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Jedes Kind, das auf der Straße aufgewachsen ist, kann Fußballgeschichten erzählen. Da gehe ich jede Wette ein. Und jeder Erwachsene, der das Kind immer noch in sich wohnen lässt, möchte sie irgendwann erzählen. Das ist bei mir nicht anders. Erzähle ich von Kalle, dem besten Elfmeterschützen in der Straße, der mich einen Elfer halten ließ und mir damit ein Weitermachen ermöglichte? Oder von eben jenem Kalle, einen halben Kopf kleiner als ich, aber zwei Jahre älter, mit dem ich mit dem Rad durchs halbe Revier gefahren bin zum neugebauten Parkstadion? Dort angekommen, kletterte er über zwei Zäune und lief in Jubelpose durch die enge Gasse aufs Grün. Ich bin mir sicher, in diesem Moment jubelten ihm 70.000 Kalle-Fans zu. Oder von meinem dritten und letzten Besuch in einem Bundesligastadion? Es spielte damals der FC Schalke 04 gegen Rot-Weiss Essen und ich stand in der falschen Kurve. Nach jedem Tor, das Schalke schoss, stieß mich ein Gelsenkirchener in die Seite und gab mir einen Schnaps zu trinken. Fünf Schnäpse waren für einen 16-Jährigen einfach zu viel. Nein, die Geschichte, die ich erzählen möchte, hat sich an einem trüben und nassen Novembertag Anfang der 70er Jahre zugetragen. Seit Tagen regnete es bereits. In den beiden großen Pausen mussten wir nicht einmal mehr das Klassenzimmer verlassen. Niemand sollte bei solch einem Wetter vor die Tür. Ich saß allein, aß etwas lustlos mein Pausenbrot, als sich Werner zu mir gesellte. Eigentlich sprachen wir wenig miteinander, aber wenn der Mannschaftskapitän unserer Klassenelf sich herabließ, mit mir zu reden, musste es etwas Wichtiges sein, etwas von großer Tragweite. Am Nachmittag sollte ein Klassenkampf stattfinden, unsere 7c gegen die 7a. (Fußballspiele wurden von uns kategorisch wie martialisch als Kämpfe hochstilisiert. Klassenkämpfe, wenn der Gegner von der Schule kam, Straßenkämpfe waren es, wenn wir uns mit den Nachbarskindern maßen.) Es sei ungemein wichtig, dass ich zum Spiel komme, meinte Werner zu mir. Ich sei eine Stütze der Mannschaft, man wisse nun wirklich nicht, was man ohne mich anfangen solle. Achim, der Torwart, und Detlef, das »Brain« der Mannschaft, stimmten mit ein – auf einen wie mich könne man nicht verzichten. Außerdem fehle noch genau ein Mann. Ich stutzte etwas, weil ich der Klassenkleinste war, der Klassenlangsamste und guten Fußball spielten die anderen. Trotzdem fühlte ich mich irgendwie aufgewertet und versprach zu kommen. Das Versprechen war schnell gegeben, es einzuhalten erforderte ganze Überzeugungsarbeit zu Hause beim Mittagessen. Um drei Uhr, sagte ich relativ beiläufig, gäbe es ein wichtiges Fußballspiel. »Bei dem Wetter?«, erwiderte meine Mutter. »Da gehst du auf keinen Fall hin!« »Die bauen auf mich«, sagte ich und stocherte im Eintopf. »Ohne mich sind die aufgeschmissen, haben sie gesagt. Sogar Werner, der muss es wissen. Was sollen die ohne mich anfangen? Ohne mich sind die nichts. Ich bin die Stütze der Mannschaft.« Ich konnte meine Mutter nicht überzeugen, aber irgendwann ging ihr meine Bettelei so sehr auf die Nerven, dass sie ihren Widerstand aufgab. Beim Blick aus dem Fenster schüttelte sie verständnislos den Kopf. Sicherlich hat sie mit einem »Meinetwegen« oder »In Gottes Namen« klein beigegeben: »Aber zieh deinen Anorak an und die Kapuze über ‘n Kopf. Und ohne Gummistiefel gehst du schon mal gar nicht vor die Tür.« Besser so als gar nicht, dachte ich. Im letzten Moment fiel mir ein, dass ich ja die Kapitänsbinde mal in die Anoraktasche stecken könnte. So für alle Fälle.

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