… und dann ging die Geschichte erst richtig los

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… und dann ging die Geschichte erst richtig los Ein Lesebuch

Biografisches und Kreatives Schreiben an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin Herausgeber: Guido Rademacher

Schibri-Verlag

Berlin • Milow • Strasburg


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Bestellungen über den Buchhandel oder direkt beim Verlag © 2011 by Schibri-Verlag Meininger Str. 4 10823 Berlin E-Mail: info@schibri.de www.schibri.de Lektorat: Gerd Koch, Guido Rademacher Umschlag-Illustration: (c) Matthias Brand (Berlin): Aquarell o.T. 2010 (Format: 24 x 32 cm) Kontakt zum Künstler über den Verlag Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany ISBN 978-3-86863-062-6


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Inhalt Vorwort von Guido Rademacher: Ist KREATIVES SCHREIBEN lernbar? 7 Andrea Lenz: Grenzkinder Angelika Grigat: Süßer Mai Anke Bartholomä: Die neuen Schuhe Bettina Melzer: Drachensteigen Birgit Marianne Said: Odyssee Angelika Weirauch: Nix(e) im Netz Christa Eversmeyer: Abgefahren Christina Denz: Der Fleck Christina Schoch: Reality TV Evelyn Brandt: Licht im Fenster Frank Aschoff: Ruhemodus Heike Gumz: Playmobil Isabel Morgenstern: Tunnelfahrt Jacqueline Semper-Jost: Liegengelassen oder vergessen Jutta Beuke: Mantel – ein Sternenzelt: Das Weihnachtsgeschenk Hartmut Meierkord: Wetterzeichen Jutta Michaud: Fahrstuhl abwärts Karin Ulrich: Joyeux Noël Uta Jugert: dziekuje Katharina Weißbach-Hempel: Haus der Wege Katja Andergassen: Tür zu! Kerstin Günther-Rellecke: Die Angst vor der Uniform Lydia Betz-Michels: Atlantis Marita Oeming-Schill: Im Spiegel Marlies Blersch: Thomas, der Mann, der sein Ohr verlor Martina Eidt: Gegen die Schwerkraft Sabine E. Rasch: Wintermorgen Sabine Samonig: Liebes Zauber Uli Streib-Brzic: ˇ Das Rosengedeck Susanne Lipp: I want to be a bird

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Nachwort von Prof. Dr. Gerd Koch

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Angaben zu den Autorinnen und Autoren

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Ist KREATIVES SCHREIBEN lernbar? Ein VORWORT als Antwort Das Talent sitzt im Arsch. Dieser plastische Aphorismus, den der 2004 verstorbene Schriftsteller Paul Schuster formuliert hat, der einer der Wegbereiter des Kreativen Schreibens in Deutschland war, hat die Frage, ob Kreatives Schreiben lernbar sei, schon in einem Satz beantwortet. Es ist in der Regel nämlich nicht der Genius der Stürmer und Dränger oder die Muse des armen Poeten, die plötzlich im Dachgeschoss durch die marode Decke regnet, und erst recht nicht die Inspiräischen des heutigen Loftbewohners, sondern harte Arbeit und Sitzfleisch und Regel und Kritik, die für einen gelungenen Text verantwortlich sind – wobei sich Musen und Inspiration und Talent selbstverständlich gern am Schaffensprozess beteiligen dürfen. Um es den Lesern und Autorinnen aber nicht zu einfach machen, weil Zuspruch oder Kritik hier sehr schnell und gern mit Leidenschaft geäußert werden, sei das Ruder an dieser Stelle gleich wieder herumgerissen und darauf hingewiesen, dass es beim Kreativen Schreiben erst einmal darum geht, das Schreiben wieder zu verlernen, respektive das angelernte, das schulische Schreiben von der vermeintlich weiten und saftigen Alm des Deutschunterrichts zu treiben. Denn dort stehen Autorinnen und Autoren häufig noch mit dem trockenen Gras zwischen den Zähnen, das ihnen schon seit Jahrhunderten aus dem Rahmenplan entgegengewachsen ist. Und so kauen gestandene Journalisten und Wissenschaftsautoren, erfahrene Akademiker jeglicher Couleur, die sich z.B. im Studiengang „Biografisches und Kreatives Schreiben“ an der AliceSalomon-Hochschule Berlin eingeschrieben haben, nicht selten noch die Art von Schulaufsatz wieder, in dem in parataktischen Satzreihen von den Erlebnissen der letzten Sommerferien erzählt wird. Allerdings muss an dieser Stelle auch darauf hingewiesen werden, dass das Niveau des literarischen Schreibens in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen ist, was sicherlich nicht zuletzt daran liegt, dass sich die Methoden des in den USA beheimateten Creative Writing in Deutschland sukzessive durchgesetzt haben und an Schulen und Universitäten häufig in den Rahmenplan als AG oder Kurs und am Zweiten Bildungsweg zum Beispiel mit in den Deutschunterricht integriert wurden. Ohne Innendruck, kein Ausdruck. Dieser weitere sehr treffende Aphorismus des Schreiblehrers Paul Schuster, der u. a. der Nobelpreisträgerin Herta Müller den literarischen Weg geebnet hat, darf wohl ganz besonders bei dieser Autorin als Maxime über ihrem Werk stehen. Der Autor der Rumänischen Buddenbrooks und


