – Bedeutung, Herausforderungen, Potenziale“. Verfügbar unter https://www. aqua-institut.de/wissenschaft-forschung/ demografie, Zugriff am 09.07.2024.
Azose, Jonathan J.; Ševčíková, Hana; Raftery, Adrian E. (2016): Probabilistic population projections with migration uncertainty. In: Proceedings of the National Academy of Sciences, 113(23), S. 6460–6465.
BBSR (2024): Raumordnungsregionen. Verfügbar unter https://www.bbsr.bund.de/BBSR/ DE/forschung/raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/deutschland/regionen/Raumordnungsregionen/raumordnungsregionen. html, Zugriff am 25.04.2024.
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Teresa Grundmann, Cornelia Müller, Jürgen Göddecke-Stellmann
Generationenverhältnisse im Wandel Analyse langfristiger Trends in ost- und westdeutschen Großstädten
Dieser Beitrag untersucht die seit 1992 beobachteten Veränderungen der Altersstruktur und der Generationenverhältnisse in deutschen Städten anhand des Datensatzes der Innerstädtischen Raumbeobachtung (IRB). Schwerpunkte sind die Nachzeichnung unterschiedlicher Entwicklungen in ost- und westdeutschen Städten nach der deutschen Einheit sowie die Analyse der Entwicklungen in den innerstädtischen Lagen, des Innenstadtrands und des Stadtrands.
Einleitung
In den 1990er Jahren wiesen Großstädte im Vergleich zu anderen Gemeindetypen1 die höchsten Anteile der 65-Jährigen und Älteren auf. Gründe für die damalige stärkere Alterung waren der Geburtenrückgang und die altersselektive Suburbanisierung, die zu einem Anstieg des Durchschnittsalters in den Städten führte (Mäding 2020). Bis Mitte der 2000er Jahre veränderte sich das regionale Muster in Deutschland, da die Großstädte von den anderen Stadt- und Gemeindetypen insofern überholt wurden, als in diesen der Alterungsprozess schneller ablief. Nichtsdestotrotz schritt die Alterung der Gesellschaft auch in den Großstädten voran. Seit den 2010er Jahren sind die Anteile der 65-Jährigen und Älteren in den Großstädten sogar leicht rückläufig, was auf Wanderungsgewinne junger Altersgruppen, insbesondere aus dem Ausland, sowie eine gestiegene Geburtenzahl zurückzuführen ist (Göddecke-Stellmann et al. 2023).
Teresa Grundmann
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn. Aufgabenschwerpunkte: kleinräumige Stadtbeobachtung, wissenschaftliche Begleitung des Städtebauförderungsprogramms „Lebendige Zentren“ : teresa.grundmann@bbr.bund.de
Cornelia Müller
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn. Aufgabenschwerpunkte: kleinräumige Stadtbeobachtung, wissenschaftliche Begleitung von Projekten zur Stadtentwicklung : cornelia.mueller@bbr.bund.de
Jürgen Göddecke-Stellmann
Ehemals Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn. Aufgabenschwerpunkte: kleinräumige Stadtbeobachtung, Monitoring der Städtebauförderung
Schlüsselwörter: Lange Zeitreihen – Großstädte – innerstädtisch –Altersstruktur – Generationenverhältnis
Durch die Aufbereitung eines zusätzlichen Datensatzes und die Verschneidung mit dem Datensatz der Innerstädtischen Raumbeobachtung (IRB) ist es nun erstmals möglich, bevölkerungsstrukturelle Veränderungen seit 1992 auf kleinräumiger Ebene – d.h. der Ebene von Stadtteilen – nachzuzeichnen. Ziel dieses Beitrags ist, Veränderungen der Altersstruktur und der Generationenverhältnisse2 in deutschen Städten zwischen 1992 und 2022 zu untersuchen. Ein Schwerpunkt liegt auf den unterschiedlichen Entwicklungsverläufen in ost- und westdeutschen Städten nach der deutschen Einheit, die bei der längerfristigen Betrachtung deutlich werden. Zur besseren Einordnung werden die Ergebnisse gesamtdeutschen Werten gegenübergestellt. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Analyse auf Ebene der in der IRB hinterlegten Lagetypen (Innenstadt, Innenstadtrand, Stadtrand).
Relevanz der Betrachtung von Generationenverhältnissen
Aus Sicht kommunaler Planung ist die Beobachtung der aktuellen und zukünftigen Entwicklung von Altersgruppen elementar, da jede Altersgruppe unterschiedliche Anforderungen an den öffentlichen Raum sowie an Infrastruktureinrichtungen hat (Mäding 2020). Ab dem zweiten Lebensjahr gibt es für Kinder einen Anspruch auf Kinderbetreuung, d. h. die Kommunen müssen die entsprechenden Kapazitäten an Betreu-
ungsinfrastruktur bereithalten, was vielen Kommune durch die schwankenden Geburten- und Zuwanderungszahlen, die angespannte Haushaltslage, hohe Baukosten sowie eingeschränkte personelle Ressourcen bei der Planung, Umsetzung und dem Betrieb der Einrichtungen vor Herausforderungen stellt (Göddecke-Stellmann et al. 2023).
Ein weiteres Beispiel ist der Bedarf alter Menschen an wohnortnaher Versorgung mit Infrastrukturen der Daseinsvorsorge (Apotheken, Arztpraxen, Supermärkte etc.) sowie einer altengerechten Gestaltung des öffentlichen Raums. Solche Faktoren des Wohnumfelds haben, neben individuellen Faktoren (z. B. Einkommen und Gesundheit) sowie den Wohnverhältnissen (z. B. Haushaltsgröße und Zustand der Wohnung), Auswirkung auf die selbstständige Lebensführung im Alter (Nowossadeck/Block 2017). Gleichzeitig kann bei den Menschen in der Nacherwerbsphase nicht von einer homogenen Gruppe oder Generation gesprochen werden (Körner-Blätgen u. Sturm 2016, Göddecke-Stellmann et al. 2023). Die Vergrößerung des Altersspektrums durch die steigende Zahl Hochaltriger (85 Jahre und älter) trägt dazu bei, dass Erwartungen an das Stadtleben unterschiedlicher werden (Weiske 2015).
Neben diesen Anforderungen an Stadt- und Sozialplanung haben Veränderungen im Altersaufbau der Stadtbevölkerung auch andere Folgen. Eine steigende Anzahl bzw. ein steigender Anteil Älterer kann in einer Stadt dazu führen, dass ihre Anliegen bedeutender werden und sich stärker durchsetzen. Da die Kommunen 15 % der eingenommenen Lohn- und Einkommenssteuer erhalten, bedeuten wachsende Anteile nicht erwerbsfähiger Bevölkerung aber vor allem geringere kommunale Einkünfte bei zunehmenden Aufgaben. Das kann zu Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt führen (Göddecke-Stellmann et al. 2023).
Wichtig ist, Veränderungen der Altersstruktur differenziert zu analysieren. Dafür wird nun im ersten Schritt auf Unterschiede zwischen den 25 untersuchten IRB-Städten eingegangen, bevor kleinräumige Unterschiede betrachtet werden.
Große Unterschiede zwischen Städten bei Alterung
Altersgruppen
Der „historische“ Datensatz der Innerstädtischen Raumbeobachtung (IRB)
Die IRB ist ein Kooperationsprojekt zwischen 55 deutschen Großstädten und dem BBSR. Dabei handelt es sich überwiegend um Großstädte mit mehr als 250.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Die Datenbasis der IRB enthält mehr als 400 Merkmale zu Themen wie Bevölkerungsbestand und -bewegung, Arbeitsmarkt und Gebäuden auf Stadtteilebene mit Zeitreihen durchgängig seit 2002 für viele Städte. Ursprünglich entstand die Projektidee zur IRB in den späten 1980er Jahren zwischen den Statistischen Ämtern und Statistikstellen einiger deutscher Großstädte und der damaligen Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR) (vgl. Göddecke-Stellmann et al. 2021). Die Geschichte der IRB umfasst zwei Projektphasen. Die erste Phase reichte von den späten 1980er Jahren bis zum Ende der 1990er Jahre. Die zweite Phase begann Anfang der 2000er Jahre und reicht bis heute. Um die mehrjährige Pause zwischen den beiden Phasen zu füllen, lieferten die Städte ausgewählte Daten für den fehlenden Zeitraum nach (vgl. Meyer 2007). Dieser Datenauszug der IRB wurde als „historischer Datensatz“ bezeichnet. Er umfasst insbesondere demografische Basisdaten (Bevölkerungsbestand, Altersgruppen, deutsche und ausländische Bevölkerung). Bei der Aufbereitung des historischen Datensatzes wurden Gebietsstandänderungen und Eingemeindungen berücksichtigt. Datenlücken wurden durch Recherchen oder Nachlieferungen aus den Städten ergänzt. Kleinere Lücken von ein oder zwei Jahren wurden bei Bestandsdaten interpoliert. Bei größeren Lücken oder Unstimmigkeiten wurden die Datensätze der betroffenen Städte aus den Analysen ausgeschlossen. Der Datensatz umfasst drei Altersgruppen (unter 15-Jährige, 15bis unter 65-Jährige sowie 65-Jährige und Ältere). Folgende 25 Städte sind enthalten: Bremen, Dresden, Duisburg, Düsseldorf, Essen, Frankfurt a. M., Freiburg i. Br., Gelsenkirchen, Halle (Saale), Hamburg, Hannover, Ingolstadt, Karlsruhe, Koblenz, Köln, Leipzig, Ludwigshafen, Mainz, München, Nürnberg, Oberhausen, Potsdam, Rostock, Saarbrücken, Wiesbaden.
Bevor auf altersstrukturelle Veränderungen in deutschen Großstädten eingegangen wird, wird zunächst die gesamtdeutsche Entwicklung auf Basis der Fortschreibung des Bevölkerungsstandes (Statistisches Bundesamt, VZ 1987/Zensus 2011) kurz skizziert. Deutschlandweit hat sich die Alterung der Bevölkerung – betrachtet anhand der hier verwendeten drei Altersgruppen – wie folgt entwickelt: Die Zahl junger Menschen (unter 15 Jahre) nahm zwischen 1992 und 2022 von 13,23 Mio. auf 11,93 Mio. Menschen ab. Das entspricht einem Rückgang von 9,8 %. In Ostdeutschland (ohne Berlin) ging die Bevölkerungszahl in dieser Altersgruppe sogar um 37,1 % zurück, in Westdeutschland und Berlin waren es minus 3,1 bzw. minus 0,8 %.
In Deutschland lebten 2022 im Vergleich zu 1992 auch weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren. Der Rückgang von 55,40 auf 53,77 Mio. Menschen entspricht einer relativen Differenz von 3,0 %. In Ostdeutschland lag der relative Rückgang bei 21,6 %, während in Westdeutschland und Berlin ein leichtes Wachstum von 0,8 bzw. 3,5 % verzeichnet wurde.
Die einzige Altersgruppe, die in Gesamtdeutschland im Betrachtungszeitraum gewachsen ist, ist die Gruppe der Menschen ab 65 Jahren, deren Zahl sich von 12,14 Mio. (1992) auf 18,66 Mio. (2022) erhöhte. Das entspricht einer Zunahme von 53,8 %. In Ostdeutschland war das Wachstum der Altersgruppe mit 64,9 % höher als in Westdeutschland und Berlin (51,6 und 49,3 %). Zusammengefasst waren die wesentlichen gesamtdeutschen Trends:
- Es lebten 2022 weniger Menschen unter 65 Jahren in Deutschland als noch 1992.
- Die Zahl älterer Menschen ab 65 Jahren ist zwischen 1992 und 2022 um über 50 % gestiegen.
- In Ostdeutschland schlugen sich diese beiden Trends stärker nieder als in Westdeutschland.
Diese Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland sind auch zu erkennen, wenn der Fokus nur auf Großstädte gerichtet wird (Abb. 1). Die 20 west- und fünf ostdeutschen Städte,
die in unsere Analysen einfließen, hatten 2022 zwar durchschnittlich etwa 10 % mehr Einwohnerinnen und Einwohner als 1992. Doch die Betrachtung nach Altersgruppen offenbart deutliche Unterschiede.
In den ostdeutschen Städten ist der relative Alterungsprozess deutlich stärker vorangeschritten als in den westdeutschen Städten. Lebten 1992 in den fünf ostdeutschen Städten etwa 231.000 Menschen, die 65 Jahre alt und älter waren, erhöhte sich diese Zahl bis 2022 um 70,6 % auf 394.000. Besonders stark wuchs die Altersgruppe zwischen 1998 und 2009, was auf die Alterung des Bevölkerungsbestands zurückgeführt werden kann. Der Alterungsprozess verlangsamt sich seit 2010 durch die starke Außenzuwanderung jüngerer Menschen. Betont werden muss aber, dass die hier zusammengefassten ostdeutschen Städte durchaus unterschiedliche Entwicklungen aufwiesen. In den westdeutschen Städten wuchs die älteste Altersgruppe um knapp ein Viertel von 1,6 Mio. (1992) auf 2,03 Mio. (2022) Menschen an.
Bei der jüngsten Altersgruppe, den unter 15-Jährigen, verzeichneten die ostdeutschen Städte seit 1992 einen Rückgang von 12,2 % von 292.000 auf 257.000 Menschen. Diese Schrumpfung ist darauf zurückzuführen, dass nach der deutschen Einheit eine größere Ost-West-Wanderung einsetzte, die altersselektiv erfolgte. Während anfangs vor allem Familien, abgeleitet von den Wanderungsbewegungen der unter 18-Jährigen, von Ost- nach Westdeutschland wanderten, so verschob sich bis Mitte der 2000er-Jahre der Schwerpunkt der Abwandernden zu den Ausbildungs- und Berufswandernden. Im Gegenzug waren die Wanderungen von Ost- nach Westdeutschland tendenziell durch die Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen geprägt, was den Alterungsprozess in den ostdeutschen Städten zusätzlich beschleunigte (Mai 2006). In den westdeutschen Städten wurde im Betrachtungszeitraum ein Wachstum der unter 15-Jährigen von 15,6 % von 1,31 Mio. auf 1,52 Mio. verzeichnet. Bis 2010 gab es allerdings einen Rückgang; seitdem kam es zuwanderungsbedingt zu einem Wachstum der Altersgruppe.
Abb. 1 Indizierte Entwicklung der Altersgruppen in west- und ostdeutschen IRB-Städten
Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte, n=25 Städte
In allen untersuchten Städten, mit Ausnahme von Frankfurt a. M., ist der Anteil der 65-Jährigen und Älteren an der Gesamtbevölkerung gestiegen. Das Ausmaß der demografischen Alterung unterscheidet sich jedoch enorm, auch innerhalb der Kategorien West und Ost. Beeinflusst wurde das unterschiedliche Ausmaß der Alterung durch Unterschiede in der Zu- und Abwanderung (s. oben). Den größten Anstieg des Anteils Älterer gab es in Rostock (1992 noch die Stadt mit dem niedrigsten Anteil), Halle (Saale) und Potsdam. 1992 hatte der Anteil Älterer an der Gesamtbevölkerung in diesen Städten noch bei unter 15 % gelegen, 2022 lag er bei 20,0 % (Potsdam) bzw. knapp 25 % (Rostock und Halle (Saale)). Während 1992 die Städte Hannover, Koblenz und Essen den höchsten Anteil Älterer aufwiesen, waren es 2022 Rostock, Halle (Saale) und Oberhausen.
Abb. 2 Anteil der 65-Jährigen und Älteren an der Gesamtbevölkerung der 25 aufgeführten Großstädte 1992 und 2022
Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte, n = 25 Städte
Insgesamt zeigt sich:
- Die Städte sind zwischen 1992 und 2022 gewachsen, das Wachstum betraf alle Altersgruppen.
- Zwischen ost- und westdeutschen Städten gibt es jedoch Unterschiede. Während in westdeutschen Städten 2022 mehr unter 15-Jährige wohnten als 1992, waren es in ostdeutschen Städten weniger.
- Auch die Alterungsprozesse wiesen eine unterschiedliche Dynamik auf. In den ostdeutschen Städten schritt die Alterung stärker voran als in den westdeutschen Städten.
- Beachtet werden müssen jedoch auch die Unterschiede zwischen den Städten jenseits der Kategorien „Ost“ und „West“.
Generationenverhältnisse
Der Anstieg der Zahl älterer Menschen wirkt sich auch auf den Altenquotienten3 aus. Hier zeigen sich sowohl in west- als auch in ostdeutschen Städten deutliche Verschiebungen im Zeitraum zwischen 1992 und 2022 (Abb. 3). Im Durchschnitt aller betrachteten Städte stieg der Altenquotient von 22,95 auf 33,03. Der Jugenquotient blieb hingegen relativ stabil. Die ostdeutschen Städte wiesen 1992 noch deutlich höhere Jugendquotienten und niedrigere Altenquotienten als die westdeutschen Städte auf. Dieses Verhältnis verschob sich bis 2022. So stieg der Altenquotient in allen ostdeutschen Städten deutlich an, in einigen verdoppelte oder verdreifachte er sich sogar, und liegt somit durchschnittlich höher als in westdeutschen Städten. Demgegenüber ging der Jugendquotient zurück. Auch in allen westdeutschen Städten stiegen die Altenquotienten an, gleichzeitig wuchsen aber auch die Jugendquotienten leicht, sodass sich das Generationenverhältnis hier nicht so deutlich veränderte wie in den ostdeutschen Städten. Sowohl die west- als auch die ostdeutschen Städte fügen sich in den gesamtgesellschaftlichen Trend ein, dass mehr ältere Menschen abhängig von Personen im erwerbsfähigen Alter sind. Kommunale Planungen müssen sich auf diese veränderten demografischen Verhältnisse einstellen und Vorsorge in Bezug auf diese Entwicklungen tragen wie etwa in Bezug auf die Bereitstellung sozialer Infrastruktur für ältere Menschen (Pflege, Nahversorgung oder soziale Dienste).
Abb. 3 Generationenverhältnisse in west- und ostdeutschen IRBStädten – Jugend- und Altenquotienten im Vergleich (1992 und 2022)
Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte, n = 25 Städte
Zum Vergleich: In Deutschland betrug der Jugendquotient 1992 23,9 und 2022 22,2. In den ostdeutschen Bundesländern (ohne Berlin) sank der Quotient zwischen 1992 und 2022 deutlich von 27,7 auf 22,2, während er in den westdeutschen Bundesländern leicht von 23,1 auf 22,2 zurückging. Der Altenquotient verzeichnete die entgegengesetzte Entwicklung und stieg im Betrachtungszeitraum in Deutschland von 22,0 auf 35,0 deutlich an. Während in Ostdeutschland ein Anstieg von 21,1 auf 44,3 verzeichnet wurde, fiel die Zunahme in Westdeutschland von 22,2 auf 33,4 etwas geringer aus.
Im Vergleich zu Deutschland insgesamt ist festzuhalten, dass der Jugendquotient in den betrachteten Städten im Durchschnitt etwas höher liegt, aber ebenfalls zwischen 1992 und 2022 relativ stabil ist. Der Altenquotient verzeichnete in Deutschland, wie auch in den analysierten Städten einen deutlichen Anstieg. Insgesamt liegt er in Deutschland aber wesentlich höher als in den Städten.
Zunahme der demografischen Segregation in Städten
Demografische Segregation
Wird die räumliche Verteilung der Bevölkerung nach Altersgruppen innerhalb der Städte betrachtet, fällt auf, dass es gewisse Konzentrationstendenzen gibt. Die demografische Segregation, gemessen über den durchschnittlichen Segregationsindex von hier 22 Städten, ist im Jahr 2022 in der Altersgruppe der 65-Jährigen und Älteren am größten. In dieser Gruppe müssten durchschnittlich 12,5 % der Menschen umziehen, damit es theoretisch eine Gleichverteilung im Stadtgebiet gäbe. Im Vergleich zu 1992, wo der Index bei 11,7 % lag, ist ein Anstieg zu verzeichnen.4 Bei den Altersgruppen der unter 15-Jährigen betrug der durchschnittliche Segregationsindex 2022 7,8 % (1992: 8,7 %) und bei den 15- bis unter 65-Jährigen 9,0 % (1992: 5,5 %). Zu beachten ist aber, dass insbesondere die mittlere Altersgruppe sehr groß ist und Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen (z. B. Ausbildung, Berufsphase, teilweise Nacherwerbsphase) umfasst. In einer Studie von Helbig und Jähnen (2018), die sich auf weitaus differenziertere Altersgruppen, aber einen kürzeren Zeitraum stützte, wurde ebenfalls gezeigt, dass die Segregation nach Altersgruppen durchaus auffällig ist. Insbesondere die 15- bis unter 30-Jährigen sowie die Älteren ab 65 Jahren konzentrieren sich in Städten auf bestimmte Quartiere. Gezeigt wurde darüber hinaus, dass das Ausmaß der Segregation in den Altersgruppen ab 15 Jahren in den ostdeutschen Städten höher ist als im Westen. Dennoch fällt sie insgesamt deutlich niedriger aus als etwa die ethnische oder soziale Segregation.
Im Zeitverlauf von 1992 bis 2022 zeigen sich insbesondere drei Muster5 (Abb. 4):
- In den untersuchten west- und ostdeutschen Städten ist die demografische Segregation in der ältesten Altersgruppe am größten. Einwohnerinnen und Einwohner ab 65 Jahren verteilen sich in den Städten deutlich ungleicher als andere Altersgruppen.
- Die demografische Segregation ist in westdeutschen Städten durchschnittlich niedriger als in ostdeutschen Städten – Ausnahme ist der durchschnittliche Segregationsindex
der Altersgruppe der unter 15-Jährigen, der in den fünf untersuchten ostdeutschen Städten seit 2020 geringer ist als in den untersuchten westdeutschen Städten.
- Während die westdeutschen Städte seit 1992 relativ konstante Trends aufwiesen, gab es in den ostdeutschen Städten verschiedene Phasen der Segregationsentwicklung: In den 1990er Jahren sank der durchschnittliche Segregationsindex in allen drei betrachteten Altersgruppen. Ab Ende der 1990er Jahre stieg der Segregationsindex aller Altersgruppen an. Seit 2007 nimmt die Segregation der unter 15-Jährigen ab, bei den 15- bis unter 65-Jährigen ist sie seit 2008 stabil. Die Segregation der ältesten Altersgruppe war 2015 am höchsten und nimmt seitdem wieder ab. Was genau zu dieser dynamischen Veränderung der Segregationsentwicklung in den ostdeutschen Städten beigetragen hat, lässt sich ohne tiefergehende Untersuchung möglicher Faktoren nur schwer sagen. Als Faktoren, die hierbei zu berücksichtigen wären, ließen sich u. a. folgende nennen:
- die selektive Abwanderung vorzugsweise jüngerer Menschen kurz nach der Wende
- die Sanierung des Gebäude- und Wohnungsbestandes vor allem in den Innenstädten in den 1990er und früheren 2000er Jahren
- der (teilweise) bestehende Überhang auf dem Wohnungsmarkt.
Abb. 4 Durchschnittlicher Segregationsindex nach Altersgruppen 1992–2022
Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte, n = 22 Städte
Altersgruppen
Zu wissen, dass sich die Bevölkerung altersmäßig nicht gleichmäßig in der Stadt verteilt, ist eine erste Erkenntnis. Doch wo genau leben die jeweiligen Gruppen innerhalb der Städte und wie veränderte sich das im Zeitverlauf? Alle Altersgruppen lebten 2022, über alle Städte betrachtet, überwiegend am Stadtrand6. Dort lebten insgesamt 54,1 % der Einwohnerinnen und Einwohner. Am Innenstadtrand lebten 32,7 %, in der Innenstadt 13,2 % (Tab. 1).
