Der Spendensammler

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Kurt Rittig Der Spendensammler Roman

Schibri-Verlag

Berlin • Milow • Strasburg 5


© 2013 by Schibri-Verlag Dorfstraße 60 17337 Uckerland OT Milow E-mail: info@schibri.de http://www.schibri.de Umschlagbild: Kurt Rittig sen. Öl, 1954 Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany ISBN 978-3-86863-118-0 6


1 Philipp Stadthagen war sich seit jeher nicht sonderlich sympathisch, doch an diesem Montag, dem 28. Oktober, beschloss er, sich so gut es eben ging zu mögen, um alles Kommende ertragen zu können. Gleichgültig, was Philipp Stadthagen je getan oder gesagt hatte, ob es dafür Zustimmung gab oder gar Applaus: er war nie restlos zufrieden und im Nachhinein sein schärfster Kritiker und voller Scham über sein Ungenügen, wusste er doch, dass er eigentlich noch besser hätte sein können, viel besser. Und dann brachte er sich grübelnd um den Schlaf, um schließlich gegen Morgen in entsetzliche und verschwitzte Träume zu gleiten, die ihn verstört in den Tag entließen. Er war dann unkonzentriert und brauchte Stunden, um sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. An solchen Tagen versuchte er, seine hintergründige Hilflosigkeit durch noch mehr vordergründige Präsenz zu tarnen. Es gelang ihm meistens, aber es kostete viel Kraft. Dabei empfand die Umwelt seine Gesellschaft als angenehm, man liebte seinen schnellen Witz und seine persönliche Bescheidenheit. Er konnte zuhören und teilnehmen am Schicksal anderer, er gab Ratschläge, wenn sie erwünscht waren, ohne jemals neugierig und indiskret nachzufragen. Er aber litt an sich, still und entschlossen. So oft man ihn einlud und so sehr man ihn einbezog: er fühlte sich ausgeschlossen, ferngehalten von den Kreisen, in denen die wirklichen Entscheidungen, gleich welcher Art, fielen. Immer blieb man irgendwo unter sich, ohne dass er hätte sagen

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können, wer da unter sich blieb und warum. Schon als Kind glaubte er zu wissen, dass man ihn ausschloss, und so war es sein sehnlichster Wunsch von Kindheit an, dazuzugehören, einfach nur dazuzugehören, obwohl er für alle die, die seiner Meinung nach dazugehörten, insgeheim Verachtung empfand. Er wusste sich ihnen überlegen. Und jeden Morgen hoffte er, wenigstens heute, wenigstens an diesem Tag, den schrecklichen Satz seines Schwiegervaters vergessen zu können, mit dem der sich gegen seine Ehe mit Karin ausgesprochen hatte: er, Philipp, habe eine wässrige Seele. Er hoffte vergebens. Und wie nur Knüppeldämme Sicherheit auf dem schwankenden Grund von Sümpfen und Mooren geben, so suchte Philipp den Weg durch sein privates Leben zu befestigen durch eine krisenfeste Ehe, einen schönen, ebenso krisenfesten Besitz und, ganz im Sinne des Dazugehörens, durch gesellschaftliche Anerkennung. Sein öffentliches Lebens sicherte er ab durch wohltätige Stiftungen und seine Unterschrift unter nahezu allen Aufrufen, diese Welt zu verbessern. Er tat Gutes. Und doch lebte er in der ständigen Angst, dass seine scheinbar so stabile Konstruktion von einem Augenblick auf den anderen einstürzen könnte und er hilflos durch Schutt und Trümmer irrte, an denen noch die Tapetenfetzen seines heilen Lebens hingen. Er kannte solche Trümmerlandschaften von seinen beruflichen Reisen in die Katastrophengebiete dieser Welt. Und er hasste sie. Außerdem fürchtete er, dass man eines Tages über ihn Bescheid wüsste, alles über ihn erführe, was nicht einmal er selbst wusste,

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dass seine Vergangenheit aufstünde und ihn erschlüge. Aber warum eigentlich? Es gab doch keinen Grund. Oder doch? Philipp wusste nur, was jeder weiß: wie schnell und unwideruflich ein Niedergang geschehen kann, gnadenlos und ohne jede Chance auf Wiederaufstieg. Im Gegensatz zu den meisten aber dachte er ständig an eine solche Möglichkeit, vergaß sie zu keiner Stunde und fühlte sich auch hier ausgeschlossen vom Kreis der Zuversichtlichen, die ohne einen Anflug von Zweifel zu wissen schienen, dass sie die Geschicke der Welt und des zu diesem Zweck ihnen anvertrauten Personals für die nächsten hundert Jahre lenken werden; und danach werde man weiter sehen. In Ermangelung der lebenslangen, kostenlosen Eintrittskarte in diesen exklusiven Club der Korrekten und Wissenden setzte er, wenn er einmal, aus welchen Gründen auch immer, eingeladen war, auf deren Unfähigkeit, Wissenslücken einzugestehen. Zu diesem Zweck hatte er sich Luca Signorelli auserwählt, einen italienischen Maler aus dem 15. Jahrhundert, von dem er sicher sein konnte, dass ihn neben den Spezialisten für die florentinische Schule des 16. Jahrhunderts nur wenige kannten, da er, obwohl ein wichtiger Künstler der Renaissance, von den Großen wie Michelangelo oder Piero della Francesca überstrahlt wurde. Philipp schwärmte von dessen Wandmalereien des Jüngsten Gerichts im Dom von Orvieto, und wie sehr man doch in Signorellis Behandlung der nackten Körper seinen Lehrmeister Pietro di Franceschi aus Arezzo erkenne. Aus dem verblüfften Schweigen seiner überraschten und meist ahnungslosen Zuhörerschaft löste sich dann erwartungsgemäß der eine oder andere Laut der Zustimmung, hier sah er ein falsches wissendes Nicken, und da traf ihn ein Blick voller verzweifelten Nichtwissens und ebensolcher Bewunderung.