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Vorwort

Redakteur der rumänischen Literaturzeitschrift Neue Literatur, war sicherlich in einem nicht geringen Maße daran beteiligt, den ungeheuer starken Innendruck der jungen Autorin unter der Diktatur Ceausescus einen entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Ähnliches, und da bleiben wir in diesem Vorwort mal ganz unbescheiden, hat sich auch der Masterstudiengang der ASH-Berlin vorgenommen. Selbstverständlich sollen dort keine Nobelpreisträger gezüchtet und in erster Linie keine literarischen Autoren gefördert werden. Trotzdem aber besteht der Anspruch, dem Innendruck aller Studierenden einen solch ästhetisch adäquaten Ausdruck zu verleihen, dass es auch dem Leser und der Leserin Genuss und Erkenntnis beschert. Und so wird das Biographische, die schriftliche Erinnerung und Reflexion des Individuums im kreativen Schreibprozess, nicht nur zu einem intimen und intensiven Erlebnis des Produzenten, sondern auch zu einem Erfahrungsschatz möglicher Konsumenten, was die hier vorliegende Anthologie nun erstmalig dokumentiert und evoziert. Die Auswahl von dreißig Geschichten, die im Studien-Modul Prosa als Abschlussarbeiten eingereicht wurden, steht repräsentativ für alle Texte der ersten drei Studiengänge seit 2006 und soll einen Einblick geben, wie Texte durch konstruktive Kritik in den sogenannten Feedbackgruppen, durch den Austausch mit Studierenden und Lehrenden , durch das Erlernen verschiedenster Methoden und Möglichkeiten auch in den übrigen Modulen des Studiengangs, entstehen und zu einem epischen Strauß biographischer und ästhetischer Erfahrungen erblühen können. Guido Rademacher Dozent im Modul Prosa des Master-Studiengangs „Biografisches und Kreatives Schreiben“ an der ASH-Berlin


