5.2018 Inhalt „Deine Stimme macht Musik“ Im Rahmen des Projekts „Verwaltung 2020“ sollen in Düsseldorf in den nächsten Jahren bei Ämtern und Dienststellen der Verwaltung bis zu 20 Prozent der Stellen eingespart werden. Die Einsparungen treffen auch die städtische Clara-Schumann-Musikschule: Viele Stellen sind unbesetzt, Wiederbesetzungen sind ungewiss und laut lokaler Presse (Rheinische Post Online vom 13. August 2018) stehen 3 209 Mädchen und Jungen auf der Warteliste der Musikschule. Lange Wartezeiten sind dort vermutlich die Regel – erst recht bei besonders stark nachgefragten Angeboten. Bereits seit Februar gibt es eine Online-Petition der Freunde und Förderer der Musikschule, mit der Unterschriften zur Besetzung der offenen Lehrerstellen sowie zur Realisierung des Erweiterungsbaus der Musikschule gesammelt werden sollen. Doch nun werden sie dabei von einer Kommunikationsagentur mit einer Kampagne auf Facebook unter dem Titel „Deine Stimme macht Musik“ unterstützt. Sonja Skopp (Senior Art Director der Agentur) berichtet der Presse (Rheinische Post Online vom 11. August 2018), dass auch ihr Nachwuchs Teil der Warteliste sei und sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen etwas tun wollte: „Wir als Werber können mehr leisten, als nur zu unterschreiben.“ „Es tanzt KEIN Bi-Ba-Butze-Mann. Wenn keiner die Musik dazu spielt“ oder „Drei Chinesen OHNE Kontrabass. Was wäre das Leben ohne Musik?“ lauten Slogans ihrer Plakate, die auch auf Musikfestivals präsentiert werden. Neben Plakaten und aktuellen Informationen findet man auf der Facebook-Seite außerdem Musikvideos „ohne Musik“ wie beispielsweise ein Video zu Elvis Presleys Blue Suede Shoes oder zum Song Work von Rihanna feat. Drake mit dem Kommentar: „Wie sich das Leben ohne Musik anhören würde, seht ihr hier.“ Auch lokale MusikerInnen wie Haynrich, Kris Pohlmann, Hanf im Glück und The Porters unterstützen die Kampagne mit eigenen Videos. Die Kampagne bedient sich zudem weiterer emotionaler Werbestrategien und postet Videos begabter Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, Videos zur Wirkung von Musik sowie Reportagen zum Themenbereich „Musik macht schlau“. Und auch wenn zu fragen ist, weshalb – quasi als Gegenleistung – ein Aufruf zur Unterstützung des CrowdfundingProjekts einer der oben genannten Bands gepostet wird, so ist diese Kampagne doch wirklich originell; und für ihr Engagement ist den InitiatorInnen und MitstreiterInnen zu danken. Es bleibt zu hoffen, dass die Kampagne dazu beiträgt, ausreichend Unterschriften zur Verbesserung der Stellenbesetzung zu sammeln! Sebastian Herbst
2 Musikschule in der Schule Erfolgreiche Schulkooperationen an Vorarlberger Musikschulen
4 Eine Brücke aus Gesang Kinderchorprojekt CANTARA für zugewanderte Kinder
6 Bleibende Eindrücke Wie JeKits eine nachhaltige Wirkung erzielen kann (1)
10 Achtung, Kamera! Konzerte filmen und ins Internet hochladen – darf man das eigentlich?
Sie haben Fragen, Anregungen, Tipps oder Hinweise für die Redaktion? info@musikschule-direkt.de
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Musikschule in der Schule
Peter Heiler
Vorarlberger Musikschulen überzeugen durch erfolgreiche Schulkooperationen auch die politisch Verantwortlichen „Das Land Vorarlberg fördert das Vorarlberger Musikschulwesen mit dem Ziel, ein möglichst flächendeckendes Netz leistungsfähiger Musikschulen zu schaffen. Interessierten aller Altersgruppen soll der Zugang zu einer Musikschule zu sozial verträglichen Tarifen offen stehen.“
)) Mit diesem starken Statement in den Musikschul-Förderrichtlinien, 1992 von der Landesregierung formuliert und verbunden mit der Übernahme von 36,67 Prozent der Personalkosten, stieg die Zahl der SchülerInnen an den Musikschulen in Vorarlberg bis 2010 auf etwa 14 000. Damit besuchte jedes dritte Kind im Pflichtschulalter eine Musikschule.