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Luca Signorelli wurde ihm in mehreren Jahrzehnten zum verlässlichen Freund, obwohl Philipp noch nie leibhaftig vor einem seiner Werke stand. Der Bildband „Michelangelo Buonarroti und die Hochrenaissance“ im Wartezimmer eines Zahnarztes, den er mit pulsierendem Schmerz als Zwanzigjähriger durchblätterte, war der zufällige Beginn dieser Freundschaft und Philipp erkannte von Anfang an das Potential dieses ihm gänzlich Unbekannten zur Verblüffung und Verunsicherung der ihn voller verstecktem Hochmut ablehnenden Kreise. Dieser Hochmut zeigte sich als herablassende Wertschätzung und verletzte ihn tief. Eigentlich plante er nach den erstaunlichen Erfolgen mit Signorelli, sich zusätzlich noch einen ebenso unbekannten mittelhochdeutschen Dichter sowie einen Barockmusiker zu suchen, um in nahezu jede Runde eine Blendgranate werfen zu können. Und obwohl er jahrelang mit diesem Gedanken spielte, unterließ er es. Es schien ihm ein Verrat am Freund Luca Signorelli. Im Laufe der Zeit wurde er zum Meister im Herstellen von aus den Gesprächen gegriffenen Apropos, mittels denen er zu Signorelli gelangen konnte. Ging es z. B. um irgendeine Affäre, über die man tuschelte, erwähnte Philipp beiläufig das Fresko: „Der Triumph der Keuschheit mit der Züchtigkeit Amors“ und war schon im Thema. Die Eleganz dieser aus dem Nichts geschlagenen Bezüge befriedigte ihn inzwischen mehr als der Bluff selbst, und sein Repertoire wuchs ständig. Wenn Philipp aber brillierte und bewundert wurde, war die Befriedigung darüber in den letzten Jahren von ständig kürzerer Dauer. Sie ließ nach wie die Wirkung einer Droge und forderte die ständige Erhöhung der Dosis.

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Also betrieb er Raubbau an seinen natürlichen Schätzen und fuhr immer tiefer ein in das Bergwerk seiner Begabung, ungesichert und bei flackerndem Grubenlicht. Im Grunde aber schürfte er immer nur nach einem Schatz, nämlich nach seiner Identität, obwohl ihm graute vor dem, was er vielleicht finden würde. Jetzt war er auf der Heimfahrt nach einer Diskussion im Hörfunk über rasche bauliche Hilfe in Katastrophengebieten. Erdbeben und Tsunamis, Wirbelstürme und Überschwemmungen waren in den letzten Jahren zu fast alltäglichen Katastrophenmeldungen geworden, und wo sofortige humanitäre Hilfe und entsprechende Geldmittel benötigt wurden, wuchs der Bedarf an schnell zu bauenden, haltbaren, preiswerten und menschenwürdigen Unterkünften. Der Architekt Philipp Stadthagen war in diesen Fragen zum internationalen Experten geworden. An diesem Montag feierte er seinen 50. Geburtstag. Er freute sich an der leise bollernden Kraft seines offenen Wagens, und die Fahrt nach Wannsee führte durch einen späten Herbst mit nur noch einzelnen Blättern an sonst schon leeren Ästen. Er hatte großes Verständnis für diese Klammerer, die verzweifelt schaukelten vor dem endgültigen Sprung ins Nichts. Samtige Dämmerung legte sich auf alles Laute und kündigte die frühe herbstliche Dunkelheit an, die Geborgenheit und Bedrohung zugleich war. Philipp ging in sein Arbeitszimmer, legte seine Tasche auf den alten, englischen Schreibtisch und stellte sich dann an das große Fenster, das in den Park schaute. Es war ein Ritual: es war sein Park, es waren seine gepflegten Wege, seine Büsche und Bäume. Und auch daran erfreute er sich.

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Er bemerkte einige Krähen auf dem dunklen Rasen, die er vorher noch nie in seinem Garten gesehen hatte. Sie schienen seltsam unbeweglich zu warten, wie Katzen vor Mauselöchern. Muss man auf Würmer auch stumm warten? Oder fangen auch Krähen Mäuse? Kleine Spitzmäuse vielleicht, wenn Würmer und Käfer knapp werden im Herbst? Auf seinem Schreibtisch lag ein ansehnlicher Stapel Geburtstagspost. Er blätterte den Stapel mit dem Daumen durch. Eine Karte fiel auf, durch besonders geschmacklose goldene Lettern. Philipp las den rein rechnerisch interessanten Wunsch: Das wünsche ich Dir: 365 Tage Sonnenschein, 8.760 Stunden sollst Du fröhlich sein, 525.600 Minuten Dich des Lebens freuen. Und dann sterben?, dachte er. Ein Geburtstagswunsch, der in derart mathematischer Entschiedenheit auf ein Jahr begrenzt war, stand zumindest in interessantem Gegensatz zu dem üblichen Unsinn, der den fünfzigsten Geburtstag die Lebensmitte zu nennen pflegt. Es handelte sich um eine dieser beliebten Musikkarten, und als er sie aufklappte, gab sie einen erstaunlich kräftigen Fanfarenstoß von sich. Der eigentliche Fanfarenstoß aber war der Text. Er lautete: Der Gerhard Attendorn, die alte Sau, hat es bekanntlich nicht ganz geschafft, Deine Frau totzufahren. Aber wenn er so weitermacht, schafft er es, sie totzuvögeln! Wünsche einen wunderschönen gemeinsamen Abend.

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