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Andrea Lenz

Grenzkinder Der Asphalt endet – jetzt geht’s los. Wir fahren über holprigen Sandboden. Manchmal rutschen die Reifen im losen Zuckersand weg. Wir können nur langsam fahren, um das Gleichgewicht zu halten. Links kommt der ehemalige Müllberg, davor die verwilderten Felder. Da wolln sie ein Krankenhaus hin bauen. Rechts von uns das Gatter mit den Ponys. Die Ziegen und Schafe drängeln nach vorn – sie bekommen nichts. Weiter. Die Gänse zischen laut hinter uns her, bleiben aber wo sie sind. An der Gärtnerei vorbei. Ein Rasensprenger spritzt übern Gartenzaun. Juchhhu – geschafft. Wir sind trocken durch. Schweißtropfen auf der Stirn und Luft holen. Ich wart an der Gabelung bis er nach kommt. Vorwärts geht’s nicht. „Wollen wir nach rechts oder nach links?“ Wir fahrn nach rechts, wie immer. Nach links eigentlich nur wenn Andi dabei ist. Also rechts. Eine Seite Häuser mit Gärten. Die Straße hat Kopfsteinpflaster, deshalb bleiben wir auf dem Bürgersteig. Der Weg ist enger; fester Erdboden, Wurzeln von den Bäumen manchmal – wir müssen den Hintern heben. Eine Einfahrt mit unregelmäßigen Steinplatten – klack- klack, klack- klack, die Räder rumpeln drüber. Wir fahren hintereinander, mal er, mal ich vorn – kleines Wettfahren. Ich bin lieber vorn. Er auch. Gleich kommt die erste Biege, wieder rechts. Vorher, auf der linken Seite, das Grab. Schatten von den hohen Bäumen machen es düster. Ich seh nur kurz frische Blumen darauf, bevor wir um die Kurve sausen. „Ehhh – warte – ehhhhh – warte doch mal!“ Der rast weiter. Ich hinterher. Jetzt sind hohe Büsche links und eine Wiese mit Wassergraben rechts. Wieder Asphalt unter den Rädern – riiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiitriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiit – gleichmäßig. „Ehhhhhhhhhhhh, man, warte doch mal.“ – „Was ist dennnn?“ – Wir sind auf einer Höhe. „Wegen dem Grab…“ – „Hmmmh, jaa?“ – Langsam nebeneinander – riiiiiiit-riiiiiiiiiiiiiiit. „Meinst du, die haben den einfach so erschossen? – Einfach erschossen?“ – „Weiß nich. Von hinten bestimmt – der war schon drüben.“ – „Ja, aber dann…, haben die über die Mauer rüber geschossen? – Das kann ich mir nicht vorstelln. Vielleicht haben sie ihn drüben angeschossen und er ist dann hier gestorben?“ – „Ich weiß nich. – Los, wer zuerst an der Kreuzung ist!“ Wir fahren auf den Pedalen stehend an: „Myem – myemm, myemm“. Ich drängel ihn links auf die Wiese, zieh zur Mitte und trampel so schnell ich kann. Weiter im Stehn, meine Arme halten gespannt den Lenker, dann drüber gebeugt, schneller. Er holt auf. Ich tret noch schneller, schneller. Rutsch rechts vom Pedal – ahhh – das dreht durch – wieder rauf den Fuß. Wir kommen fast gleichzeitig vorn an. „Ich war schneller.“ – „Nein ich.“ – „Nein ich.“ – „Neihein iiich, war eher da.“- „Du lügst.“ – „Okay, wir haben beide gewonnen.“ Weiter geht’s über die Straße