Die unter 15-Jährigen lebten überproportional häufig am Stadtrand (57,9 % im Vergleich zu 54,1 % der Gesamtbevölke -
rung) (Tab. 1). Im Zeitverlauf ist ersichtlich, dass sich der oben beschriebene zahlenmäßige Rückgang der unter 15-Jährigen in den ostdeutschen Städten nicht auf eine bestimmte Lage in der Stadt konzentriert. Vielmehr ist der Rückgang in Innenstädten, Innenstadträndern und am Stadtrand gleichermaßen festzustellen, wobei die Bestandszahlen seit 2005 wieder ansteigen (Abb. 5). Es ist allerdings zu betonen, dass sich die fünf untersuchten ostdeutschen Städte in dieser Hinsicht heterogen entwickelt haben. Während von 1992 bis 2022 in Leipzig und Potsdam eine Zunahme der Zahl der unter 15-Jährigen am Stadtrand zu verzeichnen ist, sind in Dresden, Halle (Saale) und Rostock Verluste zu verzeichnen – in den beiden letztgenannten Städten sogar in großer Höhe. In den untersuchten westdeutschen Städten ist in der letzten Dekade in allen drei IRB-Lagetypen bei der jüngsten Altersgruppe ein Anstieg der Bestandszahlen zu beobachten.
Die Gruppe der Einwohnerinnen und Einwohner zwischen 15 und unter 65 Jahren lebte 2022 überproportional häufig in der Innenstadt (14,3 %), dafür seltener am Stadtrand (51,8 %) (Tab. 1). Auffällig ist die Bestandsentwicklung in ostdeutschen Innenstädten. Nach anfänglichen Verlusten steigt die Bevölkerungszahl dieser Altersgruppe dort seit Ende der 1990er Jahre stetig an (Abb. 5). Dies kann auch als eine Folge des ansteigenden Wohnungsangebots in den ostdeutschen Innenstädten interpretiert werden, da die bauliche Sanierung des Altbaubestandes nach und nach zu einem Aufwuchs des Wohnungsangebotes geführt hat. Dies führte in der Folge, wie oben dargestellt, dazu, dass sich die Bevölkerung dieser Altersgruppe räumlich gleichmäßiger in der Stadt verteilte und damit der Segregationsindex in den 1990er Jahren sank. Am Innenstadtrand bleibt der Bevölkerungsbestand bis etwa 2010 deutlich unter dem Ausgangsniveau von 1992 bei dieser Altersgruppe. Erst danach erholt sich die Bevölkerungszahl allmählich, um 2022 leicht über dem Wert von 1992 zu liegen. In den westdeutschen Städten verlief die Entwicklung in den Lagetypen unauffällig.
Die Gruppe der 65-Jährigen und Älteren lebte 2022 in Städten überproportional häufig am Stadtrand (59,3 %) (Tab. 1). Besonders markant stellt sich die Alterung, die auch eine Folge der allgemeinen Wanderungsbewegungen ist, am Stadtrand in den untersuchten ostdeutschen Städten dar (Abb. 5), was auch die oben dargestellte demografische Segregation erklärt. Hier
Tab. 1 Anteil der Altersgruppen und der Gesamtbevölkerung nach Lagetyp 2022 Innenstadt Innenstadtrand Stadtrand
unter 15-Jährige
15- bis unter 65-Jährige
65-Jährige und Ältere
bevölkerung
Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte, n = 25 Städte
hat sich die Zahl der 65-Jährigen und Älteren im Beobachtungszeitraum mehr als verdoppelt, von etwa 99.000 auf 220.000. Besonders hoch war der relative Zuwachs in Leipzig, Potsdam und Rostock. In der Innenstadt und am Innenstadtrand ist der Zuwachs der Älteren deutlich, aber bei weitem nicht so stark wie am Stadtrand. Während der Alterungsprozess in der Innenstadt und am Innenstadtrand bei den westdeutschen IRB-Städten kaum zu beobachten ist, ist der Anstieg am Stadtrand verglichen damit deutlich sichtbar. Seit 1992 ist die Bestandszahl der 65-Jährigen und Älteren um 40,8 % angestiegen, d. h. von 866.000 auf 1,22 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner.
Generationenverhältnisse
Die eben betrachteten Bestandszahlen geben Aufschluss darüber, wie sich die Größenverhältnisse insgesamt und nach Altersgruppen differenziert im zeitlichen Verlauf verändert haben. Dies ist für die kommunale Planung wichtig, da das Wohnungsangebot, die soziale Infrastruktur, die Nahversorgung und anderes mehr sich danach ausrichten (müssen). Aufschlussreich ist aber auch die Betrachtung der Generationenverhältnisse (Abb. 6).
Der Altenquotient weist im Zeitverlauf sowohl in den ostwie auch westdeutschen Städten am Stadtrand die stärks-
Abb. 5 Bevölkerungsentwicklung nach Altersgruppen und innerstädtischer Lage 1992 bis 2022 (1992 = 0 %)
Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte, n = 25 Städte
Abb. 6 Entwicklung der Jugend- und Altenquotienten nach innerstädtischer Lage
Quelle: Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR; Datengrundlage: Kommunalstatistiken der IRB-Städte, n = 25 Städte
ten Veränderungen auf, wobei die Entwicklung in den ostdeutschen Städten noch um einiges größer ausfällt als im Westen. Kamen am Stadtrand in den westdeutschen Städten 1992 noch 23 Ältere auf 100 Erwerbsfähige, so ist die Zahl bis 2009 auf 32 angestiegen und hat das erreichte Niveau im Wesentlichen gehalten. In den ostdeutschen Städten ist der Altenquotient zwischen 1992 und 2022 von 18 bis auf fast 41 angestiegen, d.h. vier Einwohnerinnen oder Einwohner im „Rentenalter“ entfallen auf zehn Einwohnerinnen und Einwohner im erwerbsfähigen Alter. In der Innenstadt und am Innenstadtrand ist die Entwicklung weniger stark ausgeprägt. Das Niveau liegt dort etwas oberhalb der Werte in den westdeutschen Städten, eine Annäherung an die westdeutschen Verhältnisse wird sichtbar. Zu beachten sind die teils deutlichen stadtspezifischen Unterschiede, die bei dieser aggregierten Betrachtung ausgeblendet werden.
Beim Jugendquotienten fällt der deutliche Abfall der Werte nach 1992 in den ostdeutschen Städten über alle drei Lagetypen auf. Diese rückläufige Entwicklung hält bis etwa 2005 an. Danach tritt eine schrittweise Annäherung an die Werte auf das Niveau der westdeutschen Städte an. Am Innenstadtrand fällt der Unterschied etwas deutlicher aus. In der Innenstadt und am Stadtrand haben sie sich weitgehend angeglichen. Die Generationenverhältnisse haben sich in Bezug auf diese demografische Maßzahl weitgehend angenähert.
Fazit
Seit 1992 gab es im langfristigen Zeitvergleich deutliche Veränderungen in der Altersstruktur und der Verteilung der Bevölkerung in den Städten. Einerseits hat die demografische Segregation zugenommen, d. h. Menschen einer Altersgruppe konzentrieren sich in bestimmten Stadtvierteln. Ältere Menschen leben z. B. überproportional häufig am Stadtrand. Das bringt mit sich, dass Wohngebiete in Bezug auf die Alterszusammensetzung homogener sind und Ältere und Jüngere etwas seltener in Nachbarschaft leben. Ob und inwieweit hieraus Handlungsbedarf auf kommunaler Ebene resultiert, lässt sich auf Basis dieser Auswertungen kaum beurteilen, hierzu bedürfte es weitergehender Analysen. Vermutet werden aber kann, dass sich beispielsweise die Kommunen auf unterschiedliche Bedürfnisse hinsichtlich der Freizeitgestaltung und Nutzung des öffentlichen Raums und der sozialen Infrastruktur einstellen müssen (Körner-Blätgen u. Sturm 2016). Klar ist auch, dass eine Zusammenfassung von Menschen nur nach einem Kriterium wie „Alter“ die tatsächliche Heterogenität der Gesellschaft nicht widerspiegeln kann (Frisoli u. SchmitzVeltin 2015). Diese Ausdifferenzierung bei den Älteren stellt die Kommunen vor die Herausforderung, jeweils an die Bedarfe der Bevölkerung in den jeweiligen Stadtteilen angepasste Lösungen zu finden, wobei eine Veränderung dieser Bedarfe im Zeitverlauf zu berücksichtigen ist.
Eine kontinuierliche Beobachtung demografischer Veränderungen ist für größere wie für kleinere Städte elementar. Die Alterung in den Großstädten ist auch in der Zukunft ein wichtiges kommunales Handlungsfeld. Nicht zuletzt, da auch Bevölkerungsvorausberechnungen in vielen Städten von einem weiteren Anstieg der Älteren ausgehen, wenngleich sich die Dynamik z.B. in den letzten Jahren stark gealterten Städten in Ostdeutschland abschwächt. Dadurch kommt es zu regionalen Aufholprozessen (Maretzke et al. 2021). Da die junge und mittlere Altersgruppe nicht gleichmäßig zulegen werden, ergeben sich zahlreiche Herausforderungen durch die Verschiebung des Generationenverhältnisses. Diese sind auf gesamtgesellschaftlicher Ebene etwa die Herausforderungen für das umlagefinanzierte Rentensystem sowie die Gewährleistung einer angemessenen Pflege- und Gesundheitsversorgung. Die Kommunen stehen vor planerischen Herausforderungen, was die Gestaltung öffentlicher Räume und die Versorgung mit Infrastruktureinrichtungen angeht (s. Kapitel „Relevanz“). Es ist wichtig für politische und kommunale Akteure, zu reflektieren, dass viele Konzepte und Vorhaben generationsgebunden sind. Doch auch die Moderation des verhältnismäßig schnell ablaufenden Alterungsprozesses ist wichtig, wenngleich es in Quartieren oft auch eine selbstständige Art der Regulierung gibt (Körner-Blätgen u. Sturm 2016).
Mittels der IRB ist es möglich, Entwicklungen hinsichtlich der demografischen Segregation sowie der Altersstrukturen in den Städten vergleichend kleinräumig zu untersuchen. Indem sie einerseits die Entwicklungen in einzelnen Städten in den Kontext aller (oder ausgewählter) Städte einordnet sowie einen aus Bundessicht wichtigen Gesamtüberblick bietet, ist die IRB ein wichtiges Werkzeug der Stadtbeobachtung.
1 Referenz: Stadt- und Gemeindetyp des BBSR, weitere Informationen: https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/forschung/raumbeobachtung/ Raumabgrenzungen/deutschland/gemeinden/StadtGemeindetyp/ StadtGemeindetyp.html
2 Der Begriff „Generation“ kann sich auf zusammengefasste Geburtskohorten beziehen. Herausforderungen bestehen darin, die Abgrenzung vorzunehmen (Frisoli u. Schmitz-Veltin 2015). In diesem Beitrag wird der Begriff „Generationenverhältnis“ verwendet, um Altersgruppen ins Verhältnis zu setzen. Bezugspunkt sind explizit Altersgruppen, keine Kohorten.
3 Etablierte Maße zur Analyse der Generationenverhältnisse sind in der Demografie der Jugend- und Altenquotient. Der Jugendquotient setzt die Zahl der Jüngeren, hier der unter 15-Jährigen, ins Verhältnis zu der der Erwerbsfähigen, hier die Altersgruppe der 15- bis unter 65-Jährigen. Beim Altenquotient werden die Älteren, hier die 65-Jährigen und Älteren, zu den Erwerbsfähigen ins Verhältnis gesetzt. Setzt man den Jugendquotienten in Beziehung zum Altenquotienten, lässt sich aufzeigen wie sich das Verhältnis zwischen den Generationen darstellt.
4 Inwieweit diese Ungleichverteilung der Älteren auch eine Folge der Standorte von Einrichtungen für ältere Menschen (Alten- und Pflegeheime) ist, lässt sich ohne entsprechende Standortdaten zu diesen Einrichtungen nicht beurteilen.
5 Zwischen einzelnen Städten gibt es allerdings teils deutliche Unterschiede, die bei dieser aggregierten Betrachtung ausgeblendet werden.
6 Der IRB-Lagetyp unterscheidet Stadtteile je nach ihrer geografischen Lage nach Innenstadt, Innenstadtrand und Stadtrand.
Literatur
Frisoli, Pasquale; Schmitz-Veltin, Ansgar (2015): Abgrenzung und demografische Analyse von Generationen: Herausforderungen für das Informationsmanagement. In: Stadtforschung und Statistik 28 (1), S. 36–42. Online verfügbar unter https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/ handle/document/49669/ssoar-stadtfstatistik-2015-1-schmitz-veltin_et_al-Abgrenzung_ und_demografische_Analyse_von.pdf.
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Göddecke-Stellmann, Jürgen; Grundmann, Teresa; Kaschowitz, Judith; Mannseicher, Claudia; Müller, Cornelia; Rimke, Charlotte; Winkler, Dorothee (2023): Deutsche Großstädte unter Anpassungsdruck. Aktuelle und zukünftige soziodemografische und sozioökonomische Entwicklungspfade. Hg. v. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR). Bonn.
Helbig, Marcel; Jähnen, Stefanie (2018): Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten. WZB Discussion Paper P 2018-001. Berlin.
Körner-Blätgen, Nadine; Sturm, Gabriele (2016): Generationenmischung – oder: Wer wohnt wo in deutschen Großstädten? Informationen aus der vergleichenden Stadtbeobachtung. Hg. v. Bundesinstitut für Bau-, Stadtund Raumforschung (BBSR) (BBSR-Analysen KOMPAKT, 05/2016). Online verfügbar unter https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/analysen-kompakt/2016/ak05-2016-dl.pdf.
Mäding, Heinrich (2020): Städte im demografischen Wandel. In: Ingrid Breckner, Albrecht Göschel und Ulf Matthiesen (Hg.): Stadtsoziologie und Stadtentwicklung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. 1. Auflage. BadenBaden: Nomos, S. 159–170.
Mai, Ralf (2006): Die altersselektive Abwanderung aus Ostdeutschland. Raumforschung und Raumordnung 5/2006, S. 355–369.
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Nowossadeck, Sonja; Block, Jenny (2017): Wohnumfeld und Nachbarschaftsbeziehungen in der zweiten Lebenshälfte, Berlin. Weiske, Christine (2015): Konflikte in einer alternden Stadt. In: Informationen zur Raumentwicklung (5), S. 471–486. Online verfügbar unter https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/ veroeffentlichungen/izr/2015/5/Inhalt/downloads/dl-weiske.pdf.
Aura Moldovan, Frank Osterhage, Annett Steinführer, Cornelia Tippel
Wanderungsgründe abfragen Anregungen für die Umfragepraxis
Seit Jahrzehnten werden empirische Untersuchungen zu Wanderungsgründen durchgeführt. Die Studien weisen eine große Bandbreite an verwendeten Frageformulierungen und Antwortlisten auf. Für diesen Beitrag wurden in einem ersten Schritt die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten aus 16 Wanderungsmotivbefragungen der jüngeren Zeit erfasst. Diese wurden in einem zweiten Schritt den offenen Antworten aus einer bundesweiten Erhebung aus dem Jahr 2020 gegenübergestellt. Aus den ermittelten Gemeinsamkeiten und Unterschieden lassen sich Schlussfolgerungen für die Konzeption von Wanderungsmotivbefragungen und die Ausgestaltung vorgegebener Antwortlisten ziehen. Eine regelmäßige Reflexion vorgegebener Antworten durch offene Abfragen ermöglicht, die Relevanz einzelner Antworten auf den Prüfstand zu stellen.
Dr. Aura Moldovan
M. A. Soziologie. Seit 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Thünen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen in Braunschweig : aura.moldovan@thuenen.de
Frank Osterhage
Dipl.-Ing. Raumplanung. Seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH in Dortmund : frank.osterhage@ils-forschung.de
Dr. Annett Steinführer
M. A. Soziologie. Seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Thünen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen in Braunschweig : annett.steinfuehrer@thuenen.de
Dr. Cornelia Tippel
Dipl.-Ing. Raumplanung. Seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH in Dortmund : cornelia.tippel@ils-forschung.de
Einleitung: wissenschaftliche und kommunale Wanderungsmotivbefragungen Für Analysen zum Wanderungsgeschehen kann in Deutschland auf Daten aus der Wanderungsstatistik zurückgegriffen werden. Die Statistik beruht auf den An- und Abmeldungen bei den kommunalen Einwohnermeldebehörden. Sie stellt eine Vollerhebung aller Wanderungsfälle dar, also von Veränderungen des Wohnstandorts, die über die administrativen Grenzen einer Gemeinde reichen. Die Statistik enthält die Angabe des alten und des neuen Wohnortes sowie einige weitere Informationen zur gewanderten Person wie Geschlecht, Alter und Staatsangehörigkeit. Diese Daten sind dazu geeignet, um räumliche Muster und deren Veränderungen beim Wanderungsgeschehen herauszuarbeiten (z. B. Osterhage u. Albrecht 2021). Um die hinter den Wanderungsentscheidungen liegenden Gründe näher zu beleuchten, ist es jedoch notwendig, Befragungen durchzuführen.
Die Ermittlung der Gründe für Wanderungen ist ein Gegenstand der Wanderungsforschung. Diese steht „auf den Schultern von Riesen“: Seit Jahrzehnten werden empirische Untersuchungen durchgeführt, Befragungsinstrumente erprobt und verfeinert, methodisches und konzeptionelles Wissen zusammengetragen. In Deutschland setzt sich die Wanderungsforschung aus zwei eigenständigen, teilweise miteinander verbundenen Bereichen zusammen. Zum einen werden aus wissenschaftlicher Perspektive immer wieder Wanderungsgründe bzw. Wanderungsmotive1 untersucht oder spezifische Fragestellungen wie das Zusammenspiel von Wohnstandortentscheidungen und Alltagsmobilität betrachtet (z. B. Beckmann et al. 2006; Kley 2009; Münter 2012). Zum anderen sind kommunale Wanderungsmotivbefragungen von Bedeutung. Vor allem größere Städte führen solche Untersuchungen von Zeit zu Zeit im Rahmen ihrer Wohnungsmarktbeobachtung durch. Teilweise sind sie in multithematische Bürgerumfragen eingebettet, angesichts der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes jedoch auch häufig als eigenständige Befragungen angelegt. Als Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit lassen sich die Befragungen der Städte Dortmund (2020), Rostock (2019) und Wolfsburg (2020) nennen. Insbesondere in Phasen, die, wie zum Beispiel die zweite Hälfte der 1990er-Jahre, durch eine ausgeprägte Wohnsuburbanisierung gekennzeichnet waren, haben Kommunen verstärkt eigene Wanderungsmotivbefragungen durchgeführt. In der
Folge entstanden zudem Beiträge, die als Querauswertung bzw. Metaanalyse eine vergleichende Betrachtung vornahmen (z. B. Heitkamp 2002; Ismaier 2002; Bleck u. Wagner 2006). Die vorliegenden Befragungen setzen sich meist aus verschiedenen inhaltlichen Blöcken zusammen. Fester Bestandteil der eingesetzten Fragebögen ist ein Block zu den sozioökonomischen und demografischen Merkmalen der befragten Personen bzw. des dazugehörigen Haushalts. Weiterhin umfassen die Befragungen häufig Fragen zur Wohnsituation vor und nach der Wanderung, zum Suchprozess, zur Zufriedenheit am neuen und alten Wohnstandort oder zu weiterhin bestehenden Bezügen zum ehemaligen Wohnort. Das zentrale Element besteht jedoch immer in der Abfrage von Gründen für eine Wanderungsentscheidung. Die dabei verwendeten Frageformulierungen und Antwortkategorien sind ausgesprochen vielfältig. Sie stehen im Mittelpunkt unseres Beitrags.
Geschlossen oder offen?
Methodische Aspekte von Wanderungsmotivbefragungen
Ein vergleichender Blick auf die Fragebogenteile, mit deren Hilfe Wanderungsgründe erhoben werden, zeigt zunächst, dass zumeist geschlossene oder halboffene Fragen zum Einsatz kommen, bei denen längere Listen mit möglichen Gründen vorgegeben sind, teilweise ergänzt um die Kategorie der sonstigen Gründe. Doch unterscheiden sich beispielsweise die Zielpersonen (nur Gewanderte oder allgemeine Bevölkerung), der untersuchte Sachverhalt (beabsichtigte oder tatsächlich realisierte Wanderungen) und der zeitliche Abstand zur Absicht bzw. Handlung. Auch variieren die konkreten Frageformulierungen und die jeweilige Aufforderung an die Befragten. So erheben manche Instrumente nur den Hauptgrund der Wanderung, andere erlauben mehrere wichtigste Gründe, die teilweise – aber nicht immer – in eine Reihenfolge gebracht werden sollen, wiederum andere listen eine Vielzahl möglicher Gründe auf, die in ihrer Bedeutung individuell zu bewerten sind. Auch mit der Residualkategorie „Sonstiges“ wird unterschiedlich verfahren: In manchen Erhebungen sind dort offene Angaben möglich, in anderen fehlt diese Antwortmöglichkeit ganz.
In diesem Beitrag interessiert uns ein bestimmter methodischer Aspekt besonders: die Unterschiede zwischen einer geschlossenen Abfrage mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten und einer offenen Abfrage, bei der die Befragten ihre Antworten selbst notieren, dies in einem persönlichen oder Telefoninterview durch die Interviewenden erfolgt bzw. diese die Antwort(en) sofort anhand eines vorgegebenen CodeSchemas einer Kategorie zuordnen. In der empirischen Sozialforschung werden geschlossene Fragen dann verwendet, wenn bei einem Thema von einem gesicherten Kenntnisstand auszugehen ist. Nicht unwesentlich sind in der Umfragepraxis häufig auch Kostengründe, denn die Auswertung geschlossener Fragen ist um ein Vielfaches einfacher und schneller als bei einer offenen Abfrage. Greift man zudem auf etablierte Itembatterien zurück, lassen sich die spezifisch lokalen Ergebnisse mit anderen Erhebungen vergleichen. Offene Abfragen
hingegen werden in der Sozialforschung dann verwendet, wenn ein Thema noch nicht sehr gut durchdrungen ist, aus wissenschaftlicher Sicht gerade die individuellen Relevanzsetzungen und Zuschreibungen der Interviewten interessieren, es ein sehr großes Spektrum möglicher Antworten gibt und/ oder die Befragten nach einer Reihe geschlossener Fragen zur weiteren Teilnahme motiviert werden sollen (vgl. im Detail Porst 2014: 53–69). Welche der beiden Vorgehensweisen für ein bestimmtes Erkenntnisinteresse besser geeignet ist, muss in jedem Einzelfall neu bewertet werden. Allerdings ist gerade für die kommunale Praxis davon auszugehen, dass das Ressourcenargument in der Regel gegen offene Fragen (und wenn, dann nur in der „halboffenen“ Variante der Kategorie „Sonstiges, nämlich“; ebd.: 57 ff.) spricht.
Neben den bereits genannten Vorteilen weisen beide Fragearten spezifische Probleme auf. So ist die Lenkungswirkung geschlossener Fragen wohlbekannt. Ihre Antwortoptionen repräsentieren ein bestimmtes „Universum“ (ebd.: 58), setzen also einen kognitiven Rahmen und begrenzen zugleich die mögliche Auswahl. Zugleich beeinflusst die Reihenfolge der Itemvorgaben die Antworten (response-order-Problem), was bei computergestützten Erhebungen freilich durch eine Rotation der Antwortvorgaben teilweise ausgeglichen werden kann (Bogner u. Landrock 2015: 8 f.). Sind aber Fragen, die auf offene Antworten zielen, nicht eindeutig und präzise formuliert, können auch die Antworten das adressierte Thema nicht adäquat erfassen. Auch der Umfang und die Art der Antwort sind klar zu benennen, um valide Ergebnisse zu erzielen (Züll 2015: 3).