Veränderungen in der Bildungslandschaft Warum sind bei diesem hohen Versorgungsgrad an Musikschulunterricht Kooperationen ein Thema geworden? Die Entwicklung ist brüchig geworden – nicht in den ländlich geprägten Gebieten, aber in den Ballungsräumen, so auch im fortan ausgeführten Beispiel der Landeshauptstadt Bregenz mit ihren rund 27 000 EinwohnerInnen und deren Musikschule mit ca. 1 150 SchülerInnen im Jahr 2010. Die Zahl der Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren, die ein Instrument lernen wollten, nahm jedoch beständig ab, im gleichen Maß, wie sich Ganztagsschulen und Nachmittagsbetreuung mehr und mehr etablierten. Einerseits brach das klassische Klientel der Mittelschicht mehr und mehr weg, andererseits wurde schmerzlich bewusst, dass bisher sozial eher schwache sowie migrantische Bevölkerungsgruppen deutlich unterproportional erreicht wurden. Im Anspruch, niederschwellig offen für alle zu sein, galt es fortan, auf mehrere Schwellen
zu achten: Geld, Zeit, Örtlichkeit und die musikalische Sozialisation, um Struktur und Angebot danach auszurichten.
Motivationen zur Kooperation Eine Zusammenarbeit von Schule und Musikschule war also einerseits aus der Musikschule heraus motiviert, insbesondere zum Erhalt der Schülerzahlen und damit auch der Arbeitsplätze, aber auch zur Erweiterung des Berufsbilds und der Erschließung neuer Musizierformen. Die Schulen und die Politik sind andererseits um die Attraktivität der Schulstandorte, insbesondere der Ganztagsschulen, bemüht. Dazu gehört neben dem Vorteil, alle Lernangebote an einem Ort vorzufinden, auch die Erhöhung der Qualität der musischen Bildung in der Schule. Insbesondere in Kooperationen wird die Qualität unterschiedlich wahrgenommen. Deshalb bedarf es einer gemeinsamen Definition beider Partnerinnen. Es treffen zwei Lehrpläne aufeinander – mit allgemeinen musikalischen Lernzielen hier und ganz konkreten Fertigkeiten dort –, die doch beide gemein haben, so einfach wie möglich ins Musizieren zu kommen. Um das zu erreichen, hat sich an der Musikschule Bregenz eine Unterrichtsstruktur herausgebildet, welche versucht, Schule und Musikschule gleichermaßen gerecht zu werden.
Das Modell in Bregenz In den aktuell stattfindenden Kooperationen mit Volksschulen (Grundschulen) werden die ersten beiden Jahrgänge als EMP- oder Singklassen geführt. Die Musikschul- und Klassenlehrkraft unterrichten einmal wöchentlich im Teamteaching. In der zweiten Klasse werden zum Ende des Schuljahrs die Instrumente vorgestellt, die im folgenden
Jahr angeboten werden. Die Kinder erstellen eine Reihung ihrer Wunschinstrumente; meistens kann der Erstwunsch erfüllt werden. Ab der dritten Klasse werden drei bis fünf Kinder in Gruppen gleicher Instrumente eingeteilt und einmal wöchentlich parallel in unterschiedlichen Räumen von Instrumentallehrkräften unterrichtet. Ergänzend erhält die gesamte Klasse einmal pro Woche Ensembleunterricht von einer Musikschul- und der Klassenlehrkraft. Im Schuljahr 2017/18 unterrichteten Lehrkräfte der Musikschule Bregenz an Volksschulen 398 Kinder – das sind 25,8 Prozent der Musikschul-Gesamtschülerzahl – in ) 7 EMP-Klassen ) 2 Singklassen ) 4 gemischten Bläserklassen ) 1 Holzbläserklasse ) 3 Gitarrenklassen ) 1 Streicherklasse ) 1 Tastenklasse (E-Piano/Akkordeon). Die Struktur des Unterrichts definiert zugleich die Rahmenbedingungen für die erforderliche räumliche Infrastruktur und Instrumentenausstattung, die in einer schulinternen Vereinbarung festgehalten ist. Besonders der parallele Gruppenunterricht stellt eine große Herausforderung dar: Bei Schulneubauten wurden und werden eigene Räume für den Musikschulunterricht mit bedacht. Jeweils vier entsprechend adaptierte Räume für den Kleingruppenunterricht und ein Orchesterproberaum stehen als „Musikschule in der Schule“ zur Verfügung. Diese Räume werden auch für den „normalen“ Unterricht der Musikschule verwendet. Die instrumentale Ausstattung wird gemeinsam getragen: Die Schule finanziert die EMP-Instrumente aus Geldern für die Ganztagsbetreuung, die Musikschule kauft zum großen Teil die Instrumente, die Blasinstrumente werden von den entsprechen-
© Musikschule der Stadt Bregenz
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den Vereinen zur Verfügung gestellt. Für die Instandhaltung der Instrumente kommt der örtliche Rotary Club jedes Jahr mit einer großen Summe auf. Die Ausleihe ist für die Kinder kostenlos. Die Betreuung des Instrumentariums liegt zur Gänze bei der Musikschule.
