Kurt Rittig
SKARABÄUS oder
Das Gold im Meer ROMAN
Schibri-Verlag
Berlin • Milow • Strasburg 5
F端r Dorle
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Teil I
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1 Es war eigentlich noch viel zu dunkel, um Papier und Dosen mit dem Nagelstock aufzuspießen und in den blauen Plastiksack zu stecken. Aber der junge brandenburgische Hilfsparkwächter mit äthiopischem Migrationshintergrund, Heilemariam Jesus Zenadi, liebte die erste Schicht in seinem Park des Schlosses Rheinsberg. An diesem frühen Sommermorgen des Jahres 2013 schliefen noch alle Vögel und tiefe Stille lag über dem Lustgarten. Leichter Morgennebel hob sich dunkelgrau ab von der langsam weichenden Schwärze der Nacht. Er kam vom Rhin, gab dem zum Schloss gehörenden Grienericksee großzügig von sich ab, und legte sich mit seinen Resten auf die leeren Alleen, auf Rasen und Waldinseln. Zenadi passierte das Heckentheater und näherte sich der Grabpyramide, die Prinz Heinrich selbst entworfen hatte, und in der er 1802 beigesetzt worden war. Das Grabmal wird von einem Eisenzaun mit Lanzenspitzen umschlossen und ist eine etwa fünf Meter hohe Pyramide mit symbolisch abgebrochener Spitze. Auf der Steinplatte, die den Eingang verschließt, steht am Schluss eines längeren Grabspruchs, von Heinrich selbst verfasst, der Mode der Zeit gemäß auf Französisch: „Passant, Souviens-toi que la perfection n’est point sur la terre. Si je n’ai pu être le meilleur des hommes, Je ne suis point au nombre de méchans.“ („Wanderer, erinnere Dich, dass Vollkommenheit nicht auf Erden ist. 10
Wenn ich auch nicht der beste der Menschen habe sein können, wenigstens gehöre ich nicht zu der Zahl der Schlechten.“) Und da es auf Erden keine Vollkommenheit gibt, wollte der Prinz auch keine vollkommene Grabpyramide und ließ sie, auch hier einer Mode der Zeit folgend, mit abgebrochener Spitze errichten. Zenadi sprach kein Französisch, kannte aber den deutschen Text. Er lernte fleißig Deutsch und borgte sich ab und zu Bücher über die Geschichte des Schlosses bei der freundlichen alten Dame, die den Museumsshop leitete. Auch er wollte alles tun, um nicht zu der Zahl der Schlechten zu gehören. Oft aber blieb er vor dem Grabmal stehen und grübelte über den Zweck, einen Neubau als Ruine zu gestalten. Er gab sich redlich Mühe, aber er verstand es nicht. Als Kind einer Welt, in der Hunger, Tod, Flucht und Zerstörung alltäglich waren und sein Geburtsort an der Grenze zum Sudan, seit er denken konnte, zum größten Teil in Trümmern lag, fand er keinen Zugang zum Wert einer künstlichen Ruine. Kaputt wird ohnehin alles, dachte er. Man kann es abwarten, wie man alles abwarten kann. Er wusste nicht viel über Preußen, aber er hatte Mitleid mit diesem ehemaligen Königreich. Hatte er doch gelesen, dass es nur gut zweihundert Jahre alt war, als es plötzlich verschwand. Sein Äthiopien dagegen gab es schon fast 3.000 Jahre. Zenadi spießte eine leere Milchtüte auf und stopfte sie in den Müllsack. Die Sauberkeit seines Gastlandes verstand er, besonders die seines Parks, und für die fühlte er sich verantwortlich. 11
