musikschule )) DIREKT 5_2019

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5.2019 Inhalt Musizierlernhäuser von morgen In aktuellen Berichten über Musikschulen findet sich oft ein begrüßenswertes Engagement der AkteurInnen für die aktive Mitgestaltung von Musikschularbeit sowie Mut zum Neudenken von Musikschule. Dies betrifft zum einen das Selbstverständnis der Institution, zum anderen die Entwicklung von Angeboten und Formaten sowie die Weiterentwicklung der Musikschularbeit im Zeitalter der Digitalisierung. Einen wesentlichen Beitrag zum Neudenken von Musikschule liefert Andreas Doerne mit seinen „Ideen für ein Musizierlernhaus der Zukunft“. Mit dieser nicht nur terminologischen Veränderung möchte sich auch die Musikschule Lahr vom Lehr- zum Lernhaus und „Haus der Musik“ weiterentwickeln. Und die Musikschule Waldkirch nimmt sich eine Musikschularbeit vor, die Zeit gibt für Kreativität, Klangwahrnehmung, Selbststeuerung und Begegnung. Musikschule soll eben mehr sein als der Ort für 30 Minuten Einzelunterricht. Darüber hinaus erweitert sich die Vielfalt der Musikschulangebote ständig. So hat die Musikschule Dortmund eine Popschool mit dem Schwerpunkt auf Bandarbeit gegründet, die Musikschule Herne und die Folkwang Universität der Künste Essen kooperieren (ähnlich der Jugendakademie Münster) in der Begabtenförderung, in Porta Westfalica wurden Kunstkurse in das Musikschulprogramm integriert und die Musikschule Rodewich holt die auf dem Dorf lebenden SchülerInnen einmal pro Woche kostenlos mit dem „Musikschultaxi“ ab. Neben der Social-Media-Arbeit stehen auch Fragen zur digitalen Erweiterung der musikpädagogischen Arbeit auf der Agenda. Das Projekt MoMu.SH soll die Teilhabe an musikalischer Bildung durch den Einbezug digitaler Möglichkeiten im ganzen Flächenland Schleswig-Holstein ermöglichen. Die Musikschule Lübeck setzt im Projekt „smart:music@school“ auf den Einsatz einer digitalen Lernplattform, um das Gitarrenspiel im Klassenverband zu erlernen. An der Musikschule Lahr plant man eine digitale Lernplattform als App und am Hamburger Konservatorium wurde die Plattform KON-Plugin entwickelt, die es SchülerInnen und Studierenden ermöglicht, mit ihren Lehrkräften in Kontakt zu treten, Feedback zu erhalten und im Chat an gemeinsamen Projekten zu arbeiten. Es wird spannend, was die Musizierlernhäuser von morgen ausmacht, welche Angebote sie bereithalten und wann sich die musikpädagogische Arbeit beispielsweise dem Einsatz von Virtual oder Augmented Reality widmet. Oder bleibt doch alles anders? Sebastian Herbst

2 Grenzenlos musizieren Das soziale Musikprojekt MUSAIK will Teilhabe ermöglichen

4 Kollegiale Beratung Die Gruppe ist klüger als der Einzelne

6 „Ich spiele mich!“ Auftrag und Chancen von Musiktherapie an Musikschulen

10 Gesund von Anfang an Prävention musikerspezifischer Erkrankungen im Instrumentalunterricht

Sie haben Fragen, Anregungen, Tipps oder Hinweise für die Redaktion? info@musikschule-direkt.de


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5.2019

Grenzenlos Musizieren

Julian Schunter

Das soziale Musikprojekt MUSAIK will Teilhabe ermöglichen Zwischen Plattenbauten ein Zirkuszelt, erwartungsvolles Publikum und ein Meer aus blauen T-Shirts, aufgeregte Kinder mit Celli, Geigen, Trompeten und Saxofonen, Dirigentinnen mit großen, bemalten Plakaten und noch größeren Gesten. Das MUSAIK-Orchester beginnt, 65 Kinder folgen gebannt den Bewegungen der Anleitenden, „Ode an die Freude“, Sommerkonzert in DresdenProhlis.

)) Wenn wir davon ausgehen, dass jedes Kind das Recht auf Teilhabe an musikalischer Praxis und damit auf das Erlernen eines Instruments verdient, stellt sich die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um dieses Recht zu gewährleisten. Natürlich sind die hohen Kosten für Instrumente und Unterricht ein Hindernis für viele Kinder. Neben dem anfänglichen Ermöglichen des Instrumentalunterrichts sind vor allem aber auch die Bedingungen während des Prozesses wichtig, etwa eine geeignete Infrastruktur und soziale Wertschätzung.1 Das familiäre Umfeld spielt eine zentrale Rolle. In einer wöchentlichen Unterrichtseinheit an der Musikschule kann die Lehrperson zwar inspirieren, erklären, Materialien bereitstellen und Übeanleitungen geben, die wesentliche Arbeit muss jedoch zu Hause passieren. Gibt es dort Raum und Ruhe zum Üben? Interessieren sich die Eltern für das Musizieren des Kindes, ermuntern und unterstützen sie es, spielen sie vielleicht sogar selbst mit? Gibt es im familiären Umfeld ein Bewusstsein für den Wert und die Herausforderungen von instrumentalen Lernprozessen? Diese Fragen sind entscheidend.

„El Sistema“ in Dresden? Nach dem Vorbild des vielbeachteten „El Sistema“ aus Venezuela versucht das soziale Musikprojekt MUSAIK in Dresden, ein alternatives Modell von Instrumentalunterricht umzusetzen, bei dem große Teile der traditionell familiär zu leistenden Aufgaben mit übernommen werden, um möglichst vielen Kindern die Teilhabe an musikalischer Praxis zu ermöglichen. Zusätzlich zu kostenlosem Unterricht und Leihinstrumenten sowie der örtlichen Nähe zu den Kindern bedeutet das insbesondere: eine große Präsenzzeit, die Gruppe als zentraler Unterrichtskontext und die Gestaltung von umfangreichen gemeinsamen Aktivitäten. Die Kinder kommen drei Mal pro Woche für zwei bis drei Stunden für Orchesterspiel, Gruppenunterricht und Chor zusammen.2 Sie lernen ein Streich- oder Blasinstrument von Anfang an in der Gemeinschaft und spielen regelmäßig Konzerte, oft im jahrgangsübergreifenden Orchester, aber auch in Kooperation mit anderen, teils professionellen Ensembles. Peter Röbke bezieht sich im Zusammenhang mit „El Sistema“ auf das Lernmodell der „musikalischen Praxisgemeinschaft“, bei dem das soziale Umfeld, in dem musikalisches Lernen stattfindet, eine entscheidende Rolle spielt.3 Die Idee, das heimische Üben in den Kontext einer MusikschulCommunity zu verlagern, wird innerhalb der Instrumentalpädagogik aktuell rege diskutiert.4