Der einleuchtende Unterschied, dass die Vorgabe einer Antwortoption erst ermöglicht, dass sie überhaupt gewählt wird, während sie bei einer offenen Fragestellung möglicherweise gar nicht oder weniger häufig erwähnt worden wäre, hat weitreichende, wenn auch selten untersuchte Konsequenzen: Die Ergebnisse offener und geschlossener Abfragen unterscheiden sich fundamental (hier verweist die Methodenforschung regelmäßig auf die Studie von Schuman u. Presser 1981). Umso wichtiger ist es aus unserer Sicht, immer wieder verwendete Antwortvorgaben – deren Herkunft im Einzelnen oft gar nicht mehr hergeleitet werden kann – regelmäßig auf ihre Relevanz zu überprüfen. Dieses Ziel verfolgt unser Beitrag: Wir reflektieren und diskutieren vorherrschende geschlossene Fragebatterien im Licht unserer Erkenntnisse aus einer offenen, bundesweiten Befragung.
Wanderungsgründe in der Umfragepraxis
Erhebung von Wanderungsgründen in der KoBaLd-Befragung Nicht nur methodologische Aspekte machen die Überprüfung etablierter Antwortvorgaben erforderlich. Auch gesellschaftliche Veränderungen in der Arbeitswelt, auf Wohnungsmärkten und der Geschlechterverhältnisse spielen für Wanderungsentscheidungen eine Rolle und können Änderungen von Wanderungsgründen im Zeitverlauf beeinflussen.
Welche Antworten werden überhaupt (noch oder schon) in relevantem Umfang genannt, wenn eine offene Abfrage erfolgt? Das Forschungsprojekt KoBaLd (Vom Kommen, Gehen
und Bleiben. Wanderungsgeschehen und Wohnstandortentscheidungen aus der Perspektive ländlicher Räume), das zwischen 2018 bis 2022 vom Thünen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen und vom ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung durchgeführt wurde, verfolgte das ambitionierte Ziel, die Gründe hinter unterschiedlichen Typen von Wohnstandortentscheidungen besser zu verstehen. Die Förderung als Forschungsprojekt mit explizit explorativen Komponenten ermöglichte es, eine bestimmte methodische Herangehensweise auszuprobieren und vertieft zu reflektieren. Im Zentrum des Projekts stand eine im Sommer 2020 bundesweit durchgeführte, computergestützte Telefonbefragung, die Haushalte und ihre Wohnstandortentscheidungen in den Blick nahm. Eine solch große und repräsentative Befragung ermöglicht es, die Relevanz häufig genutzter Antwortkategorien zu prüfen.
Die deutschsprachige Wohnbevölkerung der Bundesrepublik im Alter ab 18 Jahren bildete die Grundgesamtheit der Befragung. Aus dieser wurden fünf Teilstichproben gezogen, darunter ein Bleibetyp und vier Wanderungstypen. Letztere umfassten ausschließlich Befragte, die in den fünf Jahren vor der Befragung innerhalb der Bundesrepublik über Gemeindegrenzen gewandert waren und sich unterschiedlichen Wanderungsrichtungen (Land – Stadt, Stadt – Land, Land –Land sowie Stadt – Stadt)2 zuordnen ließen (n = 3.600, davon 2.797 Gewanderte). Für die Erfassung der Wanderungsgründe wurden offene Fragen genutzt, um die für die Befragten relevanten Gründe zu erheben und nicht durch vorgegebene Antwortkategorien einzuengen. Anknüpfend an etablierte Konzepte zum Entscheidungsprozess (Roseman 1983) wurde im Projekt zwischen Weg- und Zuzugsgründen unterschieden. Die darauf bezogenen Fragen waren wie folgt formuliert:
(1) „Welche Gründe waren damals für Sie beziehungsweise Ihren Haushalt ausschlaggebend für die Entscheidung, aus < vorheriger Wohnort > wegzuziehen?“
(2) „Und welche Gründe waren für Sie beziehungsweise Ihren Haushalt ausschlaggebend für die Entscheidung, nach < heutiger Wohnort > zu ziehen und nicht woandershin?“
Die zweite Frage folgte unmittelbar nach der Antwort auf die erste. Bei den offenen Fragen stand den Befragten die Wahl zwischen einer Audioaufnahme oder der Protokollierung der Antwort offen. Der überwiegende Teil stimmte einer Audioaufnahme zu. Da die beiden Antworten in einem inhaltlichen Zusammenhang zueinander stehen, wurden sie zusammen transkribiert und – ebenso wie die Mitschriften der Interviewenden – in einem iterativen inhaltsanalytischen Codierprozess durch vier Wissenschaftler*innen des KoBaLd-Teams unterschiedlichen Antwortkategorien zugeordnet. Hierbei wurde ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, durch mehrere Abstimmungsrunden am Anfang des Codierprozesses eine hohe Intercoder-Reliabilität zu gewährleisten (Steinführer u. Osterhage 2024, im Erscheinen). Im Ergebnis entstanden insgesamt 128 Codierkategorien, die sieben Ober- bzw. Analysekategorien zugeordnet wurden: persönliche Gründe, Veränderungen der Haushaltskonstellation, wohnungsbezogene, wohnumfeldbezogene, berufliche, ausbildungsbezogene sowie sonstige Gründe.
Querauswertung bestehender Untersuchungen Für den Abgleich der Ergebnisse der KoBaLd-Befragung mit vorliegenden Wanderungsmotivbefragungen haben wir 16 kommunale sowie wissenschaftliche Umfragen zu Wanderungen über Gemeindegrenzen (innergemeindliche bzw. innerstädtische Umzüge ausgeschlossen) aus dem Zeitraum 2003 bis 2022 analysiert (Tab. 1). Diese wurden in einem zweistufigen Verfahren ausgewählt. Über eine umfangreiche Literatur- und Online-Recherche wurden zunächst Studien mit Veröffentlichung nach dem Jahr 2000 ermittelt. Anschließend wurden diese auf ihre grundlegende Vergleichbarkeit zur KoBaLd-Befragung (u. a. thematische Nähe, Befragung als Basis der Studie, Fokus auf schon realisierte Wanderungen über Gemeindegrenzen) und auf die Verfügbarkeit des Fragebogens bewertet.
In der KoBaLd-Befragung wurde nach Wegzugs- und Zuzugsentscheidung differenziert, auch um Unterschiede zwischen den Gründen bezogen auf den vorherigen und den neuen Wohnort erfassen zu können (s. Kap. 3.1). Diese Trennung wurde in den meisten der analysierten Umfragen ebenfalls vorgenommen. Zwar fragten nicht alle Umfragen sowohl Zuzugs- als auch Wegzugsgründe ab. Wenn aber beide in einer Befragung enthalten waren, dann erfolgten meist kleine Anpassungen bei der Anzahl und der Formulierung der vorgegebenen Antwortoptionen.
Für den Abgleich wurden aus den analysierten Umfragen nur die Fragen ausgewertet, die explizit an den Gründen (oder Motiven, Anlässen, Auslösern, s. Kap. 1) für eine bereits getroffene Wohnstandortentscheidung interessiert waren. In den Umfragen gab es dafür je eine bis maximal vier Fragen, mit vier bis 29 vorgegebenen Antworten. Diese Antwortoptionen wurden mit den Codierkategorien aus der KoBaLd-Befragung abgeglichen: Die Analyse erfasste, ob ein KoBaLd-Code in der jeweiligen Umfrage auch abgefragt wurde (in gleicher oder ähnlicher Form) oder nicht.
Während in der KoBaLd-Befragung alle Wanderungsgründe über eine offene Abfrage erfasst wurden, enthielten die 16 in die Querauswertung einbezogenen Erhebungen primär geschlossene Fragen. Dabei wurden wichtige Wanderungsgründe meist über zwei Arten von Fragen erfasst: unbegrenzte Mehrfachnennungen aus den Antwortvorgaben (in elf der 16 Umfragen) und/oder eine ordinale bzw. intervallskalierte Bewertung der Bedeutung jeder einzelnen Antwortoption, z. B. von „gar nicht wichtig“ bis „sehr wichtig“ (in zehn der Umfragen). Die Hälfte der Umfragen hat explizit nach einem Hauptgrund für die Wanderungsentscheidung gefragt, meistens in einem gestuften Vorgehen, in dem Befragte aus mehreren Antwortkategorien zunächst alle zutreffenden Gründe wählten und anschließend den Hauptgrund bestimmten, sowie in einer Umfrage über eine separate offene Frage nach dem Hauptgrund. Platz für offene Angaben mit Blick auf ausschlaggebende Wanderungsgründe gab es in drei der Umfragen als eigene Frage, in sieben der Umfragen konnten zusätzliche sonstige Gründe offen genannt werden.
Ein weiterer Unterschied zur KoBaLd-Befragung, in der die Frage nach den Wanderungsgründen explizit mit Blick auf den gesamten Haushalt gestellt wurde, besteht darin, dass sich die meisten Umfragen an das Individuum als Bezugsein-
heit richteten. In nur zwei Erhebungen wurde in der Frage auf die Bedeutung der Wanderungsgründe „für Sie bzw. Ihre Familie“ (Hamm et al. 2015; Landeshauptstadt Erfurt 2022) Bezug genommen. In einem Einzelfall wurde eine separate Frage mit Blick auf berufliche und ausbildungsbezogene Gründe gestellt, in der die Befragten angeben konnten, ob
Tab. 1 Liste der analysierten Wanderungsmotivbefragungen
Nr. Titel
1 Stadt-Umland-Wanderungen im Ruhrgebiet
Blotevogel u. Jeschke 2003
die jeweilige Antwortoption für sie oder ihre*n Partner*in zutrifft (Landeshauptstadt Erfurt 2022). Zusätzlich wurden relevante Gründe für andere Haushaltsmitglieder in fünf der Umfragen als Antwortoptionen einbezogen, einmal allgemein („Gründe, die mit Ihrer Familie oder den Wünschen von Haushaltsmitgliedern zusammenhängen“; Siedentop et al. 2014)
Stadt-Umland-Wanderung aus kreisfreien Städten des Ruhrgebiets 2.531 Wegzug, Zuzug
2 Wanderungsmotive 2004 Dobroschke 2005 Zuzug nach und Wegzug aus Frankfurt am Main
3 Ergebnisse der Befragung nach den Fortzugsmotiven von Haushalten, die 2004 von Bamberg in den Kreis Bamberg gezogen sind
4 Akteure, Beweggründe, Triebkräfte der Suburbanisierung
Wegzug, Zuzug
Möller et al. 2006 Wegzug aus der Stadt Bamberg in den Kreis Bamberg 187 Wegzug
Beckmann et al. 2007 Stadt-Umland-Wanderung aus Köln, Leipzig, Münster, Magdeburg ≈250 pro Fallregion Zuzug
5 Wanderungsmotivanalyse 2010/2011 Stadt Löhne 2012 Wegzug aus Löhne 582 Wegzug
6 Zentrale Ergebnisse der Fortzugsumfrage 2011
7 Wohnungsnachfrage im Großraum München
Stadt Münster 2012 Wegzug aus Münster in Nachbarkommunen
914 Wegzug, Zuzug*
Thierstein et al. 2013 Zuzug in kürzlich fertiggestellte Wohnanlagen im Großraum München 1.795 Wegzug
8 Meine Entscheidung für Leipzig Welz et al. 2014 Zuzug nach Leipzig ≈1.150 Zuzug*
9 Wanderungsmotive im ländlichen Raum
Siedentop et al. 2014 Zuzug nach und Wegzug aus sechs ländlichen Abwanderungsgemeinden in Baden-Württemberg
10 MG Bewegt Hamm et al. 2015 Zuzug nach und Wegzug aus Mönchengladbach
11 Wanderungsmotivbefragung 2018
Stadt Rostock 2019 Zuzug nach und Wegzug aus Rostock
12 Wohnen in Dortmund und der Region Stadt Dortmund 2020 Wegzug aus Dortmund ins Umland und Zuzug nach Dortmund von Umland
13 Wanderungsmotivbefragung 2018
14 Gutachten zur Beurteilung der Lage/Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt in Hamburg
15 Wanderungsmuster in Stadtregionen aus der Lebenslaufperspektive am Beispiel von Leipzig/Halle
16 Erfurter Wanderungsmotivbefragung 2020
Vom Kommen, Gehen und Bleiben (KoBaLd)
* Fragebogen unveröffentlicht
Stadt Wolfsburg 2020 Zuzug nach und Wegzug aus Wolfsburg
Abraham et al. 2021 Zuzug nach Hamburg und in acht Neubaustandorte in Hamburg und Umland
Dunkl et al. 2022 Zuzug in fünf Gemeinden der Stadtregion Leipzig/ Halle
Stadt Erfurt 2022 Zuzug nach und Wegzug aus Erfurt
Steinführer u. Osterhage (Hrsg.) 2024, im Erscheinen
Deutschlandweite Wanderungen zwischen ländlichen und nichtländlichen Räumen
368 Weggez., 339 Zugez. Wegzug, Zuzug
597 Weggez., 535 Zugez. Wegzug, Zuzug
831 Weggez., 1.002 Zugez. Wegzug, Zuzug
≈1.600 Weggez., ≈1.700 Zugez. Wegzug, Zuzug
685 Weggez., 1.270 Zugez. Wegzug, Zuzug
1.545 Zugez. nach Hamburg, 178 in Neubaugebiete Zuzug
≈1.100 Zuzug*
836 Weggez., 569 Zugez. Wegzug, Zuzug
2.797 Wegzug, Zuzug
Quelle: Eigene Zusammenstellung
bzw. viermal bezüglich der „Rückkehr an den Heimatort eines Haushaltsmitglieds“ (Blotevogel u. Jeschke 2003; Beckmann et al. 2007; Stadt Münster 2012; Stadt Dortmund 2020). Zwei der Umfragen enthielten Antwortoptionen spezifisch mit Blick auf die Partner*innen der Befragten und deren berufliche (Siedentop et al. 2014; Welz et al. 2014) und ausbildungsbezogene Gründe (Siedentop et al. 2014).
Antworten im Vergleich:
Erkenntnisse für die Umfragepraxis
Nachfolgend werden relevante Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Wanderungsgründen zwischen der KoBaLdBefragung und den anderen 16 Umfragen herausgearbeitet. Dabei wird für die ausgewählten KoBaLd-Codierkategorien (gruppiert nach den sieben Analysekategorien) der Anteil der jeweiligen Nennungen an allen erfassten Codes in Pro-
zent sowohl für die Wegzugs- als auch für die Zuzugsgründe betrachtet.3 Bei den Fragen nach Wanderungsgründen waren Mehrfachnennungen möglich. Die hier dargestellten Anteile an allen Antworten summieren sich bei den 128 Codierkategorien auf 100 %, da sie sich auf die Nennungen und nicht auf die Befragten beziehen. Die Antworten aus den anderen Umfragen wurden zusammengefasst, um angeben zu können, in wie vielen davon ein KoBaLd-Code in gleicher oder ähnlicher Form abgefragt wurde. Die Ergebnisse werden numerisch in zwei Tabellen dargestellt. Zunächst enthält Tabelle 2 Wanderungsgründe, die in der KoBaLd-Befragung am häufigsten genannt wurden. Einige davon sind auch in den meisten der Umfragen enthalten, andere finden sich dort nur selten. Anschließend enthält Tabelle 3 Wanderungsgründe, die in den einbezogenen Umfragen oft abgefragt, von den KoBaLd-Befragten aber eher selten genannt wurden.
Tab. 2 Bedeutende Wanderungsgründe in der KoBaLd-Befragung (% an allen Nennungen)
Wohnumfeldbezogene Gründe (näheres und weiteres Umfeld)
(nicht) schön/attraktiv (inkl. Natur/Landschaft und Umweltqualitäten)
Sonstige Gründe
spielte keine (große) Rolle; Zufall/hat sich so ergeben
Unfreiwillige Wohnstandortentscheidung; am Wunschort nichts Passendes gefunden; ökonomische/finanzielle Gründe
Lesebeispiel: 4,6 % der Nennungen zu ausschlaggebenden Wegzugsgründen entfallen auf den Grund „Nähe zur Familie/zu Verwandten/zu Partner*in“.
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der KoBaLd-Befragung 2020
Tab. 3 Eher unbedeutende Wanderungsgründe in der KoBaLd-Befragung, die in anderen Umfragen häufig abgefragt werden (% an allen Nennungen)
KoBaLd-Befragung Häufigkeit in den 16 Umfragen Wegzugsgrund Zuzugsgrund
1,0 % der Nennungen zu ausschlaggebenden Zuzugsgründen entfallen auf den Grund „Nähe zu Ausbildungs-/Studienort“.
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der KoBaLd-Befragung 2020
Der Befragung des KoBaLd-Projekts zufolge haben persönliche Gründe eine große Bedeutung für Wanderungen. Bei den Zuzugsgründen ist es die am häufigsten genannte, unter den Wegzugsgründen die zweithäufigste der sieben Analysekategorien. In den Wanderungsmotivbefragungen, die in unsere Querauswertung eingeflossen sind, gehört in vielen Fällen die Nähe zu Verwandten und Freund*innen zu den angebotenen Antwortmöglichkeiten. Auch nach den Ergebnissen der KoBaLd-Befragung ist dies ein wesentlicher Wanderungsgrund. Ein näherer Blick auf die offen vorgebrachten Nennungen lässt uns jedoch anregen, grundsätzlich zwischen der Nähe zu Verwandten und der Nähe zu Freund*innen zu unterscheiden. Die beiden Gruppen werden von den KoBaLd-Befragten eher selten in einem Atemzug genannt. Insgesamt kommt die Nähe zur Familie deutlich häufiger zur Sprache – bei den Zuzugsgründen ist dies sogar die bedeutendste Codierkategorie von allen. Zudem scheint die jeweilige Relevanz von der Lebensphase und -situation abzuhängen. Weiterhin taucht in einem großen Teil der Befragungen ein vorheriger Bezug zum Zuzugsort bzw. zur Zuzugsregion unter den vorgegebenen Antworten auf. Dies wird durch die Resultate der KoBaLdBefragung ebenfalls bestätigt. Rückwanderungen in die Heimat, den Geburtsort oder eine Gegend, in der die Befragten oder ihr*e Partner*innen früher schon einmal gelebt haben, spielen als Gründe eine wichtige Rolle.
Eine mögliche Ergänzung der üblichen Antwortlisten stellen gesundheitliche Gründe dar, mit Blick auf die eigene Gesundheit, die eines Haushaltsmitglieds oder die der (Schwieger-)Eltern. Sie werden in der Befragung des KoBaLd-Projekts relativ häufig als Wegzugsgründe angeführt. Im Gegensatz dazu findet das Thema Gesundheit in den ausgewerteten Befragungen kaum Berücksichtigung. Es ergibt sich höchstens eine indirekte Verbindung zum Aspekt der barrierefreien oder altersgerechten Wohnung, die in einigen Befragungen zum festen Spektrum der Antworten gehört.
Die Angaben, die in der KoBaLd-Befragung als persönliche Gründe codiert wurden, verdeutlichen einen für Wan-
derungsentscheidungen bedeutsamen Punkt: Auf vielfältige Weise sind die befragten Personen und ihre Leben eng mit anderen Menschen verbunden (Coulter et al. 2016). Dies gilt zuallererst für Partner*innen und weitere Haushaltsmitglieder. So werden beispielsweise die Nähe zu Verwandten, die Nähe zu Freund*innen, der Bezug zum Ort bzw. zur Region oder gesundheitliche Gründe häufig über diese Menschen wirksam. Einmal mehr wird damit deutlich: Wanderungsentscheidungen gehen über Entscheidungen von Einzelpersonen hinaus. Es gehört zu den besonderen Herausforderungen von Wanderungsmotivbefragungen, diesem Umstand gerade in Individualbefragungen bei der Formulierung der Fragen und Antwortmöglichkeiten angemessen Rechnung zu tragen.
Aufgrund der Art und der Anzahl der Nennungen wurde bei der Befragung des KoBaLd-Projekts die Entscheidung getroffen, neben den persönlichen Gründen eine weitere Analysekategorie für Veränderungen der Haushaltskonstellation zu bilden. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die genannten Veränderungen eine hohe Bedeutung als Wegzugsgründe haben, während ihnen eine eher geringe Relevanz als Zuzugsgründe zukommt. Sie wirken somit in erster Linie als (antizipierter) Auslöser einer Wanderung. Die meisten Nennungen betreffen den Zusammenzug mit Partner*innen (inklusive Heirat), gefolgt von einer Trennung (inklusive Scheidung). Diese Befunde aus der KoBaLd-Befragung decken sich weitgehend mit der Verbreitung entsprechender Antwortoptionen in den Befragungen aus der vorgenommenen Querauswertung, in denen oft allgemein nach Haushaltsvergrößerung oder -verkleinerung gefragt wird. Weitere Haushaltsveränderungen (wie der Auszug aus dem Elternhaus oder die Geburt eines Kindes, die nur bestimmte Altersgruppen und Haushaltstypen betreffen) werden in den frei formulierten Ausführungen seltener explizit genannt, so dass eine Aufnahme in die zumeist ohnehin umfangreichen Antwortlisten der geschlossenen Abfragen nur bei einem spezifischen Erkenntnisinteresse gerechtfertigt erscheint.
Berufliche Gründe haben unter den sieben Analysekategorien in der KoBaLd-Befragung als Wegzugsgründe die häufigsten Nennungen, sie sind aber auch als Zuzugsgründe sehr bedeutsam. So ist der Berufseinstieg oder der Beginn einer neuen Arbeitsstelle ein wesentlicher Grund, sich vom vorherigen Wohnort zu verabschieden, während die Nähe zur Arbeitsstelle die Wahl des neuen Wohnorts maßgeblich beeinflusst. Beide Gründe werden auch in den meisten Umfragen aus der vorgenommenen Querauswertung erfasst. Dabei wird die Nähe zur Arbeitsstelle häufig mit der Nähe zum Ausbildungsort in einer Antwortoption zusammengefasst. Letzteres wird jedoch von den KoBaLd-Befragten eher selten als eigenständiger Wanderungsgrund angegeben. Auch handelt es sich hier um unterschiedliche Lebensphasen und -entscheidungen, so dass wir empfehlen, grundsätzlich zwischen den beiden Gründen zu unterscheiden. Unter den ausbildungsbezogenen Gründen erweist sich der Beginn der Ausbildung oder des Studiums als bedeutender Wanderungs- und insbesondere als Wegzugsgrund. Auch dieser gehört, zusammen mit der Aufnahme eines neuen Jobs und der Nähe zur Arbeitsstelle, zu den etablierten Kategorien in standardisierten Wanderungsmotivbefragungen und ist in den meisten Erhebungen aus der Querauswertung enthalten.
Wie bei den persönlichen Gründen, verdeutlichen auch die Nennungen der beruflichen Gründe, dass Wanderungsentscheidungen gemeinsam als Haushalt getroffen werden. Relativ häufig ist in der KoBaLd-Befragung der Beruf von Partner*innen oder anderen Haushaltsmitgliedern ein Wegzugs- bzw. Zuzugsgrund. In den anderen Umfragen wird dies jedoch kaum erfasst, wodurch die Bedeutung wichtiger Bezugspersonen in den Ergebnissen vernachlässigt wird (s. Kap. 3.2).
