VOM PODIUM ZUM PREDIGTSTUHL

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RUPERT GOTTFRIED FRIEBERGER

VOM PODIUM ZUM PREDIGTSTUHL UND ZUM KATHEDER

NACH-DENKLICHES, HEITERES UND VISIONEN VON EINEM, DER MUSIK UND KIRCHE, KUNST UND WISSENSCHAFT, VERKÜNDIGUNG UND LEHRE UNTER EINEN HUT KRIEGEN WILL


RUPERT GOTTFRIED FRIEBERGER VOM PODIUM ZUM PREDIGTSTUHL UND ZUM KATHEDER

FABIAN

EDITION


Meiner lieben Mutter


RUPERT GOTTFRIED FRIEBERGER

VOM PODIUM ZUM PREDIGTSTUHL UND ZUM KATHEDER NACH-DENKLICHES, HEITERES UND VISIONEN VON EINEM, DER MUSIK UND KIRCHE, KUNST UND WISSENSCHAFT VERKÜNDIGUNG UND LEHRE UNTER EINEN HUT KRIEGEN WILL

FABIAN

EDITION


ISBN 3-902143-00-2

Verleger, Herausgeber und Medieninhaber: FABIAN-EDITION A-4594 Steinbach a.d.Steyr

Alle Rechte vorbehalten

copyright 2000 Herstellung: OFFSETDRUCK MAX HIMSL A-4780 Sch채rding


Inhalt

I. AUFSATZ, FEUILLETON, INTERVIEW....................................... II. WENN EINER EINE REISE TUT........ III. WAS MIR ZU DENKEN GIBT............ IV. PREDIGTEN ZU MUSIKALISCHEN ANLÄSSEN......................................... V. ALS NACHSCHLAG: BACH’S SPRÜHENDEM GEIST AUF DER SPUR.....


VORWORT

„Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ 7


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Nach Erscheinen meines letzten Bändchens („Zwischen Orgelbock und Dirgentenpult“), bzw. nach dessen Vergriffen-Sein haben mich Freunde und Bekannte darauf angesprochen, noch so eine Leseprobe haben zu wollen. Ich habe gewartet, bis ich die Zeit dafür reif fand. Nun liegt also ein weiteres Bändchen aus meiner Feder vor, doch nicht nur mit Erinnerungen an Lustiges und Ernsthaftes. Gemäß meiner schillernden, facettenreichen Tätigkeit will ich bewußt mehrere Bereiche ansprechen, die das, was ich in mir vereinen und verbinden darf als Musiker, Musikwissenschafter, Theologe und Pädagoge in Form von Aufsätzen, Berichten und Aphorismen auch als meine Anliegen erkennen lassen. Die „Geschichtchen“ von Reisen und Musizieren sollen auch nicht zu kurz kommen. Anstacheln zum Nachdenken will ich, und diejenigen, die gar Kritik verspüren, mögen mir’s verzeihen. Nichts ist persönlich gemeint in diesem Büchlein, es ist bloß ein Teilhaben lassen an meinen Sorgen und Freuden. Ich möchte es nicht verabsäumen, in diesem Jahr 2000, wo wir u.a. auch in Schlägl Bach’s 250. Todesjahr entsprechend – und wie ich meine: würdig – gefeiert haben, darauf hinzuweisen, welch enorme Chance der Ökumene uns mit Bach gegeben ist. Ich scheue mich nicht, deutlich zu bekennen,

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daß ich ein Theologe und Musiker der Ökumene bin. Der Auftrag „Ut omnes unum sint“ muß an der Basis beginnen und soll in überlegten und nicht nur singulären Schritten und Vorhaben vollzogen werden. Die Musik und auch die Theologie Bach’s kann hier eine große Hilfe sein. Das neue Büchlein will auch anstacheln zum Nachdenken; diejenigen, die gar Kritik verspüren, sollen wissen, daß nichts persönlich gemeint ist, sondern daß ich den Leser teilhaben lassen will an meinen eigenen Sorgen und Freuden. Schlägl, zum Advent 2000 R.G.F.

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I. AUFSATZ FEUILLETON INTERVIEW

gegen die Idylle 11


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KLÖSTERLICHE MUSIKKULTUR: ODER WAS IMMER MAN DARUNTER VERSTEHEN WILL geschrieben für die Festschrift „Die Suche nach dem verlorenen Paradies“ (Stift Melk, 1999/2000)

So ein (wenn auch „Arbeits“-) Titel lenkt den geneigten, in der Mehrzahl „klösterlich unerfahrenen“ Leser zunächst in eine Idylle, die da in den letzten Jahren noch durch bewußt eingesetztes amerikanisches Marketing in der Tonträger-Branche unterstützt wurde. Da hört er quasi ohne Ton, in der Phantasie aber ganz deutlich, die bekutteten Mönche in den langen Gängen Gregorianischen Choral singen, sieht gleichsam imaginär und doch in der Vorstellungswelt greifbar die Brüder über Handschriften gebeugt, ja und wenn’s mit mehr Hintergrundwissen geschehen darf, wähnt er trotzdem den in der Zurückgezogenheit des Klosters und erst recht in der auf die Arbeit konzentrierenden Zelle den mehr oder weniger begabten, bekannten oder gefragten Komponisten in Mönchsstatur. Nun liegt das Mißverständnis schon im Titel verborgen: da scheiden sich die Geister, will man „klösterlich“ mit „monastisch“ übersetzen – denn schon erheben Chorherren und Mitglieder von

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Kongregationen den mahnenden Zeigefinger, sich nicht dazurechnen lassen zu wollen zu dem, was da mit „monastisch“ gemeint ist und haben ihr Identitätsproblem. Und „Musikkultur“? Ja, das wäre erst zu definieren, was da gemeint sein kann. Was auch, und ich betone: auch, erwartet wird: Dem Touristen „sakrales Unterhaltungsprogramm“ liefern, den hehren Anspruch der „Traditionspflege“ – zumindest zum Schein – nach außen zu wahren, die musikalische Erziehung als Bestandteil klösterlicher Ausbildung in den Köpfen der Besucher nicht zu vertreiben. Was damit vielleicht noch gemeint sein kann, mag der geneigte Leser am Ende dieser Zeilen selbst entscheiden. Zugegeben, was nun folgt, ist eine höchst subjektive Sichtweise, von einem, der da auszog, in die Idylle einzutauchen, der bisher 30 Jahre lang gelernt hat, ein „trotzdem“ zu sprechen und inzwischen weiß, daß nicht das Kollektiv, sondern nur das einzelne Individuum etwas bewegen kann, und der auch gelernt hat, sich zu freuen, wenn andere den „roten Faden“ einer Kulturstrategie erkennen und mitmachen, sei’s durch „aktives“ Hören, Musizieren oder Anerkennen. Mir als Abgänger eines humanistischen Gymnasiums der 60-er Jahre bereitet es schlichtweg Sorge, wie wenig gründlich gebildet heutige Maturanten ihre Studien der Geisteswissenschaften beginnen, und – ins andere Milieu übertragen – mit

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wie wenig Vorbildung die Jugend unserer Tage den Weg ins Kloster beginnt. Nicht, daß ich den jungen Leuten das anlaste, wohl aber unserem Bildungssystem. Denn ein solcher Bildungsmangel ist kaum und nur bruchstückhaft aufzuholen, und damit bin ich aber auch schon bei der Gefahr, daß „Halbwissen“ nicht unbedingt das Vorteilhaftere ist... So ist es dann auch mit der Kunst. Da steht man vor einer Epoche, wo vielleicht kaum ein echtes Interesse, und wenn, ein Interesse aus Halbwissen der Kunst entgegengebracht werden wird, oder sich Kunst auf Behübschung zurückziehen wird, auf „nett muß es sein“, auf – in der Sprache der Geographie meines Klosters – „fesch“ muß es sein. Ich fürchte, dem geneigten Leser bereits eine erste Illusion zerstört zu haben: daß da Kirche und Klöster im hehren Wissen über und im ständigen Ringen um ein besseres Verständnis von Kunst der geeignete Ort für die Pflege und Bewahrung der Künste wären... Freilich bestätigen auch hier Ausnahmen die ungeschriebene Regel. Hört der wenig Vorbelastete, der Tourist und der die Stille Suchende von der „Musik in den Klöstern“ denkt er – wie eingangs erwähnt – an den Gregorianischen Choral, dem das 2. Vatikanische Konzil immerhin die Definition des „der römischkatholischen Liturgie eigenen Gesanges“ einräumt. Seit drei Jahrzehnten habe ich in meinem Bereich

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versucht, dieser Kunstgattung das Wort zu reden, vom spirituellen Wert „zwischen den Notenzeilen“ zu überzeugen, sei es auf universitären Kathedern, in den klösterlichen Mauern oder in geschwätzigen Kommissionen. Beharrlichkeit, Beständigkeit und eigenes Beispiel habe ich als pädagogische Hilfsmittel auserkoren, um vom höchstrangigen Wert dieser Gattung „klösterlicher Musikkultur“ zu überzeugen, die freilich eng an die lateinische Sprache und die damit zusammenhängende bisher beispiellose Wort-Ton-Interpretation geknüpft ist. „Laien“, den Kirchen Fernstehende, MusikFreaks haben es – intuitiv oder anerzogen – längst erkannt. In den österreichischen Stiften ist – bei objektiver Sicht und Beobachtung durch Außenstehende – diese Form der Musikkultur in eine Ecke gedrängt worden. Neben vielen anderen Erklärungen, die es dafür gibt, ist u.a. nicht unerheblich, daß mit der Sprache Latein leider sofort in manchen Köpfen der Konnex zu „konservativ“, „fundamentalistisch“ etc. hergestellt wird. Und wer will sich schon kategorisieren lassen? Muß ich mir den Vorwurf machen, durch Toleranz und Kompromißbereitschaft der Gregorianik dort das Grab geschaufelt zu haben, wo sie ihren Sitz im Leben hätte, nämlich nicht im Hörsaal, sondern in der Liturgie? Musik gehörte wie die Theologie zu den septem artes liberales. So ist es längst an der Zeit zu fra-

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gen, was ist Kunst. Es geht hier nicht um eine neue, oder aufgewärmte Definition von Kunst. Vielmehr will ich versuchen, der „klösterlichen Umgebung“ eine leicht faßbare Erklärung der Kunst aus der Sicht und Feder eines Künstlers zu geben. Ich denke, Kunst ist wie die Religion ein Mittel, eine Verbindung zu einer höheren Ebene herzustellen. Kunst, und Musik erst recht, ist also eine Plattform für Aussagen und Mitteilungen, die an- und aufregen dürfen. Musik kann und muß den Menschen in seiner Seele erfassen und ihn, und erst recht die Seele, in all ihren Höhen und Tiefen erreichen. Klöster als Mäzene sind die Ausnahme geworden. In Klöstern denkt man – und in Zeiten wie diesen zu Recht – vorrangig wirtschaftlich. In Klöstern weiß man zwar um die Bedeutung der Kunst, und darunter auch der Musik, aber den Stellenwert, den diese Bedeutung bekommt, kann man selten bemessen. So ergeht man sich auch in Alibi-Handlungen der sogenannten „Kunstförderung“, die in den Ankauf von quasi „künstlichen“ Produkten, und dies nicht selten aus dem industriell-kommerziellen Bereich münden. Da geht es – und meist unwissentlich, oder noch schlimmer „halbwissentlich“ – nicht um vergeistigte Konzepte, da geht es nicht um wohl überlegte Aussagen, sondern es geht um Kulisse, Staffage, Ornamentierung, um Beiwerk und – um bei der Musik zu blei-

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ben – um „Begleitmusik“ im wahrsten Sinne des Wortes, und dann schließlich auch um „liturgische Untermalung“. Es ist selten geworden, daß man auch in Klöstern erkennt, daß die Musik ein integrierender Bestandteil des Gottesdienstes ist, daß die Musik im Gottesdienst auch die Funktion der Verkündigung und der Aussage – neben ihrer Qualität, die Kontemplation zu unterstützen – übernimmt. Hat man Angst, die Kompetenz teilen zu müssen? Nun darf ich persönlicher werden. Wenn ich heute ein in Europa bekannter Musiker bin – und da meine ich meine kreative und reproduktive Seite zugleich als Interpret und Komponist, – so ist das – so hart dies klingt, und vielleicht zur abermaligen Desillusionierung des geneigten Lesers führt – kaum die Frucht der mir zuteil gewordenen klösterlichen Erziehung. Es ist aber sehr wohl das Ergebnis des „Zulassens“ meiner Oberen, wofür ich nicht genug dankbar bin. Denn ein Exot im Garten der klösterlichen Individuen bin ich allemal. Ich darf wohl sagen, daß hinter dem Entschluß, Künstler inmitten klösterlicher Umgebung zu sein – und es ist ja kein Entschluß, sondern eine Berufung – eine Menge Energie, harte Selbstdisziplin und Überwindung, ja – ach wie unmodern! – auch „Opfer“ stecken.

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Es mag überheblich klingen, vom „höheren Auftrag“ und einer „Berufung“ zur Kunst zu sprechen. Aber wie ist es mit dem Weg ins Kloster, und mit dem Weg zur Priesterweihe? Ich persönlich empfinde beide Wege als einen Ruf, der, wenn man bereit ist zu hören, nicht losläßt. Beide Berufungen haben Gemeinsames. Als Priester hat mich Gott – wenn nicht im Sturm, dann im Säuseln des Windes – gerufen, ihm zu dienen und den Menschen von seiner Barmherzigkeit und Größe zu erzählen. Zur Musik berufen sein heißt auch, der Musik zu dienen und den Menschen von den Geheimnissen, die zwischen den Notenzeilen verborgen sind, etwas mitzuteilen. In der Vergangenheit sind Klöster mehrmals Zentren der Musikpflege gewesen. Einer Musikpflege nicht im oberflächlichen Sinne, sondern als einer Gelegenheit, sich der Kunst hingeben zu können und den eben erwähnten Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Es ist ganz schön schwierig, die Kunst der Musik in ihrer ganzen Bandbreite darzustellen. Im Großen und Ganzen sind es zwei Bereiche, die reproduktive und die kreative Musikpflege. Im „nachstellenden“ Wiedergeben von vorhandenem Musikgut ist es nicht minder wichtig, mit Verantwor-

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tung ans Werk zu gehen; in der Wahl der Kompositionen, die man aufführen will, die man dem Hörer anbietet, die man der Liturgie zur Verfügung stellt; es ist aber eine nicht weniger große Verantwortlichkeit, wie man diese Stücke darbietet, mit welchem Ernst man den Kompositionen nachspürt und bestrebt ist, dem Sinn des Komponisten mit all der Problematik der historischen Aufführungspraxis auf den Grund zu gehen. Insofern ist den Kapellmeistern und Organisten der Klöster immer eine wichtige Rolle zugekommen, die mit Verantwortung, Geschick und Charakter erfüllt werden muß. Dann sind diese Ämter auch nach außen hin „Aushängeschilder“, ja „Identitätsmarken“ für „klösterliche Musikkultur“. In der vielleicht noch schwierigeren Sparte der kreativen Musikausübung sind aus Klöstern immer wieder Komponisten hervorgegangen, und auch in heutiger Zeit kann Österreich stolz sein, daß in den Stiften bedeutende Komponistenpersönlichkeiten beheimatet sind. Nun nehme es mir der geneigte Leser abermals nicht übel, wenn ich höchst subjektiv, aber eben umso ehrlicher, aus eigener Erfahrung plaudere. Der Komponist Frieberger, in europäischen Verlagen ediert, mit Aufträgen vom Hilliard-Ensemble oder dem Internationalen Brucknerfest versehen, mit Donna Leon am Konzept einer Oper „beißend“, ist nicht der, der aus der „Abgeschieden-

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heit“ und der „Stille“ seines Klosters die Energie bezieht, eine Symphonie, ein Streichquartett, eine Messe oder eine Oper zu schreiben. Inzwischen ist es ihm – bildlich gesprochen – zu laut geworden in diesem Kloster, das er 30 Jahre lang schon bevölkert. Zu laut: weil der Tourismus zunimmt; zu laut, weil die Aufgaben in und um das Kloster mehr geworden sind; weil er mit Gebet und Arbeit eine „Erfüllung“ vor Ort gefunden hat, die das Innehalten zum Schöpfen schwieriger macht. Der Komponist Frieberger hat einen Weg gefunden, seine Inspiration an bestimmten Plätzen Europas finden zu können, im Alleinsein – ohne Einsamkeit zu verspüren – , im Beobachten der Natur, im Erleben von Räumen, im Spüren des nie ausgehenden Atems Gottes, sei es im morbiden Venedig, in einer niederländischen verträumten Kleinstadt oder zwischen Fjorden und Gletschern Norwegens. Ist die Inspiration und der Prozeß des Kreativ-Werdens erst „angeheizt“, kann die „handwerkliche“ Arbeit des Musikschaffens durchaus in der Klosterzelle, in der Eisenbahn oder in einem Salzburger Kaffeehaus vollzogen werden. Ob der Ordensmann und Priester Frieberger das mit dem Komponisten Frieberger vereinbaren kann? Schon. Weil er vom Komponieren nicht leben muß und will. Sondern nur schreibt, wann „es“ ruft. Und das seinem klösterlichen Dasein so unterordnet, daß kaum ein Mitbruder wohl merkt ,

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wann er „kreativ“ ist, höchstens der Abt beobachtet, daß schon bald in der Früh Licht brennt..... „Klösterliche Musikkultur“? Dazu würde auch der Lehrer Frieberger gehören. Lehrer im umfassenderen Sinne. Nicht nur als Direktor einer Musikschule, oder lehrend an Universitäten; sondern einen Erziehungs- und Bildungsauftrag verspürend: ob als Kapellmeister für Chor und Orchester, ob als Programmgestalter der Konzerte und Seminare das ganze Jahr hindurch für das Publikum, ob als Leiter von Kulturreisen für die Teilnehmer: von den Geheimnissen der Musik in homöopathischen Dosen zu erzählen, die komplexen Zusammenhänge herzustellen und Kunst als Dienerin eines Lebensprogrammes mitzuteilen. „Klösterliche Musikkultur“ – nun mag der Leser selbst entscheiden, was er davon hält. Ein Klischee erfüllen kann man damit nicht mehr. Und mein Beispiel ist nur eines unter vielen, was da möglich wäre. Es ginge darum, daß die Kirchen wieder lernen, Kunst und Musik in einem Licht des Dialoges und des Bildungsauftrags zu sehen. Und man muß nicht Martin Luther zitieren, wenn man darauf hinaus will, daß auf keiner Ebene sich Mensch und Religion so nahe sind, wie in der Musik. Das ist nämlich auch meine ureigene Erfahrung eines 30-jährigen klösterlichen Lebens.

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NACH-GESAGTES UND NACH-GEDACHTES ZU KUNST, MUSIK UND KIRCHE Höchst unwissenschaftliche Erinnerung an Gelesenes und selbst Gesagtes eines Dorfmusikers aus dem Oberen Mühlviertel Beitrag zur Festschrift „Im Wandel der Zeit“, für Direktor Karl Wegscheider, Stift Melk 1999

Kunst und Kirche – nur eine geschichtliche Verbindung? Kult, Kultur, Kunst sind verwandte Worte. Kult und Kultur haben nicht nur eine gemeinsame Wortwurzel, sie sind von Anfang miteinander verbunden. Im kultischen, im religiösen Handeln haben Menschen seit Anbeginn ihr größtes Können aufgewendet. Unsere europäischen Länder sind voll von Zeugnissen einer geglückten Wechselbeziehung von Kirche und Kunst. Die Zeiten dieser schönen und einigermaßen leichten Synthesen liegen freilich hinter uns. Dies gilt nicht nur für die Synthese von Kunst und Kirche, es gilt auch für das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft. Auf letzteres anspielend wäre Rainer Maria Rilke mit seiner ersten Duineser Elegie (er meint nicht nur die dort angesprochene Musik) ein Anwalt der Kunst als etwas,

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was uns hinreißt, tröstet und hilft. Alte Kunst hat dies nicht nur für im Schauen, Hören und Deuten Ausgebildete getan, sondern für alle. Sie tut es weiterhin auch heute noch. Auch der vom Reisebüro vermittelte Tourist ist wohl betroffen von Tempeln, Kathedralen, von vielem in Museen Geborgenem. Mancher erklärt etwas hilflos: so etwas brächte man heute nicht zusammen. Alte Kunst ist also noch heute so etwas wie ein Lebensmittel. Neue Kunst ist das viel seltener, obwohl in unserem Jahrhundert schon viel zuerst Befehdetes später fast klassisch geworden ist. Im ganzen leidet aber die Kunst dieses Jahrhunderts am großartigen Werk der Toten. Dieses ist den meisten heute Lebenden eine Quelle der Freude. Aber den gegenwärtigen Künstlern sitzt es wie eine Last im Nacken, engt den Spielraum ein. Noch nie hat man soviel von vergangenen Epochen und Kulturen gewußt wie heute. Dem Künstler von heute bleibt in der Regel nur der Ausweg in die Abstraktion und zuweilen in Protest und Politik. Das Schöne, worauf der einfache Mensch in der Kunst vor allem aus ist, wird dann zum Aschenbrödel der Moderne und diese wieder wird für den durchschnittlichen Zeitgenossen zum unverstandenen Luxus einer Elite.

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Befragt man das schwierige Verhältnis Kirche und Moderne Kunst, so ist nüchtern festzustellen, daß die Kirche seit etwa 200 Jahren in Europa eben nicht mehr die Mutter der Künste ist, auch nicht – um Francis Thompson zu zitieren – die Mutter des Dichters. Freilich gibt es Ausnahmen. Für diese Entfremdung zwischen Kunst und Kirche mag es viele Gründe geben, angefangen vom Ringen mit den als feindlich empfundenen Naturwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert, ebenso den Humanwissenschaften. In jüngster Zeit sehen die Kirchen ihre Aufgabe darin, sich den großen ethischen und politischen Problemen der Epoche zu stellen, Weltfrieden, Wertzerfall und Massenelend können da nur stellvertretend für vieles genannt werden. Dementsprechend blieb und bleibt in der Kirche wenig Zeit für die Auseinandersetzung mit Kultur als Kunst, Musik und Literatur. In der Sprache einer in der katholischen Kirche lange herrschend gewesenen Philosophie heißt das: die Frage nach dem Verum et Bonum als Transzendentalien des Seins nimmt fast alle Kraft in Anspruch und macht das Pulchrum zum Aschenbrödel kirchlicher Theorie und Praxis. Wenn aber in der Kirche der Brunnen der Aesthetik und der von ihr genährten Phantasie vertrocknet, dann drohen auch ethische Energien zu versiegen und ideologisch mißbraucht zu werden. Die Kirche ist dann in Gefahr, sich auf eine ethisch-politische Leistungsgesellschaft, auf eine moralische Anstalt zu reduzieren, in der das

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Gute sozusagen mit heraushängender Zunge getan wird. Diese Gefahr zeigte sich ebenso in Westeuropa wie in Nord-und Lateinamerika im Zusammenhang mit einer zum guten Teil sicher berechtigten politischen Theologie. Der Agnostiker Manes Sperber sprach einen österreichischen Diözesanbischof im Blick auf diese Gefahren persönlich an. „Vergessen Sie als Katholik nicht ihr Proprium. Sie haben die Gnade zu verkünden und nicht das Gesetz!“ Es ist nach dem – sicher flüchtigen – Blick auf einige Ursachen der gestörten Beziehung zwischen heutiger Kunst einerseits und Gesellschaft wie Kirche andererseits sicher vorteilhaft, wenigstens andeutend über mögliche Auswege und Entstörungen zu reden. Der Hauptbeitrag der Kirche zur Kunst ist von jeher vor allem die Liturgie. Die Liturgie braucht eine zur Kunst mindestens offene Sprache Die Liturgie braucht in der Regel künstlerisch gestaltete Architektur. Die Liturgie braucht in der Regel eine künstlerischen Ansätzen entsprechende Musik. Die Liturgie braucht einen Konnex von Riten, Symbolen und Zeichen, die unter anderem auch dem Begriff Kunst zu sublimieren sind.

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Die Katholische Kirche hat ihre Liturgie durch das jüngste Konzil akkurat in einer Zeit umfassender Symbol-und Sprachkrisen reformiert. Mit dem Ergebnis zeigten sich manche zufrieden, manche auch unzufrieden. Es wäre zu trivial und primitiv, hier eine Zwei-Lager-Spaltung in „Konservativ“ und „Progressiv“ vorzunehmen. Die russische Dissidentin Tatjana Goritschewa vermißt beispielsweise die mystische Dimension, das Schweigen und die Festlichkeit. Die gewollt gewöhnliche Sprache der neuen Bibelübersetzung und einiger liturgischer Texte hat gebildete Fachkritiker zur Erinnerung an die Verse Hölderlins gemahnt: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos, schmerzlos sind wir und haben fast die Sprache in der Fremde verloren...“ Daß Martin Luthers Übersetzung übrigens nach wie vor das beste Beispiel eines genialen, gekonnten Wurfes germanistischer Kunst ist, braucht man nicht erst der selbstredend stammelnden komissionarischen Einheitsübersetzung gegenüberzustellen. Ich selbst verstehe diese Kritik und teile sie in manchem. Ich halte den Rahmen der jüngsten Liturgiereform jedoch für richtig und hoffe, daß die nötigen Korrekturen innerhalb dieses Rahmens sich langsam auch aus Schweigen und Leiden ergeben werden, damit Liturgie wieder deutlich nicht nur von der Not und Gewöhnlichkeit des Alltags abholt, sondern auch über ihn erhebt: bisweilen in

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den Himmel, dessen Glanz auch in ihr weiter erstrahlen soll. Aus Gesprächen mit sensiblen Christen und Nichtchristen darf man der Kirche für ihren Umgang mit der Kunst im allgemeinen vier Bitten vortragen: 1. Die Kirche soll dankbar bewahren, was sie an Kunst (vor allem an Schönem) geerbt hat. Sie soll dieses Schöne weder privatisieren zum verschlossenen Kirchenhaus noch es museal werden lassen. Diese geerbte Kunst wäre der Verkündigung zu erschließen. Manch geistlicher Kirchenführer besitzt das Charisma, eine Kunstführung zum geistlichen Erlebnis werden zu lassen. Es wäre schlimm, wenn der Klerus einer Diözese von seiner Kathedrale weniger wüßte als ein atheistischer Kunsthistoriker. 2. Die der Kirche aufgetragene evangelische Armut bzw. Einfachheit sollte nicht mit technokratischer Stillosigkeit und Warenhausästhetik verwechselt werden. 3. Das bloße Weglassen und Verkaufen von kirchlicher Kunst aus liturgischem und ‘sonstigem’ kirchlichen Gebrauch wird auf lange Sicht von niemandem bedankt werden. Vielmehr wird die Kirche uninteressanter und einem großen ethi-

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schen Leistungsdruck ausgeliefert, wenn sie auf das Schöne (das nicht äußerlicher Prunk und leere Repräsentation sein muß, sondern Ausdruck der Transzendenz sein kann) ahnungslos verzichtet hat. 4. Träger höchster kirchlicher Verantwortung sollten trotz knapper Zeit gesellschaftlich aktiv werden durch Einladung und Zusammenführung von Künstlern und anderen Kulturschaffenden, um eine Isolierung der Kirche zu verhindern. Vielleicht ist es die unbewußte Beziehung, die einem im Lebensraum traditionsreicher, geschichtsträchtiger Mauern mitgegeben wird, die dann zum Wirken kommt, wenn Kunst und Kirche neue Akzente setzen: ich beobachte es mit Wohlgefallen und einer gewissen Genugtuung, wie manches der alten Klöster, und Melk ist da wahrhaft nicht ausgenommen, sich im Bemühen um den Kontakt zur zeitgenössischen Kunst profiliert und Aktivitäten setzt, deren ehrliches Bemühen sich von anderwärtigen Verpflichtungsveranstaltungen deutlich unterscheidet. Und die Musik? Und erst recht die Musik beim Kult? „Mit Musik geht alles leichter....“ oder „Freude durch Musik...“ sind als Slogan und Sendetitel

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modern geworden. In den Warenhäusern bedient man sich der Musik nicht nur in der Vorweihnachtszeit als Lockmittel. Radio und Fernsehen haben die Musik längst vom Bildungsauftrag zu hohem Prozentsatz in Berieselungs- und Unterhaltungstechnik umgewandelt. Aber was ist Musik wirklich? Musik gehört seit dem Mittelalter zu den septem artes liberales, zu den sieben freien Künsten, und mit Theologie, Arithmetik und Philosophie sogar zum Quadrivium. Also kann Musik – wie Theologie, Arithmetik und Philosophie – nicht Unterhaltung allein sein. Musik ist Kunst. Kunst ist für den Kult unerläßlich. Kunst ist aber nur dann echte Kunst, wenn sie wahrhaftig ist. Musik ist also nur dann „kunst“-voll, wenn sie wahr ist. Das ist, wenn Musik ausdrückt, was der Künstler selber meint, und nicht nur, was etwa bei ihm wohlfeil oder teuer bestellt worden ist. Wahr ist Musik, wenn sie erkennen läßt, wie der Künstler den Menschen, die Welt, ja selbst das Heilige, sieht und erlebt. Wahr ist sie, wenn sie den Hörer nicht täuscht, sondern an-und aufregt, selbst nachzudenken, nach dem Wahren zu suchen.

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Wahr ist Kunst dann, wenn der Künstler damit seine Zeit zu deuten weiß, auf das Schöne hinweist, das sonst vielleicht vielen verborgen bliebe, aber auch auf das Schwierige, sogar auf das Chaotische. Wenn der Künstler also die Zusammenhänge und Hintergründe dessen zu erhellen versteht, was das Leben ausmacht. Wenn er selbst in gewissem Sinn zum Propheten wird, der mitten in der Zeit steht und doch mehr von der Zeit versteht, der frühzeitig ahnt, was sich bewegt und tut, der ruft und mahnt, ... und doch, obwohl er oft umsonst und ungehört sich äußert, ja sogar mißverstanden wird, in seiner Funktion gar nicht zu ersetzen ist. Einer, der also von sich aus mit Prophetie im religiösen Sinn nicht unmittelbar etwas zu tun hat und auch nicht mit dem Kult, aber doch die Zeichen der Zeit zu deuten weiß und Kulte erhellen oder auch zu entlarven versteht. Musik beim Kult, im besonderen die Kirchenmusik, ist also durchaus kein entbehrliches Beiwerk für die Liturgie, sie darf aber auch nicht in Selbstüberheblichkeit die Liturgie zum Beiwerk degradieren. Recht verstandene Kirchenmusik ist ein integrierender Bestandteil der Liturgie, darf also gar nicht fehlen. Kirchenmusik umgibt die heiligen Riten mit größerer Feierlichkeit. Aber noch mehr: sie darf auch

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an-regen, auf-regen und heil-machen. Der Mensch steht als Ganzes mit all seinen Sinnen vor Gott. Liturgie geht in die Irre, wenn sie sich scheut, auch die Sinne anzusprechen. Liturgie muß etwas bieten für Herz und Augen, für die Nase und die Ohren gleichermaßen. Und die Musik ist für sie Mittel und Verkündigung gleichermaßen. Albert Schweitzer erkannte es wie Martin Luther, und dem ist nichts mehr hinzuzufügen: „Jede wahr und tief empfundene Musik, ob profan oder kirchlich, wandelt auf jenen Höhen, wo Kunst und Religion sich jederzeit begegnen können.“ (Dr. Albert Schweitzer)

„DENN DIE MUSIK IST EINE GABE UND EIN GESCHENK GOTTES; NICHT EIN MENSCHENGESCHENK: SO VERTREIBET SIE AUCH DEN TEUFEL UND MACHT DIE LEUTE FRÖHLICH: MAN VERGISST DABEI ALLEN ZORNS, UNKEUSCHHEIT, HOFFART UND ANDERER LASTER. ICH GEBE NACH DER THEOLOGIE DER MUSIK DIE NÄCHSTE STELLE UND DIE HÖCHSTE EHRE.“ (Dr. Martin Luther)

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BACH UND DIE THEOLOGIE: INTERVIEW FÜR RADIO STEPHANSDOM

Sendung am Ostersonntag, 23. April 2000 RS: Bach und die Theologie – ein schweres, offenes und vielschichtiges Thema, daher kaum zu lösen, schon gar nicht in einer Stunde. Die erste Begegnung mit der Musik von Johann Sebastian Bach ergab sich für Rupert Frieberger teils an der Orgel, teils in der Evangelischen Kirche in Linz. RGF: Mein Gott, meine erste Beengung mit Bach war natürlich die d-Moll-Toccata, wie das bei jedem Orgel spielenden Knaben so ist, er hört sie irgendwann einmal, versucht sie zu spielen.. Viel eindrücklicher war für mich ein Mitsingen als junger Student des Brucknerkonservatoriums mit 16 Jahren in der Evangelischen Kantorei Linz unter Erich Posch der Johannespassion, wobei mich die quasi liturgische Aktion mit brennenden Kerzen am Altar gefangengenommen hatte, und wie sie mir jetzt wieder in den Sinn kommt, wenn ich mich selber als Dirigent mit Bach beschäftige, und gerade mit den Passionen in dieser Zeit. RS: Am 30. April 1870 schreibt der Philosoph Friedrich Nietzsche in einem Brief an Erwin Rode, nachdem er die Bach’sche Matthäuspassion gehört

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hat: Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium. RGF: Das stimmt auch so, ich finde daß die Musik von Johann Sebastian Bach – und erst recht, wenn wir das ansprechen mit Matthäuspassion – immer Verkündigung ist. Ganz gleich, ob es die instrumentale, oder die wortgebundene Musik ist, es ist doch immer Verkündigung, und den Inhalt, den Kern dieser Verkündigung muß man suchen! Entweder als Hörender, oder noch mehr, finde ich, hat diesen Auftrag der Interpret und der Dirigent. RS: Johann Sebastian Bach wurde aber keineswegs aus Berufung Kantor in Leipzig, denn die Stellung in Köthen als Hofkapellmeister war ihm im Grunde sehr sehr angenehm. RGF:...aber doch auch, „um aus einem Kapellmeister ein Kantor zu werden!“, wie er selbst schreibt. Also es gibt schon die Tendenz, daß Bach sich gerne in das orthodox-lutheranische Leipzig begeben möchte und von Köthen entflieht, und ich glaube, die Berechtigung ist schon richtig auf der einen Seite, aber es steht doch im Hintergrund auch ein Glaube, und zwar ein Glaube, der das orthodoxe Luthertum entgegen dem aufkommenden Pietismus liebt.