Ursprung und Entwicklung Ein anderes, dem venezolanischen Modell nachempfundenes soziales Musikprojekt ist ARPEGIO in Peru.5 Dort verbrachten die beiden Streicherpädagoginnen Luise Börner und Deborah Oehler ein gemein-

sames Jahr und hatten nach ihrer Rückkehr den Wunsch, auch in Dresden ein solches Projekt umzusetzen. Dabei spielten sowohl Erfahrungen in der musikpädagogischen Arbeit mit Geflüchteten eine Rolle als auch die Erkenntnis, dass sich die Jugendorchester der Region trotz aller Bemühungen um Breitenförderung und niedrigschwellige musikpädagogische Angebote so gut wie ausschließlich aus GymnasiastInnen zusammensetzen, bestimmte Milieus also offenbar keinen Weg in die Orchesterlandschaft finden. Im September 2017 gründeten die beiden den Verein „MUSAIK – Grenzenlos Musizieren e. V.“ und starteten mit dem Unterricht in Dresden-Prohlis, einem Stadtteil, in dem in den vergangenen Jahren zahlreiche Geflüchtete angekommen sind und in dem gleichzeitig viele Menschen an der Armutsgrenze leben.6 In den ersten Wochen kamen rund 70 Kinder zum Ausprobieren, von denen schließlich etwa 25 blieben, um Cello oder Geige zu lernen, etwas über die Hälfte davon mit Migrationshintergrund. Im Mai 2018 gewann MUSAIK den ersten Preis beim Hochschulwettbewerb Musikpädagogik der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen. Zum Schuljahr 2018/19 erweiterte sich das Team der Lehrkräfte, es begann eine neue Streichergruppe und es wurde zusätzlich ein Bläserbereich ins Leben gerufen. Aktuell kommen etwa 65 Kinder zwischen sechs und vierzehn Jahren regelmäßig zum Unterricht. Auch ergaben sich mehrere wertvolle Kooperationsprojekte, so z. B. ein gemeinsames Konzert mit dem Dresdner Nachwuchsorchester des Heinrich-SchützKonservatoriums und die Uraufführung eines speziell für diesen Anlass komponierten Werks mit den Dresdner Sinfonikern im Festspielhaus Hellerau.7


© Anja Schneider

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Bunte Saiten und Solmisation Neben der Vermittlung von instrumentalen Grundlagen sind vor allem spielerische und kreativ-gestalterische Herangehensweisen, Bewegung zur Musik sowie das Singen zentrale Bestandteile des Unterrichts. Im Streicherbereich wird mit Elementen der Colourstrings-Methode gearbeitet, welche Lerninhalte kindgerecht mit bestimmten Farben und Symbolen verknüpft sowie regelmäßig das Pizzicato der linken Hand und natürliche Flageoletts mit einbezieht. Zusätzlich spielen Relative Solmisation sowie die Rhythmussprache nach Kodály eine tragende Rolle. Auch im Bläserbereich wird zunächst nach Solmisationssilben und -handzeichen gespielt, was ein unmittelbares gemeinsames Musizieren der unterschiedlich transponierenden Instrumente ermöglicht.

Potenziale und Herausforderungen MUSAIK will Begegnungen zwischen den Kindern, aber auch zwischen deren Familien ermöglichen sowie durch die Konzerte ebenso zwischen den Kindern und den Bewohnern des Viertels und der Stadt. Auch will das Projekt Teamwork, Rücksichtnahme, Kommunikationsfähigkeit, Disziplin, Verantwortungsbewusstsein und Selbstwertgefühl stärken und so dazu beitragen, dass Kinder Lust am Mitgestalten von gesellschaftlichem Zusammenleben entwickeln.8 Natürlich bringt ein solches Vorhaben große Herausforderungen auf verschiedenen Ebenen mit sich. Im administrativen Bereich leistete die Cellex-Stiftung als Projektträgerin unverzichtbare Unterstützung. In Bezug auf die Raumsituation gibt es noch offene Fragen. Ideal wäre ein eigener Ort,

ein sozialer Treffpunkt, der gestaltet werden kann und den die Kinder besuchen, um frei von Zwang und negativen Konnotationen gemeinsam Zeit zu verbringen.9 Eng damit verbunden ist die Schwierigkeit einer kontinuierlichen Finanzierung. Zwar ist das Interesse von Politik und Medien sehr groß, auch gibt es bereits umfangreiche Unterstützung,10 dennoch ist das Projekt immer wieder auf neue und oft unsichere Förderzusagen angewiesen. Um dauerhaft und verlässlich arbeiten zu können, wäre eine institutionelle Förderung wünschenswert.

Ausblick Im Bemühen, sich stetig weiterzuentwickeln sowie einen breiten Unterstützerkreis aufzubauen, ist der Verein offen für Anregungen und Kontakte, für Menschen, die sich für das Projekt engagieren wollen, für pädagogische Expertise und fachlichen Austausch. Auch Geld- und Instrumentenspenden sind immer willkommen.11 Mittlerweile finden sich europaweit erfolgreiche von „El Sistema“ inspirierte Projekte.12 Mit MUSAIK gibt es nun einen solchen Vorstoß in Deutschland. Hoffentlich kann er Impulsgeber sein, hin zu echter Teilhabegerechtigkeit und für eine musikpädagogische Arbeit im Sinne einer Gesellschaft des gelebten Miteinanders. ((

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Jürgen Vogt bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den sog. „Capabilities Approach“ von Amartya Sen und Martha C. Nussbaum; vgl. Jürgen Vogt: „Benachteiligung und Teilhabe im Kontext von Kultur- und Musikpädagogik“, in: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik 2013, S. 8-12. 2 Bei „El Sistema“ finden Orchesterproben sogar fünf Mal wöchentlich statt; vgl. Peter Röbke: „Was hat El Sistema mit Klavierunterricht in Dinkelsbühl zu tun?“, in: üben & musizieren 6/2011, S. 8-13. 3 vgl. Peter Röbke: „Lernen in der musikalischen Praxisgemeinschaft“, in: Peter Röbke/Natalia

Ardila-Mantilla (Hg.): Vom wilden Lernen. Musizieren lernen – auch außerhalb von Schule und Unterricht, Mainz 2009, S. 159-168 sowie Peter Röbke: „Der musikalische Ernstfall“, in: üben & musizieren 3/2010, S. 46-49. 4 zuletzt besonders intensiv von Andreas Doerne: Musikschule neu erfinden. Ideen für ein Musizierlernhaus der Zukunft, Mainz 2019. Siehe auch Barbara Busch und Barbara Metzger zur „Rolle der Eltern“, in: Barbara Busch (Hg.): Grundwissen Instrumentalpädagogik, Wiesbaden 2016, S. 157 f. 5 siehe hierzu den Bericht von Luisa Marotzke und Tatjana Merzyn in üben & musizieren 1/2011, S. 48-50. 6 Die Arbeitslosigkeit in Prohlis ist überdurchschnittlich hoch, deutlich mehr als die Hälfte der Kinder leben in Familien, die auf Hartz IV angewiesen sind, vgl. http://qm-prohlis.de/Bevoelkerungsstruktur.24.html (Stand: 19.7.2019). 7 Intendant Markus Rindt hatte im Vorfeld den Erich-Kästner-Preis des Presseclubs Dresden erhalten und das Preisgeld an MUSAIK gespendet. 8 Mit den sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen von musikpädagogischer Arbeit beschäftigte sich ausführlich Ausgabe 1/2019 dieser Zeitschrift, siehe insbesondere Thomas Greuel: „Miteinander verbunden. Soziale und gesellschaftliche Dimensionen des gemeinsamen Musizierens“, S. 6-11. 9 Aktuell findet der Unterricht an zwei Schulen statt, was dieser Idee nicht vollständig gerecht wird. 10 u. a. durch die Stadt Dresden, den Sächsischen Musikrat, die Cellex-Stiftung, das Societaetstheater und das Quartiersmanagement Prohlis. Weitere Unterstützer und aktuelle Informationen unter www.musaik.eu. 11 Kontakt: mail@musaik.eu. 12 siehe den Bericht von Andrea Welte über das französische Projekt „Démos“ in üben & musizieren 3/2016, S. 44-46 sowie den Bericht von Hannah Lindmaier über das österreichische Projekt „Superar“ in üben & musizieren 4/2016, S. 22-25.

www.musaik.eu

Julian Schunter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Instrumental- und Gesangspädagogik an der Hochschule für Musik Dresden und Initiator des Bläserbereichs bei MUSAIK.