Bezüglich der wohnungsbezogenen Gründe zeigt unsere Querauswertung, dass es einen gesetzten Korpus an Antwortoptionen gibt, der in nahezu allen Befragungen vorkommt und auch in der offenen Abfrage des KoBaLd-Projekts in relevanter Anzahl genannt wird. Dies umfasst die Gründe Wohnkosten, Miet- oder Kaufpreis bzw. Preis-Leistungs-Verhältnis und Ausstattung der Wohnung bzw. des Hauses (beide vor allem als Zuzugsgründe), die Größe der Wohnung, des Hauses bzw. des Grundstücks sowie die Wohneigentumsbildung (die beiden letztgenannten als Wegzugsgründe). Zudem zeigt die KoBaLd-Befragung über den Code „Wohnung, Haus, Grundstück (nicht) gefunden“, dass die Frage der Verfügbarkeit einen relevanten Zuzugsgrund darstellt. Dies findet sich in den anderen Umfragen als Antwortoption nur selten (wobei es in mehreren der Befragungen weitere Fragen zur Wohnungssuche gab). Eine barrierefreie bzw. altersgerechte Ausstattung wird in vielen Befragungen erfasst, hat sich in der KoBaLdBefragung aber als selten explizit genannter Grund erwiesen. Mit Blick auf wohnumfeldbezogene Gründe wurde in der KoBaLd-Befragung vor allem die Attraktivität des Ortes oder der Gegend, einschließlich der umgebenden Landschaft, als Wanderungs- und dabei vor allem als Zuzugsgrund genannt. Diese etablierte Kategorie wird auch in 14 der durch die Querauswertung erfassten Studien erfragt. Andere typische Antwortoptionen aus den Umfragen nannten die KoBaLd-Befragten selten als ausschlaggebende Wanderungsgründe. Dazu zählt zum einen die Frage nach verschiedenen Infrastrukturangeboten wie Kindergarten/Schule oder ärztliche Versorgung (letztere
wurde aufgrund der geringen Nennungen nicht als eigene Kategorie codiert, sondern unter „Infrastruktur: gutes/vorhandenes bzw. schlechtes/fehlendes Angebot allgemein“ aufgenommen). Spezifische Infrastruktureinrichtungen stehen somit nicht im Mittelpunkt der Wanderungsentscheidung in eine bestimmte Gemeinde. Stattdessen werden mit Blick auf das nähere und weitere Wohnumfeld eher übergreifende Kategorien benannt, etwa die erwähnte Attraktivität der Gegend. Ähnliches gilt für die Abfragen nach der Sicherheit bzw. Kriminalität im Wohnumfeld (in der KoBaLd-Befragung unter weitere wohnumfeldbezogene Gründe enthalten) und nach dem sozialen Umfeld bzw. der Nachbarschaft, die in Umfragen oft enthalten sind, in der KoBaLd-Befragung aber kaum erwähnt wurden. Somit ist bei Befragungen, in denen die Bedeutung eines „sicheren“ Wohnumfelds oder einer „guten“ Nachbarschaft hohe Zustimmungswerte erhalten, kritisch zu hinterfragen, inwiefern deren Vorhandensein als Antwortoption sowie deren wertende, konkret: positiv konnotierte, Formulierungen zur Zustimmung einladen und somit die Antwortmuster beeinflussen.
Die Analyse der sonstigen Gründe in der KoBaLd-Befragung zeigt, dass Wanderungsentscheidungen von Unwägbarkeiten und Zufällen mitbestimmt werden, wie die hohe Bedeutung der Gründe „Zufall“ und „Ort spielte keine (große) Rolle“ belegt. In den weiteren Befragungen finden sich solche Gründe nur zweimal, so dass hier von einer Leerstelle in der Wanderungsforschung gesprochen werden kann. Auch die angenommenen Freiheitsgrade in der Entscheidung sind oft kleiner, als viele Antwortvorgaben implizieren, wie die Bedeutung der Codierkategorien „unfreiwillige Entscheidung“, „nichts Passendes gefunden“ und „ökonomische/finanzielle Gründe“ zeigt. Diese drei finden sich in unterschiedlichen Formulierungen häufiger (in neun der 16 Befragungen), hauptsächlich bezogen auf ein befristetes Mietverhältnis oder eine Kündigung durch Vermieter*innen.
Zudem benennen die anderen betrachteten Erhebungen auch Gründe, die auf ein spezifisches Befragungsthema und einen konkreten räumlichen Kontext zugeschnitten sind. Dies schließt beispielsweise wohnungsbezogene Gründe wie Keller oder kindergerechte Wohnung ein. In Einzelfällen wird die Infrastrukturausstattung sehr spezifisch abgefragt (etwa Angebote an sozialer Beratung oder Betreuung, Angebote für ausländische Mitbürger*innen), andere fokussieren auf die mit einem Hausbau verbundenen Aspekte. Generell können solche Antwortvorgaben in Befragungen integriert werden, die Aufnahme in die zumeist ohnehin umfangreiche Itembatterie sollte jedoch zu einem spezifischen Erkenntnisgewinn beitragen. Dies kann durch einen Pretest vorab geprüft werden. Wir vermuten, dass solch spezifische Abfragen durch das Angebot des Items diesem eine höhere Bedeutung zuweisen als eigentlich vorhanden. So geben Befragte einen Grund an, den sie bei einer offenen Befragung nicht genannt hätten – und jedes der hier erwähnten Beispiele wurde in der offenen KoBaLdBefragung nur in Ausnahmefällen von den Befragten selbst angeführt. Zudem sollten diese Gründe eindeutig formuliert sein: Eine Formulierung wie „kindergerechte“ Wohnung wird von Befragten möglicherweise sehr unterschiedlich gedeutet. Auch Fachvokabeln, wie eine „aufgelockerte Wohnbebauung“ (in diesem Fall ein Begriff aus der Planung), könnten subjektiv anders als in der Fachsprache interpretiert werden.
Schlussfolgerungen für die Umfragepraxis und die Wanderungs(motiv)forschung
Die Auswahl und Formulierung vorgegebener Antworten ist ein wesentlicher Schritt in der Konzeption von Befragungen. Dieser Beitrag hat verschiedene Wanderungsmotivbefragungen mit geschlossenen Fragen der 2020 bundesweit durchgeführten KoBaLd-Befragung, die Wanderungsgründe offen abfragte, gegenübergestellt. Vor dem Hintergrund eines stetigen gesellschaftlichen Wandels, sich ändernden Wohnstandortpräferenzen, aber auch Veränderungen auf den Wohnungsmärkten plädieren wir für eine regelmäßige Validierung von Antworten in Itembatterien durch die offene Abfrage von Wegzugs- und Zuzugsgründen.
Die durch die KoBaLd-Befragung erfassten Erkenntnisse können zu einer solchen Diskussion um die Relevanz einzelner Antwortitems beitragen. In unserer Analyse wurden zum einen etablierte Antwortoptionen, die durch die offene Abfrage in der KoBaLd-Befragung bestätigt werden konnten, erkennbar (insbesondere Gründe, die mit Lebenslaufereignissen zusammenhängen, sowie materielle Kriterien in Bezug auf die Immobilie). Zum anderen präsentierten wir Items, die in bisherigen Umfragen nur selten aufgenommen wurden und zusätzliches Erkenntnispotenzial für künftige Erhebungen bieten könnten (vor allem Gründe, die den Haushaltskontext und die sozialen Beziehungen angemessen berücksichtigen), sowie Antwortoptionen, die eher für Befragungen mit spezifischem Erkenntnisinteresse geeignet sind (unter anderem die Abfrage spezifischer Infrastruktureinrichtungen).
Diesen Befunden liegen bestimmte Muster von Wanderungsentscheidungen zugrunde, die die Relevanzsetzung bei den Wanderungsgründen bestimmen. So stehen bei den Abwägungen im Rahmen von Wohnstandortentscheidungen über Gemeindegrenzen – anders als bei innergemeindlichen bzw. innerstädtischen Umzügen – persönliche Beziehungen und Verbindungen sowie berufliche Angebote stärker im Fokus als die Ausstattung der Immobilie und vor allem konkrete Anforderungen an das Wohnumfeld. Zudem sind die Entscheidungen durch Restriktionen wie die Verfügbarkeit von Wohnraum oder die finanziellen Ressourcen des Haushalts beeinflusst. Vor diesem Hintergrund steht die weitreichende Umsetzung von Wohnwünschen etwa in Bezug auf das Wohnumfeld häufig nicht im Mittelpunkt der Wanderungsentscheidung. Stattdessen orientieren sich die Entscheidungen eher an groben Motiven im Sinne von übergreifenden persönlichen
Zielvorstellungen (wie Eigentumsbildung, Familienerweiterung usw.). Die wohnumfeldbezogenen Details wirken dann entweder als emotionaler Faktor bei der Entscheidung zwischen mehreren Immobilienangeboten oder rücken in den Hintergrund. Dies wird gerade in den kurzen Erzählungen, die mit der offenen Abfrage im KoBaLd-Projekt generiert wurden, deutlich. Merkmale des Wohnumfelds werden eher durch übergreifende Kategorien wie die Attraktivität der Gegend, inklusive der Landschaft, oder durch den Wunsch nach einem bestimmten Raumtyp und die damit verbundenen Möglichkeiten oder das Lebensgefühl zum Ausdruck gebracht, während konkrete Infrastrukturangebote dagegen selten benannt werden. Eine Reduktion der Bandbreite geschlossener Antwortkategorien entlang der von uns skizzierten Schwerpunkte könnte einerseits zu einer größeren Vergleichbarkeit zwischen einzelnen Erhebungen und andererseits zu einer Fokussierung auf die wesentlichen Wanderungsgründe beitragen.
Förderhinweis
Das Forschungsprojekt KoBaLd (Vom Kommen, Gehen und Bleiben. Wanderungsgeschehen und Wohnstandortentscheidungen aus der Perspektive ländlicher Räume) wurde von August 2018 bis Oktober 2022 durch das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung (BULE) des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert (Förderkennzeichen 2818LE005 bzw. 2818LE006).
1 Hierbei handelt es sich um zwei nicht ganz deckungsgleiche Begriffe, die in den Untersuchungen und den daraus resultierenden Veröffentlichungen häufig aber synonym verwendet werden.
2 Die Zuordnung der Raumtypen erfolgte entsprechend der ThünenTypologie ländlicher Räume (Küpper 2016), die zwischen ländlichen und nicht-ländlichen Raumkategorien unterscheidet. Zur Verbesserung der Lesbarkeit wurden die Wanderungstypen mit den kürzeren Begriffen „Stadt“ für nicht-ländlich und „Land“ für ländlich gekennzeichnet. Weitere Informationen zur im KoBaLd-Projekt verwendeten Methodik finden sich in Steinführer u. Osterhage (2024, im Erscheinen).
3. Unterschiede bei den Werten im Vergleich zum zusammenfassenden Projektbericht (Steinführer u. Osterhage 2024, im Erscheinen) ergeben sich aus der Entscheidung, dort die Prozentangaben nicht (wie hier) auf den Anteil an allen Antworten zu beziehen, sondern auf den Anteil der Befragten, die einen Grund genannt haben. In beiden Fällen sind die Werte gewichtet und somit repräsentativ für alle Binnenwanderungsfälle in Deutschland zwischen Mitte 2015 und Mitte 2020.
Stadtforschung
Literatur
(a) Zitierte Fachliteratur
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Christian Gerten, Stefan Fina
Suburban und autoabhängig?
Neue
Ansätze zur Ausweisung städtebaulicher
Sanierungsgebiete für die Mobilitätswende
Die Mobilitätswende in Deutschland stößt vor allem bei Pendelnden in den Umlandkommunen deutscher Stadtregionen auf Widerstand. Eine siedlungsstrukturelle Autoabhängigkeit kann in einer alternden Gesellschaft allerdings zum Standortrisiko für soziale Teilhabe werden. Der Beitrag demonstriert am Beispiel der Stadtregion Freiburg, dass nachhaltige Stadtentwicklungsprojekte eine Verlagerung von Verkehrsströmen in Wohnlagen mit geringer Ausstattungsqualität für eine aktive Alltagsmobilität nach sich ziehen können. Eine neue Raumanalyse zeigt stadtregionalen Handlungsbedarf auf, indem Analyseansätze aus der WalkabilityForschung mit neuen Datenpotenzialen der altersdifferenzierten Bevölkerungsprognose erweitert werden, um städtebaulichen Sanierungsbedarf für die Walkability zu identifizieren.
Fußgängerzone für Autos öffnen!
Dr. Christian Gerten ist Raumplaner und seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Postdoktorand im Bereich Geoinformation und Monitoring am ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH Dortmund. : christian.gerten@ils-forschung.de
Dr. Stefan Fina ist Professor für klimaneutrale Stadtentwicklung an der Technischen Hochschule Augsburg. Bis 2022 leitete er den Bereich Geoinformation und Monitoring am ILS – Institut für Landesund Stadtentwicklungsforschung gGmbH Dortmund. : stefan.fina@tha.de
So oder ähnlich lauteten politische Wahlkampagnen um Mandate für das Europaparlament im Juni 2024. Entsprechend aufgeladen werden in Medien und ihren Resonanzräumen die modernen Debatten um automobile Bewegungsformen und ihre Antriebstechnologien geführt. Die Regulierung der Zugänglichkeit und Flächennutzung von Verkehrs- und Mobilitätsräumen wird für Stadt- und Verkehrsplanende so zum Politikum. Kommentare zu den Wahlergebnissen der Landtagswahl in Berlin 2023 legen nahe, dass dieses Thema die Raumentwicklung der nächsten Jahre mitprägen wird. In Umlandkommunen mit hohen Pendelquoten verfangen Wahlkampagnen für eine autogerechte Zugänglichkeit von Stadträumen offensichtlich deutlich mehr, als in Innenstadtbezirken, in denen die Lebensqualität von einer auto- und emissionsarmen Mobilitätsregulierung profitiert (Die Zeit 2023). Besonders während der CoronaPandemie und der daraus resultierenden Wiederentdeckung des Stadtquartiers durch die Bevölkerung, gewannen neue urbane Konzepte wie die „15-Minuten-Stadt“ (Moreno 2024) in Wissenschaft und Planungspraxis an Bedeutung. Doch es gibt auch immer kritische Stimmen, die derartige Konzepte hinterfragen und den negativen Impact herausstellen. Unter dem Begriff des „Cityism“ wird der Wissenschaft mitunter eine unausgewogene Beforschung von Leuchtturmprojekten der innerstädtischen Mobilitätswende unterstellt (Mössner et al. 2018). So können autoreduzierte Entwicklungskonzepte zwar die Verkehrssituation in den Städten verbessern und die Lebensqualität durch weniger Lärm und Abgase erhöhen, führen aber oft zu einer Verlagerung von Verkehr und Bevölkerung ins Umland. Dies kann dann unter anderem zu steigenden Pendelquoten, erhöhtem Verkehrsaufkommen im Umland, Zersiedelung und steigenden Infrastrukturkosten führen. Daher ist es auch Aufgabe der Wissenschaft, diese Konzepte kritisch zu hinterfragen: Bewirken sie womöglich neue Formen der Segregation und Gentrifizierung in Deutschland, mit Bruchlinien entlang von Mobilitätspräferenzen und Wohnstandortwahl? Blockieren autoaffine Lebensstile von Menschen, die während der Wirtschaftswunderjahre der Nachkriegszeit zur Automobilnation sozialisiert wurden, die Dekarbonisierung des Verkehrssektors? Und gibt es räumliche Datenmodelle, mit denen sich derartige Fragestellungen untersuchen lassen?
Die nachfolgenden Ausführungen versuchen mit einem neuen Ansatz aus der Walkability-Forschung an diesen Fragestellungen anzuknüpfen.
Abb. 1 Walkability-Werte für die Kommunen in der Stadtregion Freiburg und in den Stadtteilen.
Quelle: eigene Darstellung, Datenquelle: OpenStreetMap
Sind sozialökologische Stadtentwicklungsmodelle zu radikal?
„City of Wellbeing: A Radical Guide to Urban Planning“ lautete der Titel eines internationalen Bestsellers der Stadtplanung aus dem Jahr 2016. Das Buch beschreibt mit Anwendungsbeispielen, wie die sozialökologische Prämisse einer Stadtentwicklung gelingen kann, die den Aktionsraum von Menschen zum Maßstab der funktionalen Vernetzung von Stadtstrukturen erhebt. Der Autor Hugh Barton nutzt unter anderem Stadtentwicklungen in Freiburg im Breisgau als Musterbeispiele für nachhaltige Stadtentwicklung. Auf ehemaligen militärischen Konversionsflächen wurden zu Beginn des Jahrtausends z. B. in den Stadtteilen Vauban und Rieselfeld nachbarschaftszentrierte Mischnutzungen umgesetzt, um der Bevölkerung eine nahräumliche Alltagsversorgung zu ermöglichen (Barton 2016).
Die städtebaulichen und sozialräumlichen Ausstattungsmerkmale entsprechender Stadtentwicklungskonzepte lassen sich mittlerweile gut mit Methoden der Raumanalyse und Konzepten der Walkability-Forschung analysieren. Abbildung 1 zeigt in diesem Zusammenhang die Ausprägung des Index auf einer Skala von sehr autoabhängig (0) bis sehr fußgängerfreundlich (100) in Freiburger Stadtteilen und Umlandkommunen – mit vergleichsweise hohen Werten für Vauban und Rieselfeld. Die entsprechende Operationalisierung der Fußgängerfreundlichkeit sowie die methodischen Spezifikationen des Tools werden im nächsten Abschnitt erläutert. Erwartungsgemäß zeigt die Übersichtskarte ein stadtregionales Gefälle der Fußgängerfreundlichkeit von Innenstadtbezirken gegenüber den Umlandkommunen. Die vorliegenden Daten lassen jedoch keine direkten Rückschlüsse auf eine ausgeprägte Autoabhängigkeit oder das Vorliegen von Mobilitätsarmut in den schlechter bewerteten Gebieten zu. Beispielsweise können ein gut ausgebautes Radwegenetz in Kombination mit einem qualitativ hochwertigem ÖPNV-Angebot diese Ausstattungsdefizite bis zu einem gewissen Grad kompensieren. Die Messmethodik zeigt dabei, dass sie die siedlungsstrukturellen Qualitäten für die Alltagsmobilität zu Fuß gut bewerten kann. Sie ist in der Lage, städtebauliche Möglichkeitsräume für eine nachhaltige Mobilität aufzuzeigen (Schmitz et al. 2023). Inwiefern sie allerdings auf eine humanökologische MenschUmwelt-Passung trifft, das heißt, inwiefern Einwohnende und Besuchende diese Strukturen im Alltag tatsächlich nutzen können und wollen, ist eine Frage des eingangs beschriebenen Lebensstils und einer womöglich damit verbundenen Werteorientierung. Einblicke in die Mobilitätspraxis älterer Menschen auf dem Land (Wilde 2014) und Studien zu siedlungsstrukturellen Einflussfaktoren in Gemeinden der Region Stuttgart (Siedentop et al. 2013) verweisen auf den Einfluss subjektiver Präferenzen auf die Verkehrsmittelwahl.
Stadtregionale Rebound-Effekte einer innerstädtischen Mobilitätswende Zusammenhänge zwischen einer autoreduzierten Stadtentwicklung in Innenstadtbezirken und der Folgewirkung einer stadtregionalen Verlagerung des Autoverkehrs in Umlandbezirke wurden z.B. bei der Einführung der City-Maut in Lon-
don und Stockholm sehr deutlich nachgewiesen (Metz 2018). Hinweise auf einen weniger disruptiven, aber doch deutlichen Folgeeffekt für Freiburg im Breisgau geben Mössner et al. (2018) in der Untersuchung „Die Grenzen der Green City“ zur Siedlungstätigkeit in Freiburger Umlandkommunen. Sie stellen einen direkten Zusammenhang zwischen den Nachhaltigkeitszielen der strategischen Siedlungsentwicklung in der Kernstadt Freiburg (vgl. Haag u. Köhler 2012) und den Zuwächsen an suburbanen Siedlungsflächen mit hoher Autoabhängigkeit im Freiburger Umland her (Mössner et al. 2018, S. 5). Dieser Zusammenhang lässt sich auch aus Abbildung 2 erschließen, die in einer kombinierten Darstellung zwei Indikatoren auf Ebene der Verbandsgemeinden wiedergibt: die Veränderung des Wanderungssaldos (2002 bis 2017) und die Veränderung der Auspendelzahlen in die Kernstadt Freiburg (2002 bis 2017). So sind besonders die Räume im Kontext stadtregionaler Rebound-Effekte interessant, die in den vergangenen Jahrzehnten einen enormen Zuwachs an Auspendelnden in die Kernstadt erfahren haben und gleichzeitig stark an Bevölkerung durch Wanderungsbewegungen gewonnen haben. Das sind vor allem die Verbandsgemeinden im Norden/ Nordwesten, wie Nördlicher Kaiserstuhl oder Ettenheim.
Die Autoren stellen diesbezüglich die Anschlussfrage, inwiefern eine ressourcenschonende Siedlungsentwicklung in deutschen Großstädten durch stadtregionale Folgewirkungen konterkariert wird. Im Moment drückt sich dies durch ansteigende Pendelquoten aus. Mit der Alterung autoaffiner Beschäftigter und einer fortschreitenden sozialökologischen Transformation könnte sich die Bedarfslage aber ändern. Wie sehen Alltagsversorgung und soziale Teilhabe für Menschen im fortgeschrittenen Rentenalter aus? Oder, abgeleitet von Allen und Farber (2020): Werden autoabhängige suburbane Wohnstandorte mit einer Konzentration älterer Menschen zum Sanierungsfall für eine städtebauliche und sozialräumliche Resilienz gegenüber Mobilitätsarmut und sozialer Isolation? Mit der Identifizierung von Walkability-Sanierungsgebieten bietet der folgende Ansatz eine Möglichkeit, auf diese negativen Entwicklungen zu reagieren.
Resiliente Stadtstrukturen sind fußgängerfreundlich!
Um Aussagen darüber zu treffen, inwieweit Bereiche innerhalb der Stadtregion nachhaltig und fußgängerfreundlich gestaltet sind, können multikriterielle Auswertungen von Geodaten und raumbezogenen Statistiken herangezogen werden. Walkability-Tools setzen genau an dieser Stelle an: Sie bewerten und messen die Fußgängerfreundlichkeit in kleinräumigen Untersuchungseinheiten und bieten Planenden und politischen Akteurinnen und Akteuren eine Informationsgrundlage für mögliche Interventionen. Durch technologische Innovationen sind in den letzten Jahren neue methodische Optionen entstanden, um diesem Anspruch nachzukommen. Allerdings bieten diese aktuell kaum die Möglichkeiten, nutzer- bzw. altersspezifische Analysen durchzuführen. Besonders im Kontext des demografischen Wandels wird die Betrachtung der älteren sowie mobilitätseingeschränkten (und insofern vulnerableren) Bevölkerungsgruppen an Bedeutung gewinnen. Für diese Ana -
Abb. 2 Wanderungsgeschehen und Pendlerverkehr in der Stadtregion Freiburg.
Quelle: eigene Darstellung
Datenquelle: INKAR, Monitoring StadtRegionen
lyse wird daher das OS-WALK-EU (Open-Source Walkability Tool for European Union Member States) verwendet, welches die Berechnung der Walkability auf Basis von Open Source und Open Data ermöglicht (Fina et al. 2022b). Dieses GIS-basierte Tool analysiert die Distanz zu wichtigen Einrichtungen des täglichen Bedarfs, die Nähe zu Grün- und Freiflächen sowie die Durchlässigkeit des Fußwegenetzes und die Topografie des Wohnumfeldes. Die altersspezifische Anpassung gewichtet die fußläufige Erreichbarkeit von Einrichtungen höher, die von älteren Menschen häufiger aufgesucht werden. Der Untersuchungsraum für die in Abbildung 3 gezeigte Pilotanwendung umfasst die Stadtregion Freiburg. Die Abgrenzung wurde aus dem am ILS Dortmund entwickelten „Monitoring StadtRegionen“ übernommen (Fina et al. 2022a). Die Abgrenzungsmethodik definiert eine Kernstadt anhand ihrer Einwohner- und Beschäftigtenzahlen und grenzt das dazugehörige Umland durch Pkw-Fahrzeiten ab. Die Größe des Umlands ist daher von der Bedeutung der Kernstadt abhängig. Neben der Kernstadt Freiburg im Breisgau umfasst diese Analyse daher 75 weitere Gemeinden. Die Abbildung stellt das Ergebnis der WalkabilityBerechnung auf einem 500 × 500 m-Raster für die Altersgruppe der über 65-Jährigen für die Stadtregion Freiburg dar. Erwartungsgemäß sind die Walkability-Werte für die Kernstadt
Freiburg und die umliegenden Gemeinden vergleichsweise hoch, während besonders in den peripher gelegenen Teilen der Stadtregion Zellen mit einer sehr geringen Walkability liegen. Gründe hierfür liegen vor allem in der Ausstattung mit Einrichtungen des täglichen und periodischen Bedarfs, die in den urbaneren Bereichen häufig deutlich besser ist. Besonders in den ländlich geprägten Gemeinden findet sich häufig nur eine Grundausstattung, die fußläufig erreicht werden kann. Über die Grundausstattung hinausgehende Versorgungseinrichtungen sind weiter entfernt und können daher nur mit anderen Verkehrsoptionen – meistens dem Auto – aufgesucht werden. Besonders für ältere Menschen ist daher eine gute Walkability zur Sicherung der Selbstbestimmtheit und sozialen Teilhabe elementar. Aufgrund einer immer älter werdenden Gesellschaft nimmt dahingehend die Bedeutung von fußgängerfreundlich gestaltet und nachhaltig geplanten Stadtquartieren zu. Grundsätzlich sind aber nicht alle schlecht bewerteten Bereiche in der Stadtregion Problemfälle. Zu städtebaulichen Sanierungsfällen werden diese Bereiche erst, wenn sie tatsächlich von einer alternden Bevölkerung bewohnt werden. Die nachfolgenden Auswertungen zeigen eine neue datenanalytische Option, um die Auswertung der Walkability mit Informationen aus Bevölkerungsprognosen anzureichern.