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RS: Wie sieht der katholische Theologe und auch katholische Kirchenmusiker Rupert Frieberger Johann Sebastian Bach’s Stellung zwischen Pietismus einerseits und lutherischer Orthodoxie andererseits? Vor diesen Glaubensstreitigkeiten ist ja Bach schon aus Mühlhausen nach Weimar geflohen. RGF: Der orthodoxe Lutheraner hält doch die Lehre Luthers und damit auch explizite die Freiheit des Christenmenschen als eines der Grundprinzipien, und der Pietismus löst auf, verweichlicht, gleitet an die Oberfläche, so möchte ich es hausbacken umschreiben. Wenn Bach das profunde Luthertum sucht, so sucht er damit auch die Theologie, daß der Christ befreit ist zum Christsein, daß der Christ durch den Kreuzestod Christi erlöst ist und durch nichts anderes, und daß die Gnade allein selig macht. Nicht aufgrund der Werke seid ihr gerettet, sondern aufgrund der Gnade seid ihr befreit! RS: Im Laufe der Zeit haben sich zahlreiche BachBilder etabliert, hart an der Grenze zu hartnäckigen Klischees, wie etwa Bach der fünfte Evangelist, Bach der Spielmann Gottes, oder Bach der Erz-Kantor. RGF: Ich glaube, jeder, der mit Kunst zu tun hat, ringt nach irgendwelchen Kultfiguren. Ich selber wehre mich, in Bach eine Kultfigur zu sehen, wohl aber ist, wie bei jedem ernst zu nehmenden Kom-

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ponisten dem nachzuspüren, was er will und was er meint. Es ist doch so, Bach meint schon Verkündigung mit seiner Musik, insofern ist vielleicht das Apostrophieren als Evangelist ein bißchen hochgegriffen, aber es ist doch Verkündigung zu suchen. Und ich sehe es auch als Komponist bei mir selbst, das färbt ab, die Beschäftigung mit Bach, nicht im Nachahmen, aber im Ernstnehmen, daß Musik Verkündigung sein kann und sein muß, wenn man sie auch aus christlicher Sicht betreibt. RS: War Johann Sebastian Bach religiöser als andere Komponisten, oder war er einfach, simpel gesagt, der bessere Komponist? RGF: Schauen Sie, was ist schon religiös? Ich habe mich gerade im Mozart-Jahr 1991 vor allem damit beschäftigt, wie religiös war Mozart. Natürlich war Mozart religiös, aber was meinen wir damit, wie umschreiben wir es? Bei Bach ist es so: er ist einer, der viel weiß, der viel zuordnen kann, der sich mit Wissenschaft verschiedener Tendenzen beschäftigt und der diese Dinge unter einen Hut bringt. Da spielt die Zahl eine Rolle, da spielt Symbol jeglicher Natur – sei es von der Tonartenwahl zu Tonsymbolen kleinerer Natur – eine Rolle, in einer Kompilation, einer Art Gipfelpunkt, wie es bei anderen Komponisten der Zeit nicht mehr so verständlich ist. Und da seh ich eine Größe darin, vor der ich auch eine Ehrfurcht habe.

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RS: Johann Sebastian Bach schrieb Musik immer zu Gottes Ehren und zur Recreation des Gemütes. Daher: die Erquickung der menschlichen Seele durch Gott. RGF: Sie können Gott nicht aus dem Bereich Bach streichen! Ganz gleich, ob es die Musik ist, die wir als profan bezeichnen, bei Bach, oder die Musik, die wir als dem Gottesdienst zugeordnet sehen. Also, das gelingt mir nicht! Vielleicht anderen, denen laß ich das dann.... Also; Bach ist immer gute Musik, und die Musik ist so gut, daß sie immer noch in allen möglichen Bearbeitungen gut klingt. Ich wünsche jedem, der sich mit Bach’s Musik auch nur oberflächlich beschäftigt, daß er in der Seele dadurch angerührt ist, ohne daß er gleich zur Bibel greifen muß. RS: Wiederholt parodiert Bach weltliche Werke in geistliche, so auch im Osteroratorium. Aber selten bis nie vollzieht er diesen musikalischen Wandel vom Geistlichen ins Weltliche. RGF: Weil ihm vielleicht manche Musik aus seiner Feder so gut erscheint, daß er sie gerne etwas länger anhaltend brauchbar machen möchte, was beim weltlichen Anlaß, sei’s bei einer Ratswahl oder einer Hochzeit, ja mit einer einmaligen Aufführung erledigt gewesen ist. Ich glaub schon, daß Bach auch so zeitlich so ökonomisch vorgeht.

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RS. Friedrich Smend, ein wichtiger deutscher Bachforscher, bezeichnete Bach einmal als großes Gegenbeispiel zur Zerrissenheit der heutigen Existenz. Wie sieht das mein heutiger Gast Rupert Gottfried Frieberger? RGF: Mein Gott, glauben Sie, daß Bach nicht zerrissen war? Ich denke, daß er sich mit allen möglichen Dingen in seinem Leben abplagen mußte, sei es der Unterricht der Chorknaben zu St. Thomas, das Sich-Abplagen mit mancher Einstudierung, das Fertigstellen von Opera nebenher, der Dienst in der Kirche... und jedem Recht getan, ist eine Kunst, die auch Bach nicht kann! Insofern ist das Altersbildnis Bach’s – ich meine jetzt ein Gemälde – , wo ein recht mürrischer Bach aus dem Rahmen herausblickt vielleicht ein sehr realistisches! Das ist dem Äußeren nach, ich denke, dem Inneren nach hat sich Bach durch Befriedigung mit seiner Musik und seiner Religion doch entsprechend über Wasser gehalten. RS: Für Augustinus und Martin Luther ist Musik Geschenk, Lob und Erkenntnis Gottes. RGF: Das betrifft jeden, der sich mit Musik beschäftigt. Für mich ist Musik immer eine Erkenntnis Gottes. Bei Albert Schweitzer, meine ich, steht es, daß sich kaum eine andere Kunst so eng mit der Religion verbindet wie die Musik. Ich denke,

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das ist auch etwas, das ich erst mit der Beschäftigung mit der Evangelischen Theologie und der Theologie der Evangelischen Kirchenmusik selber gründlicher erfahren habe. Ich habe manchmal Sorge, daß gerade in diesem Bachjahr Bach so gerne in katholische Klischees eingefüllt wird und auch mißbraucht wird, da möchte ich davor zumindest gerne warnen. RS. Rupert Gottfried Frieberger ist gelernter katholischer Theologe und studiert nun auch noch evangelische Theologie, um Bach besser zu verstehen, wie er sagt, um Bach besser vermitteln zu können und auch im Sinne der Ökumene. RGF: Ich muß dazu sagen, ich studiere die Evangelische Theologie nicht im Hinblick auf einen Studienabschluß – das wäre schön, wenn das auch gelänge! – aber, ich studiere es für mich, weil ich mir denke; Bach ist eine enorme Chance der Ökumene, und wenn ich als katholischer Theologe mich mit Bach in Szene setze und als Dirigent auftrete, dann habe ich die Verpflichtung mich mit der evangelischen Theologie zu beschäftigen um auch meinen Ausführenden vor allem auch vom Inhalt etwas erzählen zu können, und für mich selbst ist es eine unheimliche Bereicherung, die ich nicht missen möchte, und es ist für mich auch die Schiene der Ökumene.

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RS: Bei seiner letzten Aufführung der Johannespassion in Schlägl vor einer Woche am Palmsonntag hat Frieberger die Choräle von der Gemeinde mitsingen lassen. Warum? RGF: Ich habe vor zwei Jahren diesen Versuch schon einmal unternommen, und damit – leider oder GOTT sei Dank – nicht Schiffbruch erlitten. Mir war es ein Anliegen, die Gemeindebildung, die bei Bach manchmal im Hintergrund steht, zu zeigen; ich bin nun nicht der Meinung, daß bei Bach die Gemeinde die Choräle mitgesungen hat, aber, ich denke mir, die Choräle haben Gemeinde bildenden Charakter; so habe ich die Anregung ausgegeben, daß Leute aus dem Publikum, die in einem Chor singen, oder die die Johannespassion schon irgendwo einmal mitgesungen haben und sonst nur teilnahmslos im Auditorium sitzen würden, daß die gerne mitsingen können. Dafür wurde auch eine Probe vor der Aufführung gemacht, diese Besucher sitzen dann auch in den vorderen Reihen und sind somit nahe in das musikalische Geschehen eingebunden, und es hat eigentlich auf uns alle, die wir gesungen und gespielt haben einen unheimlich starken Eindruck gemacht, RS: Johann Sebastian Bach’s Musik tut vor allem eines, und das ganz besonders in den großen Passionen: sie berührt, rührt innerlich um, rührt innerlich auf, ob man will oder nicht: man kann sich dieser Musik eigentlich nicht entziehen.

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RGF: Können Sie sich dem Lacrimosa aus Mozart’s Requiem entziehen? Auch nicht! Es spricht für die Qualität von Musik – und auch wenn ich manches Stück von meinem verehrten Lehrer Anton Heiller höre, geht es mir ebenso – es berührt einen, man kann es nicht genau sagen, warum, was es ist. Und ich meine das ist erst recht ein Qualitätssiegel, wenn es – die einen sagen, unter die Haut geht, die andern, an die Seele geht, wie immer man den Menschen sehen will, ob dualistisch als Körper und Seele, und Gesamt, aber: es erfaßt einen! RS: Die Kirchen sind zusehends leerer, Bach’sche Passionsaufführung durchwegs ausverkauft. Besteht da für einen Mann der Kirche ein Zusammenhang? RGF: Ja schauen Sie, ich glaube – Sie meinen ja jetzt die Katholische Kirche – wir machen einen Fehler: wir haben in der Liturgie, und mit Recht, der participatio actuosa das Wort geredet. Aber ich glaube, man hat es mißverstanden, was es heißt, aktiv beteiligt zu sein, und hat eine viel zu wortbetonte Liturgie geschaffen: es wird geredet und geredet, man ist förmlich überfordert im Zuhörern, man ist überfordert im Mittun, und ich denke man läßt zu wenig Raum dem „aktiven Hören“ und dem Sich-Einlassen auch auf den Stellenwert der Musik im Gottesdienst. Die Musik ist ein integrieren-

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der Bestandteil und kein Beiwerk! Womit wir wieder bei der Aussage sind, sie ist auch Verkündigung! Ich muß natürlich als verantwortlicher Chorleiter und Kapellmeister auch die richtige Musik wählen, und ich kann natürlich nur bei der höchsten Qualitätsstufe ansetzen, wenn es irgendwie geht, sonst wird es oberflächlich, und für Gott ist das Beste doch gerade gut genug... RS: Rupert Frieberger ist Stiftskapellmeister in Schlägl, welche Erfahrungen hat er mit der Musik Bach’s in der katholischen Liturgie gemacht? RGF: Na ja, ich hab schon den einen oder andern Bach-Choral bei irgendwelchen Anlässen schon vor dreißig, vierzig Jahren gehört; ich hoffe, man macht es richtig und reißt die Musik nicht aus dem Zusammenhang. Bach komponiert in einer bestimmten Anlaß-Situation, für einen bestimmten Sonntag, auf bestimmte Lesungen hin, auf ein durch den Textdichter von diesem Sonntag geprägtes Sujet. Das heißt, daß dahinter ein Gedanke auf die gesamte Liturgie eines bestimmten Sonntages steht. Es wäre ganz schlecht, wenn da Musik aus ihrem Zusammenhang gerissen würde, nur weil man zufälligerweise bei der katholischen Messe ein Sätzchen davon zur Untermalung brauchen könnte, wenn dem Hörer nur unter dem Motto „wir machen auch Bach in diesem Bach-Jahr“ etwas mehr oder weniger Wahlloses angeboten würde.

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Dann sollte es schon richtiger gemacht werden. Auch mit meiner Aufführung der Johannespassion versuchte ich dem gerecht zu werden – und ich denke, die Johannespassion ist in ihrer Anlage ein durch und durch liturgisches Werk, weniger die Matthäuspassion, die entspricht mehr einer Betrachtungsmusik, aber dann finde ich es wichtig zu realisieren, daß da steht „prima parte – vor der Predigt“, also muß auch eine Predigt sein! Und dann ist ein liturgischer Connex gegeben, und so eine ‚Aufführung‘ ist für mich auch Gottesdienst! Wir haben als Katholiken vielleicht noch zu wenig Erfahrung, was wir alles als Gottesdienst interpretieren dürfen: da ist vielleicht zu sehr immer Eucharistie und Messe im Vordergrund. RS: Was ist Gottesdienst? RGF: Gottesdienst ist das ganze Leben zunächst einmal!! Gottesdienst im kirchlichen Raum ist etwas, das eine deutliche Ordnung hat, das von dieser Ordnung aus dem Menschen, der hier teilnimmt, der mit-‚macht‘, auch etwas gibt – nicht als eine Behübschung der Seele! – sondern als eine deutliche Verbindung der Seele zu Gott durch das Wort der Schrift, durch die Musik und durch die Verkündigung, eben auch die Homilie. RS: Bach war oft ein recht mürrischer, sehr selbstbewußter aber doch auch sehr unangenehmer Zeitgenosse und musikalischer Kollege.

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RGF: Sind Organisten überhaupt bequeme Kollegen? Aber man muß diesen Leuten auch Raum geben! In Schlägl kann ich Gott sei Dank nicht klagen, wir verstehen uns sehr gut, mein Kollege und ich, und wir teilen uns den Dienst auch an den Tasten, aber ich meine, der Organist ist natürlich mit einem komplizierten Instrument ‚verheiratet‘, braucht seine Vorbereitungszeiten dafür... ich sehe keine Schwierigkeiten, einen komplizierten Organisten haben zu müssen, wenn das einen Kollegen von mir beträfe: man muß sich nur ausmachen, wer was an Musik liefert. RS: Johann Sebastian Bach hatte immer wieder Schwierigkeiten in seinen Stellungen als Kirchenmusiker: aus Mühlhausen ist er weggegangen, im Weimar hat er das Komponieren von Kirchenkantaten plötzlich abgebrochen, die Streitereien in Leipzig sind mittlerweilen Geschichte. Kirchenmusik ja, aber nicht um jeden Preis! RGF: Es klingt vermessen, wenn ich mich jetzt mit Bach vergleiche. Aber ich fühle mich auch überhaupt nicht als der liturgische Komponist. Wenn Sie mein Werkverzeichnis so anschauen, sehen Sie, daß ich – je älter ich werde – umso mehr mich andere Gebiete zurückziehe; zur Zeit schreibe ich an einer Oper, das soll nicht den Vergleich direkt bringen: aber, wenn wir Bach verfolgen in seinen Lebensphasen, dann zieht er sich immer

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mehr in sich zurück, nicht in einer solipsistischen Art, sondern um sein Werk zu ordnen, und vielleicht, um seinem Werk noch mehr den Stempel der Verkündigung aufzudrücken. Es sind doch alles ordnende Tendenzen am Schluß, Reinschrift der Matthäuspassion, 18 Choräle, Ordnen des Instrumentalwerkes, er zieht sich von der praktischen Kirchenmusik zurück, das kann ich gut verstehen: weil es mühsam ist, und weil man damit nicht ankommt; ich bin auch einer, der nicht schreibt, um anzukommen; dazu gibt es andere, die das gut können, und die sollen es auch tun. RS: Rupert Gottfried Frieberger verbrachte seine Studienzeit in Wien, als die Pionierarbeit von Nikolaus Harnoncourt und Gustav Leonhardt die Musikszene so richtig entzündete. RGF: Ich bin kein Verfechter des Nur-auf-Original-Instrumenten Aufführens; das wird einem schnell nachgesagt; natürlich ist es schön, Bach mit Originalinstrumenten zu versuchen, und mit dem Top-Musikern der Alten-Musik-Branche (deren es, Gott sei Dank, immer mehr gibt) gelingt das auch vorteilhaft. Aber, es wird immer anders klingen. Ich glaube niemals, daß es so klingt, wie zur Bach-Zeit. Ganz gleich, welcher der großen Kollegen das auch macht, es wird immer in jedem Jahrzehnt anders klingen. Ich habe mich gewundert, wie ich neulich eine Schallplatte aus den al-

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lerersten Einspielungen von Harnoncourt auflegte, wie mir das jetzt wenig gefällt, als wenn ich Harnoncourt mit anderen Dingen heute höre, oder im Vergleich dazu, wie entzunden wir an diesen Einspielungen Ende der Sechziger Jahre waren, die ich heute fast „fad“ im Affekt empfinde. RS: Einer Ihrer Lehrer war Anton Heiller, der Sie später oft und gerne in Schlägl besuchte. RGF: Heiller war mein Kompositionslehrer, Orgellehrer war Michael Radulescu, der damals ganz jung an der Akademie war. Bei Heiller wurden viele Werke analysiert, manches geschrieben, manche fertige Komposition mit einem Pauschalurteil abgetan „Geh, mach was anders, Kinderl!“.... Ich hatte zu Heiller eine intensivere Beziehung: er komponierte auch für meine Priesterweihe und Primiz, er war oft in Schlägl zu Besuch, und wir haben uns da sehr intensiv unterhalten, nicht nur über Musik, nicht nur unterhalten, sondern wir haben wesentliche innerliche Gespräche geführt. RS: Rupert Gottfried Frieberger hat unter anderem auch die Matthäuspassion von Georg Philipp Telemann eingespielt und dafür auch einen Schallplattenpreis erhalten. Theologie hat er in dieser Musik für sich keine gefunden. RGF: Für einen, der Musik macht, nämlich, Musik schreibt und Musik ausführt, und der noch dazu

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in der Kirche ausführt und vielleicht auch für die Kirche schreibt, ist die Musik der Auftrag eines Apostolates. Und vielleicht ist Bach eines der besten Beispiele dafür, daß Musik ein Apostolat sein kann, das nicht auf den gottesdienstlichen Raum allein beschränkt ist, sondern ein Apostolat, das ins Leben integriert ist, und das vor allem am Beispiel der eigenen Person – wie gehe ich beispielhaft voran – gezeigt werden kann. Das ist für mich Bach. Und das finden in den Noten bei Bach zeigt das auch immer wieder neu. Schauen Sie, ich habe versucht bei Telemann eine Theologie zu finden, das gelingt mir nicht, weder im Harmonischen Gottesdienst, noch in den Passionen; es ist einfach weniger. Ich will die Musik nicht schlechter machen deshalb, weniger heißt noch nicht schlechter, aber vom Inhalt her weniger. Also auch weniger gewollt, es ist eine liturgisch-praktische Musik bei Telemann, nett, gefällig, gut, aber nicht so inhaltsreich, daß man sich so daran erinnert, daß man davon nicht mehr loskommt. RS: Kann man sagen, daß Mozart, Messiaen in irgendeiner Form vergleichbar sind mit Bach? RGF: Das kann ich mir gut vorstellen. Bei Messiaen ist es doch auch so, er spricht in der Sprache der Emotion, und das kann – nicht jeden Hörer, versteht sich – aber das kann den und den Hörer viel leichter treffen, wenn die entsprechende Wellen-

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länge vorhanden ist. Und das ist bei Bach und Mozart genauso. Auch in den profanen Werken – schauen Sie sich den fis-Moll-Satz im A-Dur-Klavierkonzert von Mozart an: der macht eine Dimension auf, die man sich nicht erklären kann. Das meine ich mit Sprache der Emotion. Und das ist auch bei Messiaen so. RS: Barockmusik und die Musik Bach’s ist Ordnung und Emotion in Noten gebündelt. Als Hilfe für den heutigen Zuhörer gilt die strenge Affektenlehre. Fühlen ja, aber mit Maß und sicherlich ganz gezielt. RGF: Ja, aber nehmen Sie Bach’s Zeitgenossen her: warum berührt dann Kirchenmusik von Johann Ernst Eberlin am Salzburger Dom viel weniger – mich zumindest viel weniger? Ich glaub schon, daß es mit der protestantischen Auffassung auch zu tun hat, das Wort ist wichtig, und das in Musik gekleidete Wort noch wichtiger, ihm eine zusätzliche Dimension zu eröffnen, vielleicht ist es das? Bach ist immer ein Fragezeichen. Ich finde es nicht gut, wenn man Bach als ein fertiges Paket nimmt, und dann noch dazu kommt mit einem gelernten Programm von Zahlensymbolik, einem gelernten Programm von Tonsymbolik, und dann sagt „Ja bei Bach ist das so und so...und hier finden wir die und die Zahl....“ Das ist schön, aber man muß

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achtgeben, daß hier nicht der Wunsch zum Vater des Gedankens wird. Bach ist nun einmal ein Fragezeichen und einer, der fordert zum Suchen. Lieber Bach gesucht zu haben zwischen den Zeilen und vielleicht das Risiko des Irrtums eingegangen sein, als Bach gar nicht gesucht haben, nämlich sein Anliegen gar nicht gesucht haben. Und damit vielleicht auch Gott nicht gefunden haben. Das Interview führte Ursula Magnes.

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II. WENN EINER EINE REISE TUT

„Der Geist aber wird euch an alles erinnern“ 51


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IN GENT STATT MUSCHELN DISCO 1985 war ich eingeladen, in der Kathedrale von Gent ein Konzert zu spielen. Zugegebenermaßen hat mich die Orgel mit elektrischer Traktur nicht sehr inspiriert. Aber auf dem großen Marktplatz stach mir am Nachmittag ein Restaurant mit ausgehängtem Schild „Vandag ferse mosselen – heute frische Muscheln“ in die Augen. Ich fasse kurzerhand den Entschluß, mich selbst mit einem Muschelgericht nach dem Konzert belohnen zu wollen. Ich gehe ins Lokal, frage einen Kellner, ob ich nach dem Konzert, also ca. 22 Uhr noch essen kann; der bejaht, und ich schreite voll kulinarischer Perspektiven in die Kathedrale zum Konzert. Nach „getaner Arbeit“ nehme ich verheißungsvollen Kurs auf das Lokal. Dort aber erwartet mich eine verschlossene Tür mit einem Schild „Gesloten“. Zuerst enttäuscht, dann aber – zugegeben – mehr und mehr zornig, beginnt mein Innerstes zu reagieren. Nahezu magisch anziehend leuchtet da auf meinem Resignationsspaziergang durch die engen Gassen ein Schild „disco“. Ja, denke ich mir, das wird’s heute: ich werde das erste Mal eine Disco besuchen! Gesagt, getan. Da empfängt mich ein „Türsteher“, ich erhalte für den nicht geringen Eintritt gratis eine Dose Cola in die Hand gedrückt. Einen Stock tiefer empfängt mich lauteste Musik. An den Wänden drücken sich gähnende, sich we-

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gen des Lärms nicht unterhalten wollende oder könnende Pärchen. Auf der Tanzfläche ist ein Paar beschäftigt, sich zu produzieren, aber auch nicht gerade überwältigend. Alles in allem für mich Grund genug, nach 30 Minuten das Feld zu räumen. Gent also ohne Muscheln, mit ein wenig Disco und der Erfahrung, daß das nichts für mich ist. Aber mit einer wunderbaren Betrachtung des berühmten Genter Altares am folgenden Tag.

PAULUS IN MAROKKO Wie im Märchen: das Kulturamt im Außenministerium ruft mich an und fragt, ob ich bereit wäre mit einem Ensemble im Auftrag der Österreichischen Bundesregierung beim Ersten Festival für Geistliche Musik in Marokko teilzunehmen. Gefragt ist ein Programm mit Gregorianischem Choral. So „mobilisiere“ ich einige meiner Mitbrüder und meine Studenten der Universität Salzburg zu einer Choralschola, die am 9. Oktober 1994 in Fez mit einem Programm aus dem Marienrepertoire auftritt. Die Österreichische Botschaft kümmert sich rührend um uns, man richtet sogar ein eigenes Wahllokal in Rabat ein, um uns Gelegenheit zu geben, an der just an diesem Wochenende stattfindenden Nationalratswahl teilzunehmen. Man organisiert neben einem beeindruckenden Abend-

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mahl auch eine Führung durch den Bazar und die Universität. In meinem Reisegepäck befindet sich da aber ein anderes „Problem“: für 26.10. ist die Uraufführung eines neuen Oratoriums aus meiner Feder angesagt. Und es war wieder einmal typisch für meine Vorgangsweise als Komponist bei einem größeren Stück. Ich wollte für das eben 1994 zu feiernde Jubiläum „25 Jahre Musikveranstaltungen in Schlägl“ ein neues Oratorium schreiben. Am Fest Pauli Bekehrung „küßte“ mich die Muse mit der Idee des Stoffes während der Liturgie: „Bekehrung des Heiligen Paulus“ – das wär’s doch! Ja, und so ist’s dann auch in das im März erschienene Programmheft gewandert. Und bei einer größeren Chorreise im Juli hatte ich noch immer fast keine Noten am Papier. Schließlich war aber am 24. September, meinem Namenstag, doch die Partitur ganz fertiggestellt. Und jetzt mußten aber schleunigst die Orchesterstimmen und die Chorpartitur herausgeschrieben werden und schließlich sollte ab 11. Oktober, nach unserer Rückkehr aus Marokko mit den Proben begonnen werden. Ja, so blieb mir nichts anderes übrig, als in Marokko am Swimmingpool des Hotels zu sitzen und Noten abzumalen. Denn die Zeit war wieder einmal so knapp, daß jede Minute kostbar war. Oboen, Klarinetten und Fagotte erhielten auf diese

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Weise Material direkt aus Afrika mit der „Bekehrung des Hl. Paulus“. Unser Auftritt in Marokko war bemerkenswert: vor Wasserpfeifen und Ölscheichs, einem internationalen Publikum in einem orientalischen Ambiente, einem mit Teppichen ausgekleideten, mit geschnitzter Zedernholzdecke ausgestatteten Saales – akustisch stumpf und wenig inspirierend – gaben wir unser Bestes und sangen unter heißen Scheinwerfern schweißtriefend unser „Salve sancta parens“.

DÄNEMARK 1994: HUNGER MIT FATALEN FOLGEN Mit meinem Chor CANTORIA PLAGENSIS und dem Heiligenberger Barockorchester ging ich 1994 auf eine Deutschland – Dänemark -Tournee, die Mozart’s Requiem und mein Oratorium „Mysterium crucis“ im Programm hatte. Auftakt war ein Konzert bei den Europäischen Wochen Passau, gefolgt von einer Aufführung bei den „Niedermooser Konzerten“ in Hessen, an die uns sengende Hitze erinnert. Nach einem Konzert in Fritzlar nächtigten wir in Lübeck, um am folgenden Tag mit unseren Bussen nach Dänemark überzusetzen.

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Eine verzögerte Abfahrt und Stau auf der Autobahn hatten schließlich zur Folge, daß wir die in Aussicht genommene Fähre verpaßten und eine Stunde später mit einem kleineren Boot Dänemark erreichten. Dieses hatte aber nicht das von mir angekündigte Bordrestaurant, sodaß wohl die Zähne auf ein Krabbenbrötchen lang, die Hungergefühle aber größer wurden. Doch der Pannen kein Abriß: in Kopenhagen suchten wir verzweifelt nach dem Domizil der Österreichischen Botschaft. Mit schon zwei Stunden Verspätung folgten wir einer Einladung des Herrn Botschafters zu einem kleinen Umtrunk und sangen ein Ständchen. Der Hunger einzelner Choristen und Musiker war inzwischen soweit angewachsen, daß sie ziemlich ausgiebig bei den uns angebotenen Häppchen zugriffen und die Frau des Hauses beinahe in Verlegenheit, mich aber zu beschämenden Blicken brachten... Ja, schließlich gelangten wir um 17Uhr zu unserem Hotel nach Ringsted. Das Konzert in der 10km entfernten ehemaligen Abteikirche von Sorø sollte um 19.30Uhr beginnen, davor noch Sitz-und Stellprobe und Einsingen. Also wenn, dann „quick food“: das sollte aber nicht für alle möglich werden. So gab’s verhungerte Gesichter während der Aufführung, und die noch größer Enttäuschung: die Reisebusse brachten uns nach der Veranstaltung gleich in das Hotel zurück. Da war aber auch

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das Restaurant samt Bar schon geschlossen. Also blieb noch Hoffnung auf die nahegelegene Tankstelle: die hatte gerade mal etwa ein Dutzend Tramezzini – aber, bei noch so biblischem Andenken, wurden davon leider nicht all die satt, die da Hunger hatten.... MEDIENHINTERGRÜNDE Für verschiedenste Rundfunk- und Fernsehanstalten Europas hatte ich die Ehre, Einspielungen zu machen. Für den Österreichischen Rundfunk arbeitete ich auch als sogenannter „Freier Mitarbeiter“ und habe in der „analogen“ Zeit selbst viele Aufnahmen im Landesstudio Oberösterreich geschnitten und bearbeitet, und auch mehrere Sendereihen gestaltet. Fernsehen ist dann noch einmal etwas anderes. Im Spätherbst 1980 entstand ein Fernsehfilm mit dem Titel „Orgelreise durch Oberösterreich“, den im Wesentlichen ich gestaltete, oder der zumindest mit mir als „Hauptrolle“ rechnete. Ich führe darin verschiedene Orgeln unseres Bundeslandes vor und zeige das Entstehen einer Orgel. Drehtermine waren genau festgelegt. Und erst recht der Sendetermin 1.1.1981, Neujahrsprogramm! Da waren schon einige Dreh’s hinter uns, und Mitte November noch Außenaufnahmen und Spiel an der besonders schönen Chororgel vom Stift Wilhering terminisiert.

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Doch da schlug das Schicksal zu. Am 11. November wurde mir ein handgefertigtes Bett mit Lattenrost geliefert, es stand in Teilen zerlegt an der Stiftspforte. Die Freude, endlich meine defekte Wirbelsäule „wohl“ betten zu können war so groß, daß ich noch nachts an die Montage schritt. Auf der steilen Granitstiege, die ins zweite Obergeschoß unseres Klosters zu meiner Zelle führt, kippte ich mit dem rechten Fuß um, stürzte, die auf beiden Unterarmen aufgestapelten Lattenrostbrettchen purzelten zu Boden, direkt auf meinen linken Vorfuß. Im Schock noch aufgetreten, letztlich doch noch nachts ins Linzer Unfallspital gebracht (um die Rettung einzulassen, hüpfte ich auf einem Bein quer durch die Gänge und warf den Schlüssel beim Fenster über dem Portal in die Tiefe....), mußte ich zur Kenntnis nehmen, daß es sich um einen komplizierten Sprunggelenkbruch handelte. Dabei trug ich ein Flugticket nach London in meiner Sakkotasche, wohin ich tags danach den Lehrkörper unserer Musikschule führen sollte.... Aber zurück zum Fernsehen: Mit einem über das Knie reichenden Gips am linken Bein war mir das Spiel an der besagten Wilheringer Chororgel nur schwer möglich: die Sitzgelegenheit ist dort so eng, daß nur ein halb Liegen, halb das Bein nach hinten Strecken übrig blieb: Und wer es nun weiß und genau hinsieht, wird das im Film auch beobachten können, und

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braucht sich auch nicht über „Brustbilder“ im Wilheringer Stiftshof wundern.... Eine besondere Situation ist und bleibt aber die Gestaltung einer Live-Sendung. Da erinnere ich mich an eine Rundfunkübertragung eines Gottesdienstes am 15.8.1976: eine Messe von Heinrich Isaac mit alten Instrumenten und einem klein besetzten Chor hatte ich dafür ausgewählt; eine Blockflötistin hatte ihre noch recht kleinen Kinder mitgebracht und auch beteuert, daß diese ganz brav sein werden. Inmitten der Übertragung machte sich der kleine Knirps krabbelnd zu einem der Mikrofonstative auf den Weg. Da bleibt einem als Dirigent fast das Herz stehen. Zum Glück ist nichts passiert. 1992 übertrugen wir via ORF und ZDF in mehrere europäische Länder das Pfingstpontifikalamt aus unserer Stiftskirche mit meiner damals ziemlich neuen „Missa festiva Plagensis“ für 2 Chöre, 12 Bläser und Orgel. Die musikalischen Ausführenden standen aus Regie technischen Gründen vor dem Hochaltar, und so hatte auch ich vom Dirigentenpult nicht weit in die Sakristei. Diese Fluchtmöglichkeit benutzte ich zu folgender „Tat“: durch die hohe Temperatur der installierten Beleuchtung war mir einfach so übermäßig heiß geworden, daß meine Hemdärmeln schon beim Gloria schweißtriefend naß waren. In der Sakristei wußte ich eine

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Schere, und hatte sie einfach – es mußte ja schnell gehen! – während Evangelium und Predigt (das Drehbuch samt Kameraeinstellungen war mir ja bekannt) abgeschnitten. Unter dem weißen Habit fiel das nicht weiter auf und ich fühlte mich weit wohler...

WO IST DER AKKORD ? Die technischen Möglichkeiten der Bearbeitung von digitalen Tonaufnahmen sind schier uferlos. Analog-Aufnahmen habe ich selbst oft genug mechanisch geschnitten, und das eigentlich vom bloßen Zusehen bei Rundfunktechnikern erlernt. Vor dem Bildschirm erblasse ich, wenn ich unseren Tonmeistern zusehen darf. Da werden Tonhöhen „angehoben“, Tempi verzögert oder gerafft, Aufnahmen überlagert und vieles mehr. Ich frage mich dabei schon auch, was hinter dieser Manipulation noch an Echtem transportiert wird... In Zusammenarbeit mit dem WDR nahm ich Mozart’s Requiem auf, das als CD bei einer deutschen Schallplattenfirma erschienen ist. Obwohl solche Projekte von langer Hand geplant sind, ist erfahrungsgemäß vor der Endfertigung immer Streß angesagt. So auch hier. Das fertige DATBand (also eine Digitalband mit der genauen Reihenfolge und den fertig gemasterten Aufnahmen)

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sollte ich Ende Juni 1992 erhalten, dann gab‘s Verzögerungen. So, daß ich das Band per Post im Juli an dem Tag erhielt, als ich mit einer Gruppe eine Orgelreise nach Schweden antrat. Also nahm ich meinen DAT-Walkman mit und hörte im Flugzeug München – Stockholm konzentriert die ersten Tracks ab. Requiem, Kyrie, Dies irae, usw. Lacrimosa....: da leitet das Confutatis doch mit einem höchst spannungsgeladenen Akkord in das Lacrimosa über. Ich denk, ich hab unkonzentriert gehört. Band zurück, noch einmal: ja, das darf doch nicht wahr sein! Der Akkord fehlt! Noch einmal zurück, ja, ich kann’s nicht ändern. Aber was tun? 2000 km weit weg, noch in der Luft, aber bald am Boden, muß ich Alarm schlagen. Sonst geht die CD mit mehreren tausend Stück in Pressung. Auch hier hab ich schon genügend erlebt, als daß ich nicht berechtigt Panik verspürte: da gibt’s Firmenurlaub, das Preßwerk beginnt ohne mein Placet doch zu pressen, usw. Nun, ein heftiges Telefonat vom Flughafen Årlanda nach Heidelberg hatte – dank eines beflissenen Sekretärs – zumindest den Stop der Produktion zur Folge, sodaß ich nach meiner Rückkehr und Beendigung des Firmenurlaubes, sowie nach nochmaligem genauesten Abhören des gesamten Bandes die Fehlerliste, respektive nach deren Korrektur die Freigabe tätigen konnte.