Plötzlich blieb er stehen und starrte auf die Pyramide. Was hatte ihn irritiert? Eine schnelle Bewegung? Aber da war nichts. Und dann sah er es: dort, wo die große, schwere Steinplatte normalerweise den Zugang zum Grabmal sicher verschloss, gähnte jetzt ein Loch, das schwärzer war als die Finsternis, die es umgab. Und die mit Gewalt ausgehebelte Platte lag zerbrochen davor. Aber was war mit der Bewegung? Zenadi schaute sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Nicht einmal ein Kaninchen sah er, von denen es hier viele gab. Es war auch kein Laut zu hören, kein Rascheln im Laub, kein entfernter Schritt. Langsam und vorsichtig ging er näher und sah, dass auch das Schloss der Tür im Zaun aufgebrochen war. Das Eisentor quietschte hässlich, als er es langsam weiter aufschob. Zenadi erschrak über diesen Laut in der absoluten Stille und erstarrte. Schließlich ging er, sich immer wieder umsehend, zur Pyramide. Er schaltete seine Taschenlampe ein, bekreuzigte sich und kroch in den Innenraum des Grabes. Das Licht seiner Lampe holte den herrlichen Prunksarg Heinrichs aus der Dunkelheit. Der Sarkophag aber, der schwer auf seinen goldenen Füßen stand, war aufgebrochen und verwüstet. Und vor dem geschändeten Grab war etwas, das er erst erkannte, als er seine Taschenlampe darauf richtete: wie angelehnt an den Sarkophag saß ein Toter. Und Heilemariam Jesus Zenadi hätte gar nichts von preußischer Geschichte wissen müssen, nichts vom Leben und Sterben des hier bestatteten Friedrich Heinrich Ludwig, des Bruders von Friedrich dem Großen, um sofort zu erkennen, 12
dass es sich bei dem Toten nicht um den Prinzen oder dessen Reste handeln konnte: trug er doch Jeans und ein blutbesudeltes T-Shirt. Seinen Kopf allerdings trug er nicht mehr auf den Schultern. Der lag neben ihm in einer großen Blutlache und starrte Zenadi an, mit leichtem Vorwurf und ebensolcher Verwunderung. Zenadi ließ seine Taschenlampe fallen, stieß sich den Kopf an der niedrigen Öffnung, sprang trotz des offenen Tores über den Zaun mit seinen eisernen Spitzen und rannte in Richtung Schloss, wobei er dem Ruf äthiopischer Rennläufer nicht nur alle Ehre machte, sondern wahrscheinlich alle Rekorde brach. Auch seinen selbst gefertigten Nagelstock und den Sack ließ er liegen, obwohl es sich dabei um seinen Besitz und um seine Ausrüstung handelte. Und während er rannte, wusste er eigentlich nicht, warum er rannte. Vor Toten hatte er keine Angst. Zu viele hatte er schon gesehen, zu Hause, schon in seiner frühesten Jugend. Auch Geköpfte, nach Terrorüberfällen, bei denen Gläubige Ungläubige mit dem Schwert hingerichtet hatten, oder auch Ungläubige Gläubige. So genau war das nicht zu unterscheiden, schon gar nicht für den kleinen Heilemariam. Doch dann wusste er plötzlich, was ihn so rennen ließ, wie er es sonst nur im Traum konnte: es war nicht die Angst vor einem Toten, es war die Angst vor dem Tod selbst. Und dessen Anwesenheit hatte er deutlich gespürt. Und dieser Tod war kein erlösender Tod mit seiner letzten Gnade, sondern der eiskalte Tod der letzten Gnadenlosigkeit. Und er fühlte, dass dieser Tod ihm nachschaute. Er spürte die brennende Kälte dieser Blicke im Rücken und er ließ seine Beine fliegen, dass sie kaum noch den Boden berührten. 13
Da zischte es zweimal knapp neben seinem Kopf in den dichten Blättern der rot blühenden Rhododendron-Büsche, die den Kiesweg säumten. Das kurze Zischen klang wie das scharfe Ausatmen der glühenden Eisen, die der Schmied in kaltes Wasser stößt. Und Zenadi fühlte, dass diese Eisen in ihn gestoßen werden sollten, schlug einige Haken und schaute sich nicht um. Aber auch wenn er es getan hätte, hätte er in der Dämmerung höchstens eine schemenhafte Gestalt gesehen, hinter der sich der dunkle Nebel spurlos schloss.