Altersdifferenzierte
Bevölkerungsprognosen und die Ausweisung von WalkabilitySanierungsgebieten
Bevölkerungsprognosen für die Stadtregion Freiburg im Breisgau zeigen, dass die Bevölkerung langfristig abnimmt und älter wird. Es wird angenommen, dass der Anteil der über 65-Jährigen von 2021 (14,7 Prozent) bis 2050 (27,7 Prozent) um 13 Prozentpunkte zunehmen wird. Grundlage für diese Annahme ist ein Datensatz des RWI (2017), der kleinräumige Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur bis 2050 prognostiziert. Abbildung 4 stellt die Veränderung des Anteils der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung von 2021 bis 2050 kleinräumig in einem 500 × 500 m-Raster dar. Um statistische Ausreißer zu vermeiden, wurden für die Analyse allerdings nur Rasterzellen mit mindestens 50 Einwohnenden berücksichtigt. Für die gesamte Stadtregion ist laut der Prognose ein Zuwachs der über 65-Jährigen zu erwarten, der lokal jedoch unterschiedlich ausfällt. Bei der Betrachtung der Rasterzellen mit dem höchsten Zuwachs an Prozentpunkten lassen sich größere Cluster in der Kernstadt Freiburg sowie in Gemeinden im Nord- und Südwesten der Stadtregion erkennen.
Ausgehend von der prognostizierten Entwicklung stellt sich die Frage, wo eine alternde Bevölkerung auf eine unterdurchschnittliche infrastrukturelle Ausstattungsqualität für die aktive Nahmobilität trifft. Verbesserungen fußgängerfreundlicher und nachhaltiger Stadtstrukturen sind besonders in den Bereichen angezeigt, die aufgrund demografischer Veränderungen Risiken der Mobilitätsarmut und sozialräumlicher Exklusion ausgesetzt sind. Die eingangs erwähnten Sanierungsgebiete für die Walkability werden für die Stadtregion Freiburg nach einem von den Autoren in einem stadtregional vergleichenden Verfahren identifiziert: Rasterzellen, die (1) im oberen Quartil der prognostizierten Überalterung und (2) im unteren Quartil der altersspezifischen Walkability klassifiziert sind. Abbildung 5 zeigt die Verknüpfung dieser Informationen mit den Walkability-Bewertungen aus Abbildung 3. Dabei werden exemplarisch Schwellenwerte für eine kombinierte Betroffenheit städtebaulicher Defizitlagen (Walkability-Wert kleiner 40) und hoher Konzentrationen von Menschen im Ruhestandsalter (> 10 Prozentpunkte) gesetzt. So können aus der Datenanalyse Wohnlagen identifiziert werden, die eine nähere empirische Überprüfung der Vor-Ort-Situation nahelegen. Diese erste, durchaus als explorativ zu bezeichnende Analyse,
Abb. 3 Altersspezifische Walkability-Werte der über 65-Jährigen für die Stadtregion Freiburg (berechnet auf einem 500 × 500 m-Raster).
Quelle: eigene Darstellung, Datenquelle: OpenStreetMap
liefert folgende Zahlen: Im Jahr 2050 werden rund 4,2 Prozent der über 65-Jährigen (in absoluten Zahlen: 7.334 von 176.092 Einwohnenden) in der Stadtregion Freiburg in fußläufig stark unterdurchschnittlich erschlossenen Gebieten leben. Eine vertiefende planerische Überprüfung städtebaulicher Sanierungsbedarfe wird für Umlandkommunen der Rheintalebene und einzelne Schwarzwaldgemeinden empfohlen. Auffällige Gemeinden sind hier Mahlberg (685 Einwohnende), Neuenburg am Rhein (557 Einwohnende) und Breisach am Rhein (455 Einwohnende). In der Stadt Forchheim werden 2050 über die Hälfte der über 65-Jährigen in Bereichen leben, für die niedrige Walkability-Werte berechnet wurden. Tatsächlich zeigen auch Stadtteile am westlichen und nördlichen Rand Freiburgs mit ca. 1.147 Einwohnenden niedrige Werte (u. a. Tiengen mit 411 Einwohnenden bzw. 41 Prozent, Opfingen mit 270 Einwohnenden bzw. 19,9 Prozent oder Waltershofen mit 196 Einwohnenden bzw. 28,8 Prozent). Allerdings sind die hier identifizierten Sanierungsgebiete nicht alle gleichmäßig von der erwähnten Problematik der Mobilitätsarmut betroffen: Die in Abbildung 5 vergrößerten Bereiche aus der Verbandsgemeinde Nördlicher Kaiserstuhl (A) und Ettenheim (B) unterliegen unterschiedlichen Grundvoraussetzungen. Während der Ausschnitt A einen
stark isolierten Wohnbereich darstellt, zeigt Ausschnitt B ein integriertes Siedlungsgebiet mit direkter Anbindung an den schienengebundenen Verkehr. Letztere kann zwar die Defizite im Bereich der Fußgängerfreundlichkeit und nahräumlichen Versorgung nicht vollumfänglich ausgleichen, bietet allerdings Chancen für eine soziale Teilhabe. Bei einem Vergleich der hier identifizierten Sanierungsgebiete für die Mobilitätswende mit denen in Mössner et al. (2018) dargestellten Entwicklungsschwerpunkten für die Wohnbauflächen entlang der Verkehrsachse A5 werden Gemeinsamkeiten sichtbar. Hier stellt sich die Frage, inwieweit bei regionalplanerischen Festsetzungen die hier angeschnittenen Aspekte einer altersspezifischen Walkability berücksichtigt werden.
Wissensinfrastrukturen für die Stadtforschung
Die dargestellte Methode zeigt in einer pilothaften Anwendung für die Stadtregion Freiburg, wie die analytischen Möglichkeiten der Walkability-Forschung mit altersdifferenzierten Bevölkerungsprognosen kombiniert werden können. Eine kritische Ergebnisinterpretation muss darauf hinweisen, dass
Abb. 4 Prognostizierte Veränderung des Anteils der über 65-Jährigen von 2021 bis 2050 (in Prozentpunkten).
Quelle: eigene Darstellung, Datenquelle: RWI (2017)
Abb. 5 Potenzielle Sanierungsgebiete für die Walkability in der Stadtregion Freiburg.
Quelle: eigene Darstellung, Datenquelle: OpenStreetMap, RWI (2017)
eine Überprüfung mit vertiefenden Sozialraumdaten und empirischen Befunden zu qualitativ erhobenem Handlungsbedarf notwendig ist. Die vorliegende Analyse kann dabei helfen, entsprechende Risikogebiete für einen vertiefenden Aufbau von Wissensinfrastrukturen zu erkennen. Im Umkehrschluss kann allerdings nach dem derzeitigen Wissensstand nicht garantiert werden, dass aufkommende Problemlagen ausschließlich in den kartierten Zellen auftreten. Die Erschließung von Datenpotenzialen und Methoden zur Kombination sozialräumlicher Bedarfsprognosen und stadtfunktionaler Ausstattungsmerkmale leisten einen Beitrag zur Breitenwirkung nachhaltiger Stadtentwicklungskonzepte. Die klimaneutrale Dekarbonisierung des Verkehrssektors kann insbesondere für autoabhängige Wohnlagen mit einer alternden Bevölkerung zum Standortnachteil werden. Der Umstieg auf Elektromobilität mag für viele ökonomisch gut ausgestattete Haushalte die naheliegendste Anpassungsoption sein. Studien zur Mobilitätsarmut weisen allerdings darauf hin, dass insbesondere in suburbanen Lagen die soziale Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben leiden (Allen u. Farber 2020). Die Erschließung mit Verkehrsmitteln des öffentlichen Nahverkehrs ist dabei kritisch zu betrachten: Sie ist zwar generell eine Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge und ermöglicht Mobilität für alle Gesellschaftsschichten. Die Akzeptanz variiert mit der Qualität des Verkehrsmittels (Bus, Straßenbahn, S-Bahn) und der damit verbundenen Bedienungshäufigkeit und Vernetzung. Die Erreichbarkeit von Haltestellen darf daher nicht darüber
hinwegtäuschen, dass nachhaltige und lebenswerte Quartiere multimodale Verkehrsangebote mit einer hochwertigen Fuß- und Radwegeinfrastruktur benötigen. Städtebauliche Möglichkeitsräume für eine aktive Alltagsmobilität bieten insbesondere auch für ältere Menschen einen gesundheitsfördernden Mehrwert. Sie bieten Gelegenheitsstrukturen für Begegnungen, stärken das soziale Miteinander und profitieren von einer integrierten Stadt- und Quartiersgestaltung (Rottmann u. Mielck 2014). Konzepte wie die 15-Minuten-Stadt oder die Stadt der kurzen Wege sollten nicht nur in Großstädten Anklang finden, sondern in angepasster Form auch für die ländlichen Räume in Betracht gezogen werden (Siedentop u. Gerten 2023). Die diesbezüglich vielbeachteten Fortschritte in der Mobilitätswende in Städten wie Paris, Mailand, Portland oder Melbourne (Gerten u. Fina 2023; Moreno 2024), aber auch in der nachhaltigen Quartiersentwicklung in den Stadtteilen Vauban und Rieselfeld in Freiburg, bergen die Gefahr einer Verlagerung und Konzentration autoaffiner Lebensstile in das stadtregionale Umland. Die hier vorgestellte Methodentriangulation aus der Walkability-Forschung und der kleinräumigen demografischen Prognose hat das Potenzial, „blinde Flecken“ der Verkehrs- und Mobilitätswende zu identifizieren und einem planerischen Handeln zuzuführen. So könnten z.B. Mittel der Städtebauförderung gezielt eingesetzt werden, um städtebauliche Sanierungsgebiete auch bzgl. der Walkability von Stadtstrukturen zu verbessern. Die vorliegenden Auswertungen zeigen einen methodischen Weg hierfür auf.
Literatur
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Fina, Stefan; Fleischer, Janne; Gerten, Christian; Heider, Bastian; Rönsch, Jutta; Scholz, Benjamin et al. (2022a): Monitoring StadtRegionen: Kenngrößen resilienter Stadtentwicklung im Zeichen von Krisen und Anpassungsdruck. In: Schmidt-Lauber, Brigitta; Othengrafen, Frank; Pohlan, Jörg; Wehrhahn, Rainer (Hrsg.): Jahrbuch StadtRegion 2021/2022. Wiesbaden. Fina, Stefan; Gerten, Christian; Pondi, Brian; D'Arcy, Lorraine; O'Reilly, Niamh; Vale, David Sousa et al. (2022b): OS-WALK-EU: An opensource tool to assess health-promoting residential walkability of European city structures. In: Journal of Transport & Health, 27, S. 101486. DOI: 10.1016/j.jth.2022.101486.
Gerten, Christian; Fina, Stefan (2023): Scrutinizing the buzzwords in the mobility transition. The 15-minute-city, the one-hour metropolis, and the vicious cycle of car dependency. In:
Projections, 16 2023. Online verfügbar unter https://projections.pubpub.org/pub/g7vtbyns/release/1, zuletzt geprüft am 26.05.2023. Haag, Martin; Köhler, Babette (2012): Freiburg im Breisgau - nachhaltige Stadtentwicklung mit Tradition und Zukunft. In: Informationen zur Raumentwicklung, 5/6, S. 243–256.
Laufende Raumbeobachtung des BBSR – INKAR, Ausgabe 03/2024. Hrsg.: Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), Bonn (https://www.inkar.de/)
Metz, David (2018): Tackling urban traffic congestion: The experience of London, Stockholm and Singapore. In: Case Studies on Transport Policy, 6, 4, S. 494-498. DOI: 10.1016/j. cstp.2018.06.002.
Moreno, Carlos (2024): The 15-minute city. A solution to saving our time and our planet. Hoboken, New Jersey.
Mössner, Samuel; Freytag, Tim; Miller Byron (2018): Die Grenzen der Green City. Die Stadt Freiburg und ihr Umland auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung? In: Planung neu denken (1), S. 1–8. Online verfügbar unter http://www.planung-neu-denken.de/, zuletzt geprüft am 24.01.2018.
Rottmann, Miriam; Mielck, Andreas (2014): ‚Walkability‘ und körperliche Aktivität. Stand der empirischen Forschung auf Basis der ‚Neigh-
bourhood Environment Walkability Scale (NEWS)‘. In: Das Gesundheitswesen, 76, 2, S. 108–115.
RWI (2017): Population Forecast. Unter Mitarbeit von Matthias Kaeding, Philipp Breidenbach und FDZ-Ruhr am RWI.
Schmitz, Julian; Fina, Stefan; Gerten, Christian (2023): Wie fußgängerfreundlich sind deutsche Großstädte? Neue Ergebnisse aus der Walkability-Forschung. In: Raumforschung und Raumordnung, 81, 4. DOI: 10.14512/ rur.1664.
Siedentop, Stefan; Roos, Sebastian; Fina, Stefan (2013): Ist die „Autoabhängigkeit" städtischer Siedlungsgebiete messbar? Entwicklung und Anwendung eines Indikatorenkonzepts in der Region Stuttgart. In: Raumforschung und Raumordnung, 71, 4, S. 329–341.
Siedentop, Stefan; Gerten, Christian (2023): Von der „15-Minuten-Stadt“ zum „30-MinutenLand“. Die Reduzierung der Autoabhängigkeit muss auch abseits der Städte ein Anliegen sein. In: ILS-Impulse 03/23. Online verfügbar unter https://www.ils-forschung.de/files_publikationen/pdfs/ils-impulse_03-23.pdf
Wilde, Mathias (2014): Forschungen zur Mobilität älterer Menschen. In: Mathias Wilde (Hrsg.): Mobilität und Alltag. Wiesbaden.
Till Heinsohn, Attina Mäding
Die normative Kritik am Konzept des „Migrationshintergrunds“ auf dem Prüfstand
Kommunalstatistische Ableitung vs. Selbstwahrnehmung der Befragten
Die normative Kritik am Konzept des „Migrationshintergrunds“ aufgreifend, stellen wir uns in diesem Beitrag die Frage, ob sich der kommunalstatistisch abgeleitete Migrationshintergrund mit der Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung des mutmaßlich betroffenen Personenkreises deckt. Wir wollen wissen, ob diejenigen Personen, für die wir in der Kommunalstatistik einen Migrationshintergrund ableiten, von sich selbst ebenfalls sagen, dass sie einen Migrationshintergrund besitzen. Hierfür greifen wir auf die Ergebnisse der Stuttgart-Umfrage aus dem Frühjahr 2023 zurück.
Entwicklung und Kritik am Konzept des „Migrationshintergrunds“
Die zahlenmäßige Erfassung jedweden Merkmals setzt dessen vorherige Konzeptualisierung und Definition voraus. So bediente sich die amtliche Statistik in Deutschland über Jahrzehnte des Konzepts der „ausländischen Bevölkerung“ und beschrieb mit der Zahl der im Land lebenden Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit auch die sich durch Migration verändernde Bevölkerungsstruktur. Aus analytischer Sicht unterschlägt diese Definition aber den Teil der Eingewanderten und ihrer Nachkommen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Mit dem Zuzug vieler (Spät-)Aussiedlerinnen und (Späte-)Aussiedler in den 1990er-Jahren, dem Anstieg der Einbürgerungen nach Einführung des Rechtsanspruchs 1993 und der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 2000 geriet das verwendete „Ausländerkonzept“ zunehmend in die Kritik. Denn immer mehr Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit hatten Migrationsbezüge, die in der amtlichen Statistik jener Zeit nicht abgebildet wurden (Fachkommission Integrationsfähigkeit 2020: 218).
Dr. rer. soc. Till Heinsohn
Politik- und Verwaltungswissenschaftler, Abteilungsleiter für den Bereich Wirtschaft und Befragungen beim Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart. : till.heinsohn@stuttgart.de
Attina Mäding
Dipl. Geografin, Sachgebietsleiterin für den Bereich Bevölkerung und Bildung beim Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart : attina.maeding@stuttgart.de
Als Reaktion auf diese nicht unerhebliche Kritik entwickelte das Statistische Bundesamt das Konzept des „Migrationshintergrunds“ und veröffentlichte im Berichtsjahr 2005 erstmals entsprechende Zahlen. Aber auch am Konzept des „Migrationshintergrunds“ regt sich zunehmend Kritik (Kulaç-Brechfeld und Kreuzmaier 2023: 6–8). Diese macht sich unter anderem daran fest, dass die als Personen mit Migrationshintergrund bezeichnete Gruppe sehr groß und dabei ausgesprochen heterogen ist. Eine Unterscheidung zwischen einzelnen Generationen von Eingewanderten und ihren Nachkommen ist so nur bedingt möglich und erlaubt keine sinnvolle Analyse der Integrationsprozesse. Neben der analytischen Kritik werden zuletzt auch Stimmen lauter, die das Konzept des „Migrationshintergrunds“ aus normativen Gesichtspunkten hinterfragen. So entspreche die Zuschreibung eines Migrationshintergrunds „gerade bei Angehörigen der Folgegenerationen und besonders denen mit deutscher Staatsangehörigkeit nicht der Selbstwahrnehmung und -beschreibung“ (Fachkommission Integrationsfähigkeit 2020: 221).
Die normative Kritik am Konzept des „Migrationshintergrunds“ aufgreifend, stellen wir uns in diesem Beitrag also die Frage, ob sich der statistisch abgeleitete Migrationshintergrund mit der Selbstwahrnehmung und -beschreibung des
mutmaßlich betroffenen Personenkreises deckt. Wir wollen demnach wissen, ob diejenigen Personen, für die wir in der Kommunalstatistik einen Migrationshintergrund ableiten, von sich selbst überhaupt sagen, dass sie einen Migrationshintergrund besitzen. Hierfür greifen wir auf die Ergebnisse der Stuttgart-Umfrage aus dem Frühjahr 2023 zurück. An dieser freiwilligen Befragung haben sich 41 Prozent – und damit rund 4.200 der etwas über 10.000 zufällig ausgewählten Stuttgarterinnen und Stuttgarter – beteiligt und unter anderem die Frage beantwortet, ob sie eigentlich von sich selbst sagen würden, dass sie einen Migrationshintergrund besitzen.
Zunächst erscheint es uns aber zielführend, die Unterschiede zwischen der Erfassung des Migrationshintergrunds in der amtlichen Statistik gegenüber der Herleitung in der Kommunalstatistik näher zu beleuchten.
Unterschiede zwischen der amtlichen und der kommunalstatistischen Annäherung an den Migrationshintergrund
Das in der amtlichen Statistik Anwendung findende Konzept des „Migrationshintergrunds“ wird mittels Befragung und über eine umfangreiche Itembatterie erhoben. In der amtlichen Statistik erfolgt die Erhebung über den Mikrozensus. Der Migrationshintergrund wird hier nicht direkt erfasst, „sondern anhand von Informationen über die aktuelle und eventuelle frühere Staatsangehörigkeit(en), Einbürgerung und den Geburtsstaat synthetisch gebildet“ (Fachkommission Integrationsfähigkeit 2020: 219). Neben Informationen über die befragten Personen selbst, werden Informationen über deren Eltern berücksichtigt. Entsprechend wird einer Person ein Migrationshintergrund zugeschrieben, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzen (Statistisches Bundesamt 2024). Im Einzelnen umfasst dies: (1) Zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer,
(2) zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, (3) (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedler, (4) Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Adoption durch einen deutschen Elternteil erhalten haben und (5) mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Kinder der vier zuvor genannten Gruppen.
Das in der amtlichen Statistik Anwendung findende Konzept zur Bestimmung des Migrationshintergrunds (Mikrozensus) wird von vielen Befragten nicht nur als Zumutung empfunden (Hochstetter und Will 2022: 12), sondern lässt sich aufgrund seiner Komplexität und seines mehrseitigen Umfangs in kommunalen Befragungen, wie zum Beispiel der Stuttgart-Umfrage, nicht darstellen. Ebenso wenig lässt sich der Migrationshintergrund einer Person direkt aus dem kommunalen Melderegister entnehmen. Doch nur mit Hilfe des Melderegisters lassen sich kleinräumige Analysen in den Kommunen, welche zu Planungszwecken von großer Bedeutung sind, umsetzen.
Daher haben deutsche Städte bereits Ende der 1990er Jahren ein gemeinsames Verfahren im Rahmen der KOSISGemeinschaft HHSTAT erarbeitet, um aus dem Register einen „Migrationshintergrund“ abzuleiten. Das hierzu entwickelte Programm MigraPro kombiniert die Merkmale „Art der deutschen Staatsangehörigkeit“ und „Lage des Geburtstortes“ sowie „Zweite Staatsangehörigkeit“, und „Zuzugsherkunft“, und leitet daraus einen „Migrationshintergrund“ ab.
Zu den Personen mit Migrationshintergrund zählen in der Kommunalstatistik alle Ausländerinnen und Ausländer, unabhängig davon ob sie selbst zugewandert oder in Deutschland geboren wurden. Auch eingebürgerte Deutsche, deutsche Aussiedlerinnen und Aussiedler sowie alle Deutschen, die im Ausland geboren wurden, haben einen „persönlichen Migrationshintergrund“. Außerdem können über das Melderegister auch die Kinder dieser Personen erfasst werden, solange sie noch bei ihren Eltern leben und unter 18 Jahre alt sind. Die -
Abb. 1 Schematische Darstellung der Einwohnerinnen und Einwohner nach Migrationshintergrund in MigraPro
Lage des Geburtsorts
Nicht deutsch
Staatsangehörigkeit
Deutsch
Ausland
Ausländerinnen und Ausländer1
(Zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer der 1. Generation)
Deutsche mit Migrationshintergrund (Zugewanderte Deutsche)
Eingebürgerte und Aussiedlerinnen und Aussiedler1
Deutschland
Ausländerinnen und Ausländer1
(Nicht zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer der 2. und 3. Generation)
Deutsche mit Migrationshintergrund (Nicht zugewanderte Deutsche)
Eingebürgerte1
Deutsche mit Migrationshintergrund (Nicht zugewanderte Deutsche)
Kinder von Eingebürgerten und Aussiedlerinnen und Aussiedlern2
Deutsche ohne Migrationshintergrund
In Anlehnung an: Amt für Statistik und Stadtforschung Nürnberg und Fürth (2010) und Verband Deutscher Städtestatistiker (2013).
1 Durch einen persönlichen Migrationshintergrund erkennbar
2 Oft nur bis zum Alter von 18 Jahren über den familiärer Migrationshintergrund erkennbar
se Kinder erhalten einen „familiären Migrationshintergrund“ (Abb. 1). Das bedeutet, dass in Deutschland geborene erwachsene Nachkommen von Zugewanderten nur als Personen mit Migrationshintergrund erfasst werden können, wenn sie selbst einen "persönlichen Migrationshintergrund", z. B. durch eine Einbürgerung oder den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nach dem Geburtsortprinzip, aufweisen. Teilweise sind diese Informationen im Melderegister, früher bei Umzügen innerhalb Deutschlands, verloren gegangen.
