Begegnungen zwischen Kirche und Theater

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Inhaltsverzeichnis

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Begegnungen zwischen Kirche und Theater Impulse, Dialoge und Projekte Herausgegeben von

Julia Helmke / Klaus Hoffmann

Schibri-Verlag Berlin • Milow • Strasburg


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Inhaltsverzeichnis

Herausgeber: Julia Helmke (Arbeitsfeld Kunst und Kultur im Haus kirchlicher Dienste der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers), Klaus Hoffmann (Arbeitskreis Kirche und Theater e.V. in der EKD)

Redaktion: Tobias Sommer Fotonachweis: Umschlagbild: Titelbild „Das Mädchen in Macbeth“ © Steffi Krapf Seite 27, 28 © Marcel Domeier, Hanns-Lilje-Stiftung Seite 29 © Jens Schulze, Hanns-Lilje-Stiftung Seite 68-74 © Jens Schulze, Hanns-Lilje-Stiftung Seite 85, 86 © Gernot Wilke Seite 99–104 © Hubert Heck Seite 107–113 © Matthias Gräßlin Seite 117 © Jörg Landsberg Seite 142 © Schauspiel Hannover Seite 146–148 © Anetta Meißner-Jarasch Seite 150–156 © Steffi Krapf Seite 164–172 © Matthias Gräßlin Gefördert von der Hanns-Lilje-Stiftung und der Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel und Theater e.V. aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

© 2011 by Schibri-Verlag Dorfstraße 60, 17337 Uckerland OT Milow, E-Mail: info@schibri.de, Homepage: www.schibri.de

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-86863-082-4


Inhalt Einleitung Julia Helmke / Klaus Hoffmann

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Einleitung

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Grußwort

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Christoph Dahling-Sander

Eine gute Geschichte erzählen

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Impulse/Dialoge

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Thomas Erne

Überlegungen zur Aufführungspraxis des Evangeliums Lars Ole Walburg

Ja, Kirche und Theater haben etwas miteinander zu tun Ein Gespräch zwischen Ingrid Hentschel und Gerhard Marcel Martin

Aktuelle Entwicklungen in Religionspädagogik und Theaterästhetik

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Marcus Ansgar Friedrich

Keine Inspiration ohne Konspiration, ohne Transpiration, ohne Tradition! Liturgische Präsenz 2010 Statements von Holk Freytag, Peter Ries und Arnim Juhre, eingeleitet und kommentiert von Maren Schmidt

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Zukunftsperspektiven von Theater und Kirche

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Kirchenraum als Spielraum

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Nadine Giese

Über Schwellen stolpern – Theaterpädagogisches Handeln im

kirchlichen Raum

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Bernd Hillringhaus

Werkstatt sakraler Raum Klaus Hoffmann

Eine jüdische Performerin in der protestantischen Zionskirche zu Bethel Julia Helmke

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Predigt das Theater – oder was wird im Gottesdienst gespielt?

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Exemplarisch: Die Kunst des Weihnachtsspiels

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Hannes Langbein

Ein Stück für die ganze Familie

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Boris Michael Gruhl

Dass sich die Güte an der Macht bricht. Anmerkungen zur Tradition des christlichen Weihnachtsspiels

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Projekte zwischen Theater und Kirche

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Julia Helmke

Ausgezeichnet! Theaterstück erhält kirchlichen Kulturpreis Annetta Meißner-Jarasch

Religionspädagogische Theaterarbeit mit Kindern

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Steffi Krapf

Theater macht schön und frei – und Glauben sowieso! Die Jugendkirche Hannover

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Matthias Gräßlin

Das eigene Theater im Kirchenraum – künstlerische Wege und soziale Prozesse im Volxtheater der Theaterwerkstatt Bethel

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Zu den Autoren

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Literaturhinweise

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GruĂ&#x;wort


Grußwort von Dr. Christoph Dahling-Sander Geschäftsführer der Hanns-Lilje-Stiftung