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RHEINLANDERFAHRUNGEN

Metamorphose einer Priorin ? Alle 6 Jahre halten die Praemonstratenser der ganzen Welt ein Generalkapitel ab. Im Jahre 1988 durfte zum ersten Mal seit mehreren Jahrzehnten sogar wieder ein neu gewählter Abt aus Böhmen dabei sein, obwohl das noch vor dem Fall des Eisernen Vorhanges war. Die Zusammenkunft aller Äbte, Priorinnen und jeweiligen Vertreter der einzelnen Konvente fand in Steinfeld in der Eifel statt. Ich wurde gebeten, wenigstens zu einem Hochamt in der Abtei Hamborn, das Abt Michael von Prag-Strahov erstmals in Insignien feierte, und zu einer Pontifikalvesper am Nachmittag in Xanten (dem Herkunftsort unseres Ordensgründers Norbert), der Generalabt Marcel van de Ven vorstand, die Orgel zu spielen. In Xanten ließ ich es ein wenig „wild zugehen“ zum Auszug und improvisierte über unseren Augustinushymnus „Magne Pater, Augustine“. Als ich fertig war, pflanzte sich die Priorissa unseres Nonnenklosters Oosterhout in den Niederlanden neben mir auf, strahlte über das ganze Gesicht, und rief mir zu: „Ach Rupert, was mecht ich ein Orgel sein und daß du auf mir spielst!“

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Deutsche Gründlichkeit und bürokratische Neugier Im Jahr 1994 spielte ich Konzerte im Münsterland und nahm auch an einem musikwissenschaftlichen Kongreß in Münster teil. An diesem Wochenende hatte man uns Österreicher eingeladen, über unsere EU-Zugehörigkeit abzustimmen. Da mir das zu Hause nicht möglich war, machte ich davon Gebrauch, die Meinung brieflich kundzutun. So schritt ich in der Pause zwischen zwei Vorträgen in eine Notariatskanzlei und meldete mich bei der Vorzimmersekretärin an. „Der Herr Doktor hat jetzt keine Zeit, aber um zwei Uhr können Sie Ihre Anliegen vortragen. Aber sagen Sie schon einmal, wer Sie sind, welchen Beruf Sie haben, wo Sie wohnen.....!“ Na, ich ließ meine Daten aufnehmen, kam um zwei Uhr wieder, und der Herr Notar empfing mich. Mehr gnädig denn höflich. „Na, sag’n Se mal, wat Se wählen werden. Wenn Se dafür sind, dat Österreich zur EU kommt, könn’n Se ja hier bleiben....“ Ich war nicht auf den Mund gefallen und sagte dem gedrungenen, dicklichen Herrn meine Meinung über seine Diskretion und übergab ihm mein bereits verschlossenes Kuvert, auf dessen Rückseite er lediglich seine Unterschrift und einen Stempel aufdrückte. „Na, hoff ich doch, dat Se dat Richtige drinn’ hab’n! Und den Rest besorcht dann dat Fräulein draußen. Wiedersehn.“ Ich verabschiedete mich, wartete an der rezeptions-

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artigen Theke, bis mein neugieriges „Fräulein“ wieder erschien. „So, dat macht zusammen 178.– DM.“ Schluck, denk‘ ich. Leicht verdientes Geld! Und für das, daß ich eine nicht einmal zur Pflicht erhobene Wahl durchführte wirklich ein ganz schön fettes Geschenk an unseren Staat. Ich hab’s bezahlt und Minister Busek eine Kopie der Rechnung zur Kenntnisnahme weitergeleitet, damit die Politiker wissen, was man für sie auszugeben bereit ist. Geantwortet hat er natürlich nicht.

AUTOEINBRÜCHE Daß mir 20 Jahre lang bei einer relativ großen Reisetätigkeit niemals mein Auto aufgebrochen worden ist, ist eigentlich verwunderlich. Zumal – nichts gegen unsere ausländischen Mitbürger! – in manchen Ländern die Erfahrung damit gegeben ist. Aber das sollte sich schlagartig ändern. Im Februar 1983 nahm ich an einer Sitzung der Liturgischen Kommission unsres Ordens in der Nähe von Brüssel teil und erklärte mich auch bereit, die Protokolle in Lateinischer Sprache abzufassen. Das hatte ich gleich vor Ort erledigt. Von dort aus begab ich mich Sonntag nachmittags Richtung Straßburg, weil ich mich mit einem Kollegen verabredet hatte, am Montag früh Mikrofilme auszutauschen. Ich fuhr auf das erstbeste Hotel –

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hollyday in – zu, parkte den Wagen im Hof, und war eigentlich reif für das Bett. Am nächsten Morgen schaute ich beim Rasieren aus dem Badezimmerfenster in den Hof und stellte fest, daß es geschneit hatte. Und so oberflächlich die Seitenfläche meines Sierra betrachtend, stellte ich fest, wie zuvorkommend man mir auch schon die Scheiben geputzt hatte. So ließ ich mir noch mehr Zeit beim Frühstück, las die Zeitung, bezahlte die Rechnung und machte mich auf zum Auto. Dazu muß ich erwähnen, daß ich in meinem Auto auch Sachen herumführe, die ich nur für Notfälle oder aus irgendwelchen weiter zurückreichenden Anlässen dabei habe. So z.B . einen Fotoapparat (das könnte bei Besuchen an historischen Orgeln wichtig werden), aber auch Schuhe (eben für das Orgelspiel); diesmal waren es auch ein Anzug von einem Konzertauftritt, eine Kugel von 3kg Käse, die ich in Holland gekauft hatte, und eine Schatulle mit 2 kg Lebkuchen, die in Nürnberg bei der Anreise zu mir gefunden hatte. Dazu war auch der schwarze Aktenkoffer mit u.a. den lateinischen Protokollen im Wagen geblieben. Die Überraschung, oder besser: der Schock war groß, als ich feststellte, die Fensterscheiben der Autotüren waren nicht geputzt, sondern jene bei der Fahrerseite war eingeschlagen! Und es fehlte alles, was zum Essen und Anziehen war, und –

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der Aktenkoffer mit den Protokollen. Alles andere war dageblieben. Fotoapparat, Orgelschlüssel, Papiere im Handschuhfach. Also eher, von einem Bedürftigen gestohlen, der Kleidung und Essen nötig hatte. Ich spekulierte, daß dieser die Tasche mit den lateinischen Texten sicher nicht brauchen konnte; und wenn er nach seiner Vermutung, Geld zu finden, dann enttäuscht wurde, wird er sie in den nächsten Mülleimer geworfen haben. Aber meine Suchaktionen blieben erfolglos. Dann Meldung bei der Polizei. Dann zum Treffpunkt mit den Mikrofilmen. Dann zurück – ja, ich brauch ja eine Scheibe, es war bitterkalt, weil Wintereinbruch. Denkste, man schrieb „Rosenmontag“ im Kalender, und da hatte jede vernünftige Werkstatt geschlossen! Bis fast vor Stuttgart fuhr ich auf der Autobahn dahin, als endlich eine Werkstatt mir zumindest ein Provisorium aus Plastik montierte; denn die zugehörige Scheibe zu einem Gefährt der Ford-Kette war natürlich nicht lagernd. Sehr verkühlt kam ich in Salzburg nachts an, bereitete mir heißen Tee und fuhr noch nach Schlägl weiter. Aber, das sollte nicht der einzige Einbruch innerhalb von neun Monaten sein. Im Juli war ich in den Niederlanden. An einem Sonntagvormittag ging ich in der Walse-Kerk zum Gottesdienst. Gustav Leonhardt spielte die Orgel dazu, und

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nachher tranken wir noch eine Tasse Kaffee zusammen. Dann wollte ich mich auf die Heimfahrt nach Österreich begeben. Ich komme gegen 11.30 Uhr zurück zum Auto. Da will mein Schlüssel nicht sperren. Mit ziemlicher Gewalt gelingt mir das Öffnen. Und ich stelle fest, daß jemand Fremder in meinem Auto gewesen sein muß, weil mir aus dem Seitenfach eine Geldtasche mit den österreichischen Schillingen fehlt und auch noch andere Papiere. Zu guter Letzt passierte es im Oktober noch einmal. Da war ich in Hamburg zu einem Orgelkonzert und für Rundfunkaufnahmen. Ich hatte drei Tage vor der Kirche St. Marien im Stadtteil St. Georg das Auto stehen. Am Samstagabend, eine Stunde vor dem Konzert, sagt der Pfarrer zu mir: „Sie trauen sich aber was! Bei uns wird doch so viel eingebrochen... Stellen Sie doch Ihr Auto auf meinen Privatparkplatz hinter dem Pfarrhaus!“ Ich dachte mir, na, wenn bis jetzt nichts passiert ist. ... Aber dann will ich nicht unhöflich sein, parke um, und räume mein Auto auch gleich ganz ein, weil ich nach dem Konzert sofort wegfahren wollte. Am Sonntagnachmittag war ein Jubiläum unseres Altabtes, und ich wollte noch die halbe Strecke nachts fahren, um pünktlich zu sein. Sogar nach echten Überlegungen und nicht aus Unachtsamkeit habe ich meine Herrenhandtasche mit allem, was da hingehört – Paß, Schecks,

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Scheckkarte, Geld, Führerschein... – auch ins Auto neben den Fahrersitz gesteckt; denn, wenn ich sie auf der – auch von Publikum bevölkerten – Orgelempore irgendwo hinlege, ist es dasselbe: sie kann genommen werden; da wähnte ich sie in Pfarrers Garten sicherer. Mit nichten! Knapp vor Konzertbeginn geh ich nochmals zum Auto, um mir ein frisches Taschentuch zu holen. Und die Überraschung war wieder perfekt: aufgebrochen und die Handtasche geklaut! Ja, jetzt zuerst einmal spielen! Dann klarer Kopf. Als erstes den Bankchef in Schlägl anrufen, daß die Konten gesperrt werden! Antwort durchs Telefon: „Nein, im Ausland machen wir das nicht, wir sind ‚eh‘ versichert und der Selbstbehalt ist nur 2000.-öS!“. Also dann eben nicht. Das Österreichische Konsulat anrufen – damit ich überhaupt über die Grenze komme! Verlustanzeige und Einbruchmeldung bei der Polizei. Und so ist es 23 Uhr bis ich endlich aufbreche. Bis in die Gegend von Schweinfurt hatte ich es noch geschafft. Dann in ein Motel, am nächsten Tag weiter. Die Grenze bei Kollerschlag hatte mich nicht einmal kontrolliert, und dann rasch zum Jubiläum..... Aber da blinkt die Benzinanzeige auf. Und ich hab nicht e i n e n Schilling bei mir. Werd ich bis Schlägl kommen? Doch, es ist sich ausgegangen. Die Folgen waren dann tröpfchenweise zu bemerken: erstens wurden innerhalb drei Wochen ins-

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gesamt 50.000.– öS an europäischen Flughäfenbanken von meinem Konto mit allerdings deutlich als gefälscht erkennbarer Unterschrift abgebucht; zweitens war ich emsig beschäftigt, mir neue Papiere zu besorgen; drittens meldete sich nach vier Wochen das Österreichische Konsulat in Hamburg: „Wir haben Ihre Papiere, aber die können wir erst in einer Woche senden. Die liegen zum Trocknen auf all unseren Heizkörpern verteilt in unserem Büro auf.“ Man hatte mein Täschchen versenkt in einem Spülkasten auf der Toilette im St. Georg-Krankenhaus gefunden, ohne Geld, Schecks und Scheckkarte natürlich; aber immerhin bis Weihnachten hatte ich meine Identität wieder und die nachbestellten Ausweise konnte ich noch rechtzeitig stornieren.

CHORREISEN Mit meinem Chor CANTORIA PLAGENSIS bin ich hin und wieder auch auf Konzertreisen. Nun sind da freilich nicht alle Mitglieder reiseerfahren, zumindest, was die Verbindung mit dem Konzertieren angeht. Und eine Urlaubsreise ist eine Konzertfahrt allemal nicht. 1999 waren wir in und um Venedig eingeladen. Wir fuhren von Schlägl aus mit einem Bus, erstes

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Konzert war am selben Abend im Dom von Bassano del Grappa. Dort hatte ich auch für diese Nacht ein Hotel gebucht und in einem Restaurant noch vor dem Auftritt ein Abendessen bestellt. Denn das Märchen, daß Italiener bis spät in die Nacht zu Abend essen, ist nun einmal ein Märchen und nicht wahr; also muß man für früher etwas organisieren, wenn um 20.30 Uhr das Konzert beginnen soll. Bei der Anreise gab es eine Umplanung des Weges wegen einer Tunnelsperre auf der Tauernautobahn. Wir nahmen die Brennerstrecke, machten natürlich auch Rast; und dann schlief ich auch ein wenig ein im Bus, und als ich erwachte, sehe ich ein Schild „Verona 27 km“. O Gott, der Busfahrer ist ja viel zu weit südlich. Ich dirigiere ihn um, wir fahren Überlandstraßen querfeldein und kommen um 18.30 Uhr nach Bassano. Sofort zum Restaurant! Das klappt gut, das Abendessen wartet. Aber für einen Zwischenstopp im Hotel zum Umkleiden etc. geht es sich einfach nicht mehr aus. Ich telefoniere, daß wir nach der Veranstaltung kommen. Alles in den Bus, auf zum Dom. Hm. Da ist zunächst schon einmal der Weg für den Bus verboten – wir fahren in italienischer Manier trotzdem weiter. Dann ist das Stadttor zu schmal. Alles hinaus. Ich ordne an, daß die Probe bereits in Konzertkleidung stattfindet, es ist ja irre knapp. Umziehen? Wo jetzt? Na, die Herren halt

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auf der Straße, die Damen im Bus. Zähneknirschen und auch hörbare Fluchäußerungen, aber irgendwie geht es halt doch. Dann die Truhenorgel! Die muß in den Dom 500m geschleppt werden. Starke Tenöre und Bässe machen’s möglich. Ingemar spielt beim Konzert Orgel. Er eilt voraus, spielt sich ein, verläßt sich darauf, daß man ihm seinen Koffer in die Kirche nachbringt. Bloß ist das nicht sein Koffer, der da ankommt. Sieht nur gleich aus, sind aber Damenkleider drin. Das Mißverständnis klärt sich irgendwie auch auf, Dame in Anzug geht ja auch nicht. Schließlich Streßberuhigung. Kurzes Ansingen mancher Stücke. Und das Konzert beginnt mit einer halben Stunde Verspätung um 21 Uhr, was für Italien normal ist.... 1994 habe ich zu Beginn einer Tournee mit der CANTORIA PLAGENSIS und Barockorchester das Mozart-Requiem im Rahmen der Europäischen Wochen Passau an einem heißen Julitag aufgeführt. Nach schweißtreibender Stellprobe mach ich mir noch ein paar ruhige Minuten und setze mich vor einen zur Medidation anregenden Barockaltar – das Konzert war in der Asamkirche Osterhofen –, und zwar mitten in die Publikumsreihen. Nach einigen Minuten erscheint eine Platznachbarin. Macht sich zurecht, zückt das Programm. Dann lispelt sie herüber: „Kennen Sie den Dirigenten?“ Ich antworte: „Ja, ein bißchen.“ – „Der macht des mit die oidn Inschtrumende, gei?“ tönt’s in tiefem

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niederbayerischen Dialekt – „Steht zumindest im Programmbuch.“ – „Was hoidn denn Sie davu?“ „Klingt manchmal ganz interessant.“ – „Und da schteht a, dos des eppa a neiche Gschicht is mit dera Fossung.“ – „Ja, hab ich auch gelesen“. – „Woher kumman denn Sie?“ – „Aus Österreich, aus dem Mühlviertel.“ – „Jo mei, des deaf net wooh [wahr] sei, do foan mia af Urlaub hi.“ Inzwischen marschieren Chor und Orchester aufs Podium, die Instrumentalisten beginnen zu stimmen. „Sogn S’, hobn S’ de Possaunen gseign, gonz oid, gei?“ – „Ja, ziemlich.“ – „Wissen S‘, i bi ja neigierich, i hob vo dema Frieberger a CD midn Haydn, oissa mid dera Schöpfung. Do hoda scho a Tempo drrauff monchmoi, oba i hob zu mei Mo [Mann] gsogt, dera interessiert mi. Jetzt wird’s oba Zeid, daß a ofongt!“ – Denk ich mir auch, stehe auf, verabschiede mich höflich – „Jo, Se werdn do net geh, gei die oidn Inschtrumende meigns ned?“ – „O doch, ich hab was zu tun! Aber vielleicht sehn wir uns in der Pause?“ Und gehe langsam nach vor und besteige das Dirigentenpodium.... In Schlägl treff ich die gute Frau samt ihrem Gatten bei einem Konzert im August. Sie ruft von weitem: „Heid kenn i Ihna scho! Do hobn’s mi oba sche fian Norrn ghoidn in Possau domois.“ Ich stammle was von Entschuldigung. Jedenfalls zählen die beiden seither zum Stammpublikum bei uns.

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WER SPIELT DIE ORGEL? Im August 1995 war ich in einem Gebirgsdorf in Kärnten eingeladen, ein Improvisationskonzert zu Bildern von Ernst Fuchs zu spielen. Mir ging es damals gesundheitlich nicht so gut, sodaß mich ein guter Freund chauffierte. Wir kamen Samstagabend an, ich spielte mich etwas ein. Am Sonntagvormittag schlug ich vor, in die Evangelische Kirche Völkermarkt zum Gottesdienst zu gehen (mein Freund ist lutherischen Glaubens). Wir sitzen zu dritt – auch eine Wiener Bekannte ist noch dabei – in den vorderen Reihen. Der Pastor erscheint und fragt: „Kann unter den Anwesenden jemand Orgelspielen?“ Ich will mich nicht vordrängen, warte, ob sich jemand anderer meldet. Schweigen im Walde. Schließlich hebe ich die Hand. „Ja, bitte“, sagt der freundliche Pfarrherr und geleitet mich vor allen auf die Orgelempore und sagt dann noch: „Mit den Füßen brauchen S’ eh nicht spielen!“ Zum Glück ist mir die Ordnung des lutherischen Gottesdienstes in Österreich einigermaßen bekannt, und ich habe, was das anbelangt, keinen Fehler gemacht. Nach dem Gottesdienst lud der Pastor noch zum Kirchenkaffee und schüttelte jedem – wie in seiner Kirche üblich – die Hand. Ich kam von der Orgelempore herunter, und er bedankt sich mit sonorer Stimme. „Na, war ja eh recht gut. Was machen Sie denn beruflich, wenn Sie neben-

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her so orgeln können? Machen Sie Urlaub hier?“ Ich versuche, die Fragen der Reihe nach zu beantworten. Also, ja, ich bin katholischer Theologe, gestehe ich. Auf das hobbymäßige Orgelspiel gehe ich nicht ein. Urlaub erkläre ich, ist es auch ein bißchen, aber eigentlich bin ich auch beruflich hier. Dann dreht sich das Gespräch um seine Predigt, die über das damals brisante Thema von Kruzifixen in den Klassenräumen der Schulen handelte. Schließlich verabschiedet er sich, und macht mich aufmerksam, daß heute Nachmittag in Grafenbach ein Orgelkonzert ist. Ich bedanke mich und verabschiede mich. Am Nachmittag vor dem Konzert im Kirchhof sehe ich den Pastor wieder. Er kommt auf mich zu, begrüßt mich: „Na sehr schön, Herr Kollege, daß Sie auch da sind. Wird ja ein Kunstgenuß werden, wenn der Frieberger heute improvisiert!“ Ich: „Kennen Sie den leicht?“ Er: „Nein, aber vom Erzählen, und eine CD habe ich zu Hause“. Ich: „Ach so. Na, dann ...“ Aber da unterbricht mich der Konzertveranstalter und fragt – mich mit Namen ansprechend – noch nach Details von Texten, die auch gesprochen werden sollten. Ich beobachte den Pastor. Der wird blaß und begreift, mit wem er es seit heute morgen zu tun hat. Aber ich entziehe mich rasch der Möglichkeit, daß er noch etwas sagen kann, winke freundlich zu und pfauche auf die Empore hinauf.

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„ENTFÜHRUNG“ AUF DEUTSCHE ART Am 7. Jänner 1977 waren Ingemar Melchersson und ich über Söhnlein-Sekterzeugung eingeladen, auf Schloß Schierstein bei Wiesbaden ein Konzert an zwei Orgeln zu geben. Ingemar fuhr etwas früher hin, ich spielte in Schlägl noch die Pontifikalvesper zum Epiphaniefest und nahm den Nachtzug ab Passau. Der sollte nach Plan um 22.38 Uhr abfahren. Etliche Waggons waren zum Bersten voll, aber der letzte war fast leer. Dort stieg mit mir eine ältere Dame ein; sie erzählte viel, unter anderem, daß sie nach Frankfurt führe, um von dort per Flug nach Amerika zu einem Begräbnis zu fliegen. Ich schaute auf die Uhr: 22.55 Uhr. Ich äußerte mich, daß der Zug doch längst abgefahren sein müßte. Der Blick aus dem Fenster verrät mir aber, daß unser Waggon abgehängt war, der andere Zug längst davon ist. Die freundliche Dame schlug mir dann noch vor, ich solle mit Ihrem Sohn und ihr per PKW nach Frankfurt mitfahren, sie würde dieses Problem nun so lösen, weil der Flug ja termingerecht ginge. Nun war aber sehr viel Glatteis auf den Straßen, und ich wollte mich nicht in Gefahr geben. Es war ja Zeit genug. Ich nahm den nächsten Zug, der nicht um 8Uhr, sondern um 12.30 Uhr in Wiesbaden war, fuhr mit einem Taxi zu unseren Bekannten. Dort erklärte ich kurz, was geschehen war. Wir

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aßen eine Kleinigkeit, wurden zum Schloß geführt. Dann war das Konzert, dann nette Gespräche über dies und das, und schließlich wurden wir am Montag nach Schlägl zurückgebracht. Am Dienstagfrüh, noch vor der Konventmesse, kommt mir eine Schwester unseres damals kleinen Konventes der Barmherzigen Schwestern entgegen. „Mein Gott und Herr! Da sind Sie ja wieder! Wie war es denn in der dunklen Kiste drinnen? Und sind Sie nicht verletzt?“ Ich kenne mich überhaupt nicht aus, meine zu träumen, fasse mich und frage überdeutlich: „Also, was ist denn da?“ Die Schwester – ich war damals auch Beichtvater der drei Sorores, die schon im fortgeschrittenen Alter waren – stammelt und lispelt beinahe andächtig: „Also, wissen Sie, wir haben gehört, Sie sind entführt worden!“ Ich würge das Gespräch zunächst ab. Nach der Messe geh ich dem allen mehr auf die Spur. Ergebnis: Weil ich nicht um 8 Uhr in Wiesbaden am Bahnsteig war – keiner sagte, daß ich abgeholt würde –, vermutete man, ich hätte den Zug versäumt. Der Veranstalter rief in Schlägl an. Dort beteuerte der Pförtner, er wisse genau, daß mich ein Chormitglied zum Nachtzug gebracht hätte. Der Pförtner brachte die Kunde aber sofort unter die Leute (es war der 7.1. ein Sonntag, also nach der „Kirche“ war die beste Chance der Gerüchteverbrei-

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tung....), ich sei nicht angekommen. Und schon waren die Phantasien, auch der geistlichen Schwestern auf Hochtouren, zumal auch die Oetker-Entführung erst kurz zuvor passiert war. Der Veranstalter in Wiesbaden hatte dann noch in Erinnerung, daß ich manchmal an einer Nierenkolik leide, und reimte sich zusammen, daß ich eventuell auch eine Kolik im Zug haben könnte, oder daß ich verschlafen hätte. Er ließ mich angeblich in allen Bahnhöfen bis Ostende ausrufen – ich hatte dann wirklich gut geschlafen und nie etwas gehört. Nur: weder bei meiner Ankunft mit dem Taxi noch später nach dem Konzert sagte man zu mir oder zu Ingemar nur irgendein Wort davon. Aus Höflichkeit oder wie immer, vielleicht auch aus Vergeßlichkeit, weil ich ja ohnehin dann da war und das „Problem“ erledigt war. Deutsche Gründlichkeit einmal anders, sie hatten mir in manchen regionalen Geschäften noch Nachfragen nach den Vorgängen der Entführung eingetragen.

STRESS IN DER MOZARTWOCHE Die Mozart-Woche Salzburg, „das Winterfestival in der Mozartstadt“, wie der originale Untertitel auch lautet, ist jährlich immer in der letzten vollen Jännerwoche und den ersten Februartagen. Das bedeutet für mich aber auch die Zeit des Semesterschlusses auf den Universitäten mit abschließen-

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den Lehrveranstaltungen und Prüfungsterminen. Und dann meine Arbeit als Musikkritiker für mehrere Tages- und Fachzeitungen. In der Zeit vor e-mail ereilte mich dabei einmal folgende Streßsituation: Ich schrieb morgens meine Kritik in meiner Salzburger Wohnung auf der Schreibmaschine (und schreibe meist gleich „in die Maschine hinein“, ohne Konzeptionspapier), natürlich geht genau jetzt das Farbband aus. Rasch mit dem Auto in die Uni. Dort am Computer damit weitergefahren; aber die Zeit drängt, da kommt noch jemand zur Prüfung. Und dann ist um 11Uhr die nächste Matinee der Mozartwoche im Mozarteum. Zuvor schaue ich noch in das Institut für Musikwissenschaft, dort wartet ein Anruf der Sekretärin für Liturgiewissenschaft, ich hätte eine Formalität am Prüfungszeugnis übersehen, also faxe ich von dort die Information und Bestätigung zwischen Tür und Angel. Nach Streichquartetten retour zur Uni, die „alte“ Kritik fertigschreiben, ausdrucken. Zum Fax-Apparat. Na, wie es sein will, kommt alles zusammen; jetzt ist auch noch das Fax-Gerät der Theologischen Fakultät defekt, das reicht! Ich muß sowieso nach Linz, also gleich ins Auto, bis 3 Uhr geht sich das noch aus, da ist Redaktionsschluß.

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Wirklich geschafft! Um 3 Uhr gebe ich meine Kritik ab, und tippe gleich vor Ort den Bericht über die Matinee, erledige noch meine Linz-Angelegenheit, fahre zurück und sitze um 19.30 Uhr wieder im Großen Festspielhaus, den Wiener Philharmonikern unter Roger Norrington lauschend. Wenn das kein Streß ist!

WIE CD AUFNAHMEN ENTSTEHEN.... Ein deutscher Verlag heuerte mich an, für eine CD mit dem Titel „Historische Orgeln in Italien“ noch zusätzliche Beiträge in Florenz zu spielen, während man von mir aus anderen Städten schon Aufnahmen „auf Lager“ hatte. Dabei ging es um die Orgel in der Kirche San Nicolò, am anderen Ufer des Arno, ein interessantes, mitteltönig gestimmtes Instrument aus der Zeit um 1580. Nun hatte man aus ökonomischen Gründen für die Tage nach meinem Spiel auch gleich Aufnahmen mit einem bekannten Trompeter und einer Organistin anberaumt. Die waren auch am Üben, als ich in Florenz – mit dem Flugzeug aus München kommend – in den frühen Nachmittagsstunden in der Kirche eintraf. Nun bin ich kein Hysteriker, der tagelang für Aufnahmen von etwa 20 Minuten CD-Spielzeit brau-

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chen will. Im Gegenteil: da ich die Orgel kannte, plante ich von Vornherein so, daß wir bis etwa Mitternacht aufnehmen und hatte den Rückflug gleich für den kommenden Tag gebucht. Die probenden Musiker hatten aber ihre liebe Not dem alten Instrument, die Stimmtonhöhe zur historischen Trompete paßte nicht; die alte Tastenmensur machte der Dame an der Orgel zu schaffen, und sie bat mich, doch bis 21 Uhr noch bleiben zu können. Ich bezog inzwischen mein Hotelzimmer, ging Essen, kam wieder (und entdeckte übrigens einen Sekundanten mit moderner Trompete, der die hohen Töne spielte....). Ja bis dann die Technik soweit war, war es überhaupt Mitternacht, ehe wir begannen die von mir gewählten Stücke von Frescobaldi, Luzzaschi, Merulo, Antico und Pasquini aufzunehmen. Das hatte zur Folge, daß ich erst um 4.30 Uhr wieder in mein Hotelzimmer kam. Dieses verließ ich aber schon wieder um 6.30 Uhr, weil ich die Morgenmaschine gebucht hatte. Der Hotelportier schüttelte nur den Kopf, dachte sich sicher nicht das Richtige, und das Flugzeug wurde übrigens aus unerklärlichen Gründen über Mailand umgeleitet, sodaß ich erst sehr viel später nach Hause kam als geplant. In der berühmten Frari-Kirche in Venedig – ich brauche nicht zu erklären, daß es eine meiner Lieblingskirchen ist – spielten Ingemar Melchersson und ich für den WDR und in Coproduktion

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für eine Plattenfirma Aufnahmen an zwei Orgeln. Ich war schon zuvor mit dem WDR-Team unterwegs, um andere Orgeln Italiens „in den Kasten“ zu bannen. Man weiß, daß in Italien die Uhren anders gehen. In der Frari war eigentlich alles verabredet, bzw. schriftlich festgehalten; ich war Monate zuvor dort und habe auch darauf geachtet, daß alles in den Kalender eingetragen ist. Ja, und trotzdem waren dann wieder einige Kirchenmänner erstaunt, als das Aufnahmeteam anrückte. Ja, und Deutschen begegnen auch italienische Kleriker anders als Österreichern, das muß man auch sagen. Aber mit viel gutem Zureden ist es gelungen, eine gute Atmosphäre zu schaffen. Auf wen wir aber warteten, war Ingemar Melchersson. Der sollte schon seit einem halben Tag hier sein. Meine Anrufe in Schlägl bestätigten nur, daß er wohl auf dem Weg ist. Ich wußte, daß er mit Flugzeug kommen würde. Nun, das hatte wieder eine Misere, Umleitung über Zürich, dann Streit mit den Taxlern wegen des Fahrpreises... Aber zum Glück war der Herr Kollege bis abends eingetroffen, und wir begannen für zwei Nächte unsere Arbeit, umgeben von den herrlichen Tizian- und Bellini-Gemälden, inspiriert von den beiden schönen alten Orgeln. In einer der Pausen tauchte Fra’ Giovanni, der Sakristan auf. Leider ist er nun schon verstorben, ein Factotum der Frari-Mannschaft, listig, touristenfeindlich, und doch gütig und mild. Er nahm

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mich beiseite, zeigte mir unter einer Filzdecke das Versteck eines Schlüssels, bzw. die damit aufzuschließende Tür eines Renaissance-Schrankes, in dem mehrere Flaschen Wein aufgehoben waren. „Wenn ihr Durst habt!“, sagte er mit verschmitztem Lächeln, ließ den Korken knallen und wünschte uns alles Gute für die Aufnahmen......

WENN NOTEN UND INSTRUMENTE PLÖTZLICH FEHLEN In unserer Sturm- und Drangzeit haben Ingemar Melchersson und ich bei Konzertvorbereitungen schon einige Hektik entwickelt. Wir hatten eine Sängerin, eine Blockflötistin und eine Geigerin ziemlich überraschend für ein Herbstkonzert „verpflichtet“, eigentlich war ich derjenige, der die Damen, von denen wir wußten, daß sie uns besuchen kommen, einfach auf ein Plakat gesetzt. Aber nicht böse meinend, wir waren damals so spontan, und haben auch gerne zusammen musiziert. Die Überraschung der Damen war zwar perfekt, sie spielten aber mit, und man stellte noch nachts ein Programm zusammen, das abwechselnd alle auftreten ließ. Dazu war vor dem „Volksaltar“ in der Schlägler Stiftskirche auch ein Orgelpositiv oder Cembalo postiert, weil jene Beiträge für Gesang+Blockflöte/Violine/Orgel von dort musi-

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ziert werden sollten. Passende Konzertkleidung wurde vor Ort organisiert. Ja, und so mitten im Geschehen des Konzertes sollte das Fräulein D. die Sopranino-Flöte zur Hand nehmen. Die war aber plötzlich verschwunden. Ja, wo ist nur die Flöte? In der Hitze des Gefechtes hatte man zunächst vergessen, daß man sie der Brusttasche des Organisten anvertraut hatte, damit sie nicht zu kalt wird fürs Spielen. Und der hatte anderes zu tun, als an die Blockflöte in der Brust zu denken. Ähnliches ist mir mit Noten passiert. Ich hatte eine Einladung, wieder einmal in der Frari-Kirche in Venedig mit einem Instrumentalisten meiner Wahl zusammen zu konzertieren. Ich bat den Passauer Flötisten Thomas Hermann darum. Das Programm verabredeten wir zuerst am Telefon, dann ging’s um Stücke, die wir zuvor in Österreich zusammen spielten, und u.a. auch um eine bestimmte Händel-Sonate. Wie immer das Mißverständnis zustandekam, ich verließ mich darauf, daß Thomas die Noten dafür im Gepäck hat; er dachte, ich habe sie mit. Ich holte ihn in Passau ab, und zum Glück kamen wir auch innerhalb der ersten hundert Kilometer darauf zu reden. Da hieß es nichts wie rasch in Salzburg abfahren, zur nächsten Musikalienhandlung, ja, und zum Glück ist Händel noch ein Thema, was „man“ heute in Musikgeschäften lagernd hat. Das Programm war gerettet.

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WAS EINEM IM NORDEN ALLES PASSIERT.... Daß mich der Norden – und „leider“ auch der Süden – immer wieder anzieht, ist vielleicht bekannt. Da spielt die höchst abwechslungsreiche Landschaft ebenso mit, wie auch der Charakter der Menschen. Ihre Zurückgezogenheit, ihre Unaufdringlichkeit, dazu eine gewisse Sprachbescheidenheit (sprich: Schweigsamkeit) und Toleranzbreite sprechen mich an. Dazu kommt die Ruhe und der – mit anderen europäischen Gegenden verglichen – noch wenig auffällige Tourismus. In Schweden und Norwegen kann ich gut komponieren. Weil ich da das Glück habe, daß manchmal wunschtraumartig alles zusammenpaßt: eine atmosphärisch ansprechende Kirche mit guter Orgel an einem See, Beeren und Pilze im Wald, Musik in den Fingern und im Kopf. In Dänemark ist das Leben offener und dichter, die Freunde nicht weniger herzlich und direkt. Sorø ist an einem See etwa 60km von Copenhagen gelegen; in seiner ehemaligen Zisterzienserkirche wirken zwei enge Freunde von mir. Frau Elna Bækdorf als Søgnepræst und Knud Vad als Organist und Mentor eines nun 30-jährigen Festivals, zu dessen Ehrenmitglied man mich – aus welchen Gründen immer – im Jahre 1994 machte.