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Die Gruppe ist klüger als der Einzelne

Kollegiale Beratung Mit der kollegialen Beratung lernen Kollegien, sich nach Absprache fachbezogen zu unterhalten – wertschätzend, konzentriert und fokussiert. Dies wirkt sich auf Fachkonferenzen und im Einzelgespräch gleichermaßen positiv aus, denn die Methode hebt die Fähigkeiten des Kollegiums zur Hilfestellung für andere. So wird das Gefühl von „Selbstwirksamkeit“ bei den Lehrkräften gestärkt, denn die Anregungen und Lösungsvorschläge kommen ausnahmslos aus der Gruppe.

)) Unsere Hauptressourcen sind die Kunst und das Bedürfnis, diese mit anderen zu teilen. Letzteres nennt sich Pädagogik, wenn es nicht auf der Bühne, sondern im Unterrichtsraum stattfindet. Für unsere pädagogische Weiterentwicklung gehört der Austausch im Kollegium dazu. Kollegiale Beratung ist ein Baustein zur Professionalisierung unserer pädagogischen Arbeit. Ein weiterer ist das Angebot von Supervision oder professioneller Beratung. Hier sind die Musikschulleitungen gefragt.

Ich hab da was … Man trifft sich, redet über ein Problem und erwartet vielleicht auch Ideen, die weiterhelfen. Die gutwilligen KollegInnen geben gerne gute Tipps und berichten vielfach selbst über ein ähnliches Problem, die Umstände, die dazu führten – und vergrößern so Ihren Fall … Oder erklären anhand Ihres Falles die Welt … Oder geben eine abschließende Bewertung … Oder entlasten sich selbst … All das führt ungewollt von Ihrem Problem weg und Ihr Faden ist verloren gegangen. Kollegiale Beratung ist ein niedrigschwelliges Selbstberatungsformat für Teams, deren Mitglieder hierarchisch auf gleicher Stufe stehen. Sie folgt klaren Regeln und

Zeitvorgaben, die es ermöglichen, innerhalb von 45 Minuten ein Beratungsergebnis zu erzielen. Der Charme der Methode entsteht – bei Einhalten der Regeln – durch die kurze Beratungszeit. Das sehr einfache Regelwerk gewährleistet die folgenden Standards, für deren Einhaltung die Moderation zuständig ist: ) Es wird weder bewertet noch interpretiert. ) Es wird beraten, ohne zu diskutieren. ) Der Fallerzähler steht im Mittelpunkt, nicht die eigene Meinung. ) Psychologische Interventionen gehören in professionelle Hände – es gibt in der kollegialen Beratung keine Küchenpsychologie.

Los geht’s Die Initiative für die kollegiale Beratung an Musikschulen ging vom Landesverband der Musikschulen in NRW aus. In Nordrhein-Westfalen treffen sich Musikschulleitungen regelmäßig in sogenannten Intervisionsgruppen, um sich gegenseitig kollegial zu beraten. Es gibt mehrere Varianten der kollegialen Beratung und das Internet hält viele davon bereit. Die hier vorgestellte Variante in

Wenn sich etwas komisch anfühlt … Manchmal hakt eine Beratung, weil es hinter dem Thema ein „eigentliches“ Thema gibt. Dies kann sowohl eine berufliche als auch persönliche Angelegenheit sein, die im Gewand einer anderen Fragestellung auftritt. Das zu erkennen, erfordert etwas Erfahrung in der Gruppe. Die Schlüsselfrage sollte dann umformuliert werden.

Matthias Fromageot

sechs Phasen ist am klarsten strukturiert. Unter Anleitung eines Moderators beraten alle Teilnehmer einen Fall und suchen nach Anregungen und Lösungsideen, die den Fallerzähler in seiner Fragestellung unterstützen. ) Die Teamgröße besteht aus ca. sechs bis zwölf Personen. ) Es gelten die allgemeinen Gesprächsregeln: Vertraulichkeit, Zuhören, AusredenLassen, wertschätzender Umgang … ) Es nimmt kein professioneller Berater teil. ) Die Rolle sind austauschbar: heute Moderator, morgen Fallerzähler. ) Die Beratung findet in sechs Phasen statt, deren Ablauf und Methode allen Teilnehmenden bekannt sind. ) Jeder ist am Prozess aktiv beteiligt. ) In der Kürze liegt die Würze. ) Der Moderator steuert den Prozess und wird von allen als solcher anerkannt. Zwei Umstände sind für das Gelingen unerlässlich: die Vertraulichkeit und die Abwesenheit von Vorgesetzten. Beide Gebote schützen Fallgeber und Gruppe. Die Vertraulichkeitsverabredung wird jedes Mal aufs Neue geschlossen, mit der Ausnahme von Gefährdungslagen für Schülerinnen und Schüler. Der Ablauf einer Beratung ist nachfolgend skizziert, die Zeitangaben sind nicht verbindlich, aber sinnvoll.

1. Rollenverteilung (5 min) ) ModeratorIn, FallerzählerIn, kollegiale BeraterInnen, SekretärIn, ZeitnehmerIn

2. Fallerzählung (10 min) ) Fiktive, bereits abgearbeitete Fälle sowie Fragen, auf die Sie selbst keinen Einfluss haben, können nicht beraten werden. ) Die Fälle müssen nicht vorbereitet sein. ) Die Gruppe hört nur zu.


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Wenn man Schwieriges erfährt …

) Verständnisfragen zulässig – Achtung: keine Rückmeldungen an den Fallerzähler, keine erweiternden Fragen!

3. Schlüsselfrage (5-10 min) ) Verdichten der Fallerzählung auf eine Frage, die das Ziel der Beratung und den Wunsch an die Gruppe beinhaltet. ) Hat der Fallerzähler Schwierigkeiten bei dieser Frage, hilft die Gruppe. Das letzte Wort hat immer der Fallerzähler. ) Lässt sich keine Schlüsselfrage verdichten, ist die Beratungsmethode: „Schlüsselfrage finden“. ) Der Sekretär notiert die Schlüsselfrage für alle sichtbar am Flipchart.

4. Beratungsmethode (5 min) ) Fallerzähler und BeraterInnen tauschen sich über die Methodenwahl aus. ) Der Moderator erläutert eventuell die Methoden. ) Der Moderator erläutert nach Festlegung auf eine Methode die genaue Vorgehensweise in dieser Methode ) Beratungsmethoden (Auswahl): – Brainstorming: Kurz und schnell Gedanken äußern. – Ein erster Schritt: … mit dem du morgen anfangen kannst. – Gute Ratschläge: Jeder Satz beginnt mit „Ich rate dir …“ – Erfolgsmeldung: So tun, also ob der Erfolg schon eingetreten sei, und in einfachen Sätzen benennen, was dafür rückblickend hilfreich war. – Schlüsselfrage finden

5. Beratung (10-15 min) ) Der Fallerzähler hört nur zu und nimmt eventuell außerhalb des Teams Platz.

) Der Moderator hat die „Lizenz zum Eingreifen“: Es wird nur im gewählten Beratungsformat gearbeitet, ohne Rückfragen an den Fallerzähler, ohne Diskussion der BeraterInnen untereinander und ohne Kommentieren der Beiträge. Das ist wichtig. ) Der Sekretär notiert die Beiträge für alle sichtbar am Flipchart. Sind die Beiträge so nicht aufzuschreiben, hilft eine Nachfrage: „Ich brauche bitte einen Satz.“

6. Abschluss (5 min) ) Rückmeldung vom Fallerzähler, was an Ideen hilfreich ist. ) Dank und Feedback an den Moderator. ) Übergabe der Aufzeichnungen am Flipchart durch den Moderator als „Geschenk der Gruppe“. ) Keine weiteren Kommentare zum Fall!

Was geht kollegial … ) Pädagogische Themen (In meiner Gruppe ist jemand, der immer stört …) ) Fragen aus dem unmittelbaren Unterrichtskontext (Schülerin XY hat mir etwas Schwieriges erzählt, wie gehe ich damit um?) ) Organisatorische Fragen (Wie wird die Veranstaltung ein Erfolg?) ) Fragen zur beruflichen Weiterentwicklung (Ich weiß nicht, welche Fortbildung ich besuchen kann …) ) Probleme mit Vorgesetzten (Wie beginne ich das Gespräch mit XY?)