Eine gute Geschichte erzählen Kunst und Kultur mit Kirche und Theologie ins Gespräch bringen, Horizonte erweitern, echte und vermeintliche Grenzen ausloten und wenn nötig überschreiten – mit diesen Zielen fördert die Hanns-Lilje-Stiftung seit über 20 Jahren Theaterproduktionen. Sie engagiert sich als Initiator und Förderer neuer Sichtweisen, innovativer Projekte und des offenen Gesprächs. Drei Förderschwerpunkte prägen das Profil der Hanns-Lilje-Stiftung: 1. Die Zukunft von Politik und Gesellschaft, 2. Wissenschaft, Technik und Wirtschaft für das Leben und 3. die bildende Kraft von Kunst und Kultur, stets im Dialog mit Kirche und Theologie. So geht es auch im Bereich der Förderung von Theaterproduktionen darum, Brücken zu bauen und deren Belastbarkeit zu testen sowie neue Erfahrungen von Raum und Zeit zu eröffnen. „SCENA – Theater und Religion“, das viel beachtete Festival wurde beispielsweise durch die Hanns-Lilje-Stiftung gefördert. Es zeigte in zweijährigem Abstand von 1998 bis 2002 in Hannovers Kirchen, was das internationale Theater der Gegenwart noch und wieder mit Religion zu tun hat. SCENA stellte sich die Aufgaben, Kirchen für Theater zu öffnen, einen kulturellen Brückenschlag zu praktizieren und Künstler aus unterschiedlichen Religionen mit Theaterwissenschaftlern, Theologen und dem Publikum in einen kritischen Diskurs über Theater und Religion zu bringen. Zahlreiche Produktionen sind gefördert worden, die als Tournee konzipiert worden sind und oft auch über Niedersachsen hinaus ihre Kreise ziehen konnten. Das war zum Beispiel der Fall bei dem Theaterstück „Die göttliche Odette“ (Buch: Rolf Kemnitzer, Regie: Harald Schandry), „Luther 2009“ (Buch/Regie: Peter Ries), „Feindberührung 2.0“ (Buch/Regie: Willi Schlüter, Tim von Kietzell) und „Das Nimmermeer“ (Buch/Regie: Kai Fischer, Christopher Weiß). Die großen Produktionen wurden an mehr als 50 Orten gespielt. Oder es sind Vorhaben, die für einen bestimmten Ort konzipiert worden sind, zum Beispiel „Biblische Oper: Johannes Brahms – ein deutsches Requiem“ in Verbindung mit Jedermann-Monologen von Frank Martin und einem Text von Hugo von Hofmannsthal (Musikalische Leitung: Martin Ehlbeck, Inszenierung: Christoph G. Amrhein), „Keinsternhotel“ (Buch/Regie: Luise Rist, Nina de la Chevallerie) und „Tafeltheater – Futter für die Seele“ (Konzept/Regie: Peter Henze).


Eine gute Geschichte erzählen

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Teufel in der Kiste in der „Biblischen Oper: Johannes Brahms – ein deutsches Requiem“


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Inszenierung der „Biblischen Oper: Johannes Brahms – ein deutsches Requiem“ in der Herrenhäuser Kirche in Hannover

Christoph Dahling-Sander

Neue Werke, auch Auftragswerke, sind unter den geförderten Stücken ebenso zu finden wie innovative Neu-Inszenierungen. Aufführungsorte sind Kirchen, Schulen, Theatersäle, alte Betriebshöfe und andere öffentliche Räume. Bei den einen wirken professionelle Künstler auf der Bühne, bei den anderen so genannte Laien unter professioneller Anleitung und bei den Dritten mischen sich verschiedene Professionen. Einige arbeiten auch mit Musik oder mit Videoinstallationen. Mit diesen wenigen Strichen wird die Bandbreite von „Theater in Kirchen und um Kirchen herum“ ersichtlich. Gemeinsam ist all diesen Stücken, dass sie existentielle oder gesellschaftliche Fragen aufnehmen und dabei eine christliche Dimension einbringen, implizit oder explizit. Sie locken die Künstlerinnen und Künstler wie auch die Zuschauerinnen und Zuschauer in ihrer Lebenssituation heraus. Und sie bringen Fragen der Zeit auf die Bühne, machen sie anschaulich für das Publikum. „Feindberührung 2.0“ arbeitet sich an der Gewalt unter Schülerinnen und Schülern ab, „Keinsternhotel“ an der Lebenssituation von Flüchtlingen und der hiesigen Flüchtlingspolitik. „Das Nimmermeer“ widmet sich dem vielfach tabuisierten Thema „Alterssuizid“.