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Dort ist mein Oratorium „Mysterium crucis“ uraufgeführt und öfter wiederholt worden. Dort mache ich Station, wenn ich durch Dänemark fahre, auch wenn ich kein künstlerisches Engagement habe. Weil es wohl tut, unter Freunden zu sein. Berechtigte Angst? Wieder einmal war ich Sorø, diesmal für ein Konzert. Und ich nächtigte bei Knud Vad. Familie Vad ist gerade in einen Bauernhof nach Fjenneslev umgezogen, schön abgeschieden. Knud hat mir sein Arbeitszimmer als Quartier überlassen, wo es auch ein Bett für mich gab. Nun lebt dort außer der Familie mit zwei Kindern auch ein Hund. Und vor Hunden habe ich Angst. Weil mich bis jetzt schon drei Mal einer gezwickt hat. Und bekanntlich wittern Hunde die Angst. Nach ausgiebigen Abendgesprächen ging ich zu Bett in „mein“ Zimmer im ersten Stock. Tür zu, Oberkleider weg, rasch noch ins Bad, welches über den Gang zu erreichen war – gewesen wäre. Denn da vernahmen meine Ohren die Tritte des ansehnlich großen Hundes. Mein Gott! Nichts wie zurück. Tür zu. Aber kein Schlüssel zum Absperren! Und dieser Hund macht leicht mit seiner Pranke eine Tür auf, hab’ ich doch beim Abendessen selbst gesehen. Also verbarrikadiere ich die Tür mit Büchern aus Knuds Bibliothek. Stapelweise. Und sitze und lausche. Nichts rührt sich. Ich lege mich ins Bett.

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Es rührt sich was. Nicht der Hund. Sondern meine Blase. Das Bier vom Abendessen. Aber ich kann ja nicht hinaus. Letzte Rettung ist das Fenster. Fenster auf, ja es ist eine Mansarde und von der Dachgaube ist’s in die Regenrinne gar nicht weit. Erleichterung, nachdem ich einen Teil meiner Körperflüssigkeiten dort entleeren konnte, beim Mondschein, mit zirpenden Grillen von unten.... Am nächsten Morgen baute ich das Bücherbollwerk wieder ab und erschien selbstbewußt zum Frühstück, als ich sicher war, daß der Hund schon in der Obhut seines Herren ist. Wie ich in Dänemark zum Schauspieler avancierte War’s bei nämlichem Aufenthalt oder ein anderes Mal in Sorø, ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls war ich zu einer Aufführung meines schon genannten Oratoriums anwesend. Knud dirigierte den Chorus Soranus und das Radio Sinfonieorkest Copenhagen. Neben Gesangssolisten sieht die Partitur auch einen Sprecher vor. Diese Partie teilte man mir plötzlich zu – ich weiß nicht, ob absichtlich, oder wegen Erkrankung. Ich fühlte mich natürlich auch ein wenig stolz, weil der für mich vorgesehene Platz Elna’s beeindruckende Barockkanzel war, und: ich auf einer lutheranischen Kanzel, das ist noch einmal was für mich. Ich versuchte, mein Bestes zu geben. Und erst recht war ich

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stolz, als eine Zeitung tags darauf den „ungenannten Schauspieler mit fantastischem Deutsch und deutlicher Sprache“ lobte... Noch weiter nördlich 1999 hatte ich noch einmal – so wie ganz früher – eine ausgiebige Nordlandtournee unternommen mit etwa 12 Konzerten in 14 Tagen, verteilt auf Norwegen, Schweden und Dänemark. Gleichzeitig wollte ich dazustoßenden Freunden die wichtigsten Natur- und Kunstdenkmäler dieser einmaligen Landschaften vorführen. Meine Reiseplanung sah vor, mit Flugzeug und Mietautos voranzukommen. Und das ging schon mit einem Schreckerlebnis los: ich bin einer, der den Wecker eigentlich nicht braucht. Normalerweise wache ich – wenn ich nicht aus anderen Gründen schon länger wach liege – einige Minuten vorm Weckerläuten auf. Und vorausschicken muß ich auch, daß ich selbst für längere Reisen keine unbedingte Hysterie des pingeligen, und lange vorher beginnenden Einpackens kenne. Diesmal hatte ich am Nachmittag den Gewand-Koffer grob vorgepackt und die Notentasche reiseflott gemacht. Nach der Vesper kamen unerwartete Gäste, mit denen ich den lauen Juli-Abend im Garten des Sommerhauses zubrachte. Um 23Uhr schickte ich mich an, in meiner Kanzlei die wich-

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tigsten „anderen“ Utensilien wie Ausweispapiere, Besteck für eventuelles Picknick, Komponierausstattung (sprich: Bleistifte, Notenpapier, Spitzer, Radiergummi), Fotoapparate, Filme, etc. wahllos in einen Korb zu sammeln; mit dem langte ich nach Mitternacht in meiner Zelle an. Ein Blick auf die Uhr: um 6 Uhr geht mein Flugzeug in Linz-Hörsching, das heißt, um 3.30 Uhr Aufstehen, längstens um 4.15 Uhr Losfahren. Es war verabredet, daß ich bei meiner Schwester Karin in Leonding das Auto parke und sie mich spätestens von dort um 5 Uhr abfahrend zum Flughafen bringt. Na gut, da schlaf ich doch noch drei Stündchen! Vor lauter Müdigkeit lasse ich den Korb auch noch ungeordnet neben dem Koffer stehen. Noch ins Badezimmer, und dann Wecker gestellt auf 3.30 Uhr, – Gute Nacht! Und dann passiert eben das, was nicht passieren darf und noch nie passiert ist: ich höre den Wekker nicht, ich wache auf – und siehe: es ist 4.15 Uhr!! Ich wie eine Tarantel aus dem Bett, ins Bad, ins Gewand, den Korb einfach in den Koffer gekippt, die Stiegen hinuntergesaust mit Koffer und Notentasche in beiden Händen, die kleine Handtasche um den Hals gehängt – ja, wo ist denn jetzt der Autoschlüssel?? Unauffindbar! Wird doch nicht mit dem ganzen Zeug in den Gewandkoffer gerutscht bzw. von mir mit Füßen hineingetreten worden sein? Koffer auf, durchwühlen... Nein!

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Zurück in die Zelle – da liegt er friedlich neben dem Waschbecken. So und jetzt aber Gas! Es ist 4.47 Uhr. Starten. Handy heraus, Flughafen angerufen. Nächste Maschine von Linz nach Wien wäre möglich, aber heute von Wien nach Kopenhagen bzw. Bergen alles ausgebucht. Ich muß also meinen Flieger erreichen, ich spiele ja abends schon im Dom von Bergen! Karin anrufen. Sie soll auf den Flughafen direkt fahren und mir alle Wege erfragen, wie und wo ich am schnellsten einchecke. Vollgas. Plötzlich eine Straßensperre „...Felsarbeiten bis nächste Woche...Umleitung...“ Ich denke: bei österreichischen Verhältnissen doch sicher noch nicht um diese Zeit. Fahre durch, ist auch kein einziges Hindernis zu sehen, durch Linz, auf Abkürzungswegen zum Airport. Auto stehenlassen in Parkverbot, Karin schon da, Schlüssel übergeben und stammeln: „Bring den Wagen irgendwie einmal zu Deinem Haus....“ Sie: „Schalter eins, dort warten sie schon auf dich“, ein Blick auf die Uhr: soeben 5.46 Uhr. Puh, da war ich aber viel zu schnell. Eingecheckt, Röntgenkontrolle, aufs Rollfeld, in den Flieger hinein, Türen werden geschlossen – hinauf geht’s in die Luft. Ich atme tief durch und denke, es ist alles nur ein Traum... Aber eben auf dieser Reise ist mir in Trondheim folgendes passiert: ich spielte beim Olav-Festival im Nidaros-Dom ein Orgelkonzert; nachts zuvor

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waren Tonaufnahmen für eine CD an der berühmten Joachim-Wagner-Orgel aus dem Jahr 1741 vorgesehen. Das war aber erst ab 23Uhr möglich, weil zuvor eben auch noch eine Abendveranstaltung war. Ich erhielt sogar den Schlüssel für alle Alarmanlagen und schloß den Dom von innen ab. Um 4Uhr morgens waren die Aufnahmen – ausschließlich Werke von Bach – „im Kasten“. Ich ging dann noch einen Sprung an die SteinmeyerOrgel (eine zweite, große elektrische Orgel in diesem Dom), um mich mit dem Spieltisch für die Improvisationen des Abendkonzertes vertraut zu machen. Dann reichte es mir. Jetzt Noten zusammenpacken, Alarmanlage anmachen und zum Auto. Aber – wo ist denn der Autoschlüssel? Ich jage durch den Dom, auf der hinteren Orgel vielleicht? Nein. In allen möglichen Taschen? Nein. Vielleicht hab ich ihn am Auto stecken lassen?? Also hinaus. Alarm aus, Alarm ein. Draußen war’s taghell. Klar, Mitte Juli so weit nördlich ist es das fast rund um die Uhr. Beim Auto: Nein. Das war eben noch dazu ein Mietauto, mit dem ich von Oslo aus nach Trondheim kurvte, wegen der abwechslungsreichen Landschaft. Aber was nun machen? Also, doch im Dom? Dort wieder vor der Tür angelangt, „reiste“ gerade das Putzpersonal an. Die halfen auch suchen. Nichts. Dann fällt mir – bei genauer Recherche der Nacht – ein, daß ich ja vor den Aufnahmen noch ein paar Zungenpfeifen in der Wagner-Orgel gestimmt hatte! Also, ins Orgel-

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gehäuse geklettert, zu den Pedalpfeifen: und da liegt er ja, der Vielgesuchte, direkt am Rasterbrett neben der C-Pfeife der Posaune! Schluck, Gott sei Dank! Und jetzt ins Hotel und endlich auch ein bißchen schlafen..... In Trondheim hat es uns übrigens noch einmal „verfolgt“. Uns, das sind meine Freunde Günter und Christian, und eben ich. Die kamen nach Norwegen aus Österreich nach, um sich von mir Nordeuropa ein wenig zeigen zu lassen. Die Festivalleitung hatte versprochen, daß wir mit einem eigenen Transfer am Morgen nach dem Konzert zum Flughafen gebracht werden; das Mietauto hatte ich zurückgegeben, mein nächster Termin war in Copenhagen. 6Uhr, wir warten. Niemand kommt uns holen. Wir geben noch ein Viertelstündchen zu. Noch immer nicht. Jetzt wird’s aber Zeit, ein Taxi zu rufen, immerhin sind es 35 Kilometer, und der Flieger geht um 7 Uhr, zwar binnenskandinavisch, das ist sehr unkompliziert, aber immerhin... Ja, aber eben doch zu spät! Wenige Minuten vor unserer Ankunft hob der Vogel ab. Ich gehe mit unseren Tickets zur Flugleitung, stammle von meinem Copenhagen-Date und Versäumnis der Festivaldirektion; das hilft: man schleust uns unbürokratisch und unerlaubt in einen in 20 Minuten abfliegenden Jet, und wir sind mit nur wenig Verspätung auch um 8.30 Uhr in Copenhagen.

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WAS SO EIN DOMORGANIST BEWIRKT Man hatte mich eingeladen, für die Bestellung eines neuen Passauer Domorganisten in der Kommission zu sein. Ich hab es zugesagt, und schickte mich am 4.12.1991 an, von Schlägl zunächst nach Passau zu fahren, um im Hohen Dom des Hl. Stephanus die erste Serie eines Probespieles mehrerer Kandidaten zu hören. Doch das fing schon gut an: da hatte ich bei unserer Klosterpforte meinen Koffer schon deponiert, um ihn dann gleich ins Auto zu geben. Als ich aber mein Gefährt im Stiftshof anhielt, war der Koffer verschwunden. Den hatte ein Gast versehentlich vor meiner Nase eingepackt und war damit nach Rom unterwegs. Wie praktisch. Nun hatte ich noch rasch das Wichtigste in ein zweites Köfferchen zusammengekramt, raste nach Passau, hörte zu, machte mir meine Gedanken und Notizen und fuhr von Passau aus mit einem Zug ins Münsterland, weil ich dort für Mozart’s 200. Todestag einen Vortrag über die Geschichte des „Requiems“ halten sollte. Mit dem Nachtzug wollte ich wieder so zurück, daß ich am 6.12. vormittags wieder im Passauer Dom zur Stelle war. In Dortmund hatte ich umzusteigen. Da war Glatteis am Bahnsteig. Ich stürzte. Nicht viel passiert, aber: die Hose! Ja, die Hose hatte ein Loch, unter dem Knie. Die einzige Hose, denn die vorbereitete

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zweite war ja nach Rom unterwegs. Nun war es 17.45 Uhr, Anschlußzug 18.25 Uhr. Nichts wie raus aus dem Bahnhof, in die Fußgängerzone, ins nächste Großkaufhaus, Hose vom Kleiderständer, Konfektionsgröße 52, ohne probieren, zahlen, zurück, Zug hinein, Türen schließen. Abfahrt. Und dann im Zug die Hose wechseln. Und schauen, ob sie überhaupt paßt. Wenn das kein Streß ist! Und in Passau so tun, als ob am Tag zwischen den Probespielen nichts gewesen wäre. Ich habe dann dem Domkapitel mit meinen Musikerkollegen der Kommission den Münchener Kaplan Hans Leitner vorgeschlagen. Er war unter den Vorspielenden einfach der Geeignetste. Da raunte ein älterer Domherr: „Aber, das ist ja ein Priester! Wos werdn denn d‘Leit sogn, bei dem Priestermongl?“ Der Herr Bischof von Passau hat aber unsere Empfehlung befolgt und Herrn Leitner zum ersten Fastensonntag 1992 als Domorganist bestellt.

POSTERFAHRUNGEN – ODER: „MAN LERNT NIE AUS“ Das Postwesen spielt in der modernen Kommunikationswelt mit Internet, e-mail und Fax eine immer mehr untergeordnetere Rolle. Das hat sein Für und Wider. Natürlich geht vieles unvergleich-

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bar schneller, ja vielleicht zu schnell. Auch die Erwartungen werden beschleunigt. Man sendet ein Fax und ist der Meinung, der Empfänger sitzt schier auf seinem Gerät und hat nichts anderes zu tun, als eben auf dieses Fax zu warten, und man kann selbst die Antwort nicht früh genug bekommen. Fax ist wenigstens noch etwas „Handgreifliches“. Bei den „virtuellen“ Möglichkeiten von Internet und e-mail wird das – für mich schon – noch etwas spannender. Weil ich der Sache zu wenig traue, ..ob da z.B. mein „mail“ denn wirklich ankommt, ob da das Gegenüber auch bereit ist, ein mail zu empfangen.... Ich jedenfalls habe beschlossen, mich nicht „verfolgen“ oder „beschleunigen“ zu lassen durch derlei Kommunikationsmittel. Gipfelpunkt der Möglichkeiten neuer Kommunikation, die in Wahrheit das Unpersönliche, Abstrakte fördert, ist ein Beispiel aus einem Amt eines mir gut bekannten österreichischen Bundeslandes. Da schreibt Beamter x an Amtsrat y ein „mail“ , obwohl die Büros Tür an Tür sind; und dann beschwert sich x bei Abteilungsleiter z, daß y sein mail nicht sofort gelesen hätte und ist tief beleidigt.... Ich könnte jetzt auch noch philosophieren, daß ich auch mit dem Computer nicht komponieren will und werde. Weil ich da keine Notenblätter neben-

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einanderlegen kann; und ich will Überblick haben. Und weil ich auf das Genus „Handschrift“ im Allgemeinen – nicht auf meine persönliche – etwas halte. Es bedeutet doch etwas, einen Komponisten an seiner Handschrift erkennen zu können! Ein Blatt von Bruckner in Händen zu halten! Oder wird man in ferner Zukunft feststellen, welcher Komponist mit welchem PC und auf welchem Drucker gearbeitet hat? Aber zurück zur Post. Freilich, für mich ist ein Brief immer noch mehr. Und erst recht ein handgeschriebener Brief....Und ich unterscheide immer noch, welcher Adressat mir einen mit Tinte handgeschriebenen Brief wert ist. Vielleicht eine Spinnerei, von mir als Wertschätzung gedacht. Nun ist man aber zumindest beim Versenden von Paketen und beispielweise unförmigeren Noten doch auf die Post angewiesen. Und die hat ihre eigenen Gesetze von Zeitmaß, die man mit musikalischen Tempi nicht messen kann. Zumindest ihre Logik und Realität nicht. Da erreicht mich ein Brief aus Stockholm binnen 1 Tag, kommt ein von mir nach Wien gesandter Brief nie an, oder braucht eine Sendung aus einem Ministerium in der Bundeshauptstadt nach Schlägl sechs Tage. Bei der Abwicklung einer CD-Produktion bat ich ein Technikbüro in Linz, mir an einem Donners-

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tag expreß Probeabzüge nach Schlägl zu senden, in der Meinung, sie würden nach österreichischem Postgesetz wenigstens spätestens am Samstag direkt ausgetragen. Erst am folgenden Dienstag (!) erreichte mich das am Donnerstag abgestempelte, mit „expreß“ freigemachte Päckchen mit der normal zugestellten Post.... Schlamperei oder „österreichische Gemütlichkeit“? Ein andermal sandte ich an meine Orchestermusiker für eine Aufführung von Haydn’s Schöpfung Notenmaterial im Voraus zu, zumal ich schon eine Einrichtung vorgenommen hatte, und auch sonst es für vorteilhaft hielt, daß man sich vor der ersten Probe mit einigen Stücken daraus beschäftigt. Nun war einer der Oboisten aus Amsterdam. Den holte ich an einem Mittwoch vor Christi Himmelfahrt mittags vom Flughafen ab. Auf der Fahrt nach Schlägl wollte ich durch versteckte Fragen herausbekommen, ob er sich mit der von mir eingetragene Artikulation beschäftigt hat; als ich da auf wenig Echo stieß, wurde ich deutlicher, und mußte hinnehmen, daß „Oboe 1“ nie in den Niederlanden angekommen ist. Nun war aber guter Rat teuer. Denn am Sonntag war das Konzert samt CD-Produktion. Woher eine Oboenstimme rasch auftreiben, wo durch den Feiertag Bibliotheken etc. geschlossen waren und die nächste Musikalienhandlung in Wien zu weit weg war! Durch reinen Zufall kamen wir durch einen Bekannten in einer Linzer Musikalienbibliothek an eine Oboen-

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stimme noch am Donnerstag heran, und die Proben und Vorbereitungen waren gerettet. Seither kopiere ich jede Instrumentalstimme, die per Post außer Haus geht......

AUTOVERLUST Die Bayerische Staatsbibliothek München hat eine wohl bestückte Handschriftensammlung. Dort wollte ich in bestimmte Manuskripte für eine Vorlesungsvorbereitung Einsicht nehmen. Ich fuhr von Salzburg nach München, von der Autobahn weg dem Wegweiser „Zentrum“ folgend, gelangte am Isartor vorbei und suchte bald einmal einen Parkplatz. So einen fand ich sogar, und ich merkte mir sogar – aufgrund schlechter Erfahrungen in Bologna – den Straßennamen. „Liebich“-Straße, das war insofern leicht zu merken, als auch einer meiner Studenten in diesem Semester so hieß. Ich machte mich auf den Weg zu den Handschriften, ging danach noch Essen, und weil ich eigentlich ziemlich „geschafft“ war, wollte ich mir’s bequem machen und stieg in ein Taxi. „Liebichstraße, bitte!“ verkündete ich mein Ziel. Als der Fahrer anhielt, und ich nach Bezahlung ausstieg, bemerkte ich, daß es ziemlich autoleer war in dieser Straße. Ja, mein Auto war nirgends zu sehen. Ein ältere Dame verließ gerade ein Haus. Ich ging auf sie zu

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und frug, wie denn das mit dem Abschleppen von Autos in dieser Straße sei. „Jo mei, da hoins jeden Tog o poor mol die Wagn mit an Loster...“ klärte sie mich im breiten Münchner Dialekt auf. Dabei war ich mir sicher, daß ich nicht unverboten geparkt hatte. Ich machte mich knieschlotternd zur nächsten Telefonzelle auf. An sich der Umstand, daß das Auto abgeschleppt worden war, war schon unangenehm genug. Ich hatte aber auch meinen Reisepaß drinnengelassen, und anderes Wichtige auch. Nun war die Telefonnummer des Abschlepp“dienstes“ schon am Telefonbuch außen vermerkt, wie aufmerksam! Ich rief an, gab meine Autonummer bekannt, machte noch deutlich, daß „RO134A“ nichts mit Rosenheim in Bayern zu tun hat, sondern daß ich ein österreichisches Kennzeichen fahre. Aber, die Antwort fiel negativ aus. „A soich’s Auto ham mar heint no net doghobt“, versicherte man mir, aber um 20.30 Uhr käme die letzte Fuhre auf den Zentralabstellplatz für derlei sündige corpora delicti. „Und wonn Se’s wissn woin, gschtoin werrn bei uns a gnuag Auto om Tog! Mohans hoit glei a Valustonzeige bei da Polizei.“ Na, schöne Aussichten, ermunternd! Ich pilgerte zur nächsten Wachstube, ziemlich weit weg. Dort schilderte ich meine „Entdeckung“. Der Wachebeamte rief beim Abschleppbüro an, die letzte Fuhr hatte mein Auto auch nicht dabei, die

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letzte Hoffnung war gesunken. „Do, fuinns den Zedl aus!“ Verlustanzeige....! Während ich schreibe, beugt sich ein eben angekommener junger Wachebeamte über meine Schulter und liest mit. „Ah, in da Liebichstroßn hobns parkt...? Geh, kuman S’ mit, des schaug ma uns o!“ Ich klettere in den Streifenwagen, besagter Polizist fährt ähnlich wie der Taxilenker auf die Liebichstraße zu: leer. Dann macht mir der Polizist den Vorschlag, mich so zu fahren, wie ich beim Isartor entlanggefahren bin und rekonstruierte praktisch meine Anfahrt. Ja, und ich traue meinen Augen nicht. Da heißt es auch: Liebichstraße, und mein Auto steht breitspurig vor mir. „Soachane hom ma a por om Tog, die wos de Liebichstroßn net kenna, die hot nämli o Einbohn so hi und so hi...“ Ich bedanke mich höflich, bin total erleichtert und fahre nach Salzburg zurück. Am nächsten Tag habe ich auf der Uni bloß noch ein paar Unterschriften zu machen und lasse aus diesem Grund mein Auto aus Bequemlichkeit vor dem Universitätsgebäude stehen (obwohl ich im Hof Parkerlaubnis habe, aber Schranken auf, Schranken zu, das hält ja auf....). Ich erzähle dann noch von meinem nächtlichen Abenteuer und die selbst sonst so höfliche Sekretärin aus dem Hause Habsburg muß darüber lachen, um nicht zu sagen, sie lachte mich aus. Ja, und ich empfehle mich, gehe vor das Tor – und sehe mein Auto auf einem Salzburger Abschleppwagen thronen und langsam

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meinen Blicken entschwinden. Hat einiges Geld und ebenso Mühe gekostet, an den Karren wieder heranzukommen und rechtzeitig in Schlägl einzutrudeln.

ABERMALS VENEDIG Daß die Serenissima einer meiner heimlichen, oder unheimlichen, oder besser ohnedies bekannten Lieblingsplätze ist, und ich dort schon zum x-ten Mal gewesen bin, wissen meine Freunde. Ein Anziehungspunkt in allen Stimmungslagen, Bedürfnissen und Hoffnungen. Das zu interpretieren dem Leser zu überlassen, wäre gefährlich. Also: wenn ich über etwas nachdenken will, geht es besser an grauen Novembertagen um 5 Uhr früh bei Nebel an den Kanälen...; wenn ich Kompositionsstimulanz brauche, ist ein Nachtspaziergang durch die engen Gassen von Nutzen....; wenn ich mich ärgere und abschalten will, genügt ein Abendmahl bei meinem geschätzten Koch in der Trattoria San Ignazio...; wenn ich hören will, was am Kriminalsektor weitergeht oder an Opernpremieren Neues ansteht, treffe ich mich mit Donna Leon in der Pasticceria Davidiche....

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Da es zu meinem Naturell gehört, auch meine Freunde zumindest teilweise an meinem Lebensstil teilhaben zu lassen, schleppe ich zuweilen auch Einzelpersonen, kleine und größere Gruppen in die Lagunenstadt. So z.B. meinen Freund G.H. Setze ihn in die Frari-Kirche und spiele für ihn. So geschehen an einem Novembertag 1995. Dann will ich doch das Zungenregister Tromboncini noch nachstimmen, weil die Orgel so wenig gestimmt wird. Das kann ich leicht vom Spielschrank aus tun. Greife hinauf zu den Pfeifen vor dem Prospekt. Und wie es der T..... will (oder wer immer), fällt das kleine Messingzünglein in die Windlade hinein, noch dazu so ungeschickt, daß es die Registermechanik blockiert. Das kannst du nicht so lassen! Wir eilen in ein Elektrogeschäft und wollen eine Taschenlampe kaufen. Aber, was heißt denn Taschenlampe auf Italienisch?? Mit unmöglichen Umschreibungen mache ich deutlich, was ich will. Mit breitem Grinsen antwortet der echte Venezianer, der mich bedient: „Aa, Signore, Lampadina di Tascha!“ „Si, si...“ Wir eilen zurück, leuchten alles aus, ich finde das Miststück, angle es kompliziert heraus, setze die Zunge wieder an ihren Ort, stimme die zugehörige Pfeife.... O.k., keiner hat’s bemerkt, alles wieder in Ordnung. Dann gehen wir abends noch in ein Konzert. Ein Schweizer Chor singt Teile des Weihnachtsorato-

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riums. Beim Verlassen der Gesuati-Kirche sehe ich plötzlich einen ehemaligen Salzburger Schüler mit seiner Frau! Man ist nie unentdeckt, denk ich mir, klopf ihm auf die Schulter – freudiges Erschrekken. Die feierten ihren Hochzeitstag hier. Ein andermal schleppe ich eine Orgelreisegruppe an. Möchte die Nacchini-Orgel im Ospedaletto herzeigen. Alle Anrufe oder Briefe aus Österreich hatten keinen Erfolg auf Antwort. So gehe ich geradewegs auf die Pforte des nun als Altenheim geführten ehrwürdigen Gebäudes, wo schon Vivaldi wirkte, zu. „All’Organo?“ – „No, no signore!“ Ja, man will uns einfach nicht hinlassen. Behauptet, man hätte keinen Schlüssel und so. Aber ich kenne ja den Zugang und die Verhältnisse. Also muß ich mir einen Ausweg ausdenken. Ich hab doch viele Konzerte hier gespielt, wär doch gelacht! Bloß der Organist ist auf Urlaub, weiß ich ja von seiner Mutter. Ich frage, ob ich telefonieren darf. Ja. Rufe das venezianische Denkmalamt an und frage unschuldig, ob sie – die am Telefon sprechende Beamtin – mit dem Pförtner des Ospedaletto reden könnte, daß wir in der Kapelle die berühmten Fresken anschauen dürfen. Das macht die freundliche Frau prompt. Und der Pförtner läßt uns in die Kapelle hinein und verschwindet auf italienische Art, indem er sich auch nicht mehr um uns kümmert. Na, das war‘s. Ich nehme mir zwei Assistenten mit auf

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die Empore hinauf, deren Zugang über die Sakristei ich gut kenne. Bitte die beiden jungen Herren, nun die Bälge der Orgel von Hand zu betätigen – einen Schlüssel für den Motor brauche i c h nicht! Und nun führe ich das Instrument mit händisch erzeugtem Wind noch wesentlich authentischer vor als geplant..... Wieder ein anderes Mal war ich mit meinen Chor CANTORIA PLAGENSIS in Venedig für Konzerte und eine Messe in San Marco. Und ich kann‘s natürlich nicht lassen, auch eine „SightseeingTour“ mit meinen Sängerinnen und Sängern zu machen. Und gerade von San Giovanni e Paolo zum Ospedaletto schlendernd denke ich mir, soll ich’s wagen, einfach eine zweite Auflage des Unternehmens von einst durchzuführen? Einfach so spontan die Orgel vorführen? Und wie im Märchen läuft mir darauf direkt der Organist Dr. Davide Zamattio in die Arme. Freudige Begrüßung, und: „Willst du nicht die Orgel vorführen im Ospedaletto?“ „Natürlich!“, denke ich und spreche ich. Und so geschah’s denn auch ganz regulär.

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VERWECHSLUNG Man hat mich in eine unserer Stiftspfarren geholt, um bei einer Pfarrgemeinderatssitzung meine Gedanken über einen Orgelumbau darzulegen und zwischen zwei Offerten einen Vorschlag der Auswahl zu geben. Guten Gewissens entschied ich für Orgelbauer Z. Der damals auch schon betagte Orgelsachverständige der Diözese D. war eher geneigt, an Orgelbauer R. die Auftragsvergabe zu empfehlen. Der Pfarrgemeinderat schloß sich zunächst mehrheitlich meinem Votum an; der Pfarrer aber entschied am folgenden Tag anderes mit Berufung auf die Aussage von D. Ich hatte mich nicht wenig geärgert, nicht nur, weil die Offerte nur um 50.000.- differierten, sondern weil ich die Vorgangsweise für undemokratisch hielt, und am Vortag deutlich gesagt wurde, der Pfarrgemeinderat entscheidet. Ich hatte das Orgelbauer Z. mündlich auch schon mitgeteilt. Um die Sache aufzuklären und richtigzustellen, bediente ich mich der Briefform. Einen Brief schrieb ich an den Orgelsachverständigen D. und erklärte ihm meine Gründe, warum ich für Z. entschieden hätte, zumal von diesem Orgelbauer in unserem Gebiet kein Instrument stand. An Orgelbauer Z. schrieb ich, daß ich es peinlich finde, aber nun mitteilen müßte, daß er doch nicht den Auf-

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trag erhalten würde, zumal D., „dieses Rindvieh“ (oder so ähnlich) nicht erkenne, worum es mir gehe. Aufgegeben habe ich die Briefe in Salzburg nach einer Matinee der Festspiele im August – ich schrieb Kritik für eine Zeitung – und fuhr schnurstracks darauf nach Vorarlberg, um dort selbst zu konzertieren. Nach Mitternacht angekommen finde ich in meinem Quartier einen Notizzettel auf dem Bett: „Dringend Orgelbauer Z. in .. anrufen“. Das tat ich auch gleich um 7 Uhr früh. „Da müssen Sie unseren Brief in das falsche Kuvert gesteckt haben. Wir haben einen Brief an Sachverständigen D. erhalten..:“ raunte eine nicht ganz ausgeschlafene sonorige Baßstimme ins Telefon. Mein Gott! Jetzt hat D. jenen Brief, wo ich nicht ganz sanft über ihn schreibe! Na, dazu kann ich auch stehen. Aber die feine englische Art ist‘s ja gerade nicht, wie er das erfährt. Tags darauf mache ich einen Ausflug auf die Silvretta und schreibe an D. eine Karte: „Hier in über 2000 Meter Höhe ist vieles relativ. Trotzdem: bitte um Entschuldigung und herzliche Grüße“. Wir haben nachher darüber herzlich und oft gelacht, weil er inzwischen mein Anliegen auch verstanden hatte. Z. und D: sind schon gestorben. Die von R. umgebaute Orgel spielt auch noch.

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VERSTECKE MIT FANTASIE Wir Organisten haben nicht nur den Drang, neue – und erst recht historische Orgeln kennenlernen zu wollen. Wir stehen auch manchmal vor der nackten Tatsache, daß wir ein Instrument in fernabgelegenen Dörfern spielen wollen, und keine Seele antreffen, wo wir nicht nur um Erlaubnis, sondern auch um den Schlüssel fragen können. So wird die Not zur Tugend und weckt Erfindungsreichtum im Suchen nach Schlüsselverstecken. Da ist der Nagel unter der letzten Kirchenbank als einfachstes anzuführen in einer Reihe, die mit „unter einem Gesangbuch in der Bank vor dem Emporenaufgang“ fortgesetzt werden kann. Möglich ist auch, daß der Schlüssel oben am Türrahmen liegt. Ist der Zugang zur Orgel offen, kann er in einem Schalterkasten schlummern. Auch auf einem Profilrahmen des Orgelgehäuses wartet er gerne auf Entdeckung. Unter oder in der Orgelbank ist dort auch ein eher leicht entschlüsseltes Versteck. Findet man keinen Schlüssel, bleibt noch immer die Möglichkeit, andere Schlüssel durchzuprobieren, ob sie zufällig sperren –beim eigenen Schlüsselbund beginnend, bis zu an Beichtstühlen oder anderen Kircheneinrichtungsgegenständen steckenden Verschlußinstrumenten.

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Als ich neulich mit einer Gruppe Organisten und Musikliebhabern auf Mallorca Orgeln besichtigte, war uns als Geheimtip verraten worden, die Orgel in Muro zu spielen. Wir kommen an einem Sonntagnachmittag bei bratender Hitze hin, die Kirche ist offen, man strömt hinein – ein 18. Jahrhundert-Orgelgehäuse, aus dem Horizontaltrompeten ragen, lächelt uns von der Seitenwand an. Aber –, das Aufgangstürchen ist verschlossen. Scheint aber, daß ein eher primitiver Schlüssel sperrt. Übliche Versteckplätze sind leer. (Zum Beispiel auch unter der Altardecke oder im AmboFach....) Die Sakristei ist allerdings sperrangelweit offen. Da stehen sogar Silberkelche. Und an Kästen mit Paramenten und anderem Gerät stekken Schlüsseln. Schon der zweite aus der Reihe dieser öffnet uns den Zugang – und mit einer spanischen Battaglia feiern wir die Freude über den Zugang zum Instrument. Nicht einmal dieser Wirbel konnte offensichtlich den Siesta haltenden Klerus im angrenzenden Pfarrhaus wecken, wenn es zuvor schon nicht die Türklingel bewirkte. Ein anderes Mal war ich auch orgelreisend mit einer Gruppe unterwegs, und es ging darum, eine Schnitger-Orgel in einem kleinen niederländischen Dorf zu spielen. Wir waren angemeldet, aber keiner war da. Schlüssel war absolut keiner zu fin-

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den. Da entdeckten wir eine Leiter. Die wurde angelehnt an die Brüstung, und weil’s nicht so hoch war, kletterte ich tatsächlich auf diesem Wege zur Orgel, um Schnitger-Klänge vorzuführen.