Wenn Kinder sich Ihnen gegenüber äußern oder Sie ein ungutes Gefühl haben: Schauen Sie hin! Handeln Sie nicht eigenständig und übereilt! Fragen, die das Kindeswohl betreffen, sollten immer in einer Beratung erörtert werden, um weiteres Handeln abzusichern. Informieren Sie (z. B. nach einer kollegialen Beratung) den Vorgesetzten oder das Jugendamt, zunächst ohne Nennung des Namens der Kinder, die sich Ihnen gegenüber geäußert haben. Auf Beratung durch das Jugendamt besteht ein Rechtsanspruch nach § 8b SGB VIII, (1). Das Jugendamt entscheidet dann in eigener Zuständigkeit, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Nach § 8 SGB VIII, (3) müssen die Eltern nicht in Kenntnis gesetzt werden, wenn der Beratungszweck dadurch vereitelt würde.

) Themen, die alle TeilnehmerInnen gleichermaßen betreffen

Die gute Nachricht zum Schluss Kollegiale Beratung kann leicht erlernt werden – es gibt kein Hexenwerk, es wird mit Wasser gekocht. Teams benötigen einen ganztägigen Fortbildungstag, einen Auffrischungstag sowie Bereitschaft und Gelegenheit, kollegiale Beratung regelmäßig zu praktizieren. Das kann beispielsweise in Fachkonferenzen oder speziellen Treffen sein. Die Fortbildung in kollegialer Beratung wird in der Regel durch SupervisorInnen oder speziell ausgebildete TrainerInnen durchgeführt, sodass auch die Abgrenzung zur Supervision für die lernenden Teams klar erkennbar wird. Weitere Informationen zur kollegialen Beratung an Musikschulen erhalten Sie über kontakt@lvdm-nrw.de oder den Autor. ((

… und was braucht einen Profi ) Spannungen zwischen Anwesenden ) Fragen, deren Lösung andere Gruppenmitglieder betreffen ) Persönliche Themen, die sich beruflich auswirken

Matthias Fromageot ist stellvertretender Musikschulleiter in Leverkusen. Er ist freischaffend als Supervisor tätig.


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„Du spielst Klavier, ich spiele mich!“

Karin Holzwarth, Marjolein Kok und Cordula Reiner-Wormit

Auftrag und Chancen von Musiktherapie an Musikschulen

Endlich ist wieder Dienstag. Die ganze Woche über fragt Lutz seine Mutter, wann wieder Dienstag sei. Dabei kennt er die Wochentage schon sehr gut. Dienstags geht er in die Musikschule zur Musiktherapie. Und Musiktherapie, erklärt die Mutter der Musiktherapeutin im Elterngespräch, ist für Lutz „genauso wichtig wie Fußball und Fernsehen“. Ein Highlight in seiner Woche.

)) Die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (dmtg) Berlin definiert Musiktherapie als gezielten Einsatz von Musik im Rahmen der therapeutischen Beziehung zur Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung seelischer, körperlicher und geistiger Gesundheit. Musiktherapie ist eine praxisorientierte Wissenschaftsdisziplin, die in enger Wechselwirkung zu verschiedenen Wissenschaftsbereichen steht, insbesondere der Medizin, den Gesellschaftswissenschaften, der Psychologie, der Musikwissenschaft und der Pädagogik.1 In der Musikpädagogik ist Musik Weg und Ziel, in der Musiktherapie ist die Musik systematisch eingesetztes Medium zur Gestaltung und Begleitung von individuellen Veränderungsprozessen mit nicht-musikalischen Zielsetzungen. Öffentliche Musikschulen verbinden ihren Bildungsauftrag und ihren künstlerischen Auftrag. Die Musiktherapie ergänzt dieses Feld um den Auftrag aus dem Gesundheitswesen. Sie trägt ihr klinisches und psychotherapeutisches Wissen von emotionalem und psychischem Befinden, von der Beziehungsfähigkeit und der Psycho-

dynamik von Gruppenprozessen in das Gefüge der Musikschule hinein. Dieses Wissen ist von grundlegendem Wert, um Entwicklungskonflikte und Lernblockaden zu erfassen und ihnen im schulischen Alltag niederschwellig und gezielt zu begegnen. Musiktherapie als ergänzendes Fach an Musikschulen ermöglicht einen direkt verfügbaren, individuell differenzierten Entwicklungsraum für Kinder und Jugendliche in Entwicklungskrisen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur sekundären Prävention an Musikschulen: Auffälligkeiten und Entwicklungsblockaden können frühzeitig erkannt, professionell verstanden und effektiv aufgefangen werden, bevor sich schwerwiegende Störungsbilder entwickeln.

Positionspapiere Im Leitbild des Verbands deutscher Musikschulen (VdM) heißt es: „Unsere Träger bilden im Verband deutscher Musikschulen ein starkes Netzwerk, das sich zur musikalisch-kulturellen Teilhabe aller Menschen bekennt. […] Sie öffnen die Zugänge und bereiten die Wege zur Musik […] fachlich, räumlich und sozial offen.“ Diese Worte fordern Handlungen ein – und nicht nur das: Auch die Haltung jeder einzelnen an einer Musikschule tätigen Person ist herausgefordert, dieses Ziel zu verinnerlichen, von der Lehrkraft bis zum Hausmanagement, von der Verwaltung bis zur Leitung. So heißt es weiter: „Wir bekennen uns zur Inklusion als Anspruch und Aufgabe. Wir ermöglichen jedem Menschen, an der Musik teilzuhaben – durch

diskriminierungsfreie, auch aufsuchende Angebote, durch weitgehende Selbstbestimmung jedes Einzelnen sowie eine äußere und innere Barrierefreiheit. Vielfalt und Heterogenität erkennen und nutzen wir als Chance und stellen dabei den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt.“2 In der Potsdamer Erklärung etwa ein Jahr vor Erstellung des Leitbilds hat der VdM seine Haltung bereits differenziert vorgestellt: „Musikschulen verbinden Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten, wirken gemeinschaftsstiftend, generationen- und kulturübergreifend. Als Zeichen menschlicher Vielfalt werden Begabungen und Behinderungen wertfrei betrachtet. […] Neben den musikpädagogischen finden sich auch musiktherapeutische Angebote an Musikschulen. Die richtige Wahl des Angebotes entscheiden die Schüler/Klienten im Einvernehmen mit ihren Betreuern/ Eltern und den Therapeuten und Pädagogen der Musikschule entsprechend ihrer Ziele und Bedürfnisse.“3

Institutionelle Aufgaben Der musiktherapeutische Blick, gemeinsam mit dem Blick beziehungssensibler Pädagogik, ermöglicht auch einen differenzierteren Umgang mit dem Leistungsbegriff. Vom Wortsinn her geht der Begriff „etwas leisten“ auf das mittel- und althochdeutsche Wort „Leisten“ zurück und bedeutet „einer Spur nachgehen“.4 Es ist eine wesentliche Aufgabe unserer Zeit, den Leistungsbegriff gesellschaftlich zur Diskussion zu stellen. In unserem Fall heißt das, die kritische Selbstreflexion im Kollegium


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In der Musiktherapie wird Musik gehört, gemacht und erlebt, die im geschützten Raum bleiben darf – von jeher ein Bedürfnis von Menschen, z. B. in der Hausmusik, beim Spielen oder Singen im „stillen Kämmerlein“.