Eine gute Geschichte erzählen

Eine wichtige Frage ist für mich und viele andere, ob bestimmte Stücke ein Thema pädagogisieren, ihre Lehre in bestimmte Formen packen und Theater so das Mittel zum Zweck werden lassen. Lässt die Produktion den Zuschauenden Freiräume für die Suche eigener Fragen und Lösungsansätze – oder ist alles vorgegeben? Fordert sie zur eigenen Positionierung heraus, gegebenenfalls auch gegenüber einem gesellschaftlichen oder kirchlichen Mainstream? Interessant wird es jedenfalls, wenn es einem Stück gelingt, einfach eine gute Geschichte zu erzählen und zur Aufführung zu bringen. Solche Geschichten ermöglichen Identifikationen und Abgrenzungen, machen neugierig und reizen dann zur Auseinandersetzung mit bestimmten Fragen. Die Kunst des Theaters ist es wohl, Assoziationsräume zu eröffnen und Deutungen anzubieten, ohne diese platt vorzugeben. Dieses Feld auszuloten, ist ein großes Verdienst der Tagung „Theater in Kirchen und um Kirchen herum“. Ein zweites Themenfeld wird bei den geförderten Theaterproduktionen aufgeworfen, dem sich die Tagung „Theater in Kirchen und um Kirchen herum“ in-

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Enkel und Großmutter in „Das Nimmermeer“


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Christoph Dahling-Sander

tensiv zugewandt hat: Welche Bedeutung haben Raum und Zeit? Das Stück zum Alterssuizid „Das Nimmermeer“ entfaltet vor dem Altar einer Kirche eine ganz andere Wirkung als im Saal einer diakonischen Einrichtung. Eine Kirche ist eben einer der markantesten Orte, um Leben und Tod in verschiedenen Nuancen darzustellen und auch zu erleben. Sie ist einer der wenigen Räume, wo beides, auch der Tod präsent ist. „Luther 2009“ spielt geradezu mit den verschiedenen Raumund Lichtdimensionen der unterschiedlichen Kirchen. Doch es stellt sich jedes Mal wieder die Frage, wie viel ein Kirchraum trägt. Was ist für eine Kirche – und ihre Gemeinde zumutbar? Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Kirche vom Glauben erzählt, vom Glauben derjenigen, denen sie für Gottesdienste gedient hat und dient. Daher ist zu fragen, ob es etwas gibt, was diesem erzählten Glauben substantiell zuwiderläuft. Und dann kann durchaus gefragt werden, warum dies Stück in dieser Kirche aufgeführt werden soll. Nebenbei bemerkt: Dieselbe Frage gilt auch für andere Künste, sei es bildende Kunst oder etwa Musik. Andererseits kann auch gefragt werden, ob bestimmte Produktionen, die eine christliche Dimension beinhalten, an nicht kirchlich geprägten Orten vielleicht ebenso gut – und sogar besser – aufgehoben sind, um genau dort ein Stachel zu sein. Zum Beispiel ein Stück zum christlich-islamischen Dialog in der Schule für alle Schülerinnen und Schüler, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Gut, dass die Tagung diesen Fragen nachgegangen ist. Diese zwei Themenfelder greife ich exemplarisch heraus, weil sie stets virulent sind. Weitere Themenfelder wären zum Beispiel die Deutungsansprüche eines Auftraggebers und die Freiheit der Autoren und Regisseure, die Bedeutung von soziokulturellem Theater etc. Ich freue mich, dass die Tagung zur Klärung dieser Fragen beitragen konnte. Die Hanns-Lilje-Stiftung hat sie und die Dokumentation aus voller Überzeugung gefördert. So wünsche ich im Namen der Hanns-Lilje-Stiftung dem Buch eine weite Verbreitung im Kreis der Kulturschaffenden und ermutige gerne im Sinne LarsOle Walburgs: Lasst uns einfach eine gute Geschichte erzählen!