AUS DER KÜCHE GEPLAUDERT Daß ich nicht ungern koche, hat sich inzwischen auch herumgesprochen. Noch mehr Freude macht es mir, wenn ich für jemanden kochen kann und nicht nur für mich allein. Mit der Intensivierung dieser meiner auch auf Improvisation fußenden neuen Lust habe ich im Musikzentrum St. Norbert auch eine bessere Küche aus Italien einbauen lassen, die mir – und hoffentlich auch meinen Gästen – viel Freude bereitet. Da war allerdings gleich zu Beginn ein „kleineres“ Problem mit dem Geschirrspüler, meiner inzwischen liebgewonnen Minna. Zum allerersten Mal lud ich Günter und Christian am Stephanstag zum Essen, nachdem die Küche am 23.12. – zeitgerecht als „Christkindl“ – installiert worden war. Installiert wurde eben auch ein Geschirrspüler der Marke Miele, von dem man mir sagte, er sei der „Mercedes“ unter den Küchengeräten. Wir speisten Steinpilz-Risotto, gegrillten Fisch, und weiß ich, was noch; ich freute mich auf die

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Premiere meiner Minna. Alles eingeschlichtet. Eingeschaltet. Das typische Schlürfgeräusch erschallt. Wir setzen uns zum Tisch und plaudern. Plaudern lange. Da sagt Günter: „Na, der Geschirrspüler müßte eigentlich schon fertig sein!“ Ist er aber nicht. Wir warten noch ein wenig, dann öffnen wir. Alles kalt. Er heizt einfach nicht! Und so was in den Weihnachtsferien, wo am nächsten Tag Samstag war. Also, erst in zwei Tagen irgend jemand erreichbar ist. Ich lebe ja im Mühlviertel und in keiner Großstadt. Am Montag habe ich Kontakt zum Miele-Vertreter. Trockene Antwort: „Also vor dem 9. Jänner geht da gar nichts!“ Ich frage mich, was tut eine Hausfrau oder ein Gastronomiebetrieb, der auf so etwas angewiesen ist? Na gut, am 9. 1. kommt jemand. Schaut. „Da müssen wir ein Elektronik-Teil auswechseln.“ Nach einer Woche kommt man mit dem auszuwechselnden Teil. Baut ein. Nimmt in Betrieb. Wieder kalt. Der Lehrjunge unseres E-Werkes steht daneben. Sieht zu. Sieht Drähte herausschauen. Getraut sich endlich, das zu sagen. „Das ist ja die Heizschlange, die nicht angeschlossen ist!“, meint MieleFachmann. Jetzt wird eingebauter ausgewechselter neuer Teil wieder ausgebaut, alter eingebaut, Heizschlange angeklemmt. Probebetrieb. Geht.

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Geht gerade rechtzeitig. Denn morgen habe ich Gäste. Ein Samstag. Um 23 Uhr nehme ich dann meine Minna erneut, also zum zweiten „richtigen“ Mal in Anspruch. Räume nebenbei noch zusammen, schalte ein, das typische Schlürfgeräusch ertönt. Minna arbeitet drei Minuten. Klacks. Die Sicherung fällt. Ich schalte wieder ein. Klacks, die Sicherung fällt nach zwei Minuten. Wieder eingeschaltet, nun dauert es nur mehr eine Minute bis Minna und alles andere Elektrische still steht. Also doch wieder ausräumen, händisch abwaschen..... Am Montag kommen Sie wieder, der Miele-Fachmann und der Elektriker. Stehen. Schauen. Schütteln den Kopf. Zaubern etwas herum. Murmeln von zu schwacher Sicherung. Probebetrieb. Geht. Gott sei Dank. Am darauffolgenden Freitag habe ich wieder Gäste und hätte meine Minna wieder „Betrieb“. Vor einer Chorfeier koche ich mittags ein wenig vor, dann fülle ich Minna an. Schalte ein. Warte bange. Doch, das typische Schlürfgeräusch ertönt, Minna läuft ohne Unterbrechung. Aufatmen. Dann wird Sie sich schon von selber ausschalten. Ich gehe in meine Schulkanzlei, erledige Bürokratie, komme nach drei Viertelstunden wieder. Minna steht still. Dampft vielleicht noch ein wenig. Ich möchte öffnen, doch es geht nicht. Geht absolut nicht, weder mit Gefühl, noch mit ein wenig Gewalt. Minna bleibt verschlossen.

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Rasch rufe ich noch unser E-Werk an, da ist niemand mehr da. Aber der nette Herr Höfler eilt – von der Pforte gegen meinen Willen irgendwie informiert – herbei und kann das kranke Kind gesund machen. Minna funktioniert nun einige Wochen lang. Eines Abends ist Minna in Betrieb. Nebenher lese ich den neuesten Roman meiner Freundin Donna Leon. Ich, oder besser zwei Damen aus meinem Chor bemerken Wasserspuren am Boden in der Küche. Die Frage kommt auf, ob Minna die Ursache sei. Ich verteidige das gute Ding und sage, daß das doch nach so viel Umsicht nicht sein kann. Man wischt zusammen, denkt sich nichts. Nach zwei Wochen sitzen mehrere meiner Sänger in der Küche. Minna arbeitet. Da rinnt doch wirklich munter ein Bächlein aus dem linken Eck von Minnas Türe heraus; wir reißen den Rachenverschluß auf – viel Schaum kommt entgegen. Ich bin ratlos und wütend zugleich. Tags darauf erklärt mir jemand, das kann ein falsches Spülmittel sein. Ich füttere daraufhin – und bis auf den heutigen Tag – Minna mit Spezial-Tapsen. Das wirkt Wunder, sie hat mich seither noch nicht wieder enttäuscht. Und hat manchmal einiges zu tun. Für meinen Mitbruder Bruno, der gehbehindert ist, gerne von Musik und Orgel hört, und obendrein ein kleines Schleckermäulchen ist, habe ich mir

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ausgedacht, Ossobucco zu kochen. Nicht nur für ihn, freilich auch für Sr. Gisela, seine allzugute Betreuerin. Am Vortag habe ich nämlich am Südbahnhof-Markt in Linz nicht nur sehr schönes, frisches Fleisch dafür gekriegt, sondern auch allerhand Gemüse eingekauft, das dazu paßt. Und in einem Großkaufhaus beim Durchgehen eine im Angebot äußerst günstige Kasserolle aus Glas erworben. Es war Samstag, ich entwickelte meine Kochlust schon um 8 Uhr früh, und Ossobucco soll ja lange schmoren. Ich schneide Stangensellerie, schabe Karotten, erzeuge Streifen von Knollensellerie, hacke Zwiebel. Gieße Öl in eine Pfanne, lasse die Zwiebel glasig werden, gebe das geschnittene Gemüse drein, daß es ein wenig auch anbrät. Nebenher werden die schönen Kalbshaxn-Ringe kurz gewaschen, abgetupft, mit Mehl bestäubt, ein wenig Salz, mehr Pfeffer dran, dann in der neuen Kasserolle auf der Platte mit zerlassener Butter angebraten. Ich nehme die Fleischstücke heraus, lege sie auf einen Teller rechts vom Herd. Nun in das Bratensafterl hinein mit den Zwiebel, dem Gemüse und ein wenig passierte Paradeiser drauf, hohe Hitze, damit’s schneller geht. Denn dann sollten die Fleischstücke wieder hineinkommen und das Ganze wenigstens zwei Stunden schmoren.

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Aber soweit war es noch nicht. Zuerst Kühlschrank auf, Weißwein heraus, und kräftig ablöschen das anbratende Gemüse. Wummmmmm! Ein Knall, einer Explosion gleich. Ich erschrecke maßlos. Was ist jetzt? Die Kasserolle hat es in tausende Scherben zerrissen und samt Inhalt in die linke Küchenecke gerissen, einige Splitter sind in meinem Gesicht. Ich setze mich zunächst einmal hin, atme durch. Schau mir die Misere an. Also, zuerst mich selber reinigen, die ganze Küche putzen. Das Fleisch durchleuchten, aber das hat zum Glück nichts abbekommen, weil ich auch noch eine AluFolie drauflegte. Und dann wieder von vorn beginnen. Nebenbei lese ich die auf der Verpackung abgedruckte Beschreibung der Kasserolle – eigentlich suche ich die Garantieerklärung. Aber da steht groß: „Nicht geeignet für Herdplatten....“ Selber schuld. Aber trotzdem bin ich mit dem Gericht um 12 Uhr servierfertig, und den Gästen hat es ganz gut geschmeckt. Seit einigen Wochen versuche ich mich auch mit Kuchen. Und vor dem Sommerhaus steht ein Kirschbaum, der heuer sehr viel getragen hat. Also, ein Kirschkuchen wird fällig. Ich erfrage bei meiner Mutter ein Blechkuchen-Rezept, weil ich mich einfach zu gut an unseren Kirschkuchen daheim erinnere. Ziemlich einfach, stelle ich fest, und meine neue Braun-Küchenmaschine hilft da auch kräftig mit, z.B. was Schnee-Erzeugung anbelangt.

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Den Teig streiche ich auf, die in Rum eingeweichten Kirschen (das ist wieder eine improvisatorische Zutat von mir) lege ich auf, das Rohr war vorgeheizt, hineingeschoben. Paßt. Jetzt sind ja gut 40 Minuten Zeit. Ich fahre rasch zum neuen „Contra“-Laden, um meiner Minna frische Tapse zu kaufen. Da treffe ich eine Bekannte, die dort frisch angestellt ist. Wir plaudern ein wenig. Ich fahre zurück. Tür auf – Geruch! Nicht unbedingt angenehm. Ich schau ins Rohr – oh je! Nicht gleich ganz verbrannt, aber so kräftig braun erscheint da mein Kuchen, daß ich ihn so nicht anbieten kann. Von der Saalorgel kommt gerade eine Schülerin zur Tür herein, die in ihrem neuen Heim auch Ziegen hält. Die freuen sich über die ganze Blechladung Kuchen als Futter. Und nach einer Stunde gab‘s die richtige Ausführung von Mutters Kirschkuchen.

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EINIGE REZEPTE FÜR DIE, DIE MIR IN DIE TÖPFE SCHAUEN WOLLEN....

PENNE RIGATE CON OLIVE E TONNO 500 g Penne rigate 2 StückGemüsezwiebel 1/8 l Tomatenmark oder gewürfelte Tomaten 100 g schwarze Oliven 2 Dosen Thunfisch naturale Parmesan Semmelbrösel Olivenöl Oregano Pfeffer Salz Zwiebel hacken, in Olivenöl glasig werden lassen Oliven (entkernt, grob hergeschnitten) beigeben Tomatenmark (gewürfelte Tomaten) beigeben evt. mit etwas Gemüsebrühe oder Weißwein ablöschen dann den Thunfisch dazugeben, köcheln lassen, daß alles gut einzieht erst gegen Schluß Salz, Pfeffer, Oregano, Basilikum Nudelwasser mit Öl und Meersalz zubereiten, Penne 9 bis 11 Minuten kochen (al dente), Nudel abseihen, dann mit dem Sugo durchmischen und eventuell in rohrtaugliche Gefäße füllen. Parmesan frisch darüber reiben und mit Brösel bestreuen. Im Rohr noch etwa 15 Minuten „nachbacken“.

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Mit grünem Salat, dem einige Eiertomaten beigegeben werden (Marinade mit Zwiebel, Essig, Öl, Salz, Pfeffer und ein wenig frischem Estragon) servieren.

GEFÜLLTE „EIERFRÜCHTE“ auf zweierlei Art 2 große Melanzane 2 Tassen Reis 4 Karotten 1 Sellerieknolle 2 Stangen Staudensellerie 2 Zwiebel 4 Eier Evt. 30dg Faschiertes 1 Glas eingelegte Sardellen (Heringe) Pfeffer, Salz, Petersilie, Basilikum, Zitrone Stärkemehl (Maizena) Tomatenmark 2 Tomaten 1 l Gemüsebrühe Oliven, Kapern Die Melanzane längs halbieren, aushöhlen mit stumpfen Messern; einen Teil des Ausgehöhlten fein herhacken. Reis mit zusätzlich 8 Tassen Wasser kochen, mit ein wenig Gemüsebrühe aufgießen, eine halbierte Zwiebel mitkochen, kaltstellen Für a. Karotten in Längsstreifen schneiden, dann auch quer; Stangensellerie in kleine Stücke schneiden, Zwiebel fein

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hacken, dann in Olivenöl anbraten, ein wenig Knoblauch drangeben, das geschnittene Gemüse dazugeben. Salzen, Pfeffern, wieder ein wenig Gemüsebrühe und ein Schuß Weißwein drangeben. Abschmecken mit Kräutern (Oregano, Basilicum, Maggikraut). Man kann 30dg Faschiertes nun in Schüssel 1 geben, den halben Reis dazu, Salzen, Pfeffern, 2 Eier dazu, ein wenig Maizena, evt. auch ein bißchen Majoran. Abmischen. Dann das bißfest geköchelte Gemüse druntermischen, nochmals abschmecken. Nun in zwei halbe Melanzane füllen. Obenauf Tomatenmark (gesalzen, mit Basilicum vermengt) streichen und geriebenen Parmesan mit Brösel drüberstreuen. In einer Kasserolle (diese zuvor mit Öl ausgießen) ins vorgeheizte Rohr bei ca.180 Grad ca.30 Minuten garen lassen und von Zeit zu Zeit mit Gemüsebrühe übergießen. Für b. Die Kleinheringe aus dem Glas nehmen, waschen, in einem tiefen Teller mit Saft von 2 Zitronen oder 1 Limette, Pfeffer, Korianderkörner ungefähr 20 Minuten ziehen lassen. Kapern und Oliven fein schneiden, reichlich Petersilie hacken, evt. auch Estragon, die Kräuter mit Olivenöl nach Gefühl vermengen. Fische aus der Marinade nehmen, klein zerschneiden. In 1 Schüssel den restlichen Reis mit Kräutern, Fischen, Marinade vermengen. Abschmecken, wenn nötig: salzen. In Kasserolle (diese mit Öl ausgießen) ins vorgeheizte Rohr bei ca.180 Grad ca. 40 Minuten garen lassen; evt. einige Male mit Zitronensaft und Weißwein nachgießen. Mit Weißbrot und frischem, jungen Weißwein servieren.

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RISOTTO CON FUNGHI SECCHI E FRESCI 30 g gedörrte Steinpilze und 2 Stück frische Steinpilze 1 ¼ l Fleischbrühe 10 dg Butter ½ Zwiebel, fein gehackt 3 Lorbeerblätter 400 g Reis (Vialone) 2 dl Weißwein Salz, Pfeffer (wie immer aus der Mühle) 1 Prise Muskatnuß 80 g frisch geriebener Parmesan Gedörrte Pilze 30 Minuten in lauwarmes Wasser einlegen. Fleischbrühe erhitzen. Die Hälfte der Butter in einem Topf zerlassen und aufschäumen lassen. Zwiebel gehackt drangeben, Lorbeerblätter und abgetropfte Steinpilze dazugeben. Anziehen lassen, bis Zwiebel leichte Farbe annehmen (gut beobachten, sonst bitter!). Reis beigeben und unter ständigem Rühren mit Holzlöffel glasig werden lassen. Mit Wein ablöschen. Flüssigkeit nun vollständig verdampfen lassen. Dann etwas Brühe dazugießen und wieder unter häufigem Rühren leicht köcheln lassen. Immer wieder Brühe, und auch das Wasser der Steinpilze nachgießen. Mit Salz (Vorsicht) und Pfeffer nachwürzen, evt. auch mit Muskatnuß und frisch gehackter Petersilie würzen. Topf vom Herd ziehen, solange der Reis körnig ist. Restliche Butter und die Hälfte des geriebenen Käses daruntermischen, zudecken.

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1 bis 2 Minuten stehenlassen. Jetzt nebenbei die frischen, blättrig geschnittenen Steinpilze in Flachpfanne mit ein wenig zerlassener Butter anziehen lassen, salzen, pfeffern. Risotto anrichten, die frischen Pilze über den Tellern verteilen, ebenso ein wenig frische Petersilie. Den übriggebliebenen Käse separat dazu servieren. Mit Weiß- und Rotwein denkbar, am besten Chardonnay oder Merlot.

TOPFENAUFLAUF 4 Eier 20 g Mehl 30 g Maizena 100g Zucker 120 g Butter 800 g Äpfel und Birnen 4 dl Grappa 80 g Rosinen 500 g Topfen, evt. auch die Hälfte ital. Ricotta Zitrone, Schale unbehandelt Butter für die Form ¼ Teelöffel Salz Pfeffer, Preiselbeermarmelade geriebene Mandel Eier trennen. 4 Eigelb + Butter + Mehl + Maizena + Topfen + Salz zu einer weichen Masse verrühren, Zitronensaft und geriebene Schale drangeben, sogar ein wenig Pfeffer Eiklar und halber Zucker zu Schnee schlagen Rosinen in Grappa lang genug tränken.

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Äpfel und Birnen schälen, halbieren, aushöhlen. Rosinen und Mandel pürieren: am besten im Mixer, oder mit Kräutermixstab Äpfel- und Birnenhälften mit Rosinen-Mandelpüree füllen, ein wenig mit Zimt bestreuen. Die Form mit Butter ausschmieren, die Äpfel und Birnen mit Fülle zum Boden legen, obenauf ein wenig Preiselbeermarmelade verteilen. Schnee unter die Masse vorsichtig heben, einfüllen in die Form über die Früchte. In vorgeheiztem Rohr bei 180 – 200 Grad ca. 40 Minuten backen, 10 Minuten vor Herausgeben mit Mandelsplitter bestreuen. Variante: Man kann auch Marillen oder Pfirsiche halbieren und am Boden einlegen, dann empfiehlt sich statt Grappa Cointreau zu nehmen.

HEIDELBEERKUCHEN 500 g Mehl 3g Germ ein wenig Zucker 4 Eier Prise Salz 1/8 l lauwarme Milch 10 dg Butter Heidelbeeren, Butter, Zucker Mehl, Zucker, Butter für Streusel Germ mit lauwarmer Milch und Zucker verrühren. ca. 15 Minuten auf warmen Platz stellen (= „Dampfl“)

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Butter am Herd zerlassen. 3 Eier trennen. Mehl + 3 Eigelb + 1 ganzes Ei + Zitronenschale + „Dampfl“ vermengen, herschlagen mit gelöchertem Kochlöffel, ein wenig rasten lassen. Aufs Blech verteilen (wenn nötig, einfetten), mit Heidelbeeren bestreuen, dann Streusel (Butter mit Zucker und Mehl mit Hand vermengen und regelmäßig verteilen). Im Rohr bei 150 – 180 Grad ca. 45 Minuten backen. BRANZINO IM SUD Petersilie 1 Zwiebel ca. 10 weiße Pfefferkörner Gewürznelke 3 Lorbeerblätter 2 Karotten Salz 1/8l Weißwein Salz Sellerie Fenchel 1 Scheibe Zitrone Dill Den Sud mit allen Zutaten bei kleiner Hitze 25 Minuten ziehen lassen Kalt werden lassen. Dann Fisch einlegen, 25 Minuten ziehen lassen. Pfeffer, Saft von ½ Zitrone mischen Als Soße kann man frischen Estragon und Petersilie fein herhacken, in 1/8 l Olivenöl mit Zitronensaft und Pfeffer verrühren. Mit Pfeffer und Salz abschmecken.

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III. WAS MIR ZU DENKEN GIBT

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat“ Röm 13,1 123


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WAS MIR ZU DENKEN GIBT WORÜBER ICH MICH WUNDERE WORÜBER ICH MICH NICHT MEHR WUNDERE. WAS NACKTE TATSACHE IST Gedanken, Aphorismen und Zornausbrüche zu Beobachtungen in der musikalischen, kirchlichen und pädagogischen Welt

Der Musiker, Theologe und Pädagoge Frieberger läßt sich ungern, selten bis gar nicht in Klischees und Gedanken-Raster einteilen. Wer mich von den Vorlesungen her kennt, weiß, daß ich schon lange einer interdisziplinären Vorgangsweise das Wort rede, und der weiß zu gut, daß ich in Vielem fächerübergreifend tätig sein will. Das färbt auch auf meine eigene Verhaltensweise im Alltag ab. Und man kann nicht seine „Berufe“ trennen, wenn man sie ernst nimmt. Pädagogik Spricht man von Pädagogik meint man in der wörtlichen Übersetzung „Kinderführung“; spricht man von Erwachsenenpädagogik so ist dies bereits eine contradictio in se. Also muß man sich fragen, ob sie überhaupt möglich ist. Manche Erwachsene benehmen sich aber wie Kinder, also ist dieser Denkansatz vielleicht doch wieder möglich.

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Jedenfalls bin ich in der Erwachsenenpädagogik genauso tätig wie in der Kinderpädagogik und scheine offensichtlich bei der Ausstattung mit Begabungen und Talenten durch die „Allerhöchste Regieführung“ mit einem entsprechenden Quäntchen an Erziehungsphanatismus bedacht worden zu sein. Die beste Pädagogik ist wohl die, die unerkannt, versteckt, mit Analogien, auf gut österreichisch „mit Schmäh“ zu Werke geht. Wenn ich meine chorherrlichen Mitbrüder zu richtigen Pausen beim Singen des Chorgebetes erziehen will, so weiß ich aus 30-jähriger Erfahrung, daß es nicht zielführend ist, einen Vortrag über die musikalische Pause zu halten, sondern besser, mitten unter den Brüdern zu sitzen und durch eigenes richtiges Einatmen eine Sogwirkung zu erzielen. Ich denke aber auch, wie gefährlich wäre es wohl, wenn man durch solche versteckte pädagogischen Mittel nicht musikalische, sondern vielleicht andere geistige Folgeerscheinungen erzielen wollte. Theologie Theologie ist wörtlich übersetzt das Sagen von Gott. Dabei denke ich mir, daß das Staunen oft besser wäre als das Sagen, denn geredet wird ohnedies viel zu viel. Das, was manche Theologen über Gott reden, hindert mich oft sogar persönlich daran, Gott näher zu kommen. Die Grundlage meines Glaubens

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verdanke ich meinen Eltern, und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Das, was ich später dazugelernt habe, vielleicht sogar beim Theologiestudium oder im Kloster, war nicht immer das Allerförderlichste für den Glauben, schon gar nicht, wenn es um ein ständiges Erklären gegangen ist; denn die Dimension „Mysterium“ braucht der Mensch allenthalben, und wie man weiß, ist die Jugend verschiedenster Kulturen daran, sich Mysterien zu schaffen, wenn auch auf anderer Ebene. Musik Für viele, auch für Gebildete, ist Musik in erster Linie nicht Kunst, Kunstschaffen oder Kunstausübung, sondern zunächst Unterhaltung, Hintergrund, Ornament, Beiwerk. Das ist schade. Denn es ist zu beobachten, daß diese Tendenz zunimmt. Und der Zugang zur zeitgenössischen Musik, wage ich zu behaupten, ist noch schwieriger gemacht, als der zur zeitgenössischen Malerei und Bildenden Kunst. Hier wäre ein Nachholbedarf an Bildung – aber Aussicht und Hoffnung darauf gibt mir die derzeitige Lage unserer Politik nicht. Musik müßte erkannt werden als die Möglichkeit einer Botschaft, einer Mitteilung, schon auch (aber nicht nur) einer Beschreibung und Stimmungsbildung der Seele. Etwas, das an- und aufregen kann, darf oder muß. Keineswegs als etwas, das nur erfreuen soll. So hört man es aber immer wieder, auch von Leuten, die meinen gebildet zu sein.

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Vom Abhandenkommen der Höflichkeit und des Anstandes Der Pädagoge Frieberger leidet unter dem Schwinden der Höflichkeit und des Anstandes immer mehr. Nicht, daß es um die Erfüllung eines Hofzeremonielles oder das Beherrschen des gesamten „Knigge“ ginge, nein, die kleinen, aber gekonnten Gesten lassen doch auch viel erkennen von Sitte und Manier... Nicht nur, daß Männer mit höheren kirchlichen Würden eine Hand in der Hosentasche tragen, wenn sie mit jemandem reden oder gar jemand begrüßen, nein, sogar ein österreichischer Landeshauptmann tritt prinzipiell mit einer Hand in der Hosentasche auf, wenn er öffentlich redet. Hierher gehört auch der Verlust der Fähigkeit zu einem ordentlichen Gruß. Wenn eine Lehrkraft unser Schulgebäude mit einem neutralen „Hallo!“ betritt, so empfinde ich das nicht nur als eine der undefinierbaren Modeerscheinungen, die den persönlichen Gruß eliminieren, sondern viel mehr noch finde es ich am Konzept vorbeigehend, daß auch ein Musiklehrer für die Erziehung der jüngeren Generation verantwortlich ist. Und ein „Grüß Gott“ verträgt sich in der unmittelbaren Umgebung eines Stiftes zudem noch allemal mehr als ein hohles „Hallo“.

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Verkümmerung der Sprache Ob es die moderne Welt der EDV-Technik allein ist, weiß ich nicht: aber ich stelle fest, daß unsere deutsche Sprache verkümmert. Da gibt es noch keinen Zusammenhang mit einer Rechtschreibreform. Das hat auch nichts zu tun mit besonderer Kreativität im Erfinden neuer Wörter. Manchmal, glaube ich, hat das schlichtweg auch mit der Faulheit zu tun nachzudenken, wie ich etwas in unserer Sprache gut ausdrücken könnte. Da wird kräftig downgeloa det und upgedatet, wird eine Denkung erfunden, und muß etwas Sinn machen und darf keinen mehr haben. (Ich glaube nicht, daß sich Franzosen mit ihrer Sprache das gefallen lassen würden.) Es geht auch jegliches Gefühl für die Anwendung der grammatikalischen Regeln verloren, zum Beispiel für den dritten Fall, den Dativ: da höre ich Sonntag für Sonntag einen Geistlichen höherer Ordnung die Präfation singen „Lasset uns danken dem Herrn, unsern Gott...“ Geschweige denn überhaupt die Verwendung des zweiten Falles, des Genetives. Da darf man keiner Sache mehr entbehren, oder sich einer Sache erinnern, geschweige denn, sich eines Menschen annehmen... Ja, aus einem „Fall“ und einem „Beispiel“ muß dann plötzlich ein „Fallbeispiel“ werden, ohne darüber zu reflektieren, daß es sich dabei um einen Pleonasmus handelt. Es fällt mir auf, daß leider junge Lehrerinnen und Lehrer

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auch gar nicht mehr firm sind in der Anwendung unserer Sprachregelungen....

-en und -innen Es ist nicht nur Mode, sondern Verordnung geworden, die Geschlechter in der Mehrzahlbildung zu detaillieren. Das halte ich schlichtweg für eine Platzverschwendung. Messen Sie einmal ab, wieviel Zentimeter die Wortfolge „Studentinnen/ Studenten“ ausmacht! Und wie oft kommt in Papieren der Universität dies vor! Schlichtweg eine Platzverschwendung sondergleichen, aber vom Sparen will nicht jeder gleich etwas wissen., und interessanterweise hat nicht einmal der Staat entdeckt, daß man auch mit Papier und Druckerschwärze sparen könnte. Abgesehen davon würde ich mich als Frau beleidigt fühlen, wenn ich nicht im Kollektiv mitgemeint wäre. Aber das sind halt die verschiedenen Ansichten von Gleichberechtigung. Apropos Gleichberechtigung: das wird immer als Problem des weiblichen Geschlechtes dargestellt, ich möchte aber einmal deutlich sagen, daß das auch die Männer betreffen kann. Nicht wenige Situationen könnte ich aufzählen, wo auch meine Geschlechtsgenossen angebliche Nachteile „erlitten“

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hätten. Überhaupt bin ich der Meinung, daß es halt doch geschlechter-spezifische Eigenschaften gibt, ohne jetzt gleich in das Klischee verfallen zu wollen, die Frau gehört an den Herd und so. Und besondere Eigenschaften darf es wohl in jeder Geschlechtergruppe geben. Betrachtet man die Geschichte, so hat es sie allzeit gegeben, die „starken Frauen“ und die aus der Rolle fallenden Männer. Es ist immer gut, wenn nicht alles in Klischeehülsen einfüllbar ist! Aber Gebären kann halt nun einmal nur eine Frau..... Und das ist auch gut so. Die Regierung Österreichs erfand vor einigen Perioden ein eigenes „Frauenministerium“: muß man (Mann) sich als Mann dann nicht benachteiligt fühlen, wenn es kein eigenes Männerministerium gibt? Und was die „Quotenregelung“ betrifft, bin ich der Meinung, daß die Qualität und die Fähigkeiten für die Besetzung eines Amtes entscheidend sein müssen und nichts anderes. Gleichberechtigung kann nicht mit Mißachtung der Objektivität zu tun haben.

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Zuhören und Delegieren können? Der Theologe Frieberger vermißt in kirchlichen Kreisen immer mehr ein ehrliches Zuhören können und Delegieren können; nicht nur, daß man den Eindruck hat, der hochwürdige Herr denkt sowieso gerade an ganz etwas anderes, wenn man mit ihm spricht, oder – was auch vorkommt – er will zwar informiert sein, und führt trotzdem noch mit einem zusätzlichen Gesprächspartner gleichzeitig eine Konversation, nein, manchmal wird sogar echt so getan, als ob man zuhört und sogar auch, als ob man ein Fachgebiet delegiert; dann aber will man bisweilen die letzte Entscheidung „aus diplomatischen Gründen“ selbst in der Hand haben, ohne auf das Fachurteil einzugehen. Dann sind vorangegangene Maßnahmen eben nur Schein-Strategien, deren Grund in der Angst vor Autoritätsverlust liegt. Ein Symptom der Zeit? Auch die Angst, zugeben zu müssen, daß man von anderen lernen kann? Wahrscheinlich bin ich in diesem Punkt viel zu sehr von meinem verstorbenen Vater verwöhnt, der als Arzt den Ruf eines guten Zuhörers hatte... Vom Gehorsam derer, denen Gehorsam versprochen wird Die Kirche ist nun einmal eine hierarchisch strukturierte Sache, und im Vergleich zu dem, was Staat

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ist, ist sie eine private Angelegenheit. Insofern sind natürlich kirchliche Engagements wie Caritas und Sozialarbeit, Jugendbetreuung und Reisearragements sehr zu begrüßen. Aber sie sind letztlich privat zu wertende Initiativen. Teilweise ergänzen sie das, was der Staat zu leisten nicht imstande ist oder nicht leisten will. Auch muß man deutlich erkennen und anerkennen, daß freilich auch andere christliche Konfessionen diese sozialen Engagements mit den Katholiken teilen, und teilweise sogar in größerem Maße ausüben. Bleibt aber auch zu bemerken, daß Kirche primär kein Verein für Freizeitangebote und Unterhaltung ist – so schön das Pfarrfest, das Kirchencafé, der Ausflug etc. sind –, aber Kirche soll in erster Linie der Verherrlichung Gottes dienen, und der müssen sich alle anderen Dinge unterordnen. Ist halt meine ganz persönliche Meinung. Nun ist es so, daß in dieser hierarchischen Struktur der katholischen Kirche von Bischöfen, Oberen und anderen leitenden Amtsträgern gerne der Gehorsam ihrer Untergebenen eingefordert wird – zu Recht, wenn auch oft nicht als solches deutlich kennbar gemacht. Es erhebt sich die Frage, wie weit dann wiederum diese Oberen als Glied der Kette der Hierarchie nach ihren obenhin geordneten Strukturen Gehorsam leisten. Ich maße mir keineswegs Kritik an, aber ich stelle nur fest und beobachte im Stillen, daß es da eine Bandbreite von einer sehr freien

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Interpretation der „oboedientia“ bis zur Skrupulanz gibt. Wenn ich nur mein Fachgebiet der Liturgie herausgreife, so ist das ein eher unbedeutender Teil aufs große Ganze gesehen. Aber: dem Liturgen Frieberger fällt aber auf, daß manche Religiosen – und erst recht solche „höherer Ordnung“ – liturgische Maßnahmen für ihre Kirchen treffen, die der Entsprechung mit Vorgaben aus der zentralen Kirchenleitung in Rom sehr wohl entbehren. Da wird an Sonntagen mit Selbstverständlichkeit und Selbstgefälligkeit von zwei vorgeschriebenen Lesungen eine gestrichen; da fungiert der Ambo des öfteren als Begrüßungskanzel und Credo-Pult in einem (bisweilen wird er sogar vom Verkündigungsort zum Notenständer für das Musizieren degradiert...). Die manchmal höchst freizügige Gestaltung des Bußaktes (bis hin zu dessen Eliminierung) bringt manchen Kirchenmusiker in Verlegenheit, dem man im Studium einst noch die im Meßbuch vorgesehenen Formen als verbindlich bekanntgemacht hat. Ich möchte hier nicht dem Rubrizismus das Wort reden; es geht schlichtweg auch um Verantwortung und um das Bewußtmachen, warum es anders machen will. Und auch um ein Vorbild in der Gehorsamsübung. Ist halt wiederum meine ganz persönliche Meinung.

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Klerikale Anmaßung und Präpotenz Es fällt mir auf, daß manche katholische Geistliche daran erkennbar werden, daß sie ein unheimliches Selbstbewußtsein entwickeln und offensichtlich meinen, daß mit der Priesterweihe durch den Hl. Geist eine Art Teilhabe an der Allmächtigkeit und Allwissenheit Gottes vermittelt wird. Das Gefühl wird mir teils durch eigene Erlebnisse, teils durch Mitteilungen von Freunden und Studenten vermittelt. Und so gern ich manches entschuldigen möchte, bei vielem kann ich trotzdem nicht anders, als nur mit offenem Mund staunen.... Wenn da ein Gespräch über das Kochen und überhaupt Haushalten ist, und ich sage, es kann ja gar nicht schaden, wenn man als Pfarrer oder Kaplan eine Ahnung vom Kochen hat, und auch vom Einkaufen – nämlich einmal zu erfahren, was die Lebensmittel eigentlich so kosten, dann ist es schon mehr, als daß es mich nur wundert, wenn ein junger Alumne, der sich auf das Priesteramt vorbereitet, selbstsicher herausposaunt: „Aber wozu denn, das steht mir doch zu, daß ich zum bereiteten Tisch komme....“ Oder wenn mir eine altgediente Organistin einer Stadtpfarre ihr Leid klagt: die im Ruhestand befindliche Mittelschulprofessorin spielt immerhin um Gotteslohn dort die Orgel – und wird fachlich über-

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haupt nicht bei der Liedplanerstellung herangezogen. Ist’s Unachtsamkeit oder maßlose Überheblichkeit des Pfarrers, dem man unterschieben könnte, er weiß halt alles sowieso besser? Was überhaupt eine Untugend ist: wenn mancher Liturge den Liedplan zum Gottesdienst in Eigenregie erstellt, ihn wie einen „Speisezettel“ in der Sakristei ablegt, in der Erwartung, der Organist/ die Organistin vollendet nun das vorgegebene Rezept mehr oder weniger mit den dazupassenden Akkorden. Mit kreativem Kochen hat das nichts zu tun, meist auch nicht mit Geschmack, eher mit Unhöflichkeit, und außerdem ist es eine ziemliche Mißachtung der Fähigkeiten derer, die ausgebildet und studiert in der Kirchenmusik sind. Das ist u.a. Degradierung des Kirchenmusikerstandes zum niedersten Dienstpersonal. In keiner anderen Berufsbranche wäre es möglich, ohne gediegene Ausbildung sich als „Profi“ zu verkaufen, aber bei den katholischen Pfarrern scheint es zu klappen –– zu reden, ohne Rhetorik und Sprechtechnik studiert zu haben, zu singen, ohne im Gesang ausgebildet zu sein, seelenzudoktern, ohne das Studium der Psychotherapie zu kennen. In der Katholischen Kirche scheint’s möglich zu sein. Worüber ich mich mehr als wundere. Ich möchte damit aber nicht die von Herzen ausgehende und bei Herzen ankommende seelsorglichen Leistungen in Frage stellen.