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2 Brogsitter saß in der Nähe der Grabpyramide auf einer Bank und kritzelte mit seinem schwarzen Spazierstock den Umriss eines Affen in die feste Lehmerde des Parkweges. Brogsitter kritzelte Affen auf alles, was sich bekritzeln ließ, auf Akten, Notizpapier und zur Not eben auch auf Spazierwege. Die Polizei zog ab, Absperrbänder wurden zusammengerollt, Gerät verladen, zwei Männer und eine Frau kletterten aus weißen Plastikanzügen, der Tote wartete schon längst geduldig in der Gerichtsmedizin auf seine Autopsie und ein ungeduldiger Mann der Schlossverwaltung, dem man jetzt erst den Zutritt zum verwüsteten Grabmal gestattet hatte, besichtigte den Schaden im Inneren und kam sichtlich gebrochen wieder ans Tageslicht. Frohmader, der zuständige Kriminalkommissar, wollte sich von Brogsitter verabschieden, dessen genauen Rang er zwar nicht kannte, dessen Name dem jungen Kommissar aber bekannt war. Frohmader wusste auch, dass Brogsitter von seinen Leuten nur ‚Das Rechteck‘ genannte wurde. Und tatsächlich war alles an ihm rechteckig, sein Gesicht, sein ganzer Körper mit den geraden Schultern, sogar seine Frisur. Außerdem trug er eine dicke, schwarze Brille mit rechteckigen Gläsern. Seine Stimme aber floss verblüffend rund aus diesem Rechteck. Und groß und rund waren seine Augen, wenn er die Brille abnahm und den Überraschten gab. Und den gab er gern. Brogsitter hatte einen sehr guten Ruf, der sich bis in den Kollegenkreis der Polizei herumgesprochen hatte. Natürlich wusste man wenig über die Arbeit des Geheimdienstes und kaum jemand hatte schon persönlich mit Brogsitter zu tun gehabt, aber wenn über ihn gesprochen wurde, dann mit großem Respekt und raunender Anerkennung. 15
Es kam nicht alle Tage vor, dass der Bundesnachrichtendienst die Polizei über einen Mordfall verständigt und sie an den Tatort führt. An diesem frühen Morgen war es so. Üblicherweise ist es umgekehrt: wenn die Polizei Hinweise zu haben glaubt, dass der Fall für den Geheimdienst von Interesse sein könnte, setzt sie sich mit diesem in Verbindung. Heute war während der ganzen Ermittlungen am Tatort ein Beamter Brogsitters namens Kammerling zugegen. Es war der Beamte, der auch Frohmader verständigt hatte. Bei dem Toten handelte es sich um einen jungen BND-Agenten. Brogsitter stand höflich von der Bank auf, wischte mit dem Schuh seine Kritzeleien aus und gab Frohmader die Hand zum Abschied. „Danke für Ihre Arbeit, Herr Kollege. Wann bekommen wir den Bericht?“ Frohmader wusste, dass hier ein Satz wie ‚So schnell wie möglich‘ alles andere als angemessen war. Er nahm es auf seine Kappe und sagte: „Morgen um 18.00 Uhr.“ Brogsitter sah ihn freundlich an. „Sie haben den Parkwächter, Herrn …“ „Heilemariam Jesus Zenadi“, half Frohmader. „Sie haben Herrn Zenadi schon verhört. Hatte er etwas zu berichten, was uns weiterhilft?“ „Ich fürchte nein. Er hat nichts und niemanden gesehen und ist in Panik weggerannt.“ „Kann er unterwegs etwas weggeworfen haben? Ein Handy, ein Messer, irgendeine andere Art von Waffe?“ „Wir konnten seinen Fluchtweg anhand seiner Angaben und einiger deutlicher Abdrücke seiner Schuhe ziemlich genau rekonstruieren. Wie schnell er rannte, zeigt die Weite seiner Schritte. Ungefähr zwanzig Meter links und rechts seiner 16