Impulse/Dialoge


Thomas Erne

Überlegungen zur Aufführungspraxis des Evangeliums 4

Wahrscheinlich haben viele meiner Generation das Theologiestudium so ähnlich erlebt wie ich und wie es in Teilen heute noch ist. Ich schildere Ihnen nur die Räume, in denen ich Theologie studiert habe. Ich war im evangelischen Stift in Tübingen, einem ehemaligen Augustinerkloster, und mein Zimmer sah aus wie eine Zelle. Also, ein Bett, das umkippte, wenn man zu zweit darin lag. Das führte natürlich auch zur Moral, rein praktisch gesehen. Dann gab es noch einen Tisch, einen Schrank und sonst nichts. Wir hatten auch einen großen Saal. Das war ein Hörsaal mit Tischen und Stühlen, und einen Lesesaal mit Schreibtischen und vielen Büchern. Es gab einen Speisesaal, ebenfalls mit vielen Tischen. In der Theologischen Fakultät sah es so ähnlich aus. Viele Bücher auf den Gängen, ein großer Saal mit Tischen zum Bücherlesen. Schon das Raumprogramm macht klar, was eine Ausbildung zum künftigen Pfarrer bedeutet. Pfarrer sind Textleser in hoher Qualität, die ich nicht in Abrede stelle, aber sie sind das ausschließlich. Sie sind Textleser, Textinterpretierer, Textversteher, und leisten dabei sehr viel. Aber es gibt im Theologiestudium nicht einmal einen Raum, wo man über das Lesen hinaus sich gut bewegen könnte – außer vielleicht beim Essen. Das war meine Ausbildungsstätte für den Beruf eines Religionsdarstellers. Denn als ich dann zum ersten Mal an Weihnachten in dem Raum meiner Berufsausübung stand, in der Kirche, in der ich als Pfarrer tätig war – der Chor um 1500 erbaut, das Schiff um 1600 mit einer Bemalung aus einem Renaissanceschloss, und zwar aus dem Speisesaal, weltlich figurativ, und der barocke Turm um 1700 – da dürfen Sie sich einen Textleser vorstellen, der zum ersten Mal in seinem Leben vor 1000 Menschen steht und nicht nur in einem Text, sondern in 1000 Gesichtern lesen können sollte. Was hat mich gerettet? Mich hat zweierlei gerettet: Das eine, dass ich versehentlich auch noch Musik studiert habe. Versehentlich, weil ich mir nicht wirklich klar war, als ich mit dem Doppelstudium begann, was Musik mit meiner späteren Berufspraxis als Pfarrer zu tun haben würde, außer das es si4

Impulsvortrag auf der Tagung „Theater in Kirchen und um Kirchen herum“, am 3.12.2009 in der Neustädter Stadt- und Hofkirche St. Johannis in Hannover.


Überlegungen zur Aufführungspraxis des Evangelismus

cher praktisch sein würde als Pfarrer gut singen zu können. Erst als ich vor diesen 1000 Leuten an Weihnachten stand, habe ich begriffen, warum die göttliche Vorsehung mich überredete hatte neben Theologie auch noch Musik zu studieren. Ich habe in der Musik gelernt, was Spannungsverläufe sind, wie Rhythmen Sequenzen strukturieren, auch eine Handlungssequenz wie es der Gottesdienst eine ist. Ich habe in der Musik gelernt, welche zentrale Bedeutung der Atem für jeglichen Ausdruck hat und wie wichtig körperliche Präsenz für jede Darstellung ist. Ich habe in der Musik gelernt, dass es auch eine nonverbale Kommunikation gibt und dass es in jeder Darstellung um Kommunikation geht, um ein Spiel der Hingabe und Zurücknahme, bei der das Gegenüber, Hörer wie Gemeinde, als Co-Autoren ernst genommen werden müssen. Was mich noch gerettet hat, ist, dass meine Frau, die Künstlerin ist, eine Playing Arts-Fortbildung machte, und ich wie so ein armer Mitesser vom reich gedeckten Tisch der Playing Artists mir alles geholt habe, was ich in den vielfältigen Religionsdarstellungen, die ich als Pfarrer zu leisten hatte, gebrauchen konnte. Und zufällig begegnete mir Marcel Martin mit einer bibliodramatischen Analyse von Rundfunkansprachen bei einer Fortbildung in der Rundfunkarbeit. Auch so ein kleiner Rettungsanker, wie überhaupt die Rundfunkarbeit etwas war, was mich ebenfalls gerettet hat. Mein Traum: Künftige Theologen, die den Beruf eines Religionsdarstellers, also eines Pfarrers ergreifen, werden nicht an einer Universität studieren wie in Marburg, sondern an einer Kunsthochschule. In Stuttgart heißt die Musikhochschule „Hochschule für Musik und darstellende Künste“ – und zu diesen darstellenden Künsten müsste auch die Aufführungspraxis des Evangeliums gehören. Es könnte Religion als eine Darstellungskunst neben anderen Künsten in einer solchen Hochschule angeboten werden, und Theologie wäre das Reflexionswissen dieser Praxis – so wie zum guten Musikstudium auch die Musikwissenschaft gehört. So wäre das theologische Reflexionsbewusstsein von Anfang an mit der Darstellungspraxis der Religion vermittelt. Das hätte den Vorteil, dass heutige Theologiestudenten wissen, wenn sie dieses Studium ergreifen, dass jemand, der Pfarrer werden will, auch ein Künstler werden sollte. Wäre damit das Problem der Aufführungspraxis des Evangeliums im 21. Jahrhundert gelöst? Ben Becker wird Fernsehsprecher für das Wort zum Sonntag und Otto Sander bewirbt sich am Berliner Dom als Hofprediger? Wäre alles nur ein Problem der Aufführungspraxis, wir hätten das Problem in der Tat gelöst durch die Änderung und Optimierung der Ausbildungspraxis. Es gibt allerdings eine durch Optimierung der Ausbildung nicht zu bewälti-