und auf der Leitungsebene voranzutreiben: Welche Zugänge werden vulnerablen Teilen der Gesellschaft ermöglicht? Welche Begleitung und Unterstützung werden diesen an die Hand gegeben, um „eine Spur aufzunehmen und ihr zu folgen?“ Was ist die Institution bereit zu lernen von Menschen, die Angebote benötigen, welche über reguläre Vermittlungsformate hinausgehen? Die Nähe und Verbundenheit von pädagogischem und therapeutischem Handeln unter dem Dach der Musikschule ist eine immense Chance, um Angebote für Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf zukünftig immer differenzierter und individueller auszugestalten und abzustimmen. Von dieser Zusammenarbeit profitiert die Musikschule im Umgang mit den wesentlichen Barrieren, die persönliche Entwicklung und Lernfähigkeit behindern können: ) kognitive Einschränkungen, ) körperliche und funktionelle Einschränkungen, ) Einschränkungen im sozialen Umfeld, ) Einschränkungen im Repertoire der adäquaten Verhaltensweisen, ) psychische und emotionale Einschränkungen. Diese Barrieren werden in aller Regel nur dann zu Barrieren im Sinne von Behinderungen der Entwicklung eines Menschen, wenn seine Umwelt keinen Umgang mit ihnen findet oder die besonderen Lebensbedingungen gar nicht wahrnimmt. Letzteres ist gerade in größeren Institutionen mit stark geregelten, standardisierten Handlungs- und Organisationsabläufen häufig

der Fall und kann für die betroffenen Personen großes Leid auslösen. Musiktherapie kann an der Musikschule einen Beitrag leisten, für solcherart Barrieren zu sensibilisieren (dass sie gesehen werden), die Ursachen zu verstehen, zu reduzieren oder zumindest den Umgang mit diesen Barrieren leichter zu machen.5 Musiktherapie fördert auf diese Weise Empowerment (= Selbstbemächtigung/-verantwortung/-kompetenz) und die Fähigkeit, Möglichkeiten zur Teilhabe tatsächlich nutzen zu können. Immer wieder erleben wir, wie die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die wir musiktherapeutisch begleitet haben, plötzlich ein Interesse entwickeln, ein bestimmtes Instrument zu erlernen, oder durch die erreichte Beziehungs-, Wahrnehmungs- oder Konzentrationsfähigkeit schließlich in die Lage kommen, ein musikpädagogisches Angebot sinnvoll und erfolgreich zu nutzen.

Inklusive Musikschulpädagogik und Musiktherapie Musiktherapie an Musikschulen wird vom VdM, vom Fachausschuss, von Schulleitungen und KollegInnen als hilfreiche und wichtige Partnerin zur Erreichung des erklärten Ziels angesehen, Inklusion an Musikschulen zu verwirklichen. Musiktherapeutische Angebote ersetzen keine inklusionspädagogischen Bemühungen und wollen auch nicht als Adresse bzw. Auffangbecken verstanden werden für alle Menschen, die „behindert“ oder „schwierig“ sind, also als besondere pädagogische Herausforderung erlebt werden. Menschen

mit Behinderung, die ein Musikinstrument erlernen möchten bzw. bei denen – egal wie spielerisch, kleinschrittig oder niederschwellig – das Vermitteln von musikalischen und instrumentaltechnischen Kompetenzen das entscheidende Anliegen und Ziel darstellen, sollten auch Unterricht bekommen. MusiktherapeutInnen an Musikschulen stehen bei Bedarf mit ihrem Wissen über Krankheitsbilder, Behinderungsformen, Verhaltensauffälligkeiten und Beziehungsdynamik kollegial unterstützend zur Seite und werden unseren Erfahrungen nach auch in Bandleitungsteams oder pädagogischen Tandems mit ihrem „therapeutischen Blick“ als hilfreiche Unterstützung im inklusionspädagogischen Prozess erlebt. Wichtig ist uns jedoch ausdrücklich, dass Musikunterricht mit Menschen mit Behinderung selbstverständlich auch „Unterricht“ und nicht „Musiktherapie“ heißt – auch dann, wenn musiktherapeutisch ausgebildete KollegInnen in manchen Fällen als Lehrkraft angefragt werden sollten. Mit dem Angebot Musiktherapie versorgen wir diejenigen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, bei denen das fokussierte Anliegen besteht, über das Erleben von Musik effektiv an nicht-musikalischen Zielsetzungen zu arbeiten.

Beziehungsfähigkeit als Grundlage Die Gestaltung einer Beziehung ist die Grundlage aller pädagogischen und therapeutischen Arbeitsfelder. Eine gelungene Beziehung ist von gegenseitigem Vertrauen


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„Wir wünschen uns, dass Musikschulen Orte sind, an denen Kinder und Jugendliche in Krisen aufgefangen werden, bevor sich leidvolle Teufelskreise entwickeln.“

und Wertschätzung gekennzeichnet und erfordert ein kreatives Miteinander im familiären, schulischen und sozialen Umfeld. Gisela Peters – Gründerin des Fachbereichs Musiktherapie an der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg und Gründungsmitglied des Bundesweiten Arbeitskreises Musiktherapie an Musikschulen (BAMMS) – bezeichnet die Beziehungsfähigkeit als Grundlage der Lernfähigkeit. Wenn Beziehungen schon frühzeitig „fehlen oder erstarren, belastet oder zerstört sind“,6 bedarf es therapeutischer Hilfe. Psychische und emotionale Belastungen verringern die Beziehungsfähigkeit. Die innere und äußere Flexibilität, die emotionale Beweglichkeit sind eingeschränkt oder ganz erstarrt. In diesem Fall ist ein Lernprozess nahezu unmöglich. Die Lernfähigkeit ist eklatant verringert im Fall von emotionalem und psychischem Stress. Musiktherapie setzt als beziehungstherapeutisches Verfahren exakt auf dieser Ebene an.

Angebote der Musiktherapie Welche Menschen erreichen wir mit Musiktherapie an Musikschulen? Wem ermöglichen wir musikalische und damit persönliche Spielräume? Zum einen arbeiten wir im regulären „Nachmittagsgeschäft“ mit Kindern und Jugendlichen und an manchen Musikschulen auch mit Erwachsenen einzel- und gruppentherapeutisch an individuellen therapeutischen Zielsetzungen. Zu uns kommen Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, z. B. Aufmerksamkeitsdefiziten, Hyperaktivität, Impulsivität, mangelnder Frustrationstoleranz, mit autisti-

scher Symptomatik, mit extremer Schüchternheit, sozialer Ängstlichkeit oder depressiven Symptomen, Schulverweigerer, aber auch Kinder oder Jugendliche mit psychosomatischen Symptomen wie z. B. chronischen Kopfschmerzen, mit Traumafolgestörungen oder in familiären oder persönlichen Krisen. Auch Kinder mit Entwicklungsverzögerungen im Bereich Beziehungsfähigkeit, Wahrnehmung und Sprache werden von uns gezielt begleitet. Wenn bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung das Anliegen besteht, durch Musik an Sekundär- oder Begleitproblematiken im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich differenziert und dabei spielerisch zu arbeiten, fördern wir auch diese ganz gezielt. Eine Behinderung alleine genügt jedoch nicht als Indikation für Musiktherapie. Außerdem arbeiten wir – wie unsere instrumentalpädagogischen KollegInnen auch – sehr viel in Kooperationen der Musikschule mit anderen Institutionen: mit Kindergärten bzw. Grundschulförderklassen, in Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren bzw. Regionalen Bildungsund Beratungszentren, in Flüchtlingsunterkünften, in Wohnheimen für Menschen mit Schwerst-/Mehrfachbehinderungen sowie in Alten- und Seniorenheimen. Die musiktherapeutischen Zielsetzungen sind mit den Kooperationspartnern jeweils individuell nach Bedarf vereinbart und reichen von der Förderung der emotionalen und sozialen Kompetenz, der Stärkung der Selbstwirksamkeit und der Affektregulierungsfähigkeiten bis hin zur Ermöglichung bzw. zum Erhalt nonverbaler Aus-

drucks- und Kommunikationsmöglichkeiten und Lebensqualität oder Sterbebegleitung.