Rennstrecke auf dem Rasen und in den Büschen haben wir gefunden“, er nahm einen Zettel aus seiner Anzugtasche, „zwei Kondome, eine alte Zeitung, ein Feuerzeug und wundersamerweise einen neuen, originalverpackten Klopinsel.“ Brogsitter nickte noch freundlicher. „Trauen Sie dem Mann diese Tat zu?“ Und wieder schluckte Frohmader die übliche Antwort des von Leben und Beruf gehärteten Polizeimannes, den nichts mehr überraschen kann, hinunter und verkniff sich ein ‚Ich traue jedem alles zu‘. Er wusste, hier war mehr verlangt. Oder weniger. Er entschied sich für weniger und sagte: „Nein!“ Brogsitter nickte. „Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich mit ihm noch einmal unterhalte?“ „Aber natürlich nicht. Er ist vorn im Schloss. Ich habe mir gedacht, dass Sie mit ihm sprechen wollen und habe einen unserer Leute zu ihm gesetzt. Soviel ich weiß, war er ganz ruhig, hat nicht telefoniert und niemand hat nach ihm gefragt.“ Brogsitter freute sich ganz entschieden über diesen Kommissar Frohmader und ging zum Schloss. Er fand den Parkwächter im Museumsshop, bedankte sich bei dem Polizisten und bat ihn, mit Zenadi allein sprechen zu können. Der Polizist ging, aber sie waren nicht allein. Die Leiterin des Museumsshops, eine ältere Frau, die verdächtig nach pensionierter Lehrerin aussah, war offensichtlich nicht gewillt, den jungen Äthiopier dem unbekannten Vertreter der Staatsmacht auszuliefern. Allerdings hatte sie registriert, wie selbstverständlich und rasch sich der andere Polizist auf die Bitte dieses Mannes hin entfernt hatte. Es schien also zwecklos, sich zu widersetzen. Aber sie 17
wusste auch, dass außer ihr niemand in diesem Land auf den jungen Heilemariam Jesus aufpasste und jetzt fühlte sie sich gefordert. „Warum darf er denn nicht endlich nach Hause gehen? Nach diesem Schock? Er hat doch schon alles gesagt.“ „Das ist gut möglich. Aber nach einem Schock, wie Sie richtig sagen, kommt es häufig vor, dass man sich nicht an das erinnert, was man weiß. Ein vertrauensvolles Gespräch kann in einem solchen Fall helfen. Ich wäre Ihnen deshalb dankbar, wenn Sie mir sagen könnten, wo Herr Zenadi und ich uns einige Minuten ungestört unterhalten können.“ Die Art, wie Brogsitter die Unterredung ein vertrauensvolles Gespräch nannte und wie respektvoll er den Familiennamen des jungen Migranten aussprach, beruhigte sie. „Sie können hier bleiben. Ich gehe einen Kaffee trinken.“ Sie schloss die Glastür hinter sich und drehte das Pappschild auf ‚closed‘. Und mit einem letzten aufmunternden Lächeln zu Zenadi verschwand sie. Brogsitter gab Zenadi die Hand und setzte sich ihm gegenüber: „Mein Name ist Brogsitter. Und Sie sind Heilemariam Jesus Zenadi. Ich vermute, jemand, der so heißt, ist Christ.“ Zenadi antwortete ruhig und bereitwillig in recht gutem Deutsch: „Ungefähr die Hälfte aller Menschen in Äthiopien sind Christen. Ich bin Katholik.“ „Herr Zenadi, ich kann verstehen, dass man in Panik gerät, wenn man plötzlich von einem abgeschnittenen Kopf angeschaut wird.“ „Deshalb bin ich nicht weggelaufen.“ „Sondern warum?“ „Da war der Tod.“ 18