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Es wundert mich, wenn ein Mitbruder im geistlichen Amt deutlich verkünden kann, was „protestantisch“ ist, ohne jemals Evangelische Theologie studiert zu haben oder dazu etwas gelesen zu haben.... „Die glauben nicht an die Eucharistie, leugnen Maria und die Heiligen, und gegen Papst sind sie sowieso...“ Eine Armut im Geiste, über die ich mich nur wundere.

Qualitätsentsprechung? Hieher gehört auch der Umgang mit Musik im Gottesdienst. Im Allgemeinen: es ist ja löblich, wenn ein Prediger einen Liedtext gefunden hat, der ihm besonders zu seinen geschmiedeten Worten paßt. Wenn das „Lied“ dann eine äußerst triviale Melodie hat, hätte man als Musiker die Verpflichtung, auf die Diskrepanz der Qualität zwischen gepredigtem und getextetem Wort und Musik aufmerksam zu machen. Von gebildeten Menschen hätte man allerdings die Meinung, daß sie das selbst beurteilen können. Aber: das ist eben meine Beobachtung in dieser Zeit, das Bildungsniveau wird, auch dank der fleißigen Arbeit unserer Politiker immer kleiner; bleibt nur noch, an den Geschmack zu appellieren – aber der hängt erst recht mit Bildung zusammen. Schade – denn oft würde das so qualitätsvoll gepredigte Wort eine viel bessere Entsprechung in der Qualität der Musik in Liedern verdienen....

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Kommunikation ? Es wundert mich.... , wenn da die Verwaltung eines Bundeslandes plötzlich „Kommunikationstraining“ als Fortbildung für Beamte anbieten muß und andererseits durch die Einführung der elektronischen Mitteilungsmöglichkeit die verbale Kommunikation einschränkt; es wundert mich...., wenn ein offizielles Instrumentarium zur Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Untergebenen mit dem Namen „Mitarbeitergespräch“ eingeführt werden muß, offensichtlich, damit man wieder mehr miteinander Kontakt pflegt, und andererseits aber dazu eigene Schulungen angeboten werden müssen, weil man von den leitenden Angestellten bereits annimmt, daß sie gar nicht wissen, wie es „geht“, miteinander zu reden.... Es wundert mich...., wenn solche Schulungen dann von selbsternannten und nicht gerade billigen „Trainern“ durchgeführt werden, die sich in gruppendynamische Übungen der frühen 70-er Jahre flüchten, um Zeit vergehen zu lassen - was den Verdacht aufkommen läßt, daß das, was man in 1 Tag dazu sagen könnte, gestreckt werden muß, weil’s auch finanziell lukrativer wird... Es wundert mich...., daß, wenn ein leitender Beamter regionale Konferenzen vor wenigen „Untergebenen“ abhält, dieser zunächst eine erhebliche Zeit

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damit verbringt, sein technisches Equipment aufzubauen, um angeblich überhaupt miteinander kommunizieren zu können. Da beginnt man eine Kabeltrommel anzuschließen, einen Laptop zu installieren, einen Overheadprojektor aufzubauen und noch einiges mehr, um endlich „miteinander reden zu können“. Da wird dann Satz für Satz mit einer eingeschobenen Folie visuell erläutert, allerdings meist in einer Sichtqualität, daß das zusehende Auge rasch müde wird. Ja wenn’s noch nicht reicht, wird extra noch eine Verstärkeranlage zugeschaltet, weil solche Leute offensichtlich nicht gelernt haben, mit ihrem Sprechorgan richtig umzugehen. Sie nuscheln dann in ein Mikrofon, das in „eingedumpften“ Klängen die Sprechstimme verzerrt und auch noch dem zuhörenden Ohr Schwierigkeiten bereitet. Meist findet das noch in einem Saal mit Klimaanlage statt, sodaß auch die Lunge und das Riechorgan seinen Anteil an Unpäßlichkeiten abbekommt. Und das sollte die Kommunikation untereinander fördern.... Das wundert mich. Wenn mich etwas nicht mehr wundert, dann ärgert es mich meist, oder ich empfinde es als Produkt einer unaufhaltsamen Maschinerie z.B. der Staatsverwaltung, in die eingreifen zu wollen töricht und aussichtslos ist. Es wundert mich nicht nur, wenn an einer österreichischen Musikuniversität am Ende des Semesters bekannt wird, daß da eigentlich zwei Fächer ver-

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schiedenen Inhaltes existierten, die mir zugeteilt gewesen wären, und dann für das kommende Studienjahr keines von beiden aus Spargründen gelesen werden kann, die Studenten aber eines davon als Pflichtfach für ein gültiges Diplom absolvieren müßten... Es wundert mich nicht nur, wenn an einer österreichischen Universität mir in der Mitte des Semesters plötzlich bekanntgegeben wird, daß man sich bei der Verteilung der Lehraufträge geirrt hat, und ich in diesem Semester zwei von drei Wochenstunden nun „gratis“ lesen darf, so mit der unausgesprochenen Mahnung: „Das können Sie ja nicht ausschlagen, und schon gar nicht als Ordensmann....“ Ja, und man kriegt sogar ein Formular zur Annahme der Lehraufträge mit dem Aufdruck „Gratis-Lehrauftrag“ zu unterschreiben. Das ist österreichische Eigenart. Aber sind das nicht letztlich Kommunikationsschwächen?

Leichtgemachtes Autorenrecht Es wundert mich nicht nur, wenn da aus irgendwelchen pastoralüberbetonten Ansätzen veranlaßt wird – von wem auch immer, man weiß es meist nicht, wenn man danach frägt –, Liedtexte aus

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Kirchengesangbüchern abzuändern in „geschwisterlich“ statt „brüderlich“, in der Meinung man setzt kräftige Akzente und trägt zur Emanzipierung der Frau bei. Nämlich, was mich nicht nur wundert, ist, daß da so einfach mir nichts dir nichts in geistiges Eigentum von Autoren und Autorinnen(!!) und/oder deren Erben eingegriffen wird.... Darüber scheint man nicht nachzudenken. Überhaupt scheinen Theologen mit der „Geschwisterlichkeit“ der Meinung zu sein, den Stein der Weisen gefunden zu haben. Als ob es nicht auf andere Formen der Toleranzbezeugung ankäme?

Sensation und Überforderung In manchen Gegenden ist es üblich geworden, aus allem ein Weltereignis machen zu müssen. Nicht nur, daß alles gleich zum „Event“ erhoben werden muß; auch im pastoralen Bereich hält diese Tendenz Einzug: jede Kinderliturgie muß zur Sensation werden, jeder Sonntagsgottesdienst muß strotzen von Novitäten und Abweichungen. Was „Normales“ darf es nicht geben. Und dann höre ich nicht selten das Aufstöhnen der Geistlichen, daß alles „so wahnsinnig anstrengend“ ist, und der „heutige Sonntag mich total geschafft hat...“, und man „ganz und gar verbraucht ist“, weil der eifrige Seelsorger, ach – ächz’ und stöhn’! –, drei Messen zelebriert hat....

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Als 12-Jähriger hatte ich als Organist der Jesuiten am Alten Dom in Linz pro Sonntag manchmal sogar vier Gottesdienste gespielt, später auch bis zu acht Gottesdienste in Linzer Kirchen. Da hat mich kein Priester gefragt, ob ich „geschafft“ wäre, im Gegenteil, man hat sich höchstens umgehend erkundigt, ob ich ohnedies am nächsten Sonntag das wieder so tun kann, und eventuell noch zusätzlich eine Maiandacht am Harmonium übernehme. Und Honorar gab’s sowieso keines. Innerhalb von sechs Jahren bis zum Abitur ein Mal ein Stück Orange und ein Mal 100 Schillinge. Und ich hab mich trotzdem wie ein Kaiser darüber gefreut. Und war dankbar, daß ich die Orgel(n) zum Üben und Austoben zur Verfügung hatte.

Bildungsverlust oder Bequemlichkeit? In manchen Musikfachgeschäften ist es üblich geworden, „Selbstbedienung“ einzuführen. Das kann praktische Gründe haben, und es ist ja auch für Musiker manchmal ganz erfrischend, „schmökern“ zu können im Novitätenstoß. Aber nun kauft nicht jeder Musiknoten ein, der unmittelbar damit fachlich zu tun hat, möchte informiert werden, vielleicht sogar einen Rat. Die Erfahrung in einem renommierten Musikladen Österreichs lehrt mich, daß auch hier ein Defizit entsteht.

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Da schickt sich in der Sortimentabteilung eine Mutter an, für ihren Sprößling Klaviermusik von einem bestimmten Komponisten zu besorgen. Sie weist einen Notizzettel vor und bittet den „Verkäufer“ um die gewünschte Ausgabe. Ich stehe daneben und höre davon. Der aber weist die Mutter schlichtweg ab: „Das haben wir nicht“ Nun hörte ich aber, daß es sich um ganz übliche Literatur handelte, allerdings vierhändig. Das schien wiederum der „Verkäufer“ nicht zu wissen. Ich konnte nicht anders, als mich einzumischen, und patzte heraus: „So schau’n S’ halt in dem Stoß mit den vierhändigen Klaviernoten nach. Das hat doch jeder Kleinladen!“ Natürlich waren die gewünschten Stücke vorhanden. Als ob der „Verkäufer“ gar nichts verkaufen wollte. Aber: das hat einerseits mit Bildung des Personals zu tun – und wenn ein Besitzer dann keine Musikalienhändler, sondern nur Buchhändler einstellt, ist das eine Frucht davon –, andererseits ist es auch die Bequemlichkeit, nicht suchen und sich nicht weiterbilden zu wollen.... In besagtem Geschäft würde man allerdings als Kunde ein eigenes Seminar benötigen, wie man bei „Selbstbedienung“ was finden kann, denn von Systematik ist in diesem Laden jetzt kaum was zu spüren...

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Geschmack und Harmonie Die Ungebildetheit (leider auch von leitenden Personen) wird meist von einer Geschmacklosigkeit begleitet, die sich nicht nur in Umgangsformen äußert (das Reden mit vollem Mund ist da noch etwas Harmloses...). Der Sinn für jede Symmetrie ist so gestört – und für mich hat das mit dem Verlust von Harmonie im Leben zu tun: In manchen Kirchen fällt mir auf, daß in der Gestaltung der Altarräume beispielsweise Blumenschmuck auf (ja: auf!) den Volksaltären so dominiert, daß sich rechts ein überladenes Gesteck im wahrsten Sinne des Wortes „aufbäumt“, links drei in der Proportion wenig passende Kerzenleuchter drapiert werden. Unsere alten Kirchenräume sind nun einmal auf sich-entsprechende Symmetrie hin angelegt, warum dürfen da dann nicht symmetrisch angeordnete Kerzen den Altar zieren? Das ist eine Sache des Auges und nicht des Prinzips. Meine Salzburger Studenten haben dafür inzwischen ihr Auge schon geschult, und wenn ich in manche Kirche des Erzbistums komme, tut es nicht nur meinen Augen wohl. Geschmacklosigkeit ist es auch, wenn geistliche Handlungen und andere fromme Akte wie Begräbnisse, Andachtsstunden oder Betrunden mit Sacrosound-Kulissen aus der Konserve begleitet werden

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müssen. Die Verantwortlichen, darunter auch Pfarrer, haben – abgesehen von der oft wenig glücklichen Auswahl der Konservenmusik durch den Lautsprecher – wohl noch nichts von Urheberrecht und Leistungsschutz gehört. Oder tut man nur so, als ob man davon nichts wüßte?

Von der Unfähigkeit, die Stille zu ertragen Weniger Geschmacklosigkeit als der Verlust der Fähigkeit, still sein zu können, ist es, wenn beispielsweise bei geistlichen Einkehrtagen (oft noch immer „Erxerzitien“ genannt, nicht mehr wissend, was einst Ignatius von Lloyola mit dieser Praxis wirklich geschaffen hat) die gemeinsamen Mahlzeiten mit einer Meditations-Soundkulisse aus der Konserve unterstützt werden müssen. Ja, die Stille scheint die zu erdrücken, die sich selbst so gerne reden hören...

Von der Unkenntnis der Proportionen Es ist üblich geworden, in hohen Räumen Decken „abzusenken“. Nicht nur aus Heizkosten-Gründen. Ich bin der Meinung, man hat schlichtweg das Gefühl für die richtige Proportion eines Raumes, und nicht nur für die eines Raumes, verloren.

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Dazu gehört auch das viel zu rasche Sprechen in großen Räumen. Auch hier fehlt das Gefühl für die Proportion von Raum und Tempo. Nicht nur das Sprechen, auch das Gehen, das Schreiten gehört hier dazu. Als Liturge beobachte ich, daß die jüngere Generation selten ein Gefühl hat, wie schnell man schreiten soll. Auch das ist proportional, also in einem Verhältnis zur Größe eines Raumes zu sehen. Oder die Verwendung von Büchern am Altar. Immer mehr kommt in Mode, ein kleines Handexemplar des Meßbuches, das eigentlich zum Studium am Schreibtisch oder für Kapellen gedacht ist, bei der Zelebration der Messe zu verwenden. Da liegt dann das unproportionierte Handbuch vor dem Bauch des Priesters, dieser wölbt sich darüber, um die eucharistischen Gaben – z.B. zur Consecration – mit seinen Händen erreichen zu können. Von Ferne unmöglich anzusehen, und offensichtlich dem Trend, ohne nachzudenken, gehorchend... Auch die Größe einiger „Volksaltäre“ (eigentlich ein unmögliches Wort; man meint jenen Altar, der die Möglichkeit gibt, mit dem Gesicht der Gemeinde zugewandt zu zelebrieren) läßt in manchen Kirchen zu wünschen übrig. Da haben irgendwelche Architekten oder angebliche Kunstverständige im Paket mit den Wünschen des Liturgen etwas gedanklich geschmiedet, das dann in keinerlei Verhältnis zum Raum und zur Umgebung steht. Scha-

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de. Das Auge leidet nämlich darunter. Und die Harmonie ist gestört... Ja, auch ein Gefühl für Metrum und Takt scheint abhanden zu kommen – man muß „Taktgefühl“ nicht gleich im übertragenen Sinne gebrauchen wollen, aber es hat schon auch was damit zu tun, wenn gute Manieren inzwischen Mangelware werden.... Dann ist da auch die Ohnmacht der Sprecher in einem großen Raum. Von Vornherein wird an Mikrofonverstärkung gedacht. Sogar in kleinen Räumen werden da plötzlich technische Hilfsmittel aufgebaut, wenn ein Beamter X vor Angestellten Y ein Referat zum Thema Z hält – manchmal scheint es, nur um die Techniker zu beschäftigen. Man denkt nicht mehr nach, was man wozu braucht – worüber ich mich nicht nur wundere.... Proportion hat mit Harmonie zu tun. Warum ist es für viele so schwer geworden, Harmonie zu kennen und zu leben? Auch für die, die guten Willens sind? Ein Schreinermeister mit künstlerisch-handwerklichem Talent zimmert eine sehr passende FensterKopie für einen Barockraum, mit Profilen, dreimal unterteilter Verglasung, und vieles mehr, dann wird noch ein passender Messinggriff gesucht. Oder

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womöglich sogar nach Skizze extra in Auftrag gegeben. Und jetzt wird dieser Griff – fürs geschulte Auge unmöglich! – nicht in die Mitte montiert, sondern, weil’s halt üblich ist, so und soviel Zentimeter vom Boden weg gemessen angebracht. Schade. Die ganze Harmonie ist gestört. Warum? Alles das zusammen ist für mich ein allgemeines Bildungsproblem: Geschmack kann man bilden – also hat der Bildungsauftrag des Staates hier Mächtiges aufzuholen. Begabung unterliegt nicht unbedingt der Bildung, sondern zunächst dem Erkennen und dann der Aus- und Fort-Bildung. Auch hier werden die weniger, die die Begabung anderer erkennen und fördern können. Weil sie dazu abermals gebildet werden müßten.

Dilettantismus Das Wort diletto hat seine Wurzel im Lateinischen: delectare heißt lieben, wertschätzen, sich erfreuen. Delittetantismus kann also zum einen eine positive Bedeutung bekommen, wenn man es als „Liebhaberei“ im Sinne, „eine Sache wertzuschätzen ohne Hintergedanken“ übersetzt. Wer in diesem Sinne handelt, stellt auch keine Kompetenzansprüche. Dilettantismus im schlechten Sinne ist, wenn jemand eine Sache – auch aus beruflichen Gründen –

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betreiben soll, sich aber nicht in sie vertieft, versenkt, sie studiert, sodaß er darin „firm“ ist; er bleibt an der Oberfläche, spielt aber vor, in diesem Fachgebiet sicher zu sein – das er also eigentlich nicht beherrscht. Dann ist er ein Dilettant im schlechtesten Sinne. Ich wundere mich, wieviel Tätigkeit in öffentlichen Diensten schlimmer Dilettantismus ist. Ich wundere mich, wieviele Ergebnisse kirchlicher – gut gemeinter – Maßnahmen ebenso schlimmer Dilettantismus sind. Um nur ein Beispiel aus meinen Fachbereichen anzuführen: Jeder Gregorianiker wird mir bestätigen, daß die Wiedergabe Gregorianischer Melodien im offiziellen katholischen Gesangbuch „Gotteslob“ schlimmer Dilettantismus ist....

Was ich einfach schade finde Wenn man in Venedig das original venezianische Marmorpapier nicht mehr kriegt, weil man die Farben zugunsten der Touristeninteressen auf modisch abgeändert hat (wen es interessiert, das originale Papier in Venedig ist blau marmoriert mit goldenen Spritzern drinnen). Wenn es kaum mehr ein Kaffeehaus gibt, in dem nicht Musik aus Lautsprechern tönt, so daß man dort auch komponieren könnte....

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Wenn da in Salzburg am 24. Jänner zur Mozartwoche bereits die Auslagen mit Ostereiern nicht nur dekoriert sind, sondern selbige auch schon zum Kauf angeboten werden.... Wenn in den Geschäften allgemein der Weihnachtsrummel schon zu Allerheiligen mitsamt der zugehörigen Musik beginnt... Und erst recht „Stille Nacht“ nichts mehr mit still oder Nacht zu tun hat, sondern zu jeder Tageszeit in jedweder Interpretation herbeigezaubert werden kann und wird. Abgesehen davon, daß ich dieses Lied nicht gerade für das allerschönste unter den vielen Weihnachtsliedern halte – auch mit Erklärung nach rein musikalischen Kriterien. Ich finde es auch schade, wenn der Umgang mit Büchern nicht mehr gelehrt wird oder gelehrt werden kann. Die „physische“ Qualität unserer Schulbücher hilft da gerade nicht dazu. Zehnmal geöffnet, fallen sie meist auseinander. Und so kommt eine Liebe zum gebundenen Buch erst gar nicht auf. Die Bequemlichkeit des Kopieren-Könnens, allerdings sehr oft im Widerspruch zum Gesetz, ermöglicht Musikschülern ein Erscheinen mit Plastiksack und unansehnlich zerknitterten Notenkopien... Und es gibt schon Lehrer, denen das nicht gerade auffällt... Aesthetik gehört zum guten Geschmack. Schade, daß er so abnimmt.

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Ich finde es auch schade, daß immer mehr junge Menschen – auch in meiner Umgebung – auf Beziehungen nur so lange etwas geben, als sie bequem sind. Immer mehr, beobachte ich, werden Beziehungen – ganz gleich wer mit wem – kurzlebiger. Schade, denn ich denke darüber nach, wie weit ein versprochenes Wort überhaupt noch Gültigkeit hat.

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APHORISMEN UND GEDANKENSPRÜNGE Musik mit Stil läßt sich in der Regel nicht demokratisch regeln. Kunst ist überhaupt nicht demokratisch lösbar. Musikmachen ist mir genauso wichtig wie das wissenschaftliche Forschen. Nur ein Miteinander von Theorie und Praxis rechtfertigt heute eine Musikwissenschaft. Das Erleben der Spannungen zwischen Gehorsam und Freiheit des Christenmenschen würde manchem katholischen Amtsträger gut tun. Dazu müßte er sich aber herablassen, Martin Luther zu lesen... Gott hat wenige Reine ins Himmelreich geführt, aber viele aus dem Schlamm gezogen... (Pastor Schmidt, Thomaskirche Leipzig, 24.7.2000) Das einzige, was in der Tradition bleibt, ist der Wandel. Wenn die Tugend der Treue zum Laster der Erstarrung wird.... Jede gute Musik besteht aus richtigem Verhältnis von Spannung und Entspannung.

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Lieber Bach gesucht und Gott gefunden haben, als gar nicht hinter die Noten geschaut zu haben. Wenn man nicht begabt ist, ist man gelehrt... (G. Leonhardt) Theologiestudium – das ist intellektuelle HĂśchstleistung mit existentieller Fehlanzeige. (H.Thieleke) Normal denkt man, bevor man handelt. Ist man Vorgesetzter, so sollte man wenigstens zwei Mal denken, bevor man mit einem Untergebenen spricht, und man ist gut beraten, vier Mal zu denken, bevor man MaĂ&#x;nahmen ergreift.

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IV. PREDIGTEN ZU MUSIKALISCHEN ANLร SSEN

Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf Rรถm 8, 26 155


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ÜBER DEN TOD IN DER MUSIK Zu einer Aufführung des Mozart-Requiems am 2.11.1997

„Mit Musik geht alles leichter....“; „Freude durch Musik...“ In den Warenhäusern bedient man sich der Musik nicht nur in der Vorweihnachtszeit als Lockmittel. Radio und Fernsehen haben die Musik längst vom Bildungsauftrag zu hohem Prozentsatz in Berieselungs- und Unterhaltungstechnik umgewandelt. Aber was ist Musik – nicht nur die Musik einer Totenmesse – wirklich? Musik gehört seit dem Mittelalter zu den septem artes liberales, zu den sieben freien Künsten, und mit Theologie, Arithmetik und Philosophie sogar zum Quadrivium. Also kann Musik – wie Theologie, Arithmetik und Philosophie nicht Unterhaltung allein sein. Musik ist Kunst. Kunst ist für den Kult unerläßlich. Kunst ist aber nur dann echte Kunst, wenn sie wahrhaftig ist. Musik ist also nur dann „kunst“-voll, wenn sie wahr ist.

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Das ist, wenn Musik ausdrückt, was der Künstler selber meint, und nicht nur, was etwa bei ihm wohlfeil oder teuer bestellt worden ist. Wahr ist Musik, wenn sie erkennen läßt, wie der Künstler den Menschen, die Welt, ja selbst das Heilige, sieht und erlebt. Wahr ist sie, wenn sie den Hörer nicht täuscht, sondern an-und aufregt, selbst nachzudenken, nach dem Wahren zu suchen. Wahr ist Kunst dann, wenn der Künstler damit seine Zeit zu deuten weiß, auf das Schöne hinweist, das sonst vielleicht vielen verborgen bliebe, aber auch auf das Schwierige, sogar auf das Chaotische. Wenn der Künstler also die Zusammenhänge und Hintergründe dessen zu erhellen versteht, was das Leben ausmacht. Wenn er selbst in gewissem Sinn zum Propheten wird, der mitten in der Zeit steht und doch mehr von der Zeit versteht, der frühzeitig ahnt, was sich bewegt und tut, der ruft und mahnt,. und doch, obwohl er oft umsonst und ungehört sich äußert, ja sogar mißverstanden wird, in seiner Funktion gar nicht zu ersetzen ist. Einer, der also von sich aus mit Prophetie im religiösen Sinn nicht unmittelbar etwas zu tun hat und auch nicht mit dem Kult, aber doch die Zeichen der Zeit zu deuten weiß und Kulte erhellen oder auch zu entlarven versteht.

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Musik beim Kult, im besonderen die Kirchenmusik, ist also durchaus kein entbehrliches Beiwerk für die Liturgie, darf aber auch nicht in Selbstüberheblichkeit die Liturgie zum Beiwerk degradieren. Recht verstandene Kirchenmusik ist ein integrierender Bestandteil der Liturgie, darf also gar nicht fehlen. Kirchenmusik umgibt die heiligen Riten mit größerer Feierlichkeit. Aber noch mehr: sie darf auch anregen, aufregen und heilmachen. Der Mensch steht als Ganzes mit all seinen Sinnen vor Gott. Liturgie geht in die Irre, wenn sie sich scheut, auch die Sinne anzusprechen. Liturgie muß etwas bieten für Herz und Augen, für die Nase und die Ohren gleichermaßen. Und die Musik ist für sie Mittel und Verkündigung gleichermaßen. Und jetzt zu Mozart: eine Totenmusik als Auftragskomposition, wo man den Besteller vielleicht nicht – oder doch?, aber keinesfalls den Toten kennt — kann das die Ansprüche wahrer Kunst erfüllen? Eine Totenmusik, die bestens bezahlt wurde, und aus der die Witwe noch fünf Mal ein Geschäft schlagen wird..... Eine Musik, in der man Händel und Gossek ebenso zitiert findet, wie aus eigenen weltlichen Werken Passagen übernimmt, kann die den Anspruch einer wahren Kunst erfüllen? Ich möchte es keineswegs verneinen.

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Im Gegenteil. Das Mittel des Profanen und des Zitats wird zum Zweck der Religion. Denn auch Albert Schweitzer erkannte es wie Martin Luther: „Jede wahr und tief empfundene Musik, ob profan oder kirchlich, wandelt auf jenen Höhen, wo Kunst und Religion sich jederzeit begegnen können“. Ich deute den Introitus und Kyrie des Mozart-Requiems als Einheit von Praeludium und Fuge, als Einstimmung auf ein künftiges Leben, in dem das göttliche Gesetz regiert. Für mich ist die Sequenz „Dies irae“ ein schauriger Totentanz, das Vorbeiziehen der Wilden Jagd, die Konfrontation mit dem Bösen, das in „Recordare“ und „Lacrimosa“ einen Schimmer des unheimlichen Trostes vermittelt, nämlich daß Christus selbst uns abholen wird an der Himmelstür. Das Offertorium ist für mich die Darbietung dualistischer Gegensätze: da ist vom „rex gloriae“, dem König der Herrlichkeit, einerseits, und „profundo lacu“, einem tiefen See „in obscurum“, im Unheimlichen die Rede mit der im freundlichen As-Dur wiedergegebenen Bitte „Libera animas de ore leonis“- befreie die Seelen vom Rachen des Löwen... Ob Mozart religiös war? Bei manchem in Briefen Geschriebenen und daher nachweisbar hinterlassenen Gedanken könnte man zu zweifeln beginnen. Aber wahrhaftig ist seine Kunst allemal. Aber

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es steht uns nicht zu, daraus ein Urteil zu bilden. Genauso, wie uns nicht zusteht, ein Urteil zu bilden aus Tatsachen über Menschen, ohne in ihre Seele schauen zu können. Alle diese Seelen, unsere lieben Toten, schließen wir in unsere Gedanken ein, wenn wir jetzt Mozart’s Totenmusik zum Klingen bringen: möge sie als „musikalisches Opfer“ verstanden werden; möge diese Musik für Sie Bilder malen, Gedanken führen und Hoffnung ausstreuen: Hoffnung für all die, die mit dem Tod ringen und die der Tod im kommenden Jahr ereilt. Hoffnung, die uns auch Mozart nicht nur mit Tönen als „das Seine“ überliefert, wenn er in d dem berühmten letzten Brief an den Vater am 4. 4. 1787 schreibt: da der Tod/ genau zu nehmen/ der wahre Endzweck unsres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes! Und ich danke meinem Gott, daß er mir das Glück gegönnt hat und die Gelegenheit- Sie verstehen mich – zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennenzulernen. Ich lege mich nie zu Bette, ohne zu bedenken, daß ich vielleicht /so jung ich bin/ den andern Tag nicht mehr seyn werde – und es wird doch kein Mensch

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von allen die mich kennen sagen können, daß ich im Umgang mürrisch oder traurig wäre – und für diese glückseligkeit danke ich meinem Schöpfer und wünsche sie von herzen jedem Mitmenschen....

ZUR FREIHEIT BEFREIT Gedanken zur Johannespassion von J.S.Bach anläßlich einer Aufführung am 28.3.1998 in Schlägl

Will man der JOHANNESPASSION von Johann Sebastian Bach analytisch nachspüren, findet sich leicht, daß das Werk von einem Zentrum aus symmetrisch gestaltet ist. Nicht zufällig scheint mir, daß dieses „geistige und musikalische Zentrum“ der Choral Nr.22 „DURCH DEIN GEFÄNGNIS GOTTESSOHN MUSS UNS DIE FREIHEIT KOMMEN“ einnimmt. Johann Sebastian Bach – ein Befreiungstheologe? Ja. Auch ein Befreiungstheologe. Und das in keiner schlechten Gesellschaft und Tradition, wenn man auf Martin Luther’s „Von der Freiheit des Christenmenschen“ zurückgreifen darf. Der musikalische Mittelpunkt der Johannespassion bietet also auch eine versteckte Antwort auf die Frage: WARUM MUSSTE JESUS STERBEN?

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Weil Jesus uns mit seiner Liebe befreien wollte. Die Botschaft von der Freiheit ist nichts Neues. Schon der Apostel Paulus verkündet sie der Gemeinde von Galatien: ihr seid zur Freiheit befreit! Aber er fügt hinzu: „nur macht aus der Freiheit keinen Anlaß für die menschliche Selbstsucht, sondern dient einander in Liebe! Einer trage des anderen Last, nur so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen!“ Derselbe Paulus verkündet es der Gemeinde von Korinth: „Ja, alles ist euch erlaubt, aber nicht alles nützt, nicht alles baut eine Gemeinde auf!“ Paulus begründet die Freiheit des Christen mit dem Kreuze Christi. Als der Gottmensch am Kreuze festgehalten wurde durch die Sünde der Welt zur entsetzlichsten Unfreiheit, da geschah die Freiheit des Menschen von der Sünde, da geschah die Freiheit des Menschen zum christlichen Leben, in dessen Mitte das Wort Christi steht: „Wer mir nachfolgen will, der nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir!“ „Wer am Kreuz die Freiheit empfangen hat, der ist auch zum Kreuze befreit. Deshalb nimmt Paulus in Freiheit das Kreuz einer unermüdlichen Weltmission in Fasten, Nachtwachen und Schiffbrüchen, Gefängnissen....zur Befreiung der Menschheit auf sich.

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Damit ist das Gericht gesprochen über alle perverse Freiheit von heute. Deshalb sind wir gegen eine Freiheit, die puren Egoismus und enthemmter Willkür entstammt, die in sogenannter Liebe die Würde des Mitmenschen degradiert und ihn in seiner Seele verwundet, die ein christliches Leben angeht mit dem eleganten Kreuz, das nicht weh tut, die losgelöst ist von der Liebe des Kreuzes Christi Am Kreuze hat alle Freiheit ihr Ende, beim Kreuze aber beginnt alle Freiheit des Christen. Sie beginnt mit der ehrlichen Nachfolge Christi. Und sie ist eine Tat der Befreiung an der heutigen Zeit und Welt, an uns und unseren Mitmenschen. Sie ist die Tat Christi, genau dieselbe Tat, aber mit unserem eigenen Kreuz. Die Nachfolge Christi – sie verlangt zwar, sein Leben zu verlieren um Jesu willen, und eine Hingabe zu wagen, die sich vergißt und Torheit offenbart. Die Nachfolge Christi verlangt zwar, dem armen und nackten Christus nachzugehen, Luxus und Pracht nicht mitzumachen, bei der Anbetung des Goldenen Kalbes nicht dabei zu sein. Die Nachfolge Christi verlangt zwar, mit dem Todesschweiß auf der Stirn und mit den brechen-

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den Augen auf Golgotha die unvorstellbare und ermeßliche Schuld unserer ganzen Generation zu schauen und zu ahnen, um mit dem eigenen Lebensleid – nach Paulus -zu ergänzen, was am Leiden Christi zur Erlösung der Menschheit noch mangelt Hat es sich Gott abgewöhnt, seine Zornschalen über die Welt auszugießen? Wer hat seine Lebensleere ausgelotet? Wer hat das Verbrechen ausgelotet“ Wer hat das Ärgernis ausgelotet? Ist Sühne heute abhanden gekommen und überflüssig geworden? Bei aller Gnade Gottes, die um die Welt geht, und bei aller Gnade Gottes, die in den Kirchen angeblich stürmt — Welt und Kirche und Mensch werden erst dann aufatmen können, wenn genügend treues Leid in den Abgrund der Welt und die Spaltungen unserer Kirchen hineingeschüttet worden ist, wenn wir selber den Glauben wiedergewonnen haben, daß unser ganz gewöhnliches Alltagsleid, auch das winzige und schnell flüchtige überaus wertvoll ist, daß die Absicht Gottes gerade darin besteht, daraus Erlösung für die Welt und die Kirchen zu machen. Dann wird es nicht schwer fallen, mit Paulus auch zu sprechen „Mir wurde die Gnade verliehen, in

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einer Zeit, da die Hölle losgelassen ist, nicht nur zu glauben, sondern auch zu leiden. Wir sind befreit zum Kreuz. Zum Kreuz unserer Kirchen. Zum Kreuz der christlichen Sittlichkeit. Zum Kreuz der christlichen Hoffnung und Treue. Zum Kreuz körperlicher Krankheit und eines Todes mit Gott. Wir sind zum Kreuz befreit – zum Heil, zur Existenz unserer Zeit und unserer Generation. Laßt uns mit Bach im Herzen aufrichtig singen: DURCH DEIN GEFÄNGNIS GOTTESSOHN IST UNS DIE FREIHEIT KOMMEN DEIN MARTER IST DER GNADENTHRON, DIE FREIHEIT ALLER FROMMEN UND GINGST DU NICHT DIE KNECHTSCHAFT EIN, MÜSST UNSRE KNECHTSCHAFT EWIG SEIN.

TOD UND AUFERSTEHUNG Predigt, gehalten am 24.11.1998 anläßlich einer Aufführung meines „Requiem für einen unbekannten Toten“

Es ist nicht von ungefähr, daß uns im November, wenn auch die Natur ihr Sterben vorführt, uns der Gedanken an Tod und Sterben führen.