Multiprofessionelle Teamarbeit Musiktherapie kann dazu beitragen, Vielfalt in unserer Gesellschaft auszuhalten, zu begrüßen, gemeinsam zu verhandeln und zu gestalten. In der Musiktherapie wird Musik gehört, gemacht und erlebt, die mit einem oder mehreren Mitmusizierenden im geschützten Raum bleiben darf – von jeher ein Bedürfnis von Menschen, z. B. in der Hausmusik, beim Spielen oder Singen im „stillen Kämmerlein“.7 Musiktherapie bietet solch einen Ort und ermöglicht einen musikalischen Spielraum ohne die Idee, die Bedingung oder das Ziel von Öffentlichkeit und musikalisch-künstlerischer Leistungssteigerung. Dieser Raum als therapeutischer Schutzraum ermöglicht die begleitete persönliche Auseinandersetzung und die Unterstützung persönlicher Veränderungsprozesse. An der Musikschule ermöglicht Musiktherapie auf diese Weise Menschen in kritischen Lebenssituationen die Teilhabe mit den Aspekten Teilgabe, Teilnahme und Teilsein. „Teilhaben heißt in diesem Sinne sich zugehörig zu fühlen, eingebunden zu sein.“ Der Gemeinschaft wird auch etwas gegeben, wie das Kunstwort „Teilgabe“ zum Ausdruck bringt. „Teil sein kann einfach dabeisein bedeuten (auch das hat seinen Wert!), es meint aber vor allem dazu zu gehören.“8 Schulen erkennen heute immer häufiger die Notwendigkeit und Chance, Sozialar-


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Ansprechpersonen und Adressen Bundesweiter Arbeitskreis Musiktherapie an Musikschulen (BAMMS) – Ansprechpersonen: www.musikschulen.de/projekte/ musiktherapie/index.html#Kontakt

Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (dmtg) – Musiktherapie an Musikschulen: www.musiktherapie.de/musiktherapie/arbeitsfelder/musikschule.html – Arbeitskreise: www.musiktherapie.de/ musiktherapie/arbeitskreise.html

Verband deutscher Musikschulen: www.musikschulen.de/projekte/ musiktherapie/index.html

beiterInnen, PsychologInnen und SozialpädagogInnen anzustellen, um den so komplex gewordenen Bildungs- und Präventionsauftrag mit gemeinsamer Kraft zu erfüllen. An Musikschulen können MusiktherapeutInnen in diesem Sinne Verantwortung übernehmen und sich professionell und interdisziplinär einbringen. Wir wünschen uns, dass Musikschulen Orte sind, an denen Kinder und Jugendliche in Krisen aufgefangen werden, bevor sich leidvolle Teufelskreise entwickeln. Dass Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung nicht alleine gelassen werden und therapeutisch begleitende und unterstützende Maßnahmen nicht erst im ambulanten oder stationären psychotherapeutischen Setting zum Tragen kommen. Darin sehen wir den aktuellen Auftrag und auch die zukünftige Chance von Musiktherapie an Musikschulen. Auch außerhalb dezidiert musiktherapeutischer Angebote können MusiktherapeutInnen im Musikschulkollegium ihren geschulten Blick und ihr professionelles Wissen über die Entwicklung und das Verhalten von Kindern und Jugendlichen bei Bedarf einbringen.9 Beispielsweise in TandemLeitungen mit ihren musikpädagogischen KollegInnen, in besonders herausfordernden Gruppenkonstellationen oder in Unterrichtssituationen, in denen der emotional-soziale Kompetenzerwerb eine besondere Rolle spielt und ein interdisziplinär aufgestelltes Leitungsteam besonders effektiv scheint. Auch manche musikalischen Projekte profitieren unserer Erfahrung nach sehr von einer gemeinsamen musikpädagogisch-musiktherapeutischen Kon-

zeption, so Ferienprogramme, Sprachförderung, Angebote für Geflüchtete, Improvisationsworkshops, Gewaltpräventionsprogramme etc. Die KollegInnen profitieren dann jeweils von der fachlichen Expertise und dem Erfahrungsschatz der anderen und können so ihren eigenen professionellen Spiel-, Verstehens- und Handlungsraum erweitern. Wenn es eines Tages an jeder Musikschule differenzierte inklusive musikpädagogische und musiktherapeutische Angebote gibt, ist unser gemeinsames Ziel einer Musikschule für alle Wirklichkeit geworden und immer mehr Kinder wie Lutz können teilnehmen und sich an ihrem Beitrag freuen. Oder wie Robin, der ebenfalls zur Musiktherapie in die Musikschule kommt, es gegenüber seiner Schwester ausdrückt: „Du spielst Klavier, ich spiele mich! Auf ganz vielen verschiedenen Instrumenten.“ ((

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www.musiktherapie.de/musiktherapie/definition.html (Stand: 26.8.2019). 2 VdM-Bundesversammlung, Münster 2015, www.musikschulen.de/medien/doks/Positionen_ Erklaerungen/leitbild_vdm-musikschulen.pdf (Stand: 26.8.2019). 3 VdM: Potsdamer Erklärung. Musikschule im Wandel. Inklusion als Chance, 16. Mai 2014, www.musikschulen.de/medien/doks/vdm/potsdamer_erklaerung_inklusionspapier.pdf (Stand: 26.8.2019). 4 Eva Mensch/Karl-Heinz Steffan: „Zum Beitrag von MusiktherapeutInnen innerhalb des Musikschulkollegiums aus Sicht eines Musikschulleiters und einer instrumentalpädagogischen Kollegin“. Vortrag bei der Jubiläumstagung BAMMS „Spielraum schaffen, Spielraum erhalten – wo die Musik zuhause ist“, Städtische Musikschule Mannheim, 11. November 2017. 5 vgl. Karin Holzwarth: „Musiktherapie zur Unterstützung des öffentlichen Auftrags von Musik-

schulen“, in: Verband deutscher Musikschulen (Hg.): Spektrum Inklusion – wir sind dabei! Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen, Bonn 2017, S. 115-120. 6 Gisela Peters: „Beziehung gestalten“. Tagungsflyer Staatliche Jugendmusikschule Hamburg 2010. 7 Rosemarie Tüpker: „Musiktherapie als Teil des Musiklebens“, in: Hanna Schirmer (Hg.): Jahrbuch Musiktherapie. Band 9: Wo steht die Musiktherapie im Gesundheitswesen?, Wiesbaden 2013, S. 209-223. 8 www.diakonisch.wordpress.com/2012/05/28/teilhabe (Stand: 26.8.2019). 9 vgl. Cordula Reiner-Wormit: „Wechselseitig wertschätzende interdisziplinäre Zusammenarbeit am Beispiel der Musikschule Waghäusel-Hambrücken e. V.“, in: Verband deutscher Musikschulen (Hg.): Spektrum Inklusion – wir sind dabei! Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen, Bonn 2017, S. 121-123.

Karin Holzwarth ist Dipl.-Musiktherapeutin, Dipl.-Musikpädagogin, Psychotherapie (HPrG). Sie ist Fachbereichskoordinatorin Musiktherapie & Inklusion an der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg und hat eine Professur am Institut für Musiktherapie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Marjolein Kok ist Dipl.-Musiktherapeutin (FH, DMtG) (Traumapädagogik und traumazentrierte Fachberatung) und Sachgebietsleiterin für EMP, Musiktherapie und Inklusion an der Musikschule Mannheim. Cordula Reiner-Wormit ist Dipl.-Musiktherapeutin (FH), Psychotherapie (HPrG). Sie ist Fachbereichsleiterin Inklusion und Musiktherapie an der Musikschule Waghäusel-Hambrücken e. V. und Lehrbeauftragte für Frühkindliche und Elementarpädagogik an der PH Heidelberg.