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Andrea Lenz

grade aus durch die Siedlung durch. „Dahinter“, brüll ich, neben uns rattern die Autos auf der Straße lang, „hinter der Siedlung muss irgendwo der neu angelegte Kiesteich sein. Wolln wir da mal hin fahrn?“ – „Von mir aus. Morgen vielleicht.“ Jetzt steigt die Straße an. Unter uns müssen gleich die Gleise der Eichholzbahn kommen – die endet hier. Hier endet alles. Völlig außer Puste schauen wir oben durch die Abzäunung durch – in den Osten. Nicht viel zu sehen von hier. Weiter. Wir lassen unsere Räder runter rollen, ohne groß zu treten, dann müssen wir über die große Hauptstraße. Wir fahren durch die Gartensiedlung, wo die Wege Vogelnamen haben und dann links auf einen Sandweg, der an einem Krankenhaus vorbei führt. Die Irrenanstalt. Geradeaus wieder Schluss. Mauerstreifen. Nach rechts, wie gewohnt. Hier beginnt unsere asphaltierte Rennstrecke. Alle paar Meter hat wer mit weißer Farbe drauf gepinselt, dass Reiter Schweine sind und Pferde alles vollscheißen. Stimmt doch gar nicht, die haben doch einen extra Reitweg; trotzdem müssen wir grinsen. Rechts von uns ist jetzt Wald. Es duftet in der Mittagshitze würzig nach Kiefern. Farnkraut darunter, einige Büsche. Links hohes wucherndes Gestrüpp: Brombeerranken, Wiesen mit Schneidegras, dazwischen ab und an ein weißes Emailleschild: Achtung! Hier endet der Britische Sektor. Dahinter das Grau der Mauer, oben abgerundet wie ne umgedrehte Regenrinne; Stacheldraht ringelt sich darauf. Mal weiter entfernt, mal höchstens einen Meter fünfzig nah. Wir gehen nie nah ran. Ob wegen dem Schild? Oder wegen all der Geschichten, die erzählt werden? Wegen allem vielleicht. Angst? Würden die auch auf Kinder schießen? Vielleicht gibt es Mienen und wir würden in die Luft fliegen. Keine Ahnung. Wir haben Ferien. Sommer. Im Sommer ist alles gelb. Gelb und warm. Die Wiese neben uns wird schon braun vor Hitze. Braun und trocken und irgendwo zirpen die Grillen. Der erste Hügel auf der Strecke kommt. Der ist nur klein. Der Fahrtwind zaust unsere Haare nach hinten. „Los schneller. Schneller treten.“ Gleich kommt der zweite Hügel. Der ist steiler und wir trampeln, trampeln, trampeln – fahren im Stehen hoch. Schaffen es gerade so. Oben Luft holen. „Boh. Puh.“ Rauf aufs Rad, runter rollen. Mir klopft das Herz dabei. Bloß nicht von den Pedalen rutschen. Wie damals. Da war zum Glück ein Baumstamm vor dem Abgrund, der meine Schussfahrt aufgehalten hat. Nur der kleine Zeh war verstaucht. Ich trete auf die Bremse. Wegen der Angst. Er ist jetzt klar vorn. Egal. Erst ziemlich unten fang ich an wie wild zu trampeln, denn der nächste, der höchste von allen fünf Hügeln kommt gleich hinter her. Den schaffen wir nie ganz. Keuchend springen wir kurz vor der Spitze ab und schieben den Rest hoch. „Scheiße, man.“ Wischen uns den Schweiß von der Stirn. Winken grüßend rüber. Die rufen was zu uns und winken zurück. Wir kauen beide Kaugummi. Kauen so, wie wir Rad fahren. Stelln die Räder ab, klettern den Sandhügel ganz rauf. Feiner weißer Sand. Zuckersand. Sieht aus wie ne Schanze und man sieht von hier die beiden Grenzer in ihrem Turm ganz genau. Junge Männer in grauer Uniform. Sind nett. Winken lachend. Wir auch. „Dass die das dürfen? Komisch das alles. Wieso die drüben keine Kaugummis kriegen? Andi zwei