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Thomas Erne

gende Schwierigkeit in der Aufführungspraxis des Evangeliums – und das ist das Evangelium selber. Was meine ich damit? Warum ist es nicht so einfach, das Evangelium aufzuführen im Unterschied zu allem anderen? Meine These lautet: Es gibt eine ganz enge Verwandtschaft zwischen Theater und Kirche. Es könnte in meiner Hochschule einen gemeinsamen Probenraum für die künftigen Schauspieler und für die künftigen Religionsdarsteller geben. Wenn man bei einer Probe zuschaut, würde man auf den ersten Blick keinen Unterschied sehen. Beide nämlich haben es mit einem gemeinsamen Thema zu tun. Und zwar mit dem Thema der Transzendenz. Auch das Theater ist wie die Religion wesentlich damit beschäftigt, unsere Wirklichkeit zu erweitern. Das erste: Beide machen uns mit Unbekanntem vertraut. Ich war gestern in einer wunderschönen Aufführung des Simplicissimus und habe Dinge erfahren, die ich vorher nicht kannte, und bin mit ihnen so in Kontakt gekommen, dass ich anfange mir eine Vorstellung zu machen, wie es wohl sein müsse, so zu leben wie diese Hauptfigur gelebt hat. Das ist vertraut werden mit etwas Unbekanntem. Das Theater macht wie die Religion ein freundschaftliches Angebot: Lass dich auf etwas ein, was du nicht kennst. Das zweite ist genau die umgekehrte Bewegung: Das Vertraute wird unvertraut gemacht. Ein schönes Beispiel ist die Filmszene aus Smoke. Harvey Keitel spielt da einen Zigarrenhändler. Dieser Harvey Keitel fotografiert jeden Morgen zur gleichen Zeit an der gleichen Stelle mit der gleichen Kamera immer die gleiche Szene. Und eines Tages lädt er den Schriftsteller ein, der bei ihm immer Zigaretten kauft, sich seinen Schatz anzusehen. Das ist ein ganzer Schrank mit Fotoalben, wo immer die gleichen Bilder drin sind, sagt jedenfalls der Schriftsteller, als er diese Fotoalben zu sehen bekommt. Und dann sagt Harvey Keitel, was auch Wilhelm Genazino sagen könnte, „Schau nochmal hin“ – Genazino nennt das den gedehnten Blick. Er schaut nochmal und er traut sich irgendwie nicht gleich zu sagen „Ja gut, ist okay“, sondern er guckt wirklich ganz langsam und er blättert auch langsam. Und dann beginnt es. Man sieht es an seinem Gesicht. Das ist eine ganz wunderbare Szene. Er beginnt langsam zu sehen. Er sieht in dem Vertrauten das Unbekannte, die Wolken, das Licht, und dann sieht er plötzlich Menschen. Und am Ende bricht er in Tränen aus, weil er seine verstorbene Frau auf einem dieser Bilder entdeckt. Fotografie ist auch so etwas wie eine Auferstehung der Toten. Das sind zwei Transzendenzformen, die begegnen mir im Theater wie in der Religion. Noch eine dritte, ganz wichtige Form gehört dazu: Das Theater wie die Religion bietet so etwas wie Abstandspraktiken, Distanzierungsmöglichkeiten.