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Wir fragen: war das alles, oder gibt es eine Auferstehung zum Leben? Und mancher stirbt mit dem ängstlichen Wunsch: „Ich möchte sterben, aber ich weiß nicht wohin.“ In Begegnung mit dem Tod nehmen wir wahr, wie unsere Pläne und Hoffnungen an ihr Ende gelangen. Und zugleich suchen wir nach einer Hoffnung, die weiter reicht als der Tod. Für Menschen vieler Jahrhunderte war die Auferstehung der Toten am Ende der Zeiten das Bild, mit dem sie ihrer Hoffnung über den Tod hinaus Ausdruck verliehen. Trotzdem sind es nüchterne Zahlen, wenn man hört in Deutschland glauben nur 30% aller Christen an die Auferstehung der Toten. In der Tat hat dieser Glaube nicht nur eine tröstliche, sondern auch eine tödliche Seite. Mit dem Hinweis auf die Auferstehung am Jüngsten Tag hat man über viele Jahrhunderte die Gläubigen vertröstet, und mit der Vertröstung auf das Jenseits hat man sie – auch in der Kirche – unterdrückt und ausgebeutet, ja getötet. Hinzu kommt ein Zweites, was uns allen den Zugang zum Auferstehungsglauben erschwert: Auferstehung ist etwas, was sich unserer Vorstellung entzieht. An eine Wiederbelebung der toten Leiber denkt vermutlich niemand. Aber was sonst

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mit Auferstehung? Ein Auffahren der Seele zu Gott? Ein Leben in einem neuen Leib? Erwarten Sie von mir bitte keine Antwort. Auch mir ist das Bild von der Auferstehung der Toten ein wichtiges und tröstliches Bild, aber auch ich teile die Schwierigkeiten, dieses Bild konkret zu füllen. Höre ich das Wort Jesu in der Erzählung des Auferweckung des Lazarus an Martha. „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird nimmer sterben“, dann merke ich, daß Jesus sich nicht einläßt auf meine unsicheren Vorstellungen vom Jenseits. Er lenkt den Blick weg von der Spekulation über den Jüngsten Tag. In ihm selbst begegnet mir ewiges Leben. In ihm selbst strahlt der Morgenglanz der Ewigkeit in die Welt. Er selbst sagt neues Leben zu, und ich spüre wie der Hauch des Todes verweht und wie ein neuer, reinigender Wind durch mein Leben fährt. Ich will versuchen, ein Fenster des Glaubens zu öffnen, – wie für mich spürbar – dieser Wind der Auferstehung weht. Ich machte einen Besuch bei Aids-Kranken an einem Salzburger Krankenhaus. Auf dem Weg zur Station – es war schon später abends – führt man einen Toten vorbei. Ich bleibe stehen. Ich nicke dem Pfleger zu, ich verweile, schiebe das Linnen zu Seite und verabschiede mich von einem Menschen, dessen Namen ich nicht einmal gekannt

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habe. Er hatte ein so befreites, seliges Lächeln noch im Gesicht. Da wehte für mich spürbar der Wind der Auferstehung. In diesem Windhauch erkenne ich Christus, der aufgestanden ist gegen alles, was das Leben bedroht. Ich erkenne im Hauch der Auferstehung den, der seinen Aufstand für das Leben selbst mit dem Tod bezahlte. Ich erkenne den Rebell für das Leben, dem Gott selbst in der Auferstehung an Ostern zu seinem Recht verholfen hat. In der Begegnung mit ihm beginnt für mich die Auferstehung und das Leben. Und wenn er sagt: ICH BIN DIE AUFERSTEHUNG UND DAS LEBEN, WER AN MICH GLAUBT, DER WIRD LEBEN, AUCH WENN ER STIRBT, dann ist das eine Einladung, mich einzulassen auf seinen Aufstand für das Leben. Eine Aufforderung, mitzukämpfen in dem Kampf für das Leben, in dem er selbst gefallen und aus dem er siegreich auferstanden ist. So werden alle, die an diesen Christus glauben zu Aufständischen, zu Rebellen des Lebens, zu Protestleuten gegen den Tod. Und gemeinsam mit den Glaubenden erfahre ich ewiges, jenseitiges Leben – hier und heute. Von ihm auferweckt, in der Begegnung mit auferweckten Menschen. Es schließt sich der Kreis: Auferweckt durch den Windhauch der Auferstehung Christi, im Glauben teilnehmend an seinem

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Aufstand für das Leben, kann ich getrost leben – ohne Furcht vor dem Tod. Ich weiß, daß der Herr, der selbst die Auferstehung und das Leben ist, mich immer wieder auferweckt in meinem Leben, und daß er über den Tod hinaus bei mir sein wird. Ich weiß, daß der Wind der Auferstehung auch dort noch wehen wird, wo ich nur den Hauch des Todes wahrnehme.

ZUR JOHANNESPASSION Predigt zu einer Aufführung der Johannespassion in der Stiftskirche Melk am 16.4.2000

Wie ein Drama baut sich die Johannespassion – beim Evangelisten und erst recht bei Bach auf. Es ist gleichgültig, wie die Akteure im Szenarium der Johannespassion heißen – sie hausen in uns allen: Da gibt es die Rechner, die Judas – Menschen. Wieviel ist ein Mensch wert? Um wieviel kann ich ihn verkaufen? Da gibt es Leute in der Art des Petrus, die Pragmatischer. Sie bestehen darauf, in jeder Situation alles zu wissen, was zu tun ist. Haben Zepter oder

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Schwert in der Hand, sie sitzen auch auf einem Ministersessel oder einem Kirchenthron. Sie verletzen, aber lösen kein einziges Problem. Dann sind da welche vom Schlag des Hannas und Kaijaphas: die Diplomaten vom Dienst und Logiker der Geschichte. Immer ist es besser, daß ein einzelner stirbt, um großen Schaden zu verhindern. Sie sind klug, bewaffnet mit guten Argumenten. Aber ihr Herz ist verreist. Dann sind da die Pilatus-Ähnlichen. Sie verwalten Macht, ohnmächtig selber und mit Angst besetzt. Am Ende bekommen sie es immer fertig, schuldlos auf dem Richterstuhl zu sitzen. Man braucht weder Charakter noch Überzeugung, noch Innerlichkeit, um auf Lithostrotos Gericht zu halten... Man trifft also in der Passionsgeschichte keine andere Welt als die unsere eigene... Immer wird es die Rechner, die Logiker, die Zyniker, die Ordentlichen geben, und ihr Zusammenspiel ist unser Leben – oder erst recht: unser Tod. Am Ende kommen die Mechaniker, die ausführenden Organe, die das Denken unter den Stahlhelmen endgültig vergraben haben. Die Frage in dieser Stunde ist, woran glauben wir angesichts eines Lebens, das die Rücksichtnahmen

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nicht mehr verdient, die wir ihm gegenüber aufbringen. Es stand eine Gruppe von Frauen unter dem Kreuz, und es warteten auf den Gestorbenen zwei Männer, die wissen, daß der Geist weht, wo er will, und daß das Leben dem Tod entrissen werden kann: Nicht Menschen und Umstände werden weiter Angst machen können, daß man darüber sich selbst und was man liebt verleugnen möchte. Es wird einen Raum der Sensibilität geben, wo nichts mit dem Schwert entschieden wird, aber mit der Kraft des Zuhörens, des Verstehens, der langsam reifenden Geduld und der Güte; wo es keiner Rechtfertigungen mehr bedarf, aber einer Blickweise, die Not und Angst gerade bei denen zu sehen, die sich so groß machen und stark da stehen und vielleicht am meisten ausgeliefert sind: sich selbst und den eigenen Umständen. Es wird aber die Allmacht der Umstände nicht mehr geben, das Verschachern von Menschen nach einer übergeordneten Logik wird ein Ende haben, wenn man begriffen hat, wie wunderbar ein jeder Mensch in sich selber ist. Ihm zu dienen ist wichtiger als höheren, abgeleiteten und dem Menschlichen ferneren Zwecken.

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Sich zu beugen vor der Majestät des Menschen neben uns lehrt uns die Liebe, und sie kann nicht sterben. Deshalb ist Zeuge des Todes Jesu zu werden ein langsames Begreifen einer unzerstörbaren Herrlichkeit. Was denn fürchten wir, zum Teufel, WAS fürchten wir? Um unseren verdammt lächerlich guten Ruf fürchten wir, um ein paar lausige Jahrzehnte Leben auf der Erde fürchten wir, um unsere Heilheit und Gesundheit und den Wanst unseres Geldbeutels fürchten wir. Aber sind das wirklich Dinge, die man fürchten muß und die Werte darstellen, wenn man entdekken kann, welche Macht der Verzauberung in der Liebe ruht, welche Phantasie in unseren Herzen, welche Großmut in unseren Köpfen? WER denn hat ringsum eigentlich das Sagen und zu bestimmen? Ängstlich ist der Typ Pilatus, korrupt die Männer Kaiphas und Hannas, unzuverlässig Begleiter wie Petrus: nicht wert, sich damit aufzuhalten, auch Leute von der Art des Judas. Also: Sie werden doch nicht widerlegen, was es im Leben gibt an Verbundenheit der Liebe, der Freund-

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schaft und der universellen Brüderlichkeit des Reiches Gottes. Der Glaube ist stärker als das Zeugnis der Sinne und das Kreuz ist kein Kreuz, sonder Beginn des Lebens und Zeichen der Freiheit, die heute noch beginnen kann, jetzt in dieser Stunde — oder ganz buchstäblich nie.

SILVESTERNACHT 1999 Predigt zu einer Aufführung von Weihnachtsoratorium IV+V

Ob Bach für den sogenannten Jahrtausendwechsel, den wir letztlich erst in 366 Tagen richtig begehen werden, eine Kantate komponiert hätte? Ich zweifle. Als orthodoxem Lutheraner ist ihm wohl der Gang des Kirchenjahres nähergestanden als die Einteilung des bürgerlichen Jahres. Uns hat die Säkularisation längst ergriffen. Wir müssen Schritt halten mit dem Sog der Zeitgenossen. Umso mehr freut es mich, daß Sie unserer Einladung gefolgt sind, den – subjektiv bedeutsamen – Wechsel der Jahre 1999/2000 mit nicht nur irgendeiner Musik zu begehen, sondern mit Bach’s theologisch besetzten Tönen.

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Sie wissen sicher, daß das „Weihnachtsoratorium“ nur ein Titel für die Sammlung aller Kantaten der sechs Weihnachtsfeiertage ist. Wir haben für heute Nacht die Kantate Nr.4 zum morgigen Fest der Beschneidung und die Kantate Nr.5 zum Sonntag nach dem 1. Jänner gewählt. Drei Imperative durchziehen die Texte dieser Abschnitte. Fallt mit Loben, fallt mit Danken Jesu, richte mein Beginnen Ehre sei Dir Gott gesungen Ich möchte diesen drei Imperativen drei Gaben gegenüberstellen, die Gott für uns zum Jahreswechsel bereit hält. 1. Gott schenkt die Chance eines neuen Anfanges. Wir dürfen wieder und noch einmal anfangen – zu leben, zu arbeiten, zu lieben, zu beten, zu hoffen, zu streben. Das Motiv Gottes ist seine Langmut: er gibt uns eine Chance zu einem geordneteren und betonteren Leben als Christen Unser Motiv ist die Armut unseres bisherigen Lebens. Wir haben den Wünschen Gottes zu wenig entsprochen. Dem radikalen christlichen Leben sind wir ausgewichen. Weil wir zu feige waren, das Evangelium zu verwirklichen? Weil wir zu wenig Feuer in uns hatten für die Liebe zu Christus? Weil wir unsere Begeisterungsfähigkeit anstelle für Christus geopfert haben für moderne Dinge, um sich anzupassen?

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Gott legt den neuen Anfang in unseren Verstand. Nüchtern sagt er aus, was klug ist: Daß wir glücklicher leben, wenn wir tiefer leben. Daß wir zufriedener sind, wenn wir uns selbst als Christen bestätigen können Wir dürfen noch einmal anfangen zu leben, zu arbeiten, zu lieben, zu beten, zu hoffen, zu streben... 2. Gott gibt uns die Zeit. Ob uns Gott ein ganzes Jahr Zeit gibt nach dem Wechsel der Jahre, weiß keiner. Aber Gott gibt Zeit. Habe das nicht viele unserer Zeitgenossen vergessen? Sie glauben, die Zeit gehöre ihnen. Deshalb pressen sie aus ihrer Zeit das Letzte heraus. Deshalb haben sie keine Zeit für ihre Mitmenschen, und noch weniger für ihren Gott. Aber Gott gibt Zeit: eine Zeit zur Arbeit und Zeit zur Muße, Zeit zum Glück und Zeit zum Weinen, Zeit zur Liebe und Zeit zur Reue, Zeit zum Tanz und Zeit zum Kranksein, Zeit der Jugend und Zeit des Alters, Zeit zum Beten und Zeit zum Wandern. Gott gibt die Zeit. Immer ist es seine und unsere Zeit. Niemals unsere Zeit allein. Deshalb soll unsere Zeit immer Bezug haben auf Gott. Nur zu zwei Dingen gibt Gott keine Zeit: zur verlorenen Zeit und zur Sünde. Diese Zeit hat sich der Mensch von Gott geraubt.

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Gott legt die Zeit in unseren Willen. Wer will, hat Zeit. Und die Menschen brauchen von uns heute viel Zeit. Viele klagen, weinen, oder sind verstummt, weil niemand für sie Zeit hat. Heute ist es ein echtes und sehr wichtiges Apostat, Zeit zu haben für die Mitmenschen. Wir haben nicht zu jeder Zeit Zeit, aber wir haben Zeit. 3. Gott gibt zum Jahreswechsel den Namen Jesus. Der Name Jesus hat große Wirkung. Wir lernen im Laufe des Lebens viele Namen kennen, auch Namen, die wir am liebsten vergessen möchten. Aber dem Namen Jesus haftet in der Erinnerung nichts Böses an. Er ist der Inbegriff einer anderen, besseren, vielleicht verlorenen Welt. Shakespeare ruft einmal aus. „Was ist ein Name?“ Und seine Antwort: „nichts als Schall und Rauch“ mag für Millionen Menschen gelten. Sie gilt nicht für den Namen Jesus. „Es wurde ihm der Name Jesus gegeben“ – das ist lange her, aber jeder kennt ihn. Gott legt den Namen Jesus in unseren Mund. Er ist Trost, Kraft, Hoffnung, Sündenvergebung. Mit dem Geschenk des Anfanges im Verstand, dem Geschenk der Zeit in unserem Willen und dem Geschenk des Namens Jesu in unserem Mund können wir unser Herz bereiten für eine Pilgerschaft in das neue Jahr.

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Lassen wir es mit Johann Sebastian Bach sprechen: Erleucht’ auch meine finst’re Sinnen, erleuchte mein Herze durch der Strahlen klaren Schein. Dein Wort soll mir die hellste Kerze in allen meinen Werken sein; dies lässet die Seele nichts Böses beginnen.

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V.

ALS NACHSCHLAG: BACH’S SPRÜHENDEM GEIST AUF DER SPUR

„Wer Ohren hat, der höre!“ 179


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JOHANN SEBASTIAN BACH’S JOHANNESPASSION: LITURGISCHER STANDORT UND FORMALE ÜBERLEGUNGEN

Als Beitrag zur Festschrift „30 Jahre Institut für Liturgiewissenschaft der Universität Salzburg“

Schon die Eintragung in die Partitur mit „prima parte: vor der Predigt“ und „seconda parte: nach der Predigt“ weist deutlich auf die liturgische Bestimmung der „Johannespassion“ von Johann Sebastian Bach hin.1 Der „Sitz im Leben“ der Bachpassion soll mit nachstehenden Zeilen ebenso gewürdigt werden, wie ihre musikalische Qualität mittels der Anführung einiger exemplarischer Details aus musikologisch – theologischer Sicht. 1

Es existiert eine sogenannte „Originalpartitur“ im Besitz der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (Signatur Mus. ms. Bach P 28), die mit insgesamt 92 Seiten im ersten Teil (Seite 1 – 20) von Bachs eigener Hand, im Rest (Seite 21 – 92) vom nicht näher bekannten Hauptkopisten „H“ stammt. Näheres dazu, und auf die hier nicht näher behandelbaren „Fassungen“ bei Ulrich Prinz, Zur Entstehungsgeschichte der Johannespassion und ihrer Fassungen, in: Johannespassion, Schriftenreihe der internat. Bachakademie Stuttgart, Hg. Ulrich Prinz, Band 5, Stuttgart – Kassel 1993, 100ff.

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Der Gottesdienst in Leipzig im 18. Jahrhundert Als Hauptquellen sind hierfür anzusehen: der im Titel so genannte „Leipziger Kirchenstaat“ aus dem Jahre 1710, erhalten in der Universitätsbibliothek Halle 2, sowie die „Leipziger Kirchenandachten“ aus dem Jahre 1694 im Stadtgeschichtlichen Museum in Leipzig3, die beide ein recht anschauliches Bild vom gottesdienstlichen Leben in den Hauptkirchen St. Thomas und St. Nicolai vermitteln. Dazu fügt sich die „Neo annalium Lip-

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Leipziger Kirchen-Staat / Das ist, Deutlicher Unterricht vom Gottes-Dienst in Leipzig / wie es bey solchem so wohl an hohen und anderen Festen / als auch an denen Sonntagen ingleichen die gantze Woche über gehalten wird / Nebst darauff eingerichteten Andächtigen Gebeten und denen dazu verordneten Teutsch- und Lateinischen Gesängen. Welchem zuletzt noch mit beygefüget Geistreiche Morgen- und Abend-Segen auf jeden Tag in der Woche (Leipzig 1710).

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Leipziger Kirchen-Andachten: Darinnen der Erste Theil, Das Gebetbuch oder die Ordnung des gantzen öffentlichen Gottes-Dienstes durchs gantze Jahr / Nebst Gebet / Fürbitt, Collecten / Dancksagungen / Abkündigungen.. oder was sonst an Sonn- und Fest-Tagen / Wochen – Predigten und Betstunden... vorkömmt, begreiffet / Der Ander Theil, Das Gesangbuch, In welchem Alle Lieder, nebst einem Anhang der Lateinischen Hymnorum und Collecten etc. so allhier verwendet gebraucht werden.. Mit Chur-Fürstl. Sächs. Privil. (Herausgegeben von Johann Friedrich Leibniz, Leipzig 1693.)

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sensium Continuatio II“ von Christoph Ernst Sicul aus dem Jahre 1727.4 Ergänzt und untermauert werden die vorangestellten Grundlagen durch die Handschriften des Küsters der Thomaskirche Johann Christoph Rost:5 er war studierter Theologe und zwischen 1716 und 1739 (also den größten Teil der Amtszeit von Johann Sebastian Bach als Thomaskantor) Thomasküster. Sein ausführliches Merkbuch über die zahlreichen Andachten und Gottesdienste der Sonn- und Feiertage wurde von seinen Nachfolgern bis in die Zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts weitergeführt und vermittelt den Beweis, daß man die in den Hauptquellen beschriebene detaillierte liturgische Gestaltung der Gottesdienste nahezu unangetastet bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts tradiert hat. Es mag genügen, hier festzuhalten, daß in Zusammenschau der genannten Berichte, der verschie-

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Christoph Ernst Sicul, Neo annalium Lipsensium Continuatio II. Oder des mit dem 1715ten Jahre Neuangegangen Leipziger Jahrbuches Dritte Probe (1717). Auch auf Sicul’s „Jahres-Geschichte 1721“ (Leipzig 1723) sei hingewiesen.

5

Nachricht, Wie es, in der Kirchen zu St. Thom allhier, mit dem Gottesdienst, Jährlichen sowohl an Hohen Feste, als anderen Tagen, pfleget gehalten zu werden, aufgezeichnet von Johann Christoph Rosten, Custode ad D. Thomae, anno 1716 (Archiv Stadtmuseum der Stadt Leipzig).

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denen Gesangbuchausgaben und ihrer Neuauflagen, der Eindruck berechtigt ist, Johann Sebastian Bach tritt mit seinem Amtsantritt als Thomaskantor in eine lebendige Gottesdienstwelt ein, die getragen war von lutherisch-orthodoxer Frömmigkeit, fernab von Erstarrung und Versteinerung, wohl aber im Gegensatz zu der an der Universität Leipzig mit immer größerer Intensität beworbenen Aufklärung. 6 In Leipzig begann die Serie der sonntäglichen Gottesdienste um 5 Uhr früh mit dem Mettenläuten in St. Nicolai, worauf zehn bestellte Choralisten – dies waren Studenten, die dafür besondere Stipendien des Rates der Stadt empfingen – unter Leitung des Nicolaikantors in lateinischer Sprache die Matutin sangen. Um 6 Uhr folgte in St. Johannis die Predigt des „ordentlichen Pastors“ über das entsprechende Evangelium, woran sich 14-täglich das „Amt“ anschloß. Um 7 Uhr begann in St. Thomas und St. Nicolai die „Frühpredigt“, der eigentliche Hauptgottesdienst, der stets mit Abendmahlausteilung gehalten wurde, und „bisweilen wol bis XI Uhr“ dauerte. In St. Jacobi und in der soge-

6

Mit Personen wie Christian Wolff, Johann Christoph Gottsched, Johann Abraham Birnbaum, Lorenz Christoph Mizler, Johann August Ernesti und Christian Fürchtegott Gellert war die Universität Leipzig zur Bach-Zeit ein Mittelpunkt der Aufklärung in Sachsen.

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nannten Neu-Kirche begannen die Gottesdienste auch um 7 Uhr. In St. Petri und St. Georgen war der Hauptgottesdienst um 8 Uhr, in St. Pauli um 9 Uhr. Um 11.30 Uhr wurde zum Mittagsgottesdienst geläutet, auch als „Mittagspredigt“ bezeichnet: er fand nur in einer der beiden Hauptkirchen (St. Thomas und St. Nicolai) statt, wobei man Sonntag für Sonntag zwischen den beiden Gotteshäusern abwechselte, nur an großen Festtagen fand er in jeder der beiden Kirchen statt. Dazu gab es besondere Regelungen für die „zweiten“ Feiertage der Hauptfeste. Zur Zeit Bachs dauerte ein Mittaggottesdienst eineinhalb Stunden, wurde also um 13.15 Uhr beschlossen. Aber auch die Nachmittage aller Sonn- und Festtage boten im gesamten 18. Jahrhundert Gottesdienste und Andachten an. In St. Thomas, St. Nicolai und der Neu-Kirche wurde – wie schon seit der Reformationszeit üblich – schon um 13.15 Uhr zur Vesper-Predigt eingeladen, an die sich – mit Ausnahme an gewissen Festtagen – das „CatechismusExamen“ anschloß. Zur Zeit Bachs soll dieser Gottesdienst in St. Thomas um 14 Uhr begonnen haben und ebenfalls wenigstens bis 16 Uhr gedauert haben. In der Regel wurde dabei über die Epistel des kommenden Sonntages gepredigt. Die vorgegebene Ordnung lautete folgendermaßen:

185


Geläut – Orgelpräludium – Motette – Lied nach Beschaffenheit der Zeit – Psalm: am Pult gelesen – Vaterunser durch den Pfarrer – Gewöhnliches Betstunden-Gebet – Lied des Sonntags („mit dem letzten Vers gehet der Priester auf die Cantzel/ ohngefähr um 2 Uhr“) – Antritt der Predigt (Kanzelgruß) – Gemeinde: „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend“, oder ein anderes Lied nach Beschaffenheit der Zeit – Vaterunser, still gebetet – Verlesung der Sonntagsepistel („um 3 Uhr pfleget der Priester zu schließen“) – Gebete wie früh, doch unter Auslassung der Kirchenbeichte – Fürbitten und Danksagungen, wie früh, keine Abkündigungen – Kanzelsegen – Praeambulum auf der Orgel zum Magnificat – Magnificat lateinisch oder deutsch – Versikel (nach geendigten Lobgesang intoniren die Schüler auf den Chor ein Responsorium, so sich auf die Zeit schicket) – Collectengebet – Segen – Nun danket alle Gott. In St. Petri wurde um 14 Uhr „von der Cantzel ein Kapitel aus heiliger Schrifft erkläret“. In St. Johannis war ebenfalls um 14 Uhr ein „erbauliches Catchismus-Examen“, und in St. Pauli fand um 15.15 Uhr der Vespergottesdienst statt. Womit man auf eine stattliche Zahl von 14 lutherischen Gottesdiensten in Leipzig an Sonn- und Feiertagen kommt.

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Auch an Wochentagen war das Angebot reichlich. Stellvertretend sei beispielsweise ein Donnerstag herausgegriffen: da war um 6. 30 Uhr Frühgottesdienst mit Predigt und Hl. Abendmahl in St. Thomas, um 14 Uhr kleine Betstunde mit Buß-Vermahnung in St. Nicolai, um 14 Uhr Katechismusund Bibelexamen in St. Petri und schließlich um 15 Uhr Betstunde oder Buß-Vermahnung in St. Johannis.7 Diese Darstellungen vermögen also die Reichhaltigkeit gottesdienstlicher Kultur in der Stadt Leipzig nur anzudeuten. Als Johann Sebastian Bach sich um das Amt eines „Musikdirektors“ der Stadt Leipzig bewirbt, tut er dies wohl im Bewußtsein, daß ihm hiermit am Orte die Tradition lutherischer Orthodoxie gewährleistet werden konnte. Dieses Amt beinhaltete neben der Spitze des weitverzweigten Musikwesens der Stadt die Kompetenz des umfangreichen Musikdienstes sowohl an St. Thomas als auch an St. Nicolai, sowie eines Musiklehrers an der Thomasschule. Darüber hinaus hat man zu bedenken, daß es sich dabei um ein

7

Die Zusammenstellung dieser Ordnungen ist sehr gut nachzulesen in: Günther Stiller, Johann Sebastian Bach und das Leipziger gottesdienstliche Leben seiner Zeit. Kassel – Basel 1970.

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hochbedeutsames, weit über die Grenzen Sachsens hinaus begehrenswertes Amt gehandelt hat. 8 Passionen im Leipziger Gottesdienst Schon in der Passionszeit, die in Leipzig mit dem Sonntag „Invocabit“ (dem katholischen ersten Fastensonntag) begann, predigte man im Vespergottesdienst anstelle über die Episteln über die Passion.9 Im Hauptgottesdienst am Sonntag Palmarum, welcher um 6.30 Uhr begann, wurde in St. Nicolai an Stelle des Evangeliums die „gantze Passion aus dem Evangelisten Matthäo abgesungen“.10 Dies geschah von einem Pult im Altarraum aus mit verteilten Rollen, nämlich einem Alumnus als Evangelisten, einem Diacon als Christus, die Tur8

Vgl. Stiller, 178f und dort der Hinweis auf Arnold Schering, Musikgeschichte Leipzigs, Band 2. Leipzig 1926, 43, der schreibt, daß der Ausdruck „Thomaskantor“ für Bach unrechtmäßig gebraucht wird. Vielmehr war in Bachs gesamter Leipziger Amtszeit die Nicolaikirche die erste Hauptkirche, weil der Superintendent S. Deyling dort amtierte, und überhaupt Bach’s musikalische Aufgaben sich weit über ein Kantorat hinaus erstreckten, was seinen aus eigener Hand angeführten Berufstitel „Director musices“ rechtfertigt.

9

Leipziger Kirchen-Andachten..., 58 und Leipziger Kirchen-Staat..,34.

10

Handschrift Rost, 17.

188


bae sang der Chor, und andere redende Personen wurden durch Mitschüler des Alumnus besetzt. Dabei wurde auf die (außer den Turbae, welche mehrstimmig gehalten sind) weitgehend einstimmig angelegte Vertonung des Passionsberichtes von Johann Walter von ca. 1530 zurückgegriffen, wie sie im Leipziger Kirchengesangbuch 1682 nochmals abgedruckt ist.11 Der Küster Rost notierte dazu, daß „der Priester mit den Schülern“ die Passion sang.12 Im Anschluß daran erklang die Motette „Ecce quomodo moritur justus“ von Jacobus

11

Gottfried Vopelius, Neu Leipziger Gesangbuch, von den schönsten und besten Liedern verfasset. In welchem nicht allein des sel. Herrn D. Lutheri und andere mit Gottes Wort / und unveränderter Augsburgischer Confession übereinstimmende / und in Christlicher Gemeine allhier / wie auch anderer reinen Evangelischen Orten und Landen eingeführete und gebräuchliche Gesänge / Lateinische Hymni und Psalmen / Mit 4. 5. bis 6. Stimmen / deren Melodeyen theils aus Johann Hermann Scheins Cantional, und anderen guten Autoribus zusammen getragen theils aber selbsten componiret; sondern auch die Passion nach den heiligen Evangelisten Matthaeo und Joanne / die Auferstehung / die Missa, Praefationes, Responsoria und Collecten / auf die gewöhnlichen Sonnund hohen Festtage / das Magnificat nach den 8. Tonis, Te Deum laudamus, Symbolum Nicaenum, etc. Choraliter, Und was sonsten bey dem ordentlichen Gottesdienst gesungen wird / zu finden. Leipzig 1682. Die Passionen findet man S. 179 – 227.

12

Handschrift Rost, 17.

189


Gallus, die ebenfalls im gesagten Gesangbuch abgedruckt ist.13 Am Karfreitag ist für St. Nicolai bezeugt, daß im Hauptgottesdienst ebenfalls statt des Evangeliums die Passion gesungen wurde in ähnlicher Form wie am Palmsonntag, nach dem Evangelisten Johannes, die Christusrolle übernahm ein Subdiacon. Die Predigt im Hauptgottesdienst wurde „Wechselweise ein Jahr um das andere / über das 53. Ca. Esaiae und den 22. Psalm gehalten“.14 Die Karfreitagsvesper in den Leipziger Hauptkirchen Lange Zeit wurde am Karfreitag der Vespergottesdienst „allein in der Kirche zu S. Thomas“15 abgehalten. Seit 1723 war allerdings auch in St. Nicolai ein regelmäßiger Vespergottesdienst, der durch eine Stiftung der Juwelierswitwe Koppy ermöglicht wurde. (Diesen ersten hielt der Superintendent Salomon Deyling selbst.) 1721 war in St. Thomas dabei eine in Musik gesetzte Passion zu hören, und zwar die Markuspassion des BachVorgängers Johann Kuhnau, welche auch 1722 13

Leipziger Gesangbuch 1682 (vgl. Fußnote 11), S. 263ff.

14

Leipziger Kirchen-Staat.., 25 und Leipziger KirchenAndachten.., 61f.

15

Leipziger Kirchen-Staat.., 26.

190


und 1723 wiederholt wurde. 1724 beanspruchte der Rat der Stadt Leipzig eine figurale Passion für St. Nicolai und von da an im Wechsel der beiden Hauptkirchen. Küster Rost erwähnt extra, daß 1736 diese Passionsmusik „mit beydn orgeln“ gehalten wurde.16 Für die Neukirche gibt es bereits 1717 ein Zeugnis einer in der Liturgie musizierten Figuralen Passion17. Bevor auf die Agende der Karfreitagsvesper eingegangen wird, soll noch kurz festgehalten sein, daß es in anderen Städten durchaus zu außerliturgischen Aufführungen von Passionsmusiken kam, sogenannten Passionsoratorien. Dem diente beispielsweise die Textvorlage „Der Blutige und Sterbende Jesus“ von Christian Friedrich Hunold (1681 – 1721)18, oder das öfter aufgegriffene Libretto „Der für die Sünde der Welt Gemarterte und Sterbende Jesus“ des Hamburger Ratsherrn Barthold Heinrich Brockes. Schließlich hat auch sogar Christian Friedrich Henrici (Picander) mit „Er16

Alles in Handschrift Rost, 24.

17

Martin Petzold, Bachs Passion als Musik im Gottesdienst, in: Johannespassion, Schriftenreihe der internat. Bachakademie Stuttgart, Hg. Ulrich Prinz, Band 5, Stuttgart – Kassel 1993, 52.

18

Die wohl bekannteste Vertonung stammt von Reinhard Kaiser.

191


bauliche Gedanken Auf den Grünen Donnerstag und Charfreitag Uber den Leidenden Jesum, Im einem Oratorio entworffen von Picandern. 1725“ eine solche Vorlage geschaffen.19 In Leipzig ist von solchen außerliturgischen Aufführungen vor und zur Zeit Bachs nichts bekannt. In Hamburg kannte man den Wechsel von Johannes-, Lukas- und Johannespassion u. a. am Palmsonntag, am Karfreitag die ständig wiederkehrende Matthäuspassion in den Vertonungen durch Telemann, auch davon ist in Leipzig nichts bekannt.20 Die Karfreitagsvesper wurde – verglichen mit dem üblichen Sonntagsvespergottesdienst – um wesentliche Elemente gekürzt. So weiß man folgendes Schema für die Thomaskirche in Leipzig vor dem Jahre 1721:21 Geläut – Motetten – Lied „Da Jesus an dem Kreu19

Ob Bach sich mit dieser Textvorlage (immerhin „seines“ Dichters von Kantatenjahrgängen) auseinandergesetzt hat, ist vielfach diskutiert worden, kann aber nicht beantwortet werden. Vgl. Alfred Dürr, Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach, Kassel 1988, 145.

20

Vgl. u. a. das Beiheft zur Schallplattenedition von G. Ph. Telemann, Matthäus-Passion (1730) unter Leitung von Kurt Redel, Telefunken, o. J. (ca. 1970).

21

Zusammenstellung bei Petzold, 60.

192


ze stund“ – Antritt der Predigt – Lied „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend“ – Verlesung der „Historia vom Leiden Christi Grablegung“ von Johannes Bugenhagen22 – Predigt – Kanzelsegen – Motette „Ecce quomodo moritur justus“ – Lied „O Traurigkeit, o Herzeleid“ – Collectengebet – Segen – Nun danket alle Gott. Das bedeutet, daß Psalm, Vaterunser und Betstundengebet vor der Predigt und Gebet sowie Magnificat nach der Predigt wegfielen. Das Manuale der Nicolaikirche bezeugt von nicht mehr bestimmbaren Zeiten an die Predigt über das Begräbnis Christi. Auch die Leipziger Kirchenandachten von 1694 erwähnen für die Thomaskirche die Predigt über diesen Teil des Passionsgeschehens. Die Historia von Bugenhagen war eine sogenannte Passionsharmonie, deren Textauswahl aus allen vier Evangelisten einen Bericht zusammenstellte. Der gelesene Abschnitt war beschränkt auf die Schilderung der Kreuzabnahme bis zu den Frauen am Grabe und dem Versiegeln desselben. Für 1721 überliefert der Küster Rost den bemerkenswerten Eintrag „Ao. 1721 ward am Charfreytag in der Vesper die Passion zum 1st mahl

22

Vollständiges Kirchen-Buch, Leipzig 1718, 340ff.

193


Musicirt, np. 1. viertel auf 2. wurde gelautet mit dem gantz gelaute, als ausgelautet wurde auf dem Chor; das Lied gesung. da Jesus an dem Kreutze stunde p. dann ging gleich die musiziert Passion an, und war vor der Predigt halb gesungen, die Hälfte schloß sich mit dem Vers, o. Lamb gottes unschuldig, damit ging der Priester auf die Cantzel. auf d. Cantzel ward a. H. Jesu Christ dich zu uns wend gesungen. Nach der Predigt dann ging die andre Hellte der Music an, als solche aus, ward die Motete Ecce quomodo moritur justus p. gesungen, als dann der passions vers intoniret und Collect gesprochen. als dann Nun dancket alle Gott gesungen. It.:1723 eben also [was ein Schreibfehler sein muß, und 1722(!) meint]. Anno 1723 ward zum ersten Mahl die Vesper zu St. Nicolai gehalten, die Predigt hielt H. Superindenent H. D. Deyling, welche Fr. Koppin gestiftet. Anno 1724 wurd die Passion zu St. Nic. zum ersten mahl Musiciret p. Zu St. Thom. aber wurden nur Lieder gesungen, wie vor diesem gebräuchlich.23 Als Musik dieser drei nachgewiesenen „musizierten“ Passionen gilt die Markus-Passion von Johann Kuhnau als gesichert.24 23

Handschrift Rost, 23 und 24.