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Angelika Grigat

Süßer Mai Auf dem Bahnhof hielten sich etliche Fahrgäste die Ohren zu als der Zug quietschend zum Stehen kam. Eine undeutliche Durchsage hallte von irgendwo über den Bahnsteig und die Türen der Regionalbahn öffneten sich. Unter den Menschen, die an der letzen Haltestelle vor dem Stadtzentrum ein- und ausstiegen, war Silvia, eine kräftige, junge Frau mit blond gefärbtem Haar und ohne Gepäck. Beim Aussteigen trat sie beinahe auf eine einbeinige Taube, die am Boden kauerte und erschreckt vor ihr aufflatterte. Die Taube ließ sich ein Stück weiter nieder. Silvia sah ihr angewidert nach. Weit weg von dem zerzausten Vogel, der torkelnd um sein Gleichgewicht rang, setzte sie sich auf eine der Bänke. Sie streckte ihre Beine der Mittagssonne entgegen und schaute gähnend einem sehr langen, dünnen Mann nach, der die anderen Menschen überragte und an ihr vorüberhastete. Die Nacht war kurz gewesen, auch wenn sie diesmal nicht von seinem Schreien geweckt worden war. Eine kleine Weile noch wollte sie auf der Bank sitzen und die Wärme spüren. Anschließend würde sie in den Tierpark gehen, der von hier zu Fuß gut zu erreichen war. Der Zug, mit dem sie angekommen war, fuhr davon und gab ihr den Blick auf eine große Werbewand frei. Ein sonnengebräuntes Fotomodell rekelte sich in einer Hängematte. Sie lächelte, zeigte ihre schönen Zähne und ihren makellosen Körper für eine Modefirma. Mit ihrem rechten Fuß berührte sie leicht den hellen Sand, ihr lässig-elegantes Kleid schimmerte seidig. Silvia sah an sich hinunter und ihr T-Shirt, das morgens noch schick gewesen zu sein schien, war augenblicklich schäbig, billig und zu kurz, die Jeans zu eng für ihre stämmigen Beine. Im Vergleich zu der zarten Schönheit in der Hängematte, war ihr Körper üppig, beinahe massig. Die runden Hälften ihres Hinterns rollten beim Gehen wie Melonen. Ihre Brüste waren groß und schwer, zogen die Blicke der Männer an und entlockten etliche grunzende Laute. Viele pfiffen ihr nach, andere lächelten sie auffordernd an. Meistens ging Silvia in sehr aufrechter Haltung an den Männern vorüber – ohne sie anzusehen oder gar ihr Lächeln zu erwidern. Sie wusste, dass man sie im Dorf nicht nur darum für eingebildet hielt. Silvia wischte mit einem Papiertaschentuch den Staub von ihren Schuhen. Dann stand auf sie auf, zog ihr T-Shirt so weit es ging hinunter und ging auf den Ausgang des Bahnhofes zu, der dem Tierpark am nächsten lag. Seit Jahren war sie nicht mehr dort gewesen, obwohl sie die Tiere, ihre Gerüche und die fremdartigen Geräusche dort sehr mochte. Die Zebras und die Elefanten hatten Nachwuchs bekommen, darüber hatte sogar das Fernsehen berichtet. Auch die Löwen hatten in diesem Monat geworfen. Große Katzen, besondere Katzen. Maikatzen, die sie sehen wollte.


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Angelika Grigat

Der Mai war ein besonderer, ein außergewöhnlicher Monat. Kein anderer Monat desselben Jahres begann mit demselben Wochentag wie der Mai. Wenn die Katze zuhause Junge hatte, dann achtete der Vater darauf, dass er nur die Maikatzen behielt, weil die zäher und kräftiger waren. Das waren starke Katzen, die sich vom Mäusefang ernähren konnten. Im Mai geborene Tiere waren nie hinterhältig, aber stolz und eigenwillig, so wie sie selbst, die vor beinahe zweiundzwanzig Jahren im Mai geboren worden war. Sie war stark, brauchte weder die Eltern noch sonst jemanden, um klarzukommen. Anders als die blöden Weiber im Dorf, hielt sie nicht ständig Ausschau nach einem Kerl. Sie brauchte keinen Mann und Thorben brauchte keinen Vater. Erst recht keinen, der ihr seine Zunge in den Hals bohrte, der nach Schweiß und Rum stank und wortlos ging, nachdem er bekommen hatte, es er wollte. Ihre Schwangerschaft hatte sie lange nicht bemerkt. Heimlich und unentdeckt war er in ihr gewachsen, so lange, bis es für eine Wahl zu spät war. Irgendwie hinterhältig kam es ihr im Nachhinein vor, dass er sich all die Wochen versteckt hatte. „Sie können das Kind doch zur Adoption freigeben“, hatte die Ärztin mit feinem Lächeln gesagt. Doch das war für Silvia noch weniger in Frage gekommen als eine Abtreibung und so hatte sich entschieden, dass sie Mutter werden würde. Manchmal hatte sich das durchaus gut angefühlt. Sie freute sich in diesen Augenblicken auf ein schönes Mädchen, das sie stolz im Dorf spazieren fahren würde. Fast zwei Jahre war es jetzt her, dass sie das Kind geboren hatte. Es kam in einer dieser schwülen Sommernächte, die sie immer schon gehasst hatte, weil sie alles schwer machten. Auch den Schlaf und die Träume. In jener Nacht im August war sie schweißnass in ihrem Bett aufgewacht, hatte sich zwischen die Beine gefasst und eine warme Nässe gespürt. Sie tastete etwas Rundes, das sich aus ihr herausdrängte, das mit jedem Atemzug größer wurde, ihr entsetzliche Schmerzen zufügte und sie zu zerreißen drohte. Er hatte es eilig gehabt damals. Zwei Wochen zu früh und innerhalb von zwei Stunden war er da gewesen. Eine Geburt, wie sie nur selten bei Erstgebärenden vorkomme, staunte die Hebamme. Sie hatte die junge Mutter beglückwünscht und von einem Geschenk Gottes gesprochen, das Silvia nun anvertraut sei. Ihr Geschenk war ein Junge mit Milchschorf und eng stehenden, dauernd entzündeten Augen. Sie nannte ihn Thorben, ein Name, der im Dorf noch nie vorgekommen war und der ihr schon darum gefiel. Thorben erbrach häufig und schrie ständig. Silvia trug den unangenehm säuerlich riechenden Thorben oft Stunden lang durch die Wohnung, ehe er sich schließlich beruhigen ließ. Sie schob seinen Kinderwagen, sie fütterte, windelte und badete ihn. Niemand sollte sagen können, dass sie ihn vernachlässige, dass sie es nicht allein schaffe, für ihn zu sorgen. Schon gar nicht die Eltern, die immer wieder versuchten, sich in ihr Leben einzumischen. Als ihr Vater von der Schwangerschaft erfahren hatte, war Silvia bereits im siebenten Monat gewesen. Gebrüllt und getobt hatte er damals, um herauszubekommen, wer für das Kind Unterhalt zu zahlen habe. Erfahren hatte er es nicht. Es ging niemanden etwas an.