Überlegungen zur Aufführungspraxis des Evangelismus

Man kann sich im Theater über die unglaublichsten Dinge verständigen, weil man sie in Abstand zum eigenen Alltag zu sehen bekommt. Im Theater ist der Abstand allerdings anders vermessen als in der Religion. Sie müssen, was sie auf der Bühne sehen, nicht gleich mit der eigenen Lebenspraxis ratifizieren. Sie dürfen wieder rausgehen und müssen weder an das glauben, was Sie gesehen haben, noch müssen Sie es für wahr halten. Humor ist so eine Abstandspraxis. Lachen zu können ist noch keine Erlösung. Aber es ist eine Erleichterung, den Dingen nicht unmittelbar drängend ausgesetzt zu sein. Diese Formen von Transzendenz verbinden das Theater mit der Religion. Und deshalb würde ich davor warnen, Religion immer dann ins Spiel zu bringen, wenn es um Transzendenz geht, denn es gibt Erfahrungen von Transzendenz, die nicht immer schon religiös unterlegt sein muss. Einkaufen zum Beispiel ist eine Transzendenzerfahrung, die nichts mit Religion zu tun hat, obwohl Kaufhäuser auch Konsumtempel genannt werden. Wir erfahren Transzendenz im Kino, in der Disko, in der Sauna, im Theater, beim Autofahren, beim Einkaufen, in der Liebe, ohne dass diese Erfahrungen notwendigerweise religiös imprägniert sind. Wenn beide – Theater und Kirche – mit Transzendenz zu tun haben, was wäre dann die spezifische Differenz? Ich nenne Ihnen zwei Vorschläge. William James, ein Erforscher religiöser Erfahrung, sagt, dass zur religiösen Erfahrung eine Instanz, gehört von der sich ein Mensch als abhängig erfährt und nicht umgekehrt. Deshalb redet die christliche Religion auch von Erlösung, nicht nur von Erleichterung, Entspannung oder Erholung. In einer etwas abstrakteren Lesart finden Sie dieses Argument bei dem Philosophen Matthias Jung, der sagt: Die Differenz zwischen der ästhetischen Transzendenz und der religiösen Transzendenz ist eine Differenz im Stil. Beide haben es mit dem Thema der Realitätserweiterung zu tun, aber sie stilisieren es unterschiedlich. Und die Religion stilisiert Transzendenz in einer Art und Weise, dass sie Transzendenz auf eine Referenz bezieht. In der Aufführungspraxis des Evangeliums dient alles Ausdrucksgeschehen dieser Zentrierung auf eine externe Referenz – auf Christus. Im Theater dagegen ist es genau umgekehrt. Natürlich kann auch im Theater eine Referenz auf Christus eine Rolle spielen. Gott kann sogar auf der Bühne auftreten. Gestern Abend war Jupiter da, der sich die ganze Zeit so kratzte. Aber er war da, und alles, was dieser Gott sagte, muss dem Stücks dienen. Während in der Kirche jeder Ausdruck dem Bezug auf die Wirklichkeit dienen muss, die mit Gott gemeint ist. Das wäre das Argument von Matthias Jung. So dass man die Verwandtschaft zwischen Theater und Kirche begreifen kann und das, was Kirche und Theater unterscheidet.

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Thomas Erne

Und da bin ich bei einer letzten Schwierigkeit, warum in der Aufführungspraxis des Evangeliums das Evangelium ein Problem ist. Denn für uns heute ist die ästhetische Transzendenzerfahrung im Theater, gerade weil sie schwächer ist und keine starke Unterstellung einer göttlichen Wirklichkeit impliziert, die eigentlich stärkere. Da fühlen wir uns angesprochen. Genau in dieser minimalistischen Form, wo es nicht um die große Erlösung geht, aber vielleicht um die kleine, die minimalistische Soteriologie. Wenn es keine Lösung gibt, dann wenigstens Abstand zum Problem. Nur ein Beispiel: Der Film Wolfsburg von Christian Petzold erzählt die große Geschichte von Schuld und Sühne, die Sie in der Religion auch finden. Aber bei ihm gibt es keine Erlösung. Es gibt nur die Unterbrechung eines RacheKreislaufes. Das ist sozusagen das Maximum an Erlösungsanmutung, die dieser Film bietet. Es gibt keine wirkliche Vergebung von Schuld, wie man das in der klassischen Formulierung in der katholischen Kirche kennt: „Ego te absolvo in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti“. Aber genau diese schwache Form „Abstand statt Erlösung“ macht die Stärke des Films aus. Deshalb ist die Aufführungspraxis des Evangeliums mit einer Schwierigkeit behaftet, die man nicht einfach aus dieser Aufgabe wegdefinieren kann. Die Aufgabe, das Evangelium zur Aufführung zu bringen, verlangt die starke Form der Transzendenz, die zur Religion gehört, und zwar so, dass sie den Menschen heute zugänglich und einleuchtend wird. Und das ist, glaube ich, eine ziemlich schwierige Aufgabe, wo man viel vom Theater lernen kann, aber eben nicht alles. Am Ende gewinnt auch das Theater, wenn die Kirche ihre Aufgabe, das Evangelium aufzuführen, die zugegebenermaßen die schwierigere ist, auf die beste ihr mögliche Weise leistet.


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