Heranspielen von Registerinformationen an Befragungsdaten nicht ohne Fallstricke Um zu prüfen, ob sich der kommunalstatistisch abgeleitete mit dem selbstwahrgenommenen Migrationshintergrund deckt, wird der mit MigraPro abgeleitete Migrationshintergrund nun an die Befragten der Stuttgart-Umfrage herangespielt. Die entsprechende rechtliche Grundlage wurde mit der Anordnung über die Durchführung der Stuttgart-Umfrage geschaffen. In dem Prozess des Heranspielens von Register- an Umfragedaten gilt es zu berücksichtigen, dass die über das Einwohnermelderegister zufällig gezogenen Teilnehmenden den Fragebogen der Stuttgart-Umfrage nicht selbst ausgefüllt haben müssen. Denkbar wäre auch, dass einige den Fragebogen an dritte Personen weitergegeben haben. Aus stichprobentheoretischer Sicht ist die Weitergabe eines Fragebogens mindestens unglücklich. Im Falle des Heranspielens von Informationen aus
dem Einwohnermelderegister stellt die Weitergabe aber ein Problem dar. Denn die kommunalstatistisch abgeleitete Information über einen etwaigen Migrationshintergrund bezieht sich immer auf die in der Stichprobe gezogene Person. Wenn diese den Fragebogen aber gar nicht selber ausgefüllt hat, stehen wir vor einem Problem. Aus diesem Grund werden die Fälle um jene Personen bereinigt, deren Selbstauskunft zum Geschlecht und Geburtsjahr nicht mit den entsprechend im Register hinterlegten Informationen übereinstimmen. Darüber hinaus werden diejenigen Personen ausgeschlossen, bei denen aufgrund fehlender Angaben zum Geschlecht oder dem Geburtsjahr in diesem Sinne nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, dass es sich bei ihnen auch tatsächlich um die erhofften Zielpersonen handelt.
Normative Kritik trifft allem Anschein nach voll ins Schwarze
Die Antwort auf die Frage, inwiefern sich der statistisch abgeleitete Migrationshintergrund mit der Selbstwahrnehmung der Befragten deckt, findet sich in der Kreuztabellierung in den Abbildungen 2 und 3.1 Hier zeigt sich, dass die normative Kritik am Konzept des Migrationshintergrunds durchaus berechtigt scheint. Unter denen als Ausländerinnen und Ausländer identifizierten Stuttgarterinnen und Stuttgarter (Ableitung) sagen nur rund 59 Prozent von sich selbst, dass sie auf jeden Fall einen Migrationshintergrund besitzen. Insgesamt 26 Prozent der
Abb. 2 Fälle nach Ableitung vs. Selbstwahrnehmung
Abb. 3 Anteil nach Ableitung vs. Selbstwahrnehmung
Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind sich da gar nicht so sicher und immerhin 15 Prozent streiten sogar ab, dass sie überhaupt einen Migrationshintergrund aufweisen. Unter den Deutschen mit Migrationshintergrund (Ableitung) zeigt sich ein ganz ähnliches Bild. Stuttgarterinnen und Stuttgarter mit abgeleitetem Migrationshintergrund geben lediglich in 58 Prozent der Fälle an, dass sie auf jeden Fall einen Migrationshintergrund haben. Weitere 24 Prozent können gar nicht so genau sagen, ob sie einen Migrationshintergrund aufweisen und 19 Prozent streiten sogar ab, dass sie selbigen besitzen. Für die Gruppe der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie diejenige der Stuttgarterinnen und Stuttgarter mit Migrationshintergrund halten wir zusammengenommen fest, dass sich die kommunalstatistische Ableitung in nur 59 Prozent der Fälle exakt mit der Wahrnehmung der Personen selbst deckt. Das ist ein ausgesprochen ernüchterndes Ergebnis und verfestigt die unlängst geäußerten Zweifel an der Konzeptualisierung und Definition des Konzepts. Hinzu kommen 25 Prozent für die ein Migrationshintergrund abgeleitet wird, die aber von sich gar nicht so genau sagen können, ob sie einen besitzen. Die verbleibenden 17 Prozent bestreiten sogar einen Migrationshintergrund zu haben, obwohl er diesen zugeschrieben wird. Spätestens hier zeigt sich also, dass die kommunalstatistische Ableitung und die Selbstwahrnehmung der Befragten nicht selten auseinandergehen.
Vertiefende Einordnung der Ergebnisse
Die vorangegangenen Ausführungen haben verdeutlicht, dass das in der Kommunalstatistik Anwendung findende Konzept des Migrationshintergrunds die gefühlten Lebenswirklichkeiten vieler Menschen allem Anschein nach nicht in allen Fällen exakt widerspiegelt. Doch ist dem wirklich so und wie verlässlich sind die in der Befragung gemachten Angaben?
Zur Beantwortung dieser Fragen ist eine vertiefende Betrachtung und Einordnung der verschiedenen Gruppen erforderlich. Hierbei richten wir unseren Fokus auf die drei Gruppen, bei denen Ableitung und Selbstwahrnehmung (eindeutig) auseinandergehen. Wir beziehen uns dabei auf die Fallzahlen ohne Gewichtung.
Gruppe 1
Abgeleitete Ausländerinnen und Ausländer ohne (eindeutig) selbstwahrgenommenen Migrationshintergrund Die Gruppe der Ausländerinnen und Ausländer (Ableitung), die nach eigener Angabe keinen Migrationshintergrund aufweisen, beläuft sich in der Stuttgart-Umfrage auf 92 Personen
(Ngew = 93). Doch um was für Personen handelt es sich bei diesen genau und wie lässt sich die zu beobachtende Diskrepanz möglicherweise erklären? Insgesamt 86 Personen der entsprechenden Gruppe geben in der Stuttgart-Umfrage an, tatsächlich keine deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen. Dies entspricht einen Anteil von 94 Prozent und bestärkt uns in der Überzeugung, weitestgehend nur diejenigen Personen in die Analyse mit einzubeziehen, von denen wir annehmen können, dass sie den Fragebogen auch selbst ausgefüllt haben. Unter denen als Ausländerinnen und Ausländer identifizierten Gruppe (Ableitung), die angeben keinen Migrationshintergrund zu besitzen, liegt der Geburtsort laut Registerinformationen bei insgesamt 14 Prozent in Deutschland. Sollten diese Personen unter „Migrationshintergrund“ eigentlich „eigene Migrationserfahrung“ verstehen, dürfte deren Verneinung eines Migrationshintergrunds nicht überraschen. Semantische Unklarheiten könnten auch bei den Personen mit Geburtsort im deutschsprachigen Raum als ursächlich für die Diskrepanz zwischen Ableitung und Selbstwahrnehmung angesehen werden. So ist nicht auszuschließen, dass sich die in Österreich und der Schweiz geborenen Ausländerinnen und Ausländer (14 %) auch ohne deutsche Staatsangehörigkeit der hiesigen Gesellschaft insoweit zugehörig fühlen, dass sie sich selbst als „ohne Migrationshintergrund“ beschreiben. Ähnliches für die 27 Prozent mit Geburtsort in der übrigen Europäischen Union (EU) zu vermuten, ohne näherer Informationen über deren Aufenthaltsdauer in Deutschland zu besitzen, würde aus unserer Sicht zu weit führen. Für jene, wie auch für die restlichen 45 Prozent mit Geburtsort außerhalb der EU, könnte auch zutreffen, dass sie sich tatsächlich als Ausländerinnen und Ausländer definieren und sich nicht – wie in der Kommunalstatistik gefasst – als Teil der Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund verstehen. Ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger (Ableitung), welche gar nicht so genau sagen können, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht, machen in der Stuttgart-Umfrage 149 Personen (Ngew = 156) aus. Von diesen geben 141 Personen in der Befragung an, dass sie keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Die Übereinstimmung von 95 Prozent stimmt uns zuversichtlich, dass wir es auch hier überwiegend mit den Antworten der tatsächlich in der Stichprobe gezogenen Personen zu tun haben.
Von den Ausländerinnen und Ausländern, die in der Befragung ihrer Unschlüssigkeit über einen etwaigen Migrationshintergrund zum Ausdruck bringen, sind nach Registerangaben 17 Prozent in Deutschland geboren. Sollten die in Deutschland geborenen Personen mit dem Begriff Migrationshintergrund tatsächlich eigene Migrationserfahrungen verbinden, wären die bestehenden Zweifel auch hier nicht verwunderlich. Für die in der Schweiz und in Österreich geborenen Ausländerinnen und Ausländer (4 %) könnte der gemeinsame Sprachraum als mögliche Erklärung für deren Unschlüssigkeit herhalten. Für eben diese und auch die verbleibenden 79 Prozent könnten aber auch eine Abneigung gegenüber der Verwendung des Konzepts, Verständnisprobleme oder fehlerhafte Angaben ausschlaggebend sein.
Hinweise auf signifikante Unterschiede bei der durchschnittlichen Wohndauer in Stuttgart finden sich insbesondere im Vergleich zur Gruppe der Ausländerinnen und Ausländer, die einen eigenen Migrationshintergrund verneinen (Tab. 1).
Tab. 1 Durchschnittliche Wohndauer in Stuttgart in Jahren
Kommunalstatistische
Ableitung
Arithmetisches Mittel
Ausländer
Deutsche mit Migrationshintergrund
Selbstwahrnehmung Migrationshintergrund
Ja, auf jeden Fall Ja und nein Nein
Mit 21 Jahren leben diese nach Registerangaben im Mittel bereits deutlich länger in Stuttgart, als es für die Gruppe der (noch) Zweifelnden (15 Jahre) zutrifft.
Gruppe 2
Abgeleitete Deutsche mit Migrationshintergrund ohne (eindeutig) selbstwahrgenommenen
Migrationshintergrund
Deutsche mit Migrationshintergrund (Ableitung), welche von sich selbst sagen, dass sie keinen Migrationshintergrund besitzen, befinden sich in der Stuttgart-Umfrage insgesamt 107 (Ngew = 107). Der Anteil der in Deutschland Geborenen liegt hier bei 40 Prozent und damit deutlich höher als unter denjenigen Deutschen, die sich selbst einen Migrationshintergrund zuschreiben (31 %). Entsprechend großes Gewicht könnte als Erklärung einnehmen, wenn „Migrationshintergrund“ mit „eigener Migrationserfahrung“ gleichgesetzt und dann konsequenterweise verneint würde. Die weniger als 2 Prozent der Personen aus Österreich und der Schweiz, und deren möglicherweise empfundenes Zugehörigkeitsgefühl, dürften aufgrund der geringen Fallzahl hier nicht ins Gewicht fallen. Für die verbleibenden Personen mit Geburtsort außerhalb des deutschsprachigen Raums (58 %) sind die zuvor diskutierten Erklärungen (Begriffsverwendung, Begriffsablehnung, Verständnisprobleme und Sprachbarrieren) ebenso wahrscheinlich.
Bezüglich der im Register hinterlegten durchschnittlichen Wohndauer in Stuttgart zeigen sich nur geringe Gruppenunterschiede. Während diejenigen, die abstreiten einen Migrationshintergrund zu besitzen, im Mittel bereits seit 26 Jahren in Stuttgart wohnen, beläuft sich die durchschnittliche Verweildauer in der Gruppe derjenigen, die nach eigener Wahrnehmung auf jeden Fall einen Migrationshintergrund haben, auf 22 Jahre (Tab. 1).
Hinzu könnte die Besonderheit treten, dass sich in der Gruppe der Deutschen mit Migrationshintergrund, die abstreiten einen solchen zu haben, auch Aussiedlerinnen und Aussiedler befinden, die zwar im heutigen Ausland geboren und aus diesem zugewandert sind, von Geburt an aber die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und sich in ihrer Selbstwahrnehmung auch als Deutsche ohne Migrationshintergrund fühlen.
Die Anzahl der Deutschen mit Migrationshintergrund (Ableitung), bei denen nach eigener Angabe Unklarheit darüber besteht, ob sie Migrationshintergrund haben oder nicht, beläuft sich in der Stuttgart-Umfrage auf 138 Personen (Ngew = 134). Bei 34 Prozent der Personen in dieser Gruppe liegt der Geburtsort in Deutschland. Dass diese aufgrund fehlender eigener Migrationserfahrungen möglicherweise ins Zweifeln geraten, sollte nicht überraschen. Dem etwaigen Zugehörigkeitsgefühl
Quelle: Wohndauer laut Zuzugsdatum nach Stuttgart im Melderegister
von Personen aus den deutschsprachigen Nachbarländern sollte hier in Anbetracht der geringen Fallzahl (2 %) keine besondere Bedeutung zukommen. Für alle anderen Personen (64 %) gilt, dass wir zwar weitere Erklärungsansätze (Begriffsverwendung, Begriffsablehnung, Verständnisprobleme und Sprachbarrieren) in Betracht ziehen können, schlussendlich aber im Dunklen tappen.
Auch die im Register hinterlegte Wohndauer in Stuttgart liefert nur bedingt Hinweise. Mit durchschnittlich 24 Jahren weisen die Unschlüssigen eine um zwei Jahre längere Verweildauer als die von einem Migrationshintergrund Überzeugten auf. Im Vergleich zur Gruppe derjenigen, die einen Migrationshintergrund abstreiten, fällt die Wohndauer der Zweifelnden in Stuttgart im Mittel jedoch um zwei Jahre kürzer aus (Tab. 1).
Gruppe 3
Abgeleitete Deutsche ohne Migrationshintergrund mit dennoch (eindeutig) selbstwahrgenommenem Migrationshintergrund
Der Personenkreis der Deutschen ohne Migrationshintergrund (Ableitung), welche in ihrer Selbstwahrnehmung zweifelsfrei einen Migrationshintergrund besitzen, umfasst in der StuttgartUmfrage 90 Personen (Ngew = 97). Lediglich zwei dieser Personen geben in der Stuttgart-Umfrage an, im Ausland geboren zu sein. Entsprechend halten wir die Befragungsdaten auch an dieser Stelle für näherungsweise zuverlässig.
Mit Blick auf eben jene Befragungsdaten zeigt sich, dass der Geburtsort von mindestens einem Elternteil bei fast 80 Prozent im Ausland liegt und in der Selbstwahrnehmung der Befragten offensichtlich weiterhin prägend ist. Für die 20 Prozent der Deutschen mit in Deutschland geborenen Eltern, die in voller Überzeugung von einem Migrationshintergrund berichten, können wir nur mutmaßen und über im Ausland geborene Großeltern und Vorfahren spekulieren. Eine eher grundsätzliche Kritik am Konzept des Migrationshintergrunds, in Form der Überzeugung, dass mehr oder weniger alle Menschen einen Migrationshintergrund aufweisen, ist ebenso wenig auszuschließen wie in Befragungen auftretende Verständnisprobleme oder fehlerhafte Angaben.
Die Anzahl der Deutschen ohne Migrationshintergrund (Ableitung), welche in ihrer Selbstwahrnehmung unschlüssig darüber sind, ob sie einen Migrationshintergrund besitzen oder nicht, beläuft sich in der Stuttgart-Umfrage auf 169 Personen (Ngew = 167). Nur eine dieser Personen gibt in der Befragung zu Protokoll im Ausland geboren zu sein. Das Zutrauen in die Qualität der erhobenen Informationen ist entsprechend groß. Die Befragungsdaten zeigen, dass mehr als die Hälfte in der Gruppe Eltern besitzt, von denen mindestens ein Teil im Aus-
land geboren wurde. Die familiäre Herkunft scheint also auch hier nachzuwirken. Die verbleibenden rund 48 Prozent der Deutschen, bei denen trotz in Deutschland geborener Eltern Unsicherheit über den eigenen Migrationshintergrund besteht, bleiben ein Mysterium. Möglicherweise wirken auch hier im Ausland geborene Großeltern oder Vorfahren nach oder es besteht die grundsätzliche Auffassung, dass alle Menschen einen Migrationshintergrund aufweisen. Vielleicht – und das ist bei Befragungsdaten nie restlos auszuschließen – liegen aber auch Verständnisprobleme oder in Teilen willkürliches Antwortverhalten zu Grunde.
Trotz mutmaßlich verzerrtem Bild und mannigfaltigen Herausforderungen:
Die normative Kritik ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen
Register- und Befragungsdaten sowie deren Abgleich gehen mit zahlreichen beschriebenen Herausforderungen einher. Damit aber nicht genug. Hinzu tritt ein in Umfragen häufig zu beklagendes Phänomen: Befragungsdaten sind, trotz eines zufällig gezogenen Teilnehmendenkreises, in den seltensten Fällen repräsentativ. Denn die Teilnahme ist in aller Regel freiwillig (ausgenommen z.B. Mikrozensus) und die Gruppe der tatsächlich Teilnehmenden verzerrt. Die bestehende Verzerrung zwischen der Grundgesamtheit (dargestellt in Blau) und den tatsächlich an der Stuttgart-Umfrage Teilnehmenden (dargestellt in Rot) wird in Abbildung 3 deutlich. Der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer in der Stuttgarter Grundgesamtheit (Personen ab 16 Jahre) beträgt rund 29 Prozent. In der realisierten Stichprobe beläuft sich der Ausländeranteil nach Ableitung auf lediglich 16 Prozent. Deutsche ohne Migrationshintergrund sind in der realisierten Stichprobe mit rund 69 Prozent hingegen deutlich überrepräsentiert. In der entsprechenden Grundgesamtheit beträgt deren Anteil aber nur 55 Prozent.
Bestehenden Verzerrungen wird in Umfragen häufig mit einem Poststratifikationsgewicht begegnet. Ein solches Verfahren schreibt den Personen der unterrepräsentierten Gruppe im Nachhinein ein entsprechendes Gewicht zu, welches deren tatsächlichen Anteil in der Grundgesamtheit entspricht. Die zugrundeliegende Annahme geht davon aus, dass die antwortenden Personen denjenigen in dieser Gruppe entsprechen, die sich nicht an der Befragung beteiligt haben. Doch genau in dieser Homogenitätsannahme liegt das Problem. Denn für alle Ausländerinnen und Ausländer sowie Deutsche mit Migrationshintergrund, die sich an der Stuttgart-Umfrage beteiligen, darf tendenziell angenommen werden, dass sie in die Stadtgesellschaft integriert sind, sich für die Vorgänge in der Stadt interessieren und auch der Sprache insoweit mächtig sind, dass deren Kenntnisse eine Teilnahme an der Befragung ermöglicht. Für all jene, die sich nicht an der Befragung beteiligen, liegt aber der Verdacht nahe, dass sie sich von der Gruppe der Teilnehmenden gerade in diesen Belangen unterscheiden. Wenn nun also zahlreiche Ausländerinnen und Ausländer sowie Deutsche mit Migrationshintergrund in unserer Befragung angeben, sie hätten in ihrer ganz persönlichen Wahrnehmung überhaupt keinen Migrationshintergrund, dann zeichnet diese bereits gut integrierte Gruppe ein möglicherweise verzerrtes Bild. Mit anderen Worten: Das Ausmaß der Diskrepanz zwischen Ableitung und Selbstwahrnehmung wäre unter denjenigen, die sich nicht an unserer Befragung beteiligt haben, möglicherweise geringer.
Abb. 3 Anteile realisierte Stichprobe (Rot) vs. Grundgesamtheit (Blau)
Dennoch bleibt die Erkenntnis, dass sich die Ableitung eines Migrationshintergrunds in vielen Fällen nicht mit der Selbstwahrnehmung der befragten Personen deckt. Das betrifft zunächst die 17 Prozent der Ausländerinnen und Ausländer sowie Menschen mit Migrationshintergrund, die bestreiten einen Migrationshintergrund zu haben. Verständnisproblemen, Sprachbarrieren und fehlerhafte Antworten ausgenommen, dürften die verbleibenden Fälle einen mehr oder weniger eindeutigen Hinweis auf die bestehende Diskrepanz liefern. Noch eindeutiger stellt sich die Situation bei den 25 Prozent der Ausländerinnen und Ausländer sowie Deutschen mit Migrationshintergrund dar, die gar nicht so genau sagen können, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Die kommunalstatistische Ableitung ist in diesen Fällen klar und verleiht den Stempel „Migrationshintergrund“. Dass diese Personen sich da selbst gar nicht so sicher sind, kann die Statistik jedoch nicht abbilden.
Mit einer Lösung für das hier beleuchtete Problem können wir an dieser Stelle gleichwohl nicht aufwarten. Unser Interesse bestand in dem vorliegenden Beitrag lediglich darin, der normativen Kritik am Konzept des „Migrationshintergrunds“ nachzuspüren und diese mit einer empirischen Datengrundlage zu unterfüttern. In der Hoffnung, dass unsere Ausführungen die Debatte rund um die statistische Erfassung des Migrationshintergrunds bereichern, warten wir gespannt auf die kommenden Entwicklungen.
1 Einschränkend ist hierbei festzuhalten, dass in der Stuttgart-Umfrage nur Personen ab 16 Jahren befragt werden. Die nachfolgenden Erkenntnisse beschränken sich daher überwiegend auf erwachsene Personen, für die lediglich ein persönlicher Migrationshintergrund abgeleitet werden kann.
Literatur
Amt für Statistik und Stadtforschung für Nürnberg und Fürth (2010): MigraPro – Verfahren zur Ableitung des Migrationshintergrunds mit ersten Ergebnissen für Nürnberg und Fürth. In: Statistischer Monatsbericht für Juli 2010, M391, Beiblatt. Aufgerufen am 14.06.2024 unter: https://www.nuernberg. de/imperia/md/statistik/dokumente/veroeffentlichungen/berichte/monatsberichte/2010/statistik_aktuell_2010_07.pdf Fachkommission Integrationsfähigkeit (2020): „Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft gestalten. Bericht der Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit.“ Berlin. Aufgerufen am 14.06.2024 unter: https://www. fachkommission-integrationsfaehigkeit.de/ resource/blob/1786706/1880170/917bc4 3f62136ed26ecef8125a4c9cdf/bericht-deartikel-data.pdf?download=1
Hochstetter Bernhard und Anne-Kathrin Will (2022): „Die Erfassung der eingewanderten Bevölkerung und Ihrer Nachkommen im Mikrozensus. Vorschlag für ein neues Konzept jenseits des Migrationshintergrunds.“ In: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 6+7/2022; S. 3–15. Aufgerufen am 14.06.2024 unter: https://www.statistik-bw. de/Service/Veroeff/Monatshefte/PDF/Beitrag22_07_01.pdf
Kulaç-Brechfeld, Reyhan und Ingrid Kreuzmaier (2023): „Vom Migrationshintergrund zur Einwanderungsgeschichte. Diskussion neuer Modelle.“ In: Münchner Statistik, 2. Quartalsheft, Jahrgang 2023, S. 6–19. Aufgerufen am 14.06.2024 unter: https://stadt.muenchen. de/dam/jcr:967ea37c-e57c-4a63-9270-c6f1b258754c/mb230201.pdf
Statistisches Bundesamt (2024): Statistischer Bericht – Mikrozensus – Bevölkerung nach Migrationshintergrund – Erstergebnisse 2023. Aufgerufen am 14.06.2024 unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/ Migration-Integration/Publikationen/ Downloads-Migration/statistischer-berichtmigrationshintergrund-erst-2010220237005. xlsx?__blob=publicationFile
Verband Deutscher Städtestatistiker (2013): Migrationshintergrund in der Statistik – Definition, Erfassung und Vergleichbarkeit. In: Materialien zur Bevölkerungsstatistik, Heft 2. Aufgerufen am 14.06.2024 unter: https:// www.staedtestatistik.de/fileadmin/media/ VDSt/Bevoelkerung/PDF/VDSt_-_AG_Bevoelkerung_Migrationshintergrund_in_der_ Statistik.pdf
Jürgen Wittig
Damals … Statistiken im Spiegel ihrer Zeit
Mitunter lohnt es sich, im Statistischen Archiv in alten Veröffentlichungen zu blättern. Man gewinnt überraschende Erkenntnisse über das, was unseren Vorgängerinnen und Vorgängern wichtig war und über die Art und Weise, wie die Daten der Öffentlichkeit präsentiert wurden.