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Anke Bartholomä

Die neuen Schuhe Als ich Patricia zum ersten Mal sah, fühlte ich mich dunkel an jemanden erinnert. Es kam mir vor, als wären wir uns schon begegnet – nur, dass ich beim besten Willen nicht mehr hätte sagen können, wo. Ihr vorsichtiger Blick und die Art, wie sie sich bewegte, waren mir auf unangenehme Weise vertraut. Der Tag, an dem sie mit ihrer Mutter in unser Schuhgeschäft kam, war ein Samstag. Ein Tag wie jeder andere. Am Morgen hatte ich Streit mit meinem Freund. Stefanie, meine Chefin, kam zu spät zur Arbeit. Sie drückte mir zwei Becher Kaffee mit Dunkin‘-Donuts-Aufdruck in die Hand und warf ihre Jacke über den Tresen. „Sorry! Sorry! Sorry!“ murmelte sie. „Gott sei Dank bist du schon da! Mein Auto ist stehengeblieben. Ich musste den ADAC anrufen. Schau dir mal an, wie ich aussehe!“ Sie streckte mir zum Beweis ihre manikürten Hände entgegen. Der rechte Zeigefingernagel war etwas eingerissen und auf dem Handrücken waren ein paar schwarze Streifen zu sehen. „Dafür, dass du eine Panne hattest, siehst du tipp-topp aus“, sagte ich. „Gott sei Dank!“ seufzte sie und steuerte auf den hinteren Teil des Ladens zu, wo sich die Toilettenräume befanden. Ein älterer Herr mit Schnauzer und Gamsbarthut sah ihr interessiert hinterher. Der Vormittag verlief ruhig. „Ziemlich leer heute“, sagte ich halblaut zu Stefanie. „Wo sind die Kunden?“ Sie warf einen kurzen Blick durch den Raum. „Keine Ahnung. Vermutlich bei der Konkurrenz. Wir könnten die Zeit nutzen und die neue Lieferung einsortieren.“ Mittags kam eine Traube von Menschen zur Tür herein. Stefanie übernahm die Beratung und besorgte fehlende Modelle aus dem Lager. Ich kassierte. Als es endlich ruhiger wurde, holte Stefanie eine Packung Zigaretten unter der Theke hervor. Sie nestelte in ihrer Hostentasche nach dem Feuerzeug und sagte: „Ich bin mal kurz draußen, ja?!“ Ich nickte. Ich ließ mich auf den Hocker hinter der Kasse sinken und biss in mein Schinkenbrot. Auf der Ablage neben der Kasse lag eine Frauenzeitschrift. Ich blätterte darin herum. Winona Ryder war beim Ladendiebstahl erwischt worden, Jeansjacken mit Pelzbesatz waren wieder modern und nur 53 Prozent aller Frauen erreichten beim Sex regelmäßig den Orgasmus. Die Eingangstür machte ein knirschendes Geräusch. Eilig schob ich das Brot unter die Theke und schluckte den letzten Bissen hinunter. Dann rutschte ich vom Hocker und nickte den hereinkommenden Kunden zu – einer älteren Frau und einem pummeligen jungen Mädchen. Wegen der Kurzhaarfrisur hielt ich sie zuerst für einen Jungen.