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Gesund von Anfang an

Isabel Fernholz und Alexander Schmidt

Prävention musikerspezifischer Erkrankungen im Instrumentalunterricht Musikerspezifische Erkrankungen sind gemäß zahlreicher epidemiologischer Studien sehr häufig.1 Ca. 80 Prozent der professionell tätigen Musikerinnen und Musiker entwickeln im Laufe ihrer Berufstätigkeit zumindest ein tätigkeitsbezogenes medizinisches Problem, das die musikalische Leistungsfähigkeit beeinträchtigt.

)) Zu den häufigsten Gesundheitsstörungen bei MusikerInnen gehören Schmerzen des Bewegungssystems, zum Beispiel im Rahmen muskuloskelettaler Überlastungssyndrome oder chronischer myofaszialer Schmerzsyndrome, sowie psychische Belastungen und Erkrankungen wie etwa Lampenfieber oder Auftrittsangst und depressive Erkrankungen. Das Spektrum musikerspezifischer Erkrankungen ist darüber hinaus sehr breit und umfasst unter anderem verschiedenartige Sehnenerkrankungen der Hände, neurologische Bewegungsstörungen, Nervenkompressionssyndrome, Hörstörungen, Stimmstörungen bei Sängerinnen und Sängern sowie Erkrankungen der Zähne bei Bläsern. Zahlreiche Risikofaktoren tragen ursächlich zur Entstehung von Musikererkrankungen bei.2 Hierzu zählen unter anderem körperliche Anforderungen beim Musizieren bis an physiologische Grenzen, die zum Teil körperlich belastende Bau- und Spielweise zahlreicher Instrumente, belastende Bedingungen am Arbeitsplatz sowie hohe psychosoziale Anforderungen im Musikerberuf. Die Diagnostik und Behandlung erkrankter MusikerInnen sollte aufgrund des breiten Erkrankungsspektrums interdisziplinär erfolgen: neben Fachärzten verschiedener Gebiete auch durch PhysiotherapeutInnen,

verschiedene KörpertherapeutInnen, LogopädInnen und StimmtherapeutInnen, PsychologInnen und PsychotherapeutInnen sowie durch Instrumental- oder GesangspädagogInnen. An zahlreichen deutschen Musikhochschulen und medizinischen Unikliniken existieren bereits spezialisierte interdisziplinäre Einrichtungen für die Diagnostik, Behandlung und Prävention musikerspezifischer Erkrankungen. Ein Überblick findet sich auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin (DGfMM): www.dgfmm.org. Auch im Instrumentalunterricht spielen musikerspezifische Gesundheitsstörungen eine Rolle. Instrumentalunterricht an einer Musikschule in Deutschland erhielten im Jahr 2017 etwa 1,5 Millionen MusikschülerInnen, von denen ca. 85 Prozent jünger als 18 Jahre waren und die von etwa 37 000 Musiklehrkräften unterrichtet wurden (www.miz.org). Junge Musikerinnen und Musiker sind ebenfalls häufig von Gesundheitsstörungen betroffen. So berichten zwischen 68 und 88 Prozent der Musikstudierenden an Musikhochschulen, be-

reits vor Studienbeginn unter mindestens einem spielbedingten gesundheitlichen Problem zu leiden.3 Daher ist die Prävention schon von Beginn der musischen Ausbildung an von großer Wichtigkeit und entsprechende Lerninhalte sollten in einen umfassenden Instrumentalunterricht einfließen. Im Folgenden werden klinische Grundlagen und präventive Basismaßnahmen bezüglich der häufigsten Gesundheitsstörungen bei MusikerInnen für den Instrumentalunterricht erläutert sowie abschließend Möglichkeiten der Integration präventiver Angebote in die musische Ausbildung diskutiert.

Prävention muskuloskelettaler Schmerzen und Überlastungen Zu den häufigsten somatischen Musikerbeschwerden gehören muskuloskelettale Schmerzen,4 die häufig akut im Rahmen von muskuloskelettalen Überlastungssyndromen (overuse syndroms) auftreten. Je nach Instrument sind dabei schwerpunktmäßig die oberen Extremitäten, der Nacken und der Rücken betroffen. Nicht sel-

) Aufwärmen und Dehnen der Muskulatur vor dem Üben (Warm-up), Abkühlen nach dem Spiel (Cool-down)

) kurze Übephasen mit regelmäßigen Pausen (gesunde professionelle MusikerInnen üben ca. 45 Minuten danach zehn bis 15 Minuten Pause, AmateurmusikerInnen und Kinder entsprechend weniger) ) vielseitige Bewegungen beim Spiel ) pädagogische Hilfestellungen bei spieltechnischen Problemen ) abwechslungsreiches Repertoire ) mentale Übetechniken ohne Instrument ) Üben mit Freude ) Vermeiden externer Auslöser ) regelmäßiger körperlicher Ausgleich (z. B. einmal pro Woche Schwimmen)

Tabelle 1: Maßnahmen zur Vermeidung muskuloskelettaler Schmerzen und Überlastungen bei Musikerinnen und Musikern


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www.fit-mit-musik.de Die Stiftung Schloss Kapfenburg setzt sich seit 2003 aktiv dafür ein, Musiker schon vom Kindesalter an aktiv dabei zu unterstützen, sich für und durch das Musizieren fit zu halten.

ten können akute Schmerzen bei MusikerInnen chronifizieren und in eine eigenständige Schmerzerkrankung – das chronische belastungsabhängige myofasziale Schmerzsyndrom – übergehen. Dieses ist charakterisiert durch belastungsabhängige, beim Instrumentalspiel auftretende dumpfe Schmerzen mit zum Teil wechselnder Lokalisation über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten. Schmerzen treten zudem bei zahlreichen weiteren Musikererkrankungen auf wie beispielsweise Entzündungen der Sehnen und Sehnenscheiden der oberen Extremitäten, Schultererkrankungen (z. B. Impingement-Syndrom), bei neuropathischen Schmerzsyndromen sowie Nervenkompressionssyndromen. Zahlreiche spezifische Risikofaktoren für muskuloskelettale Schmerzen bei MusikerInnen sind bekannt.5 Dazu zählen unter anderem inadäquate körperliche Voraussetzungen (z. B. kleine Hände mit geringer Spannweite bei Pianisten), nicht optimale Ergonomie des Instruments, unphysiologische Haltung oder Technik beim Musizieren, Änderungen oder Fehler im Übeverhalten (z. B. plötzliche Steigerung der Übezeit, keine ausreichenden Pausen, zu anspruchsvolles Repertoire) sowie ungünstige Umweltfaktoren (z. B. belastende au-

ßermusikalische Aktivitäten). Auch psychische Faktoren wie überhöhte Leistungsansprüche, ein ausgeprägter Perfektionismus oder ein erheblicher Leistungs- und Konkurrenzdruck können eine Rolle spielen. Pathophysiologisch kommt es bei akuten Schmerzen zu einer lokalen Entzündungsreaktion mit Ausschüttung von schmerzinduzierenden Gewebsmetaboliten. (Metaboliten sind Substanzen, die als Zwischenstufen oder Abbauprodukte von Stoffwechselvorgängen entstehen.) Wenn Schmerzen chronisch werden, spielen Anpassungsprozesse des Nervensystems mit in der Folge dauerhafter Herabsenkung der Schmerzschwellen sowie Übererregbarkeit der Schmerzbahn eine zentrale Rolle.6 Spezifische präventive Maßnahmen zur Vermeidung muskuloskelettaler Schmerzen und Überlastungen bei MusikerInnen, die bereits im Kindesalter geübt und in den Instrumentalunterricht integriert werden können, sind in Tabelle 1 dargestellt.