Jürgen Wittig
Diplom-Verwaltungswirt, bis zum 31. Dezember 2022 im Personal- und Organisationsamt der Stadt Kassel, jetzt im Ruhestand : juergenwittig1957@gmail.com
Schlüsselwörter:
Historische Statistik – Rückblicke – Berichte
Im Jahr 1905 wurde das Statistische Amt der Stadt Kassel ins Leben gerufen. 2025 können wir daher in Kassel auf 120 Jahre Kommunalstatistik zurückblicken. Die Beschäftigung mit den Veröffentlichungen unserer Vorgängerinnen und Vorgänger bringt Kurioses zu Tage, zeigt die Einflüsse von gesellschaftlichen Entwicklungen auf Inhalte und Darstellungsformen und bringt Beispiele ans Licht, wie Statistiken von autoritären Regierungen genutzt werden, um repressive Methoden als erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik darzustellen.
Beginnen wir mit einer etwas anrüchigen Tabelle aus der Ausgabe 1910 der „Casseler Statistischen Jahresberichte“ Die Verbesserung von Hygienestandards war seinerzeit ein großes Anliegen der kommunalen Verwaltungen. Das führte wohl auch zu einer detaillierten Übersicht über die öffentlichen und nichtöffentlichen Bedürfnisanstalten. (Abb. 1) Ob die Zahlen aus der Verwaltung geliefert wurden oder ob Erhebungsbeauftrage die Klosetts gezählt haben, ist nicht überliefert.
Der „Statistische Dreijahresbericht der Stadt Kassel 1936 bis 1938“ zeigt eindrucksvoll, wie sehr in der Zeit des sogenannten „Dritten Reiches“ die Verwaltung und damit auch das Statistische Amt von Partei und Regierung abhängig war. In diesem Bericht ist nicht bezeichnend, was darin enthalten
Abb. 1 Auszug aus der Ausgabe 1910 der „Casseler Statistischen Jahresberichte“
Abb. 2 Auszug aus dem „Statistischen Dreijahresbericht der Stadt Kassel 1936 bis 1938“
Abb. 3 Auszug aus dem Jahresbericht 1945 bis 1949 ist, sondern das, worüber nicht berichtet wird. Analysen und Tabellen heben die gute wirtschaftliche Entwicklung und die Erholung des Arbeitsmarktes hervor, während Aussagen über Bereiche mit eher negativen Entwicklungen fehlen. Als Beispiel sei eine Tabelle zu den Arbeitsmarktzahlen genannt. (Abb. 2)
Der drastische Rückgang der Arbeitslosenzahlen von 21 300 im Dezember 1932 auf 440 im Dezember 1938 gaukelt einen phänomenalen Anstieg der Beschäftigung vor. Verschwiegen wird im Bericht, dass auch staatliche Maßnahmen wie die im Jahr 1935 eingeführte Arbeitsdienstpflicht zu dieser Entwicklung beitrugen.
Statistiken können schreckliche Ereignisse auf eine fast gespenstisch nüchterne Art und Weise beschreiben. Ein einfach gestaltetes Diagramm im „Jahresbericht 1945 bis 1949“ des Statistischen Amtes der Stadt Kassel zeigt einen Vergleich der Entwicklung der Einwohnerzahlen von Kassel und Wiesbaden zwischen 1939 und 1950. (Abb. 3)
Die steil abfallende Kurve der Kasseler Zahlen fällt bei aller Schlichtheit der Grafik dem Betrachter sofort ins Auge. Ursache für diesen extremen Rückgang des Einwohnerbestandes in Kassel war ein Bombenangriff der alliierten Streitkräfte am 22. Oktober 1943. Über 400.000 Brandbomben zerstörten 80 % der Gebäude in Kassel, im Bereich der Altstadt nahezu 100 %. Ca. 10 000 Menschen verloren ihr Leben, weitere Zehntausende ihre Wohnung. Kassel war danach ein Trümmerfeld, noch bis 1959 zeugen Statistische Jahresberichte mit Tabellen zur Trümmerschuttbeseitigung und -verwertung von den Aufräumarbeiten.
Und doch gibt es Im Zusammenhang mit diesem Diagramm einen kleinen Grund zum Schmunzeln. Die Verfasser des Jahresberichtes 1945 bis 1949 kommentierten diese Grafik folgendermaßen:
„Wie sehr Kassel durch den Krieg gelitten hat, zeigt ein Vergleich mit einer weniger durch die Kriegsereignisse berührten Stadt, beispielsweise der Stadt Wiesbaden. Sie hat ihre jetzige Bedeutung … nur dem Umstand zu verdanken, dass ihre Baulichkeiten zum größten Teil erhalten blieben und dass sie dadurch die Voraussetzungen für die Wahl als Regierungssitz erfüllte.“
Hier spricht wohl ein wenig Neid auf die heutige hessische Landeshauptstadt mit. Andererseits – Kassel hätte als Landeshauptstadt mit Sicherheit auch Ehre eingelegt (so die Meinung des Autors).
Abb. 4 Auszug aus dem Jahresbericht 1960 bis 1963
In den Zeiten des „Wirtschaftswunders“ beschreiben Statistiken auch den steigenden Wohlstand, so zum Beispiel Zeitreihen über den Bestand an privaten Kraftfahrzeugen. Ja, wir arbeiten auch heute noch mit diesen Zahlen. Aktuell stehen diese Aufstellungen aber eher im Zusammenhang mit Umweltfragen oder der Verkehrsinfrastruktur. Ein weiteres schönes Beispiel für einen Wohlstandsindikator findet sich im „Jahresbericht 1960 bis 1963“. (Abb. 4)
Heute käme wohl keine kommunale Statistikstelle mehr auf die Idee, die Anzahl der Fernsehgeräte in den Haushalten zu ermitteln.
Das letzte Beispiel aus dem „Jahresbericht 1970“ zeigt, wie sich gesellschaftliche Normen auch auf die Darstellung statistischer Daten ausgewirkt haben. Das Diagramm mit der nach Geschlechtern getrennten Darstellung der Bevölkerungsentwicklung zwischen 1939 und 1970 wurde mit zwei kleinen Bildern geschmückt, die den Ernährer der Familie mit der Aktentasche unter dem Arm offenbar auf dem Weg zu Arbeit zeigen, während seine treusorgende Ehefrau ihm (traurig oder erleichtert?) aus dem Küchenfenster nachschaut. (Abb. 5)
Sie haben auch noch alte Schätzchen in Ihren Schränken schlummern? Schauen Sie doch mal rein, es lohnt sich!
Abb. 5 Auszug aus dem Jahresbericht 1970
Jan Siebert
Die Geheimhaltungsmaschine für die Zensus Einzeldaten
Die App ist ein Kooperationsprojekt. Das geht auch aus dem Namen der App „KORHB“ hervor. KO.R steht für die KOSIS-Gemeinschaft und HB für das Statistische Landesamt der Freien Hansestadt Bremen. Aus Bremen kommen die Entwickler*innen der App und für KO.R wurden sie von Mitarbeiter*innen der Dortmunder Statistik unterstützt. Weitere Kommunalstatistiker*innen und Mitarbeiter*innen von Landesämtern haben die App im Vorfeld getestet, und nicht zuletzt haben Mitarbeiter*innen des Statistischen Bundesamtes einen großen Beitrag zur Entstehung der App geleistet.
Welchen Nutzen hat die KORHB APP für Kommunalstatistiker*innen? Kommunen mit abgeschotteter Statistikstelle haben nach dem Zensus-Gesetz die Möglichkeit, Einzeldaten zu erhalten. Obwohl im Tagesgeschäft einer kommunalen Statistikstelle Informationen mit solcher Verzögerung kaum eine Rolle spielen, sollten die Möglichkeiten zur Gewinnung wertvoller Erkenntnisse aus diesem Datenpaket aufgrund des Umfangs und der Repräsentativität nicht unterschätzt werden. Das bereitgestellte Datenpaket enthält vielfältige Informationen zur Gemeinde. Es umfasst:
1. Personenliste: Eine Zusammenstellung aller Personen der Gemeinde basierend auf dem Melderegister, das mit den Ergebnissen der Zensusbefragung abgeglichen wurde. Dadurch entspricht die Anzahl der Personen (mit Haupt- und alleinigem Wohnsitz) der amtlichen Einwohnerzahl.
2. Haushalts- und Familienliste: Auf Basis der Zensusbefragung werden Listen aller Haushalte und Familien erstellt. Jede Person wird einem Haushalt und einer Familie zugeordnet.
3. Wohnungs- und Gebäudeliste: Als Ergebnis der Gebäude- und Wohnungszählung enthält das Paket separate Listen für alle Wohnungen
und Wohngebäude in der Gemeinde. Personen und Haushalte können den entsprechenden Wohnungen und Gebäuden zugeordnet werden.
4. Zensus-Fragebogen: Der umfangreiche Zensus-Fragebogen, der von etwa 10 % der Bevölkerung jeder Gemeinde ausgefüllt wurde, enthält Antworten zu mehr als 40 Fragen. Diese Fragen decken Themen wie Migration, Bildung, Ausbildung und Arbeit ab. Zusammenfassend bietet dieser Datensatz wertvolle Informationen, die anderswo nur begrenzt verfügbar sind.
Die Einzeldaten dürfen nicht veröffentlicht werden. Zum Schutz der informellen Selbstbestimmung dürfen auch bei Veröffentlichungen der aggregierten Zahlen, zum Beispiel als Kreuztabellen, keine Rückschlüsse auf einzelne Personen möglich sein. Das Statistische Bundesamt schreibt genaue Regeln zur Geheimhaltung vor. Die Vorgaben zur Geheimhaltung bestehen im Wesentlichen aus der sogenannten Cell-Key-Methode. Bei der Cell-Key-Methode werden einzelne Werte einer Kreuztabelle zufällig leicht verändert und 1en und 2en ganz eliminiert, um die Aufdeckungsmöglichkeiten zu minimieren. Dies ist jedoch nicht die einzige Vorgabe des Bundesamtes. Die Regeln teilt das Statistische Bundesamt im „Handbuch zur Auswertung der Datenlieferung nach § 32 ZensG 2022 für Kommunen mit abgeschotteter Statistikstelle“ mit. Die genauen Regeln und die Funktionsweise der Cell-Key-Methode sind hier nicht von Bedeutung. Das Wichtige ist, dass die KORHB APP die Umsetzung all dieser Regeln automatisch übernimmt.
Was kann die KORHB APP?
Die App basiert auf R-Shiny. Sie kann aber vollkommen ohne R-Kenntnisse genutzt werden. Um die App zu starten, reicht es den Ordner herunterzuladen
und abzuspeichern. Die App funktioniert unabhängig davon, ob R und welche RVersion auf dem Rechner installiert ist, weil die App mit R-Portable arbeitet. Die KORHB APP öffnet sich mit Doppelklick. Im Standardbrowser erscheint ein Dashboard, das ohne Programmierkenntnisse intuitiv bedient werden kann. Dennoch ist der Umgang mit der App nicht trivial. Die umfangreichen Möglichkeiten der App erfordern ein (leider zeitaufwendiges) Studium der App-Anleitung.
Die KORHB APP setzt nicht nur die Geheimhaltungsvorschriften um, sondern hilft auch dabei das Datenpaket aus dem Bundesamt aufzubereiten und Kreuztabellen und Grafiken zu erstellen. Den Möglichkeiten sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Die App-Entwickler haben sich dafür entschieden, mehr Tools anzubieten, was aber zu Lasten der Übersichtlichkeit ging. Die App ist in die vier Module „Bevölkerung“, „Bildung und Erwerb“, „GWZ“ (Gebäude- und Wohnungszählung) und „Haushalte und Familien“ unterteilt. In jedem Modul stehen jeweils die drei Tools „Datenexplorer“, „Analysen“ und „Kennzahlen“ zu Verfügung. Im Modul „Bildung und Erwerb“ rechnet die App die Ergebnisse des ausführlichen Zensusfragebogens automatisch auf die ganze Gemeinde oder beliebige andere kleinräumigere Gliederungen hoch. Das Zensus 2022-Datenpaket kann „ohne Vorbehandlung“ direkt in die App eingelesen werden. Die Daten können dann als SQLite-Datenbank lokal gespeichert werden, was das zukünftige Einlesen erleichtert.
Die KORHB APP ermöglicht es den Nutzer*innen, die Auswertung und Darstellung nach ihren individuellen Anforderungen festzulegen. Mit nur einem Klick setzt die App alle Geheimhaltungsregeln um. Anschließend können die Ergebnisse als Grafik, Excel- oder CSV-Datei exportiert und veröffentlicht werden.
Wie bekommt man die KORHB APP?
Die KORHB App steht ausschließlich den Kommunen der KO.R-Gemeinschaft zur Verfügung. Die Mitgliedschaft ist kosten-
los und kann relativ kurzfristig beantragt werden. Der Beitritt zu KO.R erfolgt durch eine schriftliche Erklärung gegenüber
der betreuenden Stelle, die unter https:// www.staedtestatistik.de/arbeitsgemeinschaften/kosis/kor zu finden ist.
Daniel Schürmann
Notiz aus der der KOSIS-Arbeitsgemeinschaft KO.R
Ableitung des Migrationshintergrunds – R-App
zur Plausibilisierung des Merkmals Geburtsland
Die Ermittlung des Geburtslandes (Merkmal P10) wird üblicherweise in MigraPro über eine manuell erstellte Abgleichliste durchgeführt. P10 wird anschließend gemeinsam mit anderen Merkmalen verwendet, um den Migrationshintergrund für eine Person abzuleiten. Bei spezielleren Auswertungen, wie z. B. Personen mit spanischer Staatsangehörigkeit und marokkanischer Herkunft, ist ein gut gepflegtes Merkmal Geburtsland essenziell.
Beispielsweise waren die Dortmunder Daten dahingehend weiter zu qualifizieren. Um den manuellen Plausibilisierungsaufwand gleichzeitig zu verringern, wurde ein Verfahren zur teilautomatisierten Bestimmung des Geburtslandes mit R entwickelt.
Grundlage hierfür ist die frei verfügbare Geonames-Datenbank, die um weitere
recherchierte Angaben (z. B. aus CompGen und Wikipedia) zu Namen von ehemaligen deutschen Gebieten sowie Angaben zu Gemeindeschlüsseln (über das Bundesamt für Kartographie und Geodäsie) erweitert wurde. Zur Ableitung des Geburtslandes werden die Merkmale erste und zweite Staatsangehörigkeit (P05 und P07), Zuzugsgebiet (W40) sowie Geburtsort (P12) herangezogen.
Von der Textangabe zum Geburtsort zu einem plausibilisierten Geburtsland: Die Geburtsorte sind als Freitexte im Melderegister hinterlegt. Um trotz Falschschreibweisen, etc. eine Zuordnung zu einem Geburtsland zu ermöglichen, wird für jede Kombination aus Geburtsort, P05, P07 und W40 einerseits sowie dem um Einwohnerzahl und Entfernung zur Basisgemeinde erweiterten Geonames-Katalog andererseits ein ge -
wichteter Ähnlichkeitsscore errechnet. Überschreitet dieser Score einen Schwellenwert, wird der Eintrag mit dem höchsten Score als Treffer verwendet.
Um die Berechnungszeit zu reduzieren, kommt ein mehrstufiges Verfahren zur Anwendung. So werden die Einträge zunächst auf direkte Übereinstimmung bei der Schreibweise, dann auf partielle Übereinstimmung und schließlich auf ähnliche Schreibweisen (fuzzy) überprüft.
Für die Geburtsorte, für die der Algorithmus keinen Treffer mit einem hinreichend großen Score erzielt, wurde eine R-Shiny-App entwickelt, die eine effiziente manuelle Zuordnung anhand von generierten Vorschlägen ermöglicht.
Miriam Reiner-Henrich
Notiz aus der VDSt-Arbeitsgemeinschaft
Urban Data Literacy
Eine neue AG stellt sich vor
Daten sind in den letzten drei Jahrzehnten immer vielfältiger, umfassender und insbesondere allgegenwärtig geworden. Und dies nicht nur in dafür ausgebildeten Bereichen der wissenschaftlichen Forschung oder (Kommunal-)Statistik, sondern sowohl in der Presse und Politik als auch im alltäglichen Verwaltungshandeln. Datengestütztes Arbeiten ist als Qualitätsstandard in der Kommunalverwaltung, nicht nur in der Kommunalstatistik, sondern auch in den Fachämtern, Grundlage täglicher Entscheidungen. Daten sind im digitalen Zeitalter eine Schlüsselressource für zielgerichtetes, empirisch basiertes und somit transparentes Verwaltungshandeln.
Doch, und hier liegt das Problem, wenn Kommunalverwaltung und Politik (Verwaltungsspitze, Gemeinderat etc.) datengestützt arbeiten, bekommt die Datenkompetenz, das heißt der fachgerechte Umgang und das Wissen über Daten und deren Entstehung, Hintergrund und Limitationen, eine zentrale Bedeutung.
Die Fähigkeiten, Daten kritisch hinterfragt zu sammeln, zu managen, zu bewerten und anzuwenden, wird als Data Literacy bezeichnet. Data Literacy umfasst dabei nicht nur Statistikkompetenz oder ein mathematisches Grundver-
ständnis, sondern auch Fertigkeiten wie Digital- und Medienkompetenz. Wer datenkompetent („data literate“) ist, kann die Zuverlässigkeit von Datenquellen beurteilen, Daten zielgerichtet aufbereiten und einordnen, sowie sinnvolle Schlüsse aus diesen Daten ziehen und erkennen, wo Limitationen der Daten liegen, und entsprechend welche Schlüsse und Handlungsableitungen nicht getroffen werden können oder dürfen.
Ziele der AG Zentrales Anliegen der AG Urban Data Literacy ist es, die Datenkompetenz der Verwaltung, Verwaltungsspitze und, im Idealfall, kommunaler Entscheider zu schulen und so das allgemeine Datenverständnis zu verbessern. Die AG erhofft sich, dadurch ein Bewusstsein für datengestütztes Verwaltungshandeln in den Verwaltungen zu etablieren und somit nicht zielführende Handlungsableitungen in den Fachämtern durch Fehlinterpretation zu reduzieren.
Grundlage für unsere Arbeit ist die Data Literacy Charta des Stifterverbandes (https://www.stifterverband.org/chartadata-literacy) im Einklang mit der Datenstrategie der Bundesregierung und mit der Berliner Erklärung zur Digitalen Gesellschaft.
Arbeit der AG
Die AG Urban Data Literacy hat sich im Januar 2024 gegründet, um diesen Kompetenzmangel aufzugreifen, zu thematisieren und Formate zu dessen Verbesserung zu erarbeiten.
In einem ersten Schritt hat die AG drei zentrale Elemente der Arbeit definiert:
1. Erarbeitung eines übergreifenden Rahmens der Data Literacy innerhalb der Verwaltung
2. Zusammenstellen eines allgemeinen Glossars zentraler Begrifflichkeiten und Indikatoren aus bereits bestehenden Sammlungen zur Etablierung einer „gemeinsamen Sprache“, im Sinne gemeinsam verwendeter Begrifflichkeiten, einheitlicher Definitionen bzw. Aufstellung und Verdeutlichung von Unterschiedlichkeiten etc.
3. Entwicklung und Sammlung von Schulungsformaten, mit deren Hilfe die verwaltungsinterne Datenkompetenz von Kolleginnen und Kollegen geschult werden kann.
Wie kann ich mitmachen?
Aktuell sind über 20 Kommunen und Kreise in ganz Deutschland Mitglied in der AG Urban Data Literacy. Weitere Mitstreiter sind natürlich herzlich willkommen. Die AG tagt im digitalen Plenum quartalsweise.
Tobias Held, Ansgar Schmitz-Veltin
Wohnen in Großstadtregionen
Baden-Württembergs
Herausforderungen für die Wohnungsmärkte in Wachstumsregionen
Zwischen 2005 und den Jahren der Corona-Pandemie zeigte sich in den Ober- und Mittelzentren der badenwürttembergischen Wachstumsregionen ein Reurbanisierungstrend, der zu einem teils deutlichen Anstieg der Nachfrage nach urbanen Wohnstandorten führte. Insbesondere die Kernstädte waren immer weniger in der Lage, den hierdurch entstehenden Wachstumsschüben wohnungs- und baulandpolitisch zu begegnen. Trotz zahlreicher Maßnahmen stiegen die Mietpreise in einigen Zentren zum Teil stark an. In Folge hoher Wohnkosten und veränderter Wohnstandortpräferenzen durch die rasche Verbreitung des mobilen Arbeitens haben die Zentren zuletzt teilweise wieder Einwohner*innen an das Umland verloren. Damit steigen Mieten und Immobilienpreise auch im Umland der großen Städte – vor allem entlang von Verkehrsachsen.
Wie wirkt sich der neuerliche Trend zum Wohnen im Umland auf die Wohnungsmärkte in Wachstumsregionen aus? Und wie kann der erforderliche Wohnungsbau auf regionaler Ebene bewältigt werden? In einer Arbeitsgruppe der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft setzten sich Vertreter*innen aus Kommunalstatistik, kommunaler und regionaler Planung sowie aus der Wissenschaft zwischen 2019 und 2023 mit diesen Fragestellungen auseinander. Der daraus erschienene Bericht zeigt ausgehend von empirischen Befunden zur Wohnungsmarktentwicklung in Baden-
Württemberg und der Region Stuttgart auf, welche Strategien und Handlungsoptionen zur Problemlösung auf kommunaler Ebene bestehen. Am Beispiel des Oberzentrums Stuttgart und des Mittelzentrums Göppingen wird gezeigt, dass die Städte trotz eines Ausschöpfens des rechtlich möglichen Steuerungsrahmens immer weniger in der Lage sind, den Problemen auf den Wohnungsmärkten zu begegnen. Die Beiträge diskutieren die Rolle der Raumordnung im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Flächen für den Wohnungsbau und skizzieren Ideen zur Lösung der Wohnungsmarktprobleme auf regionaler sowie interkommunaler Ebene.
Der von Axel Fricke, Tobias Held und Ansgar Schmitz-Veltin herausgegebene Arbeitsbericht der ARL ist Ende 2023 erschienen und Open Access über die ARL-Website (www. arl-net.de) verfügbar.
Inhalt
Axel Fricke, Tobias Held, Ansgar Schmitz-Veltin Aktuelle Herausforderungen von Wohnungsmärkten in Wachstumsregionen – Einleitung und Positionsbestimmung
Paul Gans
Wohnungsmärkte in Baden-Württemberg: Entwicklung, Differenzierung, Hintergründe, Herausforderungen (2012–2019)
Tobias Held, Attina Mäding, Ansgar Schmitz-Veltin Wohnen in Stadt und Region – Wanderungsmuster und Wohnungsmarktdynamik in der Region Stuttgart
Axel Fricke
Strategien der Wohnungspolitik aus kommunaler Sicht
Martin Heberling Raumordnung und Wohnbauflächenentwicklung – Anreizsysteme und interkommunale Zusammenarbeit
Axel Fricke, Tobias Held, Ansgar Schmitz-Veltin Herausforderung Wohnungsmarkt – Erkenntnisse aus der Analyse in zehn Thesen
Hubert Harfst*
Der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ (SVR) zur deutschen Dateninfrastruktur
Im Jahresgutachten 2023/24 des Sachverständigenrats setzen sich die Fachleute sehr kritisch mit dem statistischen System in Deutschland auseinander. Obgleich im Gutachten der Schwerpunkt auf dem Datenzugang für die Wissenschaft liegt, gelten viele Forderungen auch für die Kommunalstatistik.