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Anke Bartholomä

„Guten Tag! Kann ich Ihnen helfen?“ Die Frau zuckte zusammen. „Nein, danke, erst einmal wollen wir uns nur umschauen“, sagte sie. Sie war blass und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Das Mädchen trug ein rotes Sweatshirt und hielt einen Stoffbeutel in der Hand. Die beiden steuerten auf die Ecke mit den Ballerinas zu. Ich nutzte die Gelegenheit, um mein Brot in der Tupperdose zu verstauen. Stefanie mochte es nicht, wenn ich während der Arbeitszeit frühstückte. Kurz darauf betrat Frau Braun, eine Stammkundin, mit ihrem Gehstock den Laden. Ich ging ihr entgegen und reichte ihr den Arm. Nach der Ankunft brauchte Frau Braun immer eine kleine Verschnaufpause. „Sie sehen heute gut aus, meine Liebe. Der Urlaub ist Ihnen bekommen“, sagte sie, während ich ihr den Klappstuhl zurechtrückte. „Zeigen Sie mir doch, was Sie an Pantoletten da haben, wenn es Ihnen nichts ausmacht!“ Ich ging zum rückwärtigen Regal, um ein paar passende Modelle herauszusuchen. Fast wäre ich über einen schmuddeligen Leinenbeutel gestolpert, der mitten im Gang lag, neben einem Paar ausgetretener Halbschuhe. „Entschuldigen Sie!“ rief die Frau mit den Augenringen. „Die Sachen sind von meiner Tochter. Ich räume sie schon weg!“ Noch während sie sprach, sammelte sie mit hastigen Bewegungen die Schuhe und den Beutel vom Boden auf. Die Handtasche fiel ihr von der Schulter. „Ist doch nicht so schlimm“, sagte ich. Während ich mich an der Frau vorbeizwängte, nahm ich einen strengen Geruch wahr. Es war eine Mischung aus altem Schweiß und dem Mief abgetragener Turnschuhe. Ich wandte den Kopf ab. Stefanie hat mir oft gesagt, dass ich nicht so empfindlich sein soll – aber ich kann es einfach nicht leiden, wenn Leute sich gehen lassen. Nachdem Frau Braun das Geschäft verlassen hatte, stellte ich mich zu Stefanie hinter die Theke und blätterte weiter in meinem Frauenmagazin. Stefanie prüfte das Kassenbuch. „Noch eine Stunde!“ flüsterte sie mir zu. Wenn wenig Kundschaft kommt, vergeht die Zeit langsam. Die Frau mit den Augenringen richtete sich auf und sah sich suchend um. Stefanie kam hinter der Kasse hervor und lächelte sie gewinnend an: „Kann ich Ihnen helfen?“ „Wir suchen ein Paar schwarze Schuhe in Größe 38, für einen festlichen Anlass“ sagte die Frau. „Kein Problem!“ Stefanie ging auf das Eckregal zu, wo wir elegante Damenschuhe deponieren. Sie bedeutete der Frau und dem Mädchen, ihr zu folgen. Ich verkniff mir ein Grinsen. Es war schwer, sich eine der beiden in eleganten Schuhen vorstellen. „So so, für die Konfirmation?“ hörte ich Stefanie fragen. „Möchten Sie dann nicht lieber hochhackige Schuhe tragen? Wir hätten da zum Beispiel dieses Paar in Schwarz …“ Das Mädchen räusperte sich und sprach halblaut mit ihrer Mutter. Dann schüttelte sie den Kopf: „Lieber nicht.“ „Tja … Und was halten Sie von so einem Modell?“ Stefanie hielt ein Paar schwarzlederne Riemchensandaletten mit Blockabsatz in die Höhe. „Junge Mädchen kaufen diese Schuhe zurzeit sehr gerne“, fügte sie hinzu. Die Frau