Prävention von Stress und Auftrittsängsten Zu den häufigsten psychischen Musikerbeschwerden gehören Stress und Auftrittsängste – ungefähr ein Viertel aller Berufs-

) exzellente Vorbereitung von Stücken und äußeren Bedingungen inklusive mentaler Auftrittssimulation und mentalen Übetechniken ) häufige Auftritte inklusive Selbstkontrolle per Video ) positive Einstellung gegenüber Auftritt und Fehlern mit Freude am Spiel ) Entspannungstechniken wie z. B. Autogenes Training oder Progressive Muskelentspannung (Jacobson) ) Körperwahrnehmungsverfahren wie z. B. Atemtechniken, Feldenkrais-Methode oder Alexandertechnik Tabelle 2: Maßnahmen zur Vermeidung von Stress und Auftrittsängsten bei Musikerinnen und Musikern

musikerInnen leiden unter Auftrittsangst. Frauen sind häufiger von Auftrittsangst betroffen, Erkrankungsgipfel liegen in der Pubertät und zu Beginn des Berufslebens.7 Die meisten Auftritte vor Publikum sind mit einer spezifischen physiologischen Erregung bzw. Aufregung (umgangssprachlich als Lampenfieber bezeichnet) verbunden, die durch Aktivierung des sympathischen Nervensystems hervorgerufen wird und für einen guten Auftritt erforderlich ist. Lampenfieber führt unter anderem zu verstärkter Konzentration, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Durchblutung der Muskulatur. Die Aufregung hängt hierbei mit der Aufführungsqualität zusammen (Yerkes-Dodson-Kurve).8 Wird die Aufregung so stark, dass die Leistung nicht mehr abgerufen werden kann und die Aufführungsqualität sinkt, spricht man von Auftrittsangst. Typischerweise manifestiert sich die Auftrittsangst auf physiologischer (Tremor, Schwitzen, erhöhter Puls), emotionaler (Angst), kognitiver (negative Gedanken) und Verhaltensebene (Vermeidungsverhalten). Als spezifische Risikofaktoren für Auftrittsangst gelten ein ängstlich-zwanghafter Persönlichkeitsstil, Perfektionismus, ungünstige Auftrittserfahrungen, ein rigider Erziehungsstil, überhöhte Leistungsansprüche an sich selbst, ein erhöhtes Kontrollbedürfnis, eine zu starke negative Bewertung von Fehlern, ausgeprägte Selbstkritik sowie eine große Identifikation mit dem Beruf, die sicher auch mit dem frühen „Berufsbeginn“ meist im Kindesalter zu tun hat.9 Spezifische präventive Maßnahmen zur Vermeidung von Stress und Auftrittsängsten bei MusikerInnen, die bereits im Kindesalter geübt und in den Instrumentalunterricht integriert werden können, sind in Tabelle 2 dargestellt.


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Prävention in der musischen Ausbildung Prävention und Gesundheitsförderung haben in den vergangenen Jahren bei der Ausbildung an Musikhochschulen zunehmende Bedeutung erlangt. So finden sich dort häufig in spezialisierten Bereichen oder Instituten (ein Überblick findet sich auf www.dgfmm.org) Lehrangebote zu wichtigen präventiven Themen wie Ökonomisierung der Spielhaltung und -technik, optimales Üben, regelmäßiges Körper- und Bewegungstraining, Verbesserung der Körperwahrnehmung, Entspannungstraining, Stressbalance, Mental- und Auftrittstraining sowie Gehörschutz. Darüber hinaus existieren berufsbegleitende Weiterbildungsangebote für MusikerInnen mit Schwerpunkt Prävention und Gesundheitsförderung, die in Deutschland an der Universität der Künste Berlin und auf Schloss Kapfenburg regelmäßig angeboten werden (www.fit-mit-musik.de). Aufgrund der oben erwähnten epidemiologischen Befunde zur Häufigkeit von Gesundheitsstörungen bei Musikerinnen und Musikern sollten präventive und gesundheitsfördernde Lerninhalte aber auch an Musikschulen bereits von Beginn der musischen Ausbildung an integriert werden. Hierzu bieten sich Workshops und Präventionskurse für SchülerInnen und Lehrkräfte zu Themen wie Lampenfieber, Üben, Entspannungstechniken oder Körperwahrnehmungsverfahren an. Die Qua-

erscheint alle zwei Monate als Supplement zu üben & musizieren

lifikation und Ernennung interessierter Lehrkräfte zu Gesundheitsbeauftragten, etwa durch Teilnahme an entsprechenden Weiterbildungsangeboten, ist ebenfalls sinnvoll. Eine Vernetzung von Gesundheitsbeauftragten an Musikschulen mit den oben erwähnten spezialisierten Einrichtungen und Bereichen an Musikhochschulen und medizinischen Unikliniken ist langfristig anzustreben, um qualifizierte präventive Lehrangebote und eine optimale Gesundheitsversorgung gewährleisten sowie aktuelle Forschungsergebnisse zügig in den Musikschulalltag integrieren zu können. ((

kuloskelettalen Störungen“, in: Jochen Blum (Hg): Medizinische Probleme bei Musikern, Stuttgart 1995, S. 116-162. 6 vgl. Eckart Altenmüller/Hans-Christian Jabusch: „Neurologie“, in: Claudia Spahn/Bernhard Richter/Eckart Altenmüller (Hg.): Musikermedizin. Diagnostik, Therapie und Prävention von musikerspezifischen Erkrankungen, Stuttgart 2010, S. 187. 7 Isabel Fernholz/Jennifer Mumm/Jens Plag/Katharina Noeres/Gabriele Rotter/Stefan Willich/Andreas Ströhle/ Anne Berghöfer/Alexander Schmidt: „Performance Anxiety in professional musicians: A systematic review on prevalence, risk factors and clinical treatment effects“, in: Psychological Medicine, 2019 (im Druck). 8 Robert M. Yerkes/John D. Dodson: „The relation of strength of stimulus to rapidity of habit-formation“, in: Journal of Comparative Neurology and Psychology 18, 1908, S. 459-482. 9 vgl. Fernholz et al., a. a. O.

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Ein Überblick findet sich bei Claudia Spahn/Helmut Möller: „Epidemiologie von Musikererkrankungen“, in: Claudia Spahn/Bernhard Richter/Eckart Altenmüller (Hg.): Musikermedizin. Diagnostik, Therapie und Prävention von musikerspezifischen Erkrankungen, Stuttgart 2010, S. 7. 2 vgl. Alice G. Brandfonbrener: „Epidemiology and risk factors“, in: Raoul Tubiana/Peter C. Amadio (Hg.): Medical problems of the instrumentalist musician, London 2000 und Ralph A. Manchester: „Toward better prevention of injuries among performing artists“, in: Medical Problems of Performing Artists 21, 2006, S. 1. 3 vgl. Christine Guptill/Christine Zaza/Stanley Paul: „An occupational study of physical playing-related injuries in college music students“, in: Medical Problems of Performing Artists 15, 2000, S. 86-90 und Claudia Spahn/Bernhard Richter/Ina Zschocke: „Health attitudes, preventive behavior, and playing-related health problems among music students“, in: Medical Problems of Performing Artists 17, 2002, S. 22-28. 4 vgl. Spahn/Möller, a. a. O. 5 vgl. Richard N. Norris/Jan Dommerholt: „Orthopädische Probleme und Rehabilitation bei mus-

Dr. Isabel Fernholz ist Assistenzärztin in der musikermedizinischen Sprechstunde des Berliner Centrums für Musikermedizin an der Charité sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kurt-Singer-Institut der Hochschule für Musik Hanns Eisler. Dr. Alexander Schmidt ist Professor für Musikermedizin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, wo er das KurtSinger-Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin leitet, sowie Leiter des Berliner Centrums für Musikermedizin an der Charité.

Redaktion: Sebastian Herbst und Rüdiger Behschnitt Layout: Rüdiger Behschnitt Grafik: Nele Engler


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