24

Petzold, 46.

194


Am Karfreitag 1724, dem 7. April, hat Johann Sebastian Bach seine Johannes-Passion („Fassung I“) erstmals in der Liturgie vorgestellt, welche dann zu St. Nicolai abgehalten wurde. Da es sich dabei um das erste Großwerk nach dem Magnificat, das in der Weihnachtsvesper 1723 erklungen war, handelte, darf man annehmen, daß sich Bach damit der Gemeinde in besonderer Weise präsentieren wollte: vielleicht darf man mit der Wahl des Johannestextes gemäß der lutherischen Ordnung ein Demonstrieren besonderer liturgischer Treue annehmen; ganz sicher auch das Hörbarmachen seines Könnens und seines Willens zur Verkündigung.25 Der Ansatz der Verkündigung in Bach’s Johannespassion Hat man sich mit der Musik Bach’s länger auseinandergesetzt, ist es auch für die Johannespassion unabkömmlich, davon auszugehen, daß die Mu25

Dürr, 15 – 22, und 141 seien hier als übersichtliche Zusammenstellungen genannt. Ebenfalls sei auf einen Artikel von Dürr hingewiesen: Alfred Dürr, Der Passionsbericht des Johannes in Bachs Deutung – aus der Sicht des Musikwissenschaftlers, in: Johannespassion, Schriftenreihe der internat. Bachakademie Stuttgart, Hg. Ulrich Prinz, Band 5, Stuttgart – Kassel 1993, 166 – 187. Dort u. a. auch die Spekulation, daß vielleicht schon 1723 eine Aufführung einer „Urfassung“ der Bach’schen Johannespassion in St. Thomas stattgefunden hat (S. 168).

195


sik vom Autor im Wesentlichen als Verkündigungsakt verstanden wird. Neben liturgischen Anliegen treten auch katechetische und dogmatische Ansätze zutage. Dies wird teilweise recht deutlich, sehr oft aber – und wer Bach’s Musik studiert hat, wird dies bestätigen – auch in „versteckter“ Weise, dem Kenner und Lernbegierigen sozusagen zwischen den Zeilen, vermittelt.26 Auch Stiller unterstreicht das beispielsweise für die Kantaten, wenn er hinweist, daß die Texte allein nicht beurteilt werden dürfen, sondern die Musik gehört und in ihrer Verkündigung ernst genommen werden muß, ja, daß Bach’s Kantatenmusik eine streng an die sonn- und festtägliche Liturgie gebundene Verkündigung schlechthin ist. Die Vorliebe für reines Bibelwort, und darunter ganz besonders für den Psalter, zeugen von Bach’s profunder Kenntnis auch der theologischen Materie; ebenso die große Anzahl vom Bibelerklärungen und Predigtsammlungen zum Alten und Neuen Testament in seiner Bibliothek.27 Mit der Johannespassion will sich Bach deutlich der Gattung der „Historia“ in der Passion zuwen26

Das Titelblatt des „Orgelbüchleins“ macht diesen Willen auch deutlich. „Dem höchsten Gott allein zu Ehren / dem Nächsten draus sich zu belehren“.

27

Stiller, 201, 204.

196


den und bleibt damit liturgischen Funktionen verpflichtet, während die Matthäus-Passion – allein schon durch die wesentliche Übernahme eines fertigen Librettos (Picander) – eher dem Passionsoratorium entspricht und zudem noch ganz andere Tendenzen damit verbunden sind; dies ist aber nicht Gegenstand dieser Abhandlung. 28 Schon das Exordium der Johannespassion exemplifiziert die Verbindung des Lehrhaften („Zeig uns durch deine Passion...“: vermutlich von Bach selbst getextet) mit johanneischer Theologie vom Königtum Christi („Herr, unser Herrscher.. “); überdies folgt Bach mit dieser Textwahl der damals in Kursachsen üblichen Eröffnungsformel über das Kollektengebet, die nach dem Dresdener Gesangsbuch von 1725 als Zitat des Psalmes 8 lautete: „Herr, unser Herrscher, dessen Name herrlich ist in allen Landen“. Auch der Schlußchoral bietet dem Grabeschor gegenüber den eschatologischen Ausblick, der an die lehrhafte Eröffnungsmusik anschließt. 29

28

Christoph Wolff, Die musikalischen Formen der Johannes-Passion, in: Johannespassion, Schriftenreihe der internat. Bachakademie Stuttgart, Hg. Ulrich Prinz, Band 5, Stuttgart – Kassel 1993, 128 – 141; für hier: 131.

29

Wolff, 132.

197


Neben der zur Verfügung stehenden Luther’schen Bibelübersetzung kompiliert Bach mehrere Textautoren (Christian Weise, Christian H. Postel, Barthold Heinrich Brockes) für seine „ausdeutenden“ Gesänge, die Ariosi und die Arien. Gerade am Beispiel der Abänderungen der Brockes-Texte fällt eine entdramatisierende Tendenz auf30, ja eine deutliche Richtung, die gottesdienstliche Funktion der Johannespassion zu unterstreichen. Es scheint, als ob Bach dem durch eine Unterstreichung des Motivs der Dankbarkeit Rechnung tragen möchte. So gesehen enthält auch der Schlußchoral in der Transzendierung der Klage und der Dankbarkeit zum himmlischen Lobpreis liturgische Bedeutung.31 Einige formale und analytische Details Unter den vielen Möglichkeiten formaler und analytischer Betrachtungsweisen möchte ich hier, gleichsam stellvertretend für vieles, nur einige Mosaiksteine herausgreifen, die m. E. auch An-

30

Elke Axmacher, „Aus Liebe will mein Heyland sterben“. Untersuchungen zum Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert (= Beiträge zur theologischen Bachforschung, Bd. 2), Neuhausen-Stuttgart 1984, 152, 155.

31

Petzold, 54.

198


stoß für den Leser sein könnten, genauer durch Lektüre wie durch eigenes Forschen in die Materie einzudringen. Was also der folgende Exkurs bietet, kann nur als beispielhaft unter vielem verstanden werden. Fragt man nach einer groben Einteilung des Werkes – die Angabe „vor der Predigt“ und „nach der Predigt“ läßt bei genauem Studium der Partitur diese Zweiteilung nur als liturgische Angabe zu – , so erweist sich zunächst die Aufgliederung in einzelne actus gemäß traditioneller Passionsexegese durchaus als richtig. Fünf solche actus kennt die Literatur, und man spricht von hortus, pontifices, pilatus cruxque sepulchrum. 32 Jeder dieser actus wird bei Bach übrigens von einem Choral abgeschlossen. Recht plausibel klingt auch eine Einteilung in 9 Szenen, nämlich Gefangennahme Jesu, Verleugnung des Petrus, Vor Pilatus, Geisselung – Verspottung, Verurteilung, Kreuzigung, Teilung des Rockes, Tod, Grablegung.33 Wie später noch gezeigt werden wird, ist das Werk tatsächlich von einer Mitte aus symmetrisch angeordnet: allerdings leitet nicht die Predigt-Teilung diese Symmetrie ein, sondern – gerade diese 32

Dürr, 65f und viele andere Autoren.

33

Wolff, 134.

199


beiseite lassend – findet sich sehr logisch eine andere Achse. Auch die Turbae-Chöre haben mit einer Vielzahl von musikalischen Korrespondenzen („Kreuzige“ – „Kreuzige“; „Sei gegrüßet“ – „Schreibe nicht“, etc. etc. ) ein besonderes architektonisches Gewicht, das Friedrich Smend als eine von ihm als „Chiasmus“ bezeichnende Symmetrie erkannt hat.34 Bei Bach – und freilich bei anderen guten Komponisten ebenso – kann man eine mehrfache Symbolik in der Musik feststellen, die ich in drei Hauptabschnitte gliedern möchte: nämlich eine Symbolträchtigkeit der Tonartenwahl, eine Bedeutung der Zahl, und eine Figuren- und Melodiesymbolik, mit allen Konsequenzen musikalischer Rhetorik und Figurenlehre, aber auch Nachzeichnen architektonischer Vorgaben. Tonartenplan Wie schon an anderer Stelle erwähnt, ist für die Vertonung der Johannespassion festzustellen, daß Bach das Festhalten und die Bedeutung des Evangelientextes besonders wichtig ist. Untermauert er damit doch auch sein Naheverhältnis zur

34

Friedrich Smend, Die Johannes-Passion von Bach. Auf ihren Bau untersucht. Bach-Jahrbuch XXIII, Leipzig 1926. Zur symmetrischen Achse siehe auch folgende Seite.

200


lutherischen Orthodoxie im – wie ebenfalls aufgezeigt – auf das Magnificat folgenden ersten Großwerk, das Schulze als „musikalisches Hauptereignis des Jahres“ apostrophiert hat.35 Der Johannespassion liegt ein Tonartenplan zugrunde, der vom Bibeltext ausgehend erstellt ist. In c-Moll beginnt der Bericht des Evangelisten, in c-Moll schließt er. Recht gut kann man Wolff folgen, wenn er den tonartlichen Aufriß des Werkes gemäß der o.a. neun „dramatischen Szenen“ zeigt, indem er eine absolut symmetrische Anlage der Tonartensphären, und zwar nach drei modi: beTonarten, Kreuz-Tonarten, vorzeichenfreie Tonarten wie die traditionellen Hexachordeinteilungen durum – molle – naturale trifft. Es ergibt sich eine Zuspitzung der kreuztonartlichen Ebene in der (echten) Mitte des Werkes, zwischen Satz 21g und 23, wo mit vier Kreuzen (E-Dur) das Maximum an entfernter Tonart in Bachs Vokalmusik erreicht ist. 36 Das trifft sich übrigens auch (mehr zufällig) mit der schon genannten Erarbeitung eines „Herzstückes“ der Johannespassion bei Friedrich Smend,

35

Hans Joachim Schulze, Johann Sebastian Bachs Passionsvertonungen, in: Matthäuspassion, Schriftenreihe der internat. Bachakademie Stuttgart, Hg. Ulrich Prinz, Band 2, Stuttgart – Kassel 1990, 24 – 49 (24!).

36

Wolff, 133.

201


zu dem er aufgrund der symmetrischen Anlage bzw. musikalischer Entsprechung von TurbaeChören kommt.37 Zentrum dieses Baues, also die eigentliche symmetrische Mitte, ist der Choral „Durch dein Gefängnis Gottessohn ist uns die Freiheit kommen“. Dieser wiederum ragt aus den Chorälen insofern heraus, als ihm eben keine Strophe eines der Leipziger Kirchenlieder zugrundeliegt, sondern Bach bewußt einen poetischen Text aus der BrockesPassion dafür auswählt und ihn der Melodie „Machs mit mir Gott nach deiner Güt’“ unterlegt. Dieser nun als „Choral“ umfunktionierte Text wird von manchen Autoren in gegensätzlichem Licht gesehen: Für Alfred Dürr sind es „Gedanken, die der Theologie des vierten Evangelisten ferner liegen“38 und „die heilsgeschichtliche Notwendigkeit als eine nicht auf den Johannesbericht beschränkte Selbstverständlichkeit“39. Martin Petzold ringt dem Text ein „zentral johanneisches Anmuten“ an, stellt 37

Darstellung des „Herzstückes“ von Smend auch bei Dürr, Johannespassion. Kassel 1988, 117.

38

Dürr, Der Passionsbericht...,180.

39

Dürr, Die Johannespassion...,51.

202


203


richtigerweise Bezüge zu anderen biblischen Stellen her, die da sind Jes 42, 7. 22; Hebr 4, 16; Gal 4, 24, um schließlich eine Erinnerung „nicht nur an johanneische, sondern vor allem an die Theologie des jungen Luther“ festzustellen.40 Alfred Dürr geht aber an anderer Stelle noch weiter, wenn er den Inhalt des Chorales jenen Texten zuschreibt, die „für das Passionsverständnis der lutherischen Orthodoxie wesentlich sind“, meinend, daß die Erlösung des Christen durch Jesu Opfertod begründet, „während für Johannes die Erlösung des Menschen nicht so entscheidend in der Passion Jesu als vielmehr im Annehmen seiner Botschaft, im

40

Petzold,150. Luther schreibt in „Eyn Sermon von der bereytung zum sterben“ (Martin Luther, Ausgewählte Schriften, hrsg. von K. Bornkamm und G. Ebeling, Bd. 2, 21 – 23): „Du mußt den Tod in dem Leben, die Sünde in der Gnade, die Hölle im Himmel ansehen und dich von dem Ansehen oder Blick nicht lassen wegtreiben, wenn dir’s gleich alle Enge, alle Kreatur, ja, wenn dir’s auch scheint, Gott selbst anderes vor Augen halten... [..... ] Denn Christus ist nichts außer lauter Leben.. Je tiefer und fester du dies Bild in dich hineinbildest und ansiehst, desto mehr fällt des Todes Bild ab und verschwindet von selbst ohne alles Zerren und streiten... [.... ] Der Gnade Bild ist nichts anderes als Christus am Kreuz.... Wie versteht man das? Das ist Gnade und Barmherzigkeit, daß Christus am Kreuz deine Sünde von dir nimmt, sie für dich trägt und sie für dich erwürgt; und dies fest zu glauben und vor Augen haben, nicht daran zu zweifeln – das heißt, das Gnadenbild ansehen und in sich hineinbilden..... [.... ] Suche dich nur in Christus.. “.

204


Glauben an den eingeborenen Sohn Gottes“ liegt.41 Für mich ist mit diesem „Choraltext“ wohl auch die Stelle einer Wende markiert: davor will Pilatus Jesus noch freilassen, danach steht die Verurteilung fest. Von nicht geringer Bedeutung ist auch die Wahl der Tonart E-Dur, mit vier Kreuzen nicht nur die „engste“ vorkommende Dur-Tonart, und am weitesten vom anfänglichen g-Moll, oder beschließenden c-Moll/Es-Dur entfernte, sondern vielleicht auch symbolisierend die drei Kreuze auf Golgotha mit dem vierten Kreuz als dem des Betrachters.

41

Dürr, Der Passionsbericht...., 180 Übrigens muß man auch Axmacher, 13 für eine recht gut zusammengefaßte Luther-Theologie der „compassio“, des Mit-Leidens, heranziehen, wenn sie schreibt: „Luther sieht in dem Mitleid mit Christus und Maria, dessen affektiver Gegenpol der Zorn über Judas und die Juden ist, den Versuch des Menschen, sich von Christi Leiden zu distanzieren und existenzielle Betroffenheit nicht aufkommen zu lassen. Denn für Luther und die Reformation zeigte sich im Ereignis des Leidens und Sterbens und Auferstehens Jesu die Mitte des christlichen Glaubens, sodaß ein Polemisieren gegen das mittelalterliche compassio-Verständnis nahezu natürlich war. Für ihn hat die Passion Christi keine gefühlsbeeinflussenden Züge, sondern harte realistische: mea res agitur – meine Sache wird verhandelt.“ Vgl. auch: Petzold, Passionspredigt und Passionsmusik der Bachzeit, in: Matthäuspassion, Schriftenreihe der internat. Bachakademie Stuttgart, Hg. Ulrich Prinz, Band 2, Stuttgart – Kassel 1990, 8 – 23.

205


Zahlensymbolik Um die häufige Zahlensymbolik auch in der Johannespassion zu verstehen, sei ein kleiner Exkurs in das Geheimnis der Zahl gestattet.42 Die Zahl hatte schon in der Antike eine besondere Bedeutung, nicht nur zur nachsinnenden Errechnung und Deutung des gesamten Kosmos. 43 Das Wissen um Symbolgehalt, also „Qualität“ der Zahlen gilt als Bestandteil einer echten Kosmologie, „die zu den letzten und endgültigen Ursachen der Existenz des Daseins führt und der man sich nur in Ehrfurcht nähern kann“44. So gesehen reicht diese „qualitative Mathematik“ vom Punkt bis zur kompliziertesten geometrischen Figur, von der Zahl Eins bis zu magischen Quadraten und gewinnt noch an Bedeutung durch das Wort. Die Zahl als

42

Es sei gestattet, daß ich mich hier im Wesentlichen an meinen Aufsatz „Zahlen und ihre Symbole in der Orgelwelt an Hand des Prospektes der Westorgel in der Stiftskirche Melk“, in: Die Zeit, in der wir leben, Festschrift für Abt Burkhard Ellegast, herausgegeben vom Konvent des Stiftes Melk, Melk 1991, 100 – 120 halte.

43

Harry Hahn, Symbol und Glaube im I. Teil des Wohltemperierten Klavieres von J. S. Bach, Wiesbaden 1973, 19.

44

Walter Friedjung, Vom Symbolgehalt der Zahl, Wien 1968, 52.

206


Symbolträger in allen religiösen Traditionen hat auch in den biblischen Gestalten und Geschehnissen reichen Niederschlag gefunden. In der Architektur streng gehütete Bauhüttengeheimnisse in Form von Zahlenverhältnissen und Ordnungen waren dem quadrivialen Denken seit jeher selbstverständlich. Dem heute im Denken des Abendlandes Lebenden scheinen sie gänzlich verloren gegangen zu sein. Der symbolische Reichtum einer Zahl will also mit Verlaub neu entdeckt werden; es gilt auch, Denkansätze auf die schier unerschöpflichen Möglichkeiten zu lenken. Johann Sebastian Bach waren diese – wenn auch damit schon fast einsam auf weiter Flur – noch großteils geläufig. Eine Zahl kann bewertet und gedeutet werden:45 nach dem Zahlenalphabet (Zuordnung von Buchstaben zu den Zahlen 1 bis 24, wobei I und J durch 9, U und V durch 20 vertreten sind) auf die Quersummen nach dem unmittelbaren Zahlenbild (369 als 3, 6, 9) nach den Dreieckszahlen (d. h. auf die Summen aller vorausgegangener Zahlen, z.B.: 1+2+3+4+5+6+7 = 28) aufgrund biblischer Bedeutungen (3,5,7,10, 12 und deren Mehrfaches z.B., oder Psalmen und deren Inhalt = Zahl 1 bis

45

Diese Zusammenstellung findet man bei Harry Hahn, Die unbekannte Matthäuspassion, Hamburg 1977.

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150) gemäß antiker Traditionen (Tierkreiszeichen, magische Quadrate) Abkürzungen schließlich Verdoppelungen, Potenzierungen oder Mehrfaches einer Zahl, oft mit angehängter „0“, was einem ver- und be-stärkenden Charakter gleichkommt Es würde zu weit führen, hier nun die einzelnen Zahlen genau zu erklären, wohl aber sei noch auf das Phänomen sogenannter „Magischer Quadrate“ eingegangen, zumal es sich um ein ebenfalls mehr als bisher vermutet verbreitetes Wissen handelte. Als magisches Quadrat bezeichnet man ein Zahlenquadrat, dessen waagrechte, senkrechte und diagonale Reihe stets dieselbe Summe ergeben. Die Tradition kennt sieben solcher Quadrate, bisweilen auch Pythagoras zugeschrieben, die nach Planeten benannt sind und in der Reihenfolge der Wurzelzahlen wie folgt heißen: Saturn (3), Jupiter (4), Mars (5), Sonne (6), Venus (7), Merkur (8), Mond (9). Als Beispiel sei das Sonnenquadrat in den Blickpunkt gestellt: 6 32 3 34 35 1 7 11 27 28 8 30 19 14 16 15 23 24 18 20 22 21 17 13 25 29 10 9 26 12 36 5 33 4

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In diesem Quadrat tritt das Phänomen zutage, daß bei 36 Zahlenfeldern auf der Wurzelzahl 6 fußend sich eine Reihenkonstante von 111 ergibt: 111 – eine verdreifachte Eins und damit gesteigertes Trinitätssymbol! Aber noch andere Zahlen stehen mit dem Sonnenquadrat in Zusammenhang: Zunächst – einfach anmutend – 14: die Summe der möglichen Reihenkonstanten (6 waagrechte, 6 senkrechte, 2 diagonale). 14 enthält eine christologische Bedeutung. Da ist zunächst die Sieben (und ihr Mehrfaches), die sowohl in den vorchristlichen Religionen Asiens und des Vorderen Orients als auch in der Bibel wohl am häufigsten genannt ist. Es kann sich bei der Sieben als eine Summe von 3 + 4 handeln, also Verbindung von „himmlischer Ordnung“ mit „irdischer Welt“, eine erste Vollendungsstufe. Wohl kommt auch eine Überhöhung der Sechs infrage (sechs ist eine „unvollkommene“ Zahl, „nur“ ein halbes Dutzend, etc....), man spricht dann von der Sieben als „Regentin“ der Sechs, die Augustinus interpretiert als göttliche Fülle und Totalität. In der Heiligen Schrift hat die Sieben formbildenden Charakter. Wenn schon Luther in Anmahnung an den hebräischen Urtext Mose 1,1 mit 7 Worten wiedergibt („am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“), dürfte das kein Zufall sein, sondern vermag höchstens die geistige Armut heutiger Übersetzungsversuche aufzudecken.

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Dem ließen sich noch weitere 7-wortige Beispiele anfügen. Ein Rhythmus in je 7 Versen läßt sich auch dem Evangelisten Lukas für die Kindheitsgschichte zuschreiben im 2. Kapitel: Vers 1 – 7 Geburtserzählung, 8 – 14: Hirtenerzählung; 15 – 21 Namensgebung, Beschneidung. Das Vaterunser in 7 Bitten eingeteilt, die 7 Gaben des Geistes, der 7-armige Leuchter, 7 Sakramente: vieles mehr noch weist auf das „Heilige“ hin, das dieser Zahl innewohnt. Verdoppelt man die Sieben, also multipliziert man sie mit der Zwei (und erhält damit die 14), so ist sie mit christologischen Akzent auf die zweite göttliche Person angewandt; und wieder ist es Luther, der mit 14 Worten Matthäus 17,5 bedeutsam wiederzugeben vermag: „Dieser ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören“. Auch in der Geheimen Offenbarung des Johannes dominiert die Sieben und ihr Mehrfaches als Symbol und als Formbestandteil. Im 14. Kapitel thront Christus als das „Lamm“, das 28 Mal als Christusbeschreibung genannt wird. Dem wäre z. B. noch eine 14fache Ahnenkette Jesu bei Matthäus hinzuzufügen. Dann ist im Sonnenquadrat auch die Zahl 37 in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Sie ist die erste kleinste unteilbare Einheit der Reihenkonstante (3 x 37 = 111), sie ist die Summe der diagonal liegenden Eckziffern der Außenquadrate (36+1, 6+31), sie ist die Summe einan-

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der entsprechender Innenquadrate: 8+29, 11+26, sie ist die Summe der kleinen Quadrate (36) mit dem großen, all den kleinen Quadrate umschließenden Quadrat (1). Symbolisch bedeutet das, die 37 ist Regentin der 36, der Sechs und ihrer Potenz: Auf die mit Negativem behaftete Sechs erscheint die 37 als Überwinderin, die Herrschaft der Tetraktys der 36 wird durch eine neue Sonnengeburt abgelöst: 3 und 7, die Bestandteile der 37 sind heilige Zahlen, mit 37 läßt sich auch das Christusmonogramm (PX) wiedergeben: 15 für P (als Synonym für das griechische Rho) und 22 für X (als Synonym für das griechische Chi). So könnte nun mit „exegetischen“ Anmerkungen zu Bachs Johannespassion fortgefahren werden. Es scheint mir, als ob die Elf ein gewisses gestaltendes Element in der Johannespassion bei Bach spielt: 11 Choräle stützen das Werk wie Säulen. Sie entsprechen den 11 Jüngern (12 Apostel minus Verräter!): ja, vielleicht ist der „versteckt zuschauende“ Verräter im nicht als eigentlichen Choral zu zählenden Vers zu rechnen, der sich über die Arie „Mein treuer Heiland“ erhebt? (Nr. 32). Viele der Chöre ergeben in der Taktanzahl ein Vielfaches der Elf: „Sei gegrüßet“ und „Schreibe nicht“ (11 Takte); „Wir haben ein Gesetz“ (22 Takte), „Lässest du diesen los“ (33 Takte), „Las-

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set uns den nicht zerteilen“ (55 Takte). Im Schlußchor ist der Imperativ der Choristen „Ruht wohl“ insgesamt 55 Mal zu hören – ein Zufall? Ja, schließlich muß man auch eine 11-Gliedrigkeit des Gesamtplanes (und das trifft sich hervorragend mit dem Choräle-Bau) heranziehen: Mit Einleitungsmusik (Exordium) und Schlußchor/ Choral sind die neun dramatischen Szenen auf insgesamt 11 Teile des Werkes angewachsen. Besondere Beachtung verdient in dieser Hinsicht auch das Recitativ 12c: Zunächst ist festzustellen, daß es sich um eine von Bach vorgenommene Interpolation eines Matthäus-Textes (wahrscheinlich anstelle eines ursprünglichen Markus-Textes?) handelt. Nach johanneischer Theologie ist die Reue und Verzweiflung des Petrus nicht wichtig, Johannes interessiert lediglich der Beweis, wie Jesus auch diesen Fehltritt des Petrus vorher wußte, und daher der Hinweis auf den Hahnenschrei. Das Interesse des Johannes liegt also nicht an der Verleugnung als solcher, sondern vielmehr an der stillen Gestalt des Lieblingsjüngers, der als stummer Zeuge überall dabei ist. Bach aber ist die Reue des Petrus wichtig, schon auch zur Anreicherung um Affekte, mehr aber noch aus Kenntnis lutherischer Theologie. Dies betrifft übrigens auch den zweiten Einschub: Recitativ 33 ist ebenso Matthäus-Text!46 Als wei-

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tere Besonderheit dieses Recitatives fällt seine äußerst prägnante, im Vergleich zu den anderen ungewöhnliche rhythmische Gestaltung auf. Zählt man ab dem mit „adagio“ überschriebenen Takt 33 (übrigens die Zahl für Christi Erdenjahre), die Anschläge des Basses im Continuo, erhält man die Zahl 22, den Leidenspsalm symbolisierend; zählt man die Noten der Singstimme darüber erhält man 37: die aus dem Monogramm PX gewonnene Christuszahl! Diese begegnet auch im Recitiativ 18c, wenn man die wieder auffälligen Baßanschläge über dem Wort „geißelte ihn“ zählt. Figurensymbolik und Symbole der musikalischen Faktur Dazu gehört natürlich das große Gebiet der musikalischen Rhetorik, auf das einzugehen hier der Rahmen gesprengt würde. Wohl aber seien stellvertretend einige, auch für den Laien leicht nachvollziehbare Beobachtungen mitgeteilt.

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Betreffend die Interpolationen in den Johannes-Text sei verwiesen auf: Dürr, Der Passionsbericht..., 170; zur theologischen Deutung auf: Peter Kreyssig, Die Passion Jesu aus der Sicht des Evangelisten Johannes, in: Johannespassion, Schriftenreihe der internat. Bachakademie Stuttgart, Hg. Ulrich Prinz, Band 5, Stuttgart – Kassel 1993, 88 – 99.

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In Arie Nr. 9 ist die Rede von „Ich folge dir gleichfalls“: deutend führt Bach canonische Wendungen zwischen den unisonen Flöten und der Sopranstimme ein. Das musikalische „Nachfolgen“ der Stimmen als Sinnbild der Nachfolge Christi, und zwar von zwei unisonen Flöten – stellvertretend für zwei (!) Jesus folgende Jünger („Petrus aber folgete Jesum nach und ein andrer Jünger“ !). Sinnbild sind auch die beiden einander ständig kreuzenden und „sich windenden“ Oboen in Arie Nr. 7, „Von den Stricken.. “, als ob sie mit dem Fagott zu einem Strick geflochten werden wollten. Zahlreich verteilt auf die ganze Passion findet man das sogenannte „Kreuzmotiv“, stellvertretend sei hier dafür wiedergegeben Recitativ Nr. 27, Takt 1: „allda kreuzigten“:

Die Tonfolge b – a – c – h ist ein hinlänglich bekanntes Zitat, das u.a. auch als versteckte Visitenkarte Bachs gelten darf. Wenn im Schlußchoral von Takt 24 auf 25 in der Baßführung genau in umgekehrter Reihenfolge h – c – a – b zitiert ist, und darüber genau die Textstelle „Erhöre mich“

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erklingt, so ist das wohl Bitte und Bekenntnis des sich umkehren wollenden Komponisten zugleich.

H C A B

So mag abschließend eine Auslegung des Einleitungschores „Herr unser Herrscher“ versucht werden: Dem kann man nüchtern voranstellen, daß er aus insgesamt 153 Takten besteht. 153, das ist eine Zahl die die Bibel auch beim reichen Fischfang nennt. 153 ist eine symbolische Zahl, sie ist die zur Basis gehörige Dreieckszahl der Siebzehn (Summe aller Zahlen von Eins bis Siebzehn), sie bezieht sich (Fischfang: Jo, 21,11) auf die „Erlösten des Herrn“, die Seligen, und versteht sich aus dem Charakter der Siebzehn. Die Siebzehn ist einerseits Summe von 10 und 7, als auch Summe von 12 und 5. Wenn das Kernstück des Alten Testamentes aus 17 Büchern besteht – aus 5 Büchern Mose und 12 Büchern der Propheten –, so darf hierin ein Bauplan vermutet werden, der Unoffenbartes offenbar machen soll. In eine solche

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Ordnung gehört auch, daß Moses im 34. Kapitel des 5. Buches stirbt: 34 = 2 x 17, und fünf ist das Symbol der Vergänglichkeit des Menschen. Zudem ist 34 die Reihenkonstante des aus der Wurzelzahl 4 gebildeten magischen Quadrates, des Jupiterquadrates. – Die legendären ersten drei bewußten Anbeter Jesu, Caspar, Melchior und Balthasar, ergeben mit ihren Anfangsbuchstaben zahlenalphabetisch (3+12+2) die Zahl 17. Wenn diese drei Buchstaben als „Christus mansionem benedicat“, als Segensspruch über Tisch oder Haus gedeutet werden, ist auch hier der ursprüngliche Sinn bestätigt. In der Reihe der Primzahlen bildet die Siebzehn die siebente Stelle, wie die Sieben wiederum das Zentrum bildet: 1 – 3 – 5 – 7 – 11 – 13 – 17, während in der Gesamtreihe aller Zahlen die 9 (= potenzierte Trinität!) das Zentrum bildet.47 Der dreigeteilte (A – B – A) Einleitungschor ergibt im B-Teil genau 37 Takte: also genau über jenem Text, der (vermutlich von Bach selbst) neu hinzugetextet zum Psalmzitat christologischen Charakter einbringt: „Zeig uns durch deine Passion... “: nicht verwunderlich, 37 ist – wie schon an anderer Stelle gezeigt – eine Christuszahl, das Monogramm P (Rho) und X (Chi)!

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Diese Exegese der Zahlen 153 und 17 findet sich wörtlich in: Harry Hahn, Symbol und Glaube.., 36f.

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Mit seinem musikalischen Inhalt kommt dem Einleitungschor auch trinitarische Funktion zu: die durchgehende Sechszehntelbewegung symbolisiert das Pneuma des Heiligen Geistes, der ruhende Orgelpunkt ist Gott-Vater, und die stimmenkreuzenden Oboen, klagend, in Sekundreibungen gleichsam eine Passion durchmachend, stehen für die zweite göttliche Person, den leidenden Christus. 48 Schließlich ist die Dacapo-Form in diesem speziellen Fall auch von einer theologischen Aussage behaftet: „Der Gottessohn, der als Schöpfer und Herrschergott... herrlich ist, steigt hinab in die Niedrigkeit, um dort verherrlicht zu werden.... aus der Niedrigkeit kehrt der Gottessohn zurück in die Herrschaft des Weltenherren“.49 Der B-Teil strotzt auch von anderen musikalischen Symbolen: der Oktavsprung („Zeig –– uns: durch deine Passion“) versinnbildlicht das Durchmessen der Zeit, geht auf den Text „zu aller(!) Zeit... “ ein, die Ganzheit der Zeit. Sinndeutend ist auch das Absteigen der Linien in die „größte Niedrigkeit“. Noch ein Detail am Rande: die Entsprechung der musikalischen

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Die plausible trinitarische Deutung stammt von Meinrad Walter, ms. Dipl. Arbeit, erwähnt bei Dürr, Der Passionsbericht..., 173.

49

Axmacher, 163.

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Bewegung „Herrscher“ gegenüber in Satz 30 (Arie „Es ist vollbracht“), Mittelteil Bewegung „Kampf“ ist wohl kaum zu überhören:

Der trinitarische Charakter durch die Dacapo-Form ist auch im Schlußchor, Satz 39 „Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine“ gegeben. Er ist als Rondo gebaut und zeigt die Form A – B – A – B’- A, im Dreivierteltakt. Mit fünf Teilen weist er auf die Zahl des Menschen hin: der menschliche Jesus wird zu Grabe getragen, und das in c-Moll, der schier aussichtslosen Passions- und Todestonart, mit drei (!) Vorzeichen. Aber mehr noch: der trinitarische Charakter wird auch gezeigt, indem sich genau 9 Mal das Motiv der Einleitungstakte in c-Moll wiederholt, indem das Stück insgesamt 171 Takte hat: wobei allein schon die Ziffernsumme diese Zahl wiederum 9 ergibt (also potenzierte Trinität), und schließlich durch drei dividiert sich 57 ergibt, eine Zahl die der Bachforscher als die Ziffernsumme für „Domine“ (4+14+12+9+13+5) kennt.

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Bach’s Johannespassion ist in sich eine Predigt in Tönen, deren liturgische Bestimmung eindeutig ist – möge sie von Musikern und Theologen, von Hörern und Ausführenden, von Liturgen und Kirchenmusikern, auch von „Publikum“ und „Konzertmanagern“ immer wieder auf ihren Sitz im Leben hinterfragt werden.50

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Am 5. 4. 1998 habe ich in einer Aufführung mit Originalinstrumenten den gewagten Versuch unternommen, eine Predigt zu halten, und die Choräle vom anwesenden Publikum (für Interessenten wurden Noten zugesandt) mitsingen zu lassen. Von Musikern und Publikum wurde dies als besonderes, gleichsam liturgisches Erlebnis wahrgenommen.

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Rupert Gottfried Frieberger ist katholischer Theologe, international gefeierter und preisgekrönter Organist, Dirigent und Komponist, Pädagoge an mehreren Kathedern von Schulen und Universitäten: in seinem neuen Büchlein hat er nicht nur wieder eine Reihe zum Schmunzeln bringender Erlebnisse zu berichten, sondern vielmehr auch kritische Anmerkungen zum Bildungswesen in Österreich zu machen oder manche Beobachtung zu seinen Lehr-bereichen der Liturgiewissenschaft oder der Musikaesthetik festgehalten. Er liefert überdies Kostproben seines musikwissenschaftlichen Forschens ebenso wie Beispiele seiner Predigten: also „der“ Frieberger in seiner Symbiose als SACERDOS – MUSICUS – DOCTOR. Wer ihn kennt, weiß, daß diese Bereiche für ihn auch nicht zu trennen sind......

ISBN 3-902143-00-2


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