Die neuen Schuhe

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nahm einen Schuh in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. Sie sah zufrieden aus. „Die sind doch gut! Möchtest Du sie mal anprobieren?“ Die Tochter wirkte immer noch unschlüssig. „Wie heißen Sie, wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich Stefanie. Das Mädchen reagierte nicht. „Meinen Sie meine Tochter?“ fragte die Frau mit den Augenringen. „Die können Sie ruhig duzen. Sie ist erst 14.“ Stefanie ließ sich nicht beirren. „Du oder Sie?“ fragte sie, an das Mädchen gewandt. „Sie können wirklich Du sagen. Ich heiße Patricia Heckendorf.“ Sie vermied es, Stefanie ins Gesicht zu sehen – vielleicht, weil sie noch damit beschäftigt war, ihren Schuh zu schließen. „Ein schöner Name“, sagte Stefanie. Sie lächelte, obwohl Patricia, die am Boden kauerte, ihr Gesicht bestimmt nicht sehen konnte. „Sie heißt Wilhelmina Patricia“, ergänzte die Mutter, „aber aus irgendeinem Grund mag sie diesen Namen nicht. Sie lässt sich meistens nur Patricia nennen.“ Das Mädchen fuhr herum und starrte ihre Mutter an. Einen Moment lang dachte ich, dass sie zornig werden oder irgendetwas Ungewöhnliches tun würde. Sie tat aber nichts. Sie öffnete nur den Mund und zog kurz und heftig die Luft ein. Stefanie fand vermutlich, dass es an der Zeit war, über etwas anderes zu reden. „Also, Patricia, was möchtest Du denn zu Deiner Konfirmation für Schuhe tragen?“ fragte sie. Patricia sah unschlüssig aus. Sie wandte sich wieder nach ihrer Mutter um. „Am liebsten möchte ich solche Schuhe haben, wie sie Tante Irmi trägt“, sagte sie zögernd. Ihre Stimme war so leise, dass ich ihre Worte mehr erriet als verstand. Frau Heckendorf runzelte die Stirn. „Was trägt denn Deine Tante Irmi für Schuhe?“ fragte Stefanie. Patricia sah sich suchend um. „Ihre Schuhe haben keinen Absatz und sind lang und spitz – ungefähr so …“ Sie deutete mit beiden Händen die Größe der Schuhe an. „Tante Irmi hat richtig große Füße. Große Füße sind schöner, finde ich.“ Sie warf ihrer Mutter einen unsicheren Blick zu. Frau Heckendorf reagierte nicht. Stefanie sah Patricia freundlich an. „Schuhe ohne Absatz haben wir natürlich auch“, sagte sie. „Ich kann mir vorstellen, dass sie Dir gut stehen. Komm, ich zeige sie Dir!“ Sie führte die beiden zu dem Regal mit den Halbschuhen. Dann winkte sie mir zu: „Annika, würdest Du mir bitte dieses Modell in Schwarz aus dem Lager holen? Größe 39?“ Der Schuh, den sie meinte, war eine Art Kreuzung aus Sandale und Halbschuh. Ein Modell für Frauen in mittleren Jahren, die auf Bequemlichkeit Wert legen. „Vielleicht sind diese Schuhe etwas für Ihre Tochter“, sagte Stefanie zu Frau Heckendorf, nachdem ich ihr den Karton in die Hand gedrückt hatte. „Viele unserer Kundinnen fühlen sich mit hohen Absätzen unwohl. Ihre Tochter ist eher der sportliche Typ – nicht wahr, Patricia?“ Das Mädchen sah Stefanie irritiert an. Sie machte keinen besonders sportlichen Eindruck in ihrem ausgeleierten Pullover und den weiten Hosen, und sie schien das zu wissen. Das Telefon klingelte. Stefanie sagte: „Entschuldigen Sie mich bitte!“ und ging zur Kasse. Patricia und ihre Mutter wirkten auf einmal befangen. Ich war unschlüssig, ob ich bleiben oder gehen sollte. Es waren keine anderen Kunden


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