Einmal mehr wird festgestellt: „Die Dateninfrastruktur in Deutschland ist im internationalen Vergleich rückständig. Es bestehen Defizite im Umfang der verfügbaren Daten sowie deren zeitnaher Verfügbarkeit. Manche Daten werden gar nicht erhoben. Zudem sind bestehende administrative Daten aus der Verwaltung für die Wissenschaft und Politikberatung nicht zugänglich. Gleichzeitig können existierende Daten verschiedener Datenproduzenten nur in sehr eingeschränkter Form zu neuen Datenprodukten verknüpft werden, die neue Einsichten ermöglichen.“
Dabei sind datenbasierte Analysen essenziell für fundierte Entscheidungen
in der Politik und der öffentlichen Verwaltung. Empirisch basierte Politikberatung – auch auf kommunaler Ebene – ist auf zuverlässige Daten angewiesen, um Politik, öffentliche Verwaltung und Öffentlichkeit über Wirkungszusammenhänge aufzuklären, die Folgen geplanter Maßnahmen abzuschätzen sowie die Effektivität und Effizienz implementierter Maßnahmen zu evaluieren. Dafür sind eine umfangreiche, einfach zugängliche Dateninfrastruktur und die Möglichkeit, administrative Prozessdaten zu nutzen, erforderlich.
Gerade eine umfangreichere Nutzung der (eigenen) Verwaltungsdaten könnte das Angebot der (kommunalen) Statistik kostengünstig erweitern.
Zu den zentralen Handlungsfeldern zur Verbesserung der Dateninfrastruktur zählt laut Sachverständigenrat unter anderem die bessere Verfügbarkeit bereits erhobener Daten sowie erweiterte Möglichkeiten der Verknüpfung, insbesondere zwischen Datensätzen verschiedener Datenproduzenten.
Jahresgutachten 2023/24 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Bundestagsdrucksache 20/9300 vom 14.11.2023 https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/ Publikationen/Wirtschaft/ jahreswirtschaftsbericht-2024.html
Volker Holzendorf
Dokumentation der VDSt-Frühjahrstagung vom 18. bis 20.
März in Siegen
Das dreitägige Programm der Frühjahrstagung in Siegen hatte fünf Themenschwerpunkte mit jeweils zwei oder drei Vorträgen. Diese sind online einsehbar unter: t1p.de/j4es6
Hier dokumentieren wir von der Redaktion der Zeitschrift Stadtforschung und Statistik diese Vorträge in Abstractform.
Neue Themen – neue Perspektiven? Aktuelles zur Bevölkerungsentwicklung in Städten und Regionen
Der Themenblock 1 wurde von Ansgar Schmitz-Veltin moderiert.
Den Vortrag von Attina Mäding und Till Heinsohn: Die normative Kritik am Konzept des „Migrationshintergrunds“ auf dem Prüfstand: Kommunalstatistische Ableitung vs. Selbstwahrnehmung der Befragten findet sich in diesem Heft in der Langfassung.
Danach sprechen Cornelia Müller und Teresa Grundmann über Langfristige Trends der Bevölkerungsentwicklung in den IRB-Städten
Durch die Aufbereitung des sogenannten „historischen Datensatzes“ der IRB ist es gelungen, zu bestimmten Eckmerkmalen der Bevölkerungsstatistik Zeitreihen aufzubauen, die bei den westdeutschen Städten teils bis 1980 und bei den ostdeutschen Städten bis 1992 zurückreichen.
Die vorgestellten Analysen konzentrieren sich auf den Zeitraum von 1992 bis 2022. In diesem Zeitraum liegen für 34 (Gesamtbevölkerung) bzw. 25 (ausländische Bevölkerung) Städte Daten vor. Insgesamt sind die betrachteten Städte zwischen 1992 und 2022 nach verschiedenen Phasen des Schrumpfens (ins-
besondere in den 1990er Jahren) und des Wachstums (vor allem während der 2010er Jahre) um 8,7 % gewachsen. Hierbei gab es zwischen den Städten deutliche Unterschiede. Die westdeutschen Städte sind um 9,1 % gewachsen, die ostdeutschen um 3,4 % und Berlin um 11,4 %. Innerstädtisch verloren sowohl die Innenstädte als auch die Innen-
stadtränder in den 1990er Jahren stark an Bevölkerung, insbesondere in den ostdeutschen Städten. In den letzten zehn Jahren verzeichneten hingegen die Innenstädte die höchsten Wachstumsraten.
Ein weiterer Schwerpunkt des Vortrags waren Analysen zur ausländischen Bevölkerung. Zwischen den einzelnen
IRB-Städten gab es 1992 deutliche Unterschiede im Anteil der ausländischen Bevölkerung. Im Jahr 2022 liegt der Ausländeranteil in allen Städten höher als 1992. Innerhalb der Städte verteilt sich die ausländische Bevölkerung nicht gleichmäßig. Die höchsten Anteile sind in westdeutschen Städten am Stadtrand zu erkennen, die niedrigsten in der Innenstadt. In den ostdeutschen Städten zeigt sich ein anderes Muster. Die höchsten Anteile ausländischer Bevölkerung gibt es in Stadtteilen am Innenstadtrand. Erst seit 2010 steigt der Anteil ausländischer Bevölkerung am Stadtrand der ostdeutschen Städte an.
Der Vortrag von Andrea Schultz über Aktuelle Trends zur Fertilitätsentwicklung in deutschen Städten ist städteübergreifender Zusammenarbeit entstanden.
Ein Indikator zur Messung des Geburtenverhaltens ist die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR). Diese Kenngröße sagt aus, wie viele Kinder Frauen im Laufe ihres Lebens gebären würden, wenn die altersspezifischen Fertilitätsraten gleich blieben.
Ausgehend von einer TFR in Höhe von 1,47 Kindern je Frau im Jahr 2016 ging die Geburtenrate in Leipzig zunächst sukzessive und 2023 stark auf 0,99 zurück. Grund genug einmal anzuschauen, wie sich die Fertilität in anderen deutschen Großstädten entwickelt hat? Gibt es regionale Muster? Oder können wir von einem überregionalen Trend sprechen? Insgesamt haben 31 Städte ihre Fertilitätsdaten bereitgestellt. Aus 26 Städten liegen auch Daten bis einschließlich 2023 vor. In allen Städten ist die TFR in den letzten Jahren tendenziell zurückge -
gangen. Im Städtevergleich weist Leipzig mit -33,1 Prozent seit 2016 zwar den stärksten Einbruch der TFR auf, aber auch in vielen anderen deutschen Großstädten hat sich das Geburtenverhalten stark geändert und es entscheiden sich aktuell deutlich weniger Frauen (und Männer) für ein Kind als noch einigen Jahren. In allen Städten ist die TFR seit 2016 tendenziell gesunken, am wenigsten in den süddeutschen Städten Pforzheim (-3,1 Prozent), Freiburg i. B. (-4,3 Prozent) und Ingolstadt (-5,0 Prozent). Etliche Städte erreichten im Corona-Jahr 2021 ein zwischenzeitliches Geburtenhoch. Dieses „Corona-Zwischenhoch“ trat jedoch nicht flächendeckend auf, es zeigte sich in 12 der 26 Städte. Besonders ausgeprägt war das „Corona-Zwischenhoch“ im Jahr 2021 in Pforzheim, Stuttgart, München, Ingolstadt, Fürth, Würzburg und Dortmund.
Zwischen 2022 und 2023 ist die TFR in 25 von 26 Städten zurückgegangen. Regionale Muster lassen sich nicht erkennen. Auf der Suche nach Erklärungen für den aktuellen Einbruch im Geburtenverhalten möchte ich auf zwei Leipziger Beobachtungen aufmerksam machen: - Rückläufig ist der Anteil Erstgeborener an allen Geburten. Das lässt die Vermutung zu, dass der Anteil kinderloser Frauen tendenziell sinkt. Die Kinderzahl von Frauen mit Kindern jedoch unverändert bleibt.
- Der Einbruch der Geburten wird vor allem von „fehlenden Geburten“ bei Frauen bis Anfang 30 Jahre verursacht.
Diese Beobachtung ist interessant und wird in der Abbildung visualisiert. Aktuell entscheiden sich in Leipzig nur vergleichsweise wenige Frauen unter
Entdeckt
Dokumentation
30 Jahren für ein erstes Kind. Bei Spätgebärenden, die ihr erstes Kind ab ca. 35 Jahren bekommen, ist hingegen kein Rückgang zu erkennen. Untermauert wird der Befund – dass sich vor allem jüngere Frauen seltener für ein Kind entscheiden - von den Ergebnissen der Leipziger Jugendstudie. Kinder zu haben oder eine Familie zu gründen ist nach den Befunden unserer Studie nicht mehr zentral für ein gutes Leben. Im Jahr 2010 gaben noch 78 Prozent der Schülerinnen und 69 Prozent der Schüler an, dass es ihnen (sehr) wichtig sei, Kinder zu haben. Im Jahr 2023 sank die Bedeutung auf 40 Prozent bei den Mädchen und 43 Prozent bei den Jungen. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung erklärt die sinkenden Geburtenraten vor dem Hintergrund aktueller Krisen. Der Bevölkerungsforscher Martin Bujard resümiert: „Der Krieg in der Ukraine, die gestiegene Inflation oder auch der fortschreitende Klimawandel haben die Menschen zusätzlich zur Pandemie verunsichert. In einer solchen Zeit multipler Krisen setzen viele ihren Kinderwunsch nicht um“ (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, 2024).
Unklar ist aktuell, ob sich diese Entwicklungen in den kommenden Jahren weiter fortsetzen werden. Es wäre zumindest denkbar, dass Geburten im späteren Alter nachgeholt werden können. In jedem Fall bleibt zu konstatieren, dass bereits der aktuelle Geburteneinbruch langfristige, demographische Spuren hinterlässt, da diese Kohorten – ohne weitere Zuwanderung – sehr gering besetzt bleiben.
Abschließend für diesen Block hielt Helmut Schels : aus Ingolstadt einen interessanten Vortrag zum BildungsInfrastrukturbedarf für Kinder unter 10 Jahren in Ingolstadt. Helmut Schels stellte vor, wie in der am schnellsten wachsenden deutschen Stadt Quartiersplanungen vorgenommen werden. Ingolstadt verwendet dafür Erfahrungswerte aus bisherigen Stadterweiterungen. Aus diesen werden Kennziffern für den Bedarf an Bildungsinfrastruktur für Neubaugebiete berechnet. Diese Kennziffern erweisen sich für Ingolstadt als sehr stabil und bieten damit eine sehr gute Planungsgrundlage für zukünftige Stadterweiterungen.
Lebenszufriedenheit und Umweltgerechtigkeit
Der Themenblock 2 wurde kurzfristig von Andrea Schultz wegen der Abwesenheit von Jan Dohnke moderiert.
Auch der Vortrag von Björn Schippers und Miriam Buchholz aus Kassel: Umweltgerechtigkeit in Kassel – ein indikatorengestütztes Vorgehen zur Abbildung des Dreiklangs aus Umwelt, Gesundheit und Sozialem erscheint im nächsten Heft der Stadtforschung und Statistik in Langfassung.
Anett Richter vom Amt für Umweltschutz der Stadt Leipzig trug Bürgerbefragungen als Instrument zur Erstellung von Hitzeaktionspläne vor.
Bürgerbefragungen sind etablierte Instrumente zur Gewinnung von kommunalen Informationen aus der (Stadt-) Gesellschaft und werden in regelmäßigen Abständen auch in der Stadt Leipzig durchgeführt (Umfrage zum Klimawandel in Leipzig - Stadt Leipzig). In der Bürgerumfrage „Klimawandel 2022“ äußerten sich über 1200 Personen zu Fragen
des Klimawandels und der Klimaanpassung. Ergänzend zur Bürgerbefragung wurden Bürgerinnen und Bürger im Rahmen eines Bürgerfestes (Leipziger Ökofete - Ökolöwe (oekoloewe.de) persönlich auf ihre Wahrnehmung von Hitzeorten und Maßnahmen zum Hitzeschutz angesprochen. Ziel war es zu erfahren, wie sehr sich die persönliche Wahrnehmung von Hitze aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger mit der Sicht der Stadtverwaltung aus den Erkenntnissen von Bürgerbefragungen und modellierten Daten zum Stadtklima (Stadtklima – Stadt Leipzig) unterscheiden?
In der Bürgerbefragung wurde erkennbar, dass das Leiden der Bevölkerung infolge der Auswirkungen des Klimawandels größer und intensiver wird. Sowohl Hitzebelastungen im Innen- und Außenraum, als auch indirekte Belastungen in Form von Stress und Sorge werden durch Hitze ausgelöst. Sagten mehr als die Hälfte der Befragten in der Bürgerbefragung, dass mittlerweile nicht nur sehr alte und erkrankte Menschen von den negativen Effekten von Hitze betroffen sind, so zeigten sich auch junge
Wahrgenommene Hitzebelastung (rote Punkte) und Orte der Abkühlung (blaue Punkte) von befragten Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Leipzig auf der Ökofete 2023.
Menschen auf dem Bürgerfest besorgt, dass die Auswirkungen von Hitze ihre Arbeits- und Lebenswelten verändern. Maßnahmen der Hitzeprävention sollten auf alle Menschen ausgerichtet sein. Die Ergebnisse der Bürgerbefragung zeigen auch, dass Anpassungsmöglichkeiten gegen Hitze vielfach abhängig von sozialen Faktoren sind. Menschen mit weniger Einkommen leiden stärker unter der Hitze, oftmals bedingt durch eine prekärere Wohn-, Mobilitäts- oder Arbeitssituation.
Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass sich die verschiedenen Instrumente der Wissensgewinnung (hier: Bürgerbefragung, Bürgergespräche, Modelle und Szenarien zur Entwicklung von Temperaturen) gegenseitig ergänzen. Die Integration der diversen Wahrnehmungen und Erkenntnisse sind bei der Erstellung von informellen Fachplanungen (hier: Hitzeaktionsplan) empfohlen. Um festzustellen wie wirksam die verschiedenen Maßnahmen z. B. des Hitzeschutzes und der Hitzeprävention sind, benötigt es eine Dauerhaftigkeit der Befragungen und eines Monitorings der Maßnahmen. Themen wie Klimaanpassung und Klimaschutz, Gesundheits- und Umweltvorsorge, Klima- und Umweltgerechtigkeit sowie Bildung und Kommunikation zu diesen Themen sind Querschnittsthemen, die dem Schutz der Menschen dienen und sollten zukünftig eine hohe Priorität in den Stadtverwaltungen, und darüber hinaus, einnehmen.
@Anett Richter
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Fachkräftemangel in Städten und Regionen
Der Themenblock 3 wurde von Uwe Meer moderiert.
Georg Sieglen vom IAB (Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung) sprach über Fachkräftemangel in Städten und Regionen
In vielen Bereichen und Regionen Deutschlands zeigen sich in den vergangenen Jahren zunehmend Anzeichen für Fachkräfteengpässe. Die Studien zu diesem Thema nutzen unterschiedliche Methoden und Indikatoren zur Erfassung der selbigen. Einig ist man sich in der Einschätzung, dass es bisher keinen flächendeckenden Fachkräftemangel in Deutschland gibt.
Die Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit (Bundesagentur für Arbeit 2023) bietet eine Identifizierung von Engpassberufen auf der Grundlage eines Durchschnittswertes eines umfangreichen Spektrums von Einzelindikatoren, die auf Fachkräfteengpässe hindeuten bzw. das Risiko ihres Auftretens erfassen. Die berufsfachliche Tiefe (Berufsgattungen der Klassifikation der Berufe) der Einzelindikatoren erlaubt aktuell allerdings keine Auswertung unterhalb der Ebene von Bundesländern.
Aktuelle Analysen zu Fachkräfteengpässen auf der Ebene von Kreisen und kreisfreien Städten bieten die Analysen von Bossler und Popp (2023) und die Datenbank des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA). Beide Studien analysieren die Engpasssituation mit einzelnen Indikatoren auf der Grundlage von Daten zu gemeldeten Stellen und Arbeitslosen bzw. Arbeitssuchenden der Bundessagentur für Arbeit (BA). Da aktuell aber nur rund 40 % der offenen Stellen bei der BA gemeldet werden, wird in beiden Studien die Zahl gemeldeter Stellen mit Meldequoten aus der IAB-Stellenerhebung hochgerechnet. So lassen sich mit der KOFA-Datenbank kleinräumige Auswertungen zu regionalen Unterschieden der „Fachkräftelücke“ (Offene Stelle im Verhältnis zur Zahl der Arbeitslosen in den Berufsgattungen) vornehmen, während die Analyse von Bossler und Popp regionale Unterschiede
der „Arbeitsmarktanspannung“ (Offene Stellen im Verhältnis zu Arbeitssuchenden in den Berufsgattungen) analysiert. Die Auswertungen von Bossler und Popp (2023) zeigen unter anderem, dass ländliche Regionen 2022 stärker von Fachkräfteengpässen betroffen waren als städtische Arbeitsmärkte. Eine Studie von Buch et al. (2024) analysiert solche Stadt-Land-Unterschiede im Zeitverlauf und geht der Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen regionalen Unterschieden im Hinblick auf die Engpasssituation und unterschiedlich ausgeprägten strukturellen Merkmale nach. Grundlage dafür bilden ebenfalls Daten der BA-Stellenstatistik, die mit Daten der IAB-Stellenerhebung hochgerechnet wurden. Als Engpass-Indikator wurde dabei die Vakanzrate verwendet, die die Zahl der offenen Stellen ins Verhältnis zur Arbeitsnachfrage bzw. der Summe aus offenen Stellen und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stellt. Dieser Indikator zeigt im Beobachtungszeitraum von 2013 bis 2022 eine kontinuierliche Zunahme und dabei in ländlichen Regionen im Durchschnitt durchgehend höhere Werte als in städtischen Gebieten. Die Ergebnisse einer Regressionsanalyse zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen dem regionalen Anteil älterer (55 Jahre und älter) Beschäftigter und der Vakanzrate. Entsprechend dürfte die in ländlichen gegenüber städtischen Regionen etwas stärker vorangeschrittene demografische Alterung zu den Disparitäten in der Vakanzrate beigetragen haben. Zusammenhänge dieser Art zeigen sich auch im Hinblick die Anteile von Beschäftigten im Engpass-Berufen (Bundesagentur für Arbeit, 2023) und in Kleinbetrieben (weniger als 50 Beschäftigte). Die Ergebnisse lassen außerdem darauf schließen, dass die in ländlichen Regionen durchschnittlich niedrigeren Arbeitslosenquoten sowie das niedrigere Lohnniveau zu ausgeprägteren Fachkräfteengpässen beigetragen haben dürften.
Nach der bundesweiten Perspektive stellte Martina Rebien in ihrem Vortrag Fachkräfteengpässe in Nürnberg und
Fürth einen regionalen Ansatz für die Analyse des potentiellen Fachkräftemangels vor.
Das Amt für Stadtforschung und Statistik für Nürnberg und Fürth beschäftigt sich in einem seiner Projekte aktuell mit der Frage, ob es möglich ist, die FachkräfteEngpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit (BA) auf Kreisebene herunterzubrechen.
Die Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht im jährlichen Turnus eine Analyse, in der überprüft wird, ob in einem bestimmten Beruf Fachkräfteengpässe auftreten. Grundlage der Untersuchung sind die 4-Steller (Berufsuntergruppen) der Klassifikation der Berufe 2010, wobei die Helfer-Ebene der Berufe nicht berücksichtigt wird. Eine Vielzahl von Indikatoren wie die Vakanzzeit, die Arbeitlosen-Stellen-Relation, die Berufsspezifische Arbeitlosenquote, die Veränderung des Anteils sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung von Ausländern, die Abgangsrate aus Arbeitslosigkeit und die Entwicklung der Entgelte werden für jeden einzelnen dieser Berufe auf ihre Ausprägung hin untersucht. Anhand von vordefinierten und teils variablen Grenzwerten werden die Ausprägungen der Analyseindikatoren für jeden Beruf einer von vier Klassen zugewiesen. Die Klassen erhalten einen Punktewert von 0 (sehr weit entfernt von den Anzeichen eines Engpasses) bis 3 (Anzeichen eines Engpasses), der zur Ermittlung der Stärke des Fachkräfteengpasses über alle Analyseindikatoren gemittelt wird. Ist dieser gemittelte Punktewert 2 oder größer, so liegt in der Definition der BA ein Fachkräfteengpass vor. Die Engpassanalyse wird für Gesamtdeutschland und die Bundesländer berechnet. Eine regional tiefergehende Gliederung kann aufgrund der tiefen Berufsgliederung nicht berechnet werden.
Genau hierin besteht die größte Problematik, bei einer Berechnung der Engpassindikatoren auf einer kleineren regionalen Ebene wie den Kreisen. Zunächst mussten für die Berechnung für die Stadt Nürnberg einige Kompromisse in Kauf genommen werden. Um eine ausreichende Menge an Berufsinformationen
für eine Engpassanalyse auf Kreisebene zur Verfügung zu haben, muss die 2-Steller-Ebene der Berufsklassifikation (Berufshauptgruppen) genutzt werden. Auch ist es nicht möglich, die Helfertätigkeiten, die letztlich keine Anforderungen auf Fachkraftniveau beinhalten, aus den Daten zu entfernen. Die lokale Analyse für die Stadt Nürnberg beschränkt sich demnach auf die 37 Berufshauptgruppen, inklusive der Tätigkeiten auf dem Helferniveau. Entsprechend kann die Analyse die Engpassberufe nur in sehr groben Zügen identifizieren. Die ersten vorläufigen Ergebnisse zeigen jedoch erfreulicherweise, dass sich die Berufshauptgruppen, die für Nürnberg als Engpassberufe identifiziert werden, sich zum großen Teil in der viel detaillierteren Analyse der BA wiederfinden. In der ersten Spalte der Tabelle sind die codes der Berufshauptgruppen abgetragen. Blau gekennzeichnet sie die Hauptgruppen, die in der Engpassanalyse der BA auf der 4-Steller-Ebene ebenfalls vertreten sind. In Spalte 3 sind die Punktemittelwerte aus der Analyse für Nürnberg abgetragen. Rot gekennzeichnet sind die Berufshauptgruppen, für die ein Engpass identifiziert wurde, grüne sind jene, für die kein Engpass erkennbar ist. Die weißen Felder sind solche Berufshauptgruppen, in denen eine Berechnung aufgrund einer mangelnden Datenbasis nicht vollständig realisiert werden konnte.
Im weiteren Verlauf des Projektes sollen die Berechnungen, die aktuell noch vorläufig sind, noch besser an die Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit angeglichen werden. Bisher war dies aufgrund von kürzeren Zeitreihen der Daten
stellenweise nicht realisierbar. Eine tiefere Gliederungsebene der Berufe und der Verzicht auf die Helfertätigkeiten muss jedoch ausgeschlossen werden, da die Datenbasis für dieses Vorhaben zu klein werden würde. Auch die Analyse für die Stadt Fürth kann aufgrund der deutlichen geringen Größe des dortigen Arbeits-
marktes nicht umgesetzt werden. Trotz dieser Einschränkungen kann die lokale Engpassanalyse Hinweise liefern, an welchen Stellen des kommunalen Arbeitsmarktes mit Verwerfungen zu rechnen ist und an welchen Stellen kommunale berufliche Weiterbildungs- und Fördermaßnahmen nützlich sein könnten.
Tab. 1 Vorläufige Ergebnisse der Engpassanalyse für die Stadt Nürnberg
Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit; eigene Berechnungen
Wohnen in der Stadt
Der Themenblock 4 wurde von Andrea Schultz moderiert und umfasste anders als im Tagungsprogramm angekündigt lediglich zwei Vorträge.
Ansgar Schmitz-Veltin und Tobias Held referierten über Wohnen in den Stadtregionen Baden-Württembergs Die dem Vortrag zu Grunde liegende Studie wird in der Rubrik „Entdeckt dieses Heftes vorgestellt.
Der Vortrag von André Grow-Böser Wie entwickelt sich der demografisch bedingte Wohnungsbedarf in der Stadt Köln? Ergebnisse einer Prognose für die Jahre 2022 bis 2050 in neun Varianten befindet sich in Langfassung in diesem Heft.