Organisatorische Struktur ) Der kooperative Musikunterricht findet vormittags statt und wird von den Kindern als regulärer Unterricht wahrgenommen. Dadurch ist eine wesentlich höhere Aufmerksamkeit und Ernsthaftigkeit gegeben. Den Musikschullehrkräften bietet dies eine bessere Aufteilung ihrer Arbeitszeit. ) Er findet im Teamteaching statt, wobei formal die Aufsichtspflicht bei der Klassenlehrkraft liegt und der fachliche Input bei den Musikschullehrenden. Beide beteiligen sich gleichermaßen am Unterricht in Form einer gegenseitigen Qualifizierung. Die Unterrichtsinhalte werden – vor allem, wenn die Klassenlehrkraft ein Instrument mitlernt – auch während der weiteren Woche behandelt und geübt. ) Der EMP-Unterricht und die Singklassen orientieren sich am Jahreslauf und den Themen der Klasse. ) Lehrkräfte tauschen sich zu Schuljahresbeginn und bei aktuellen Anlässen zu Organisations- und pädagogischen Fragen aus. ) Die Entscheidung zu einer Musikklasse trifft das Schulforum (Eltern, Lehrkräfte und Schulleitung), da die Teilnahme mit Kosten für die Eltern verbunden ist.
Wie definiert sich der Erfolg? Der eigentliche Erfolg einer Kooperation entsteht jedoch durch die handelnden Personen im Unterricht, den Lehrkräften beider Schultypen. Doch was ist Erfolg? Dass
die Kompetenzen am Ende der vierten Schulstufe erfüllt wurden, vielleicht sogar übererfüllt? Dass den Kindern ein Liedgut mitgegeben wurde, sie tätiges Musizieren erfahren, sich im Ensemble wahrnehmen, sich selbst auf andere Weise erleben durften, zuhören lernten und reagieren? Dass sie aufmerksamer sind für unterschiedliche Musik, aber auch anderen und sich selbst gegenüber? Dass sie auf einer Bühne für andere musizierten, Applaus und Bestätigung erhielten, dass der eine oder andere lernte, sein Instrument und die Musik wertzuschätzen, vielleicht der Wunsch entstand, weiterhin zu musizieren? Ein breites Spektrum allemal, mehr oder weniger erreicht von allen. Und der größte Wert dabei: Ausnahmslos die ganze Klasse war beteiligt, niemand ausgeschlossen und jeder nimmt mit, was ihm möglich war. Die beschriebenen Erfolgswerte erfordern eine besondere Haltung des Lehrens. Musikschullehrkräfte sollten sich hüten, diese mit den Erfolgsparametern ihres gewohnten Unterrichts zu vergleichen, der auf einem anderen Grad der Freiwilligkeit basiert und sehr oft auch vorselektiert ist in der Zusammensetzung. Im Kooperationsunterricht gilt es, das Selbstverständliche, welches sich aus dem verpflichtenden Charakter ergibt, und die verschiedenen Talente und Rollen der Kinder zu nutzen, informelles Lernen zuzulassen und zu ermöglichen sowie sich die Zeit zu geben für interaktives Lernen und freudvolles Spiel mit kleinen Bausteinen. Nur die Lehrkraft, welche dies akzeptiert, wird Freude an ihrem Tun empfinden und Freude am Musizieren vermitteln können. Natürlich gibt es auch ernst zu nehmende Kritik, dass Instrumentalmusik nicht standardisiert erst mit der dritten Klasse beginnen kann und darf, dass besondere Talente nicht individuell gefördert werden können,
dass die Musikschulen sich mit diesen Angeboten selbst Konkurrenz machen und Anspruchslosigkeit suggerieren. Es sollte kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander der pädagogischen Konzepte sein und als Herausforderung angenommen werden, die jeweils beste Lösung für das jeweilige Kind und die jeweilige Situation zu finden. Dies erfordert die beständig transparente Darstellung aller Lernwege und deren jeweilige Qualitäten an alle Stakeholder, insbesondere an die Eltern.
Die Finanzierung Die Stadt Bregenz trägt rund 38 Prozent der Personalkosten sowie alle Sachaufwände und Infrastrukturkosten. 36,67 Prozent der Personalkosten fördert das Land Vorarlberg. Rund 25 Prozent sind durch Elternbeiträge abzudecken, aktuell ist das pro Semester Instrumentalunterricht ein Beitrag von 65 Euro pro Kind. Die Teilnahme an den EMP- und Singklassen – für die Kinder kostenfrei – wurde bisher aus Mitteln der Elternvereine, der Schule oder der Stadt bezahlt. Eine sehr hohe Wertschätzung erfahren diese Kooperationen durch den Beschluss der Landesregierung vom 10. Juli 2018: „Kooperationen zwischen Musikschulen und Schulen werden in Vorarlberg bereits erfolgreich praktiziert. Insbesondere erweisen sich dabei Kooperationen im Rahmen des stundenplanmäßigen Unterrichts als von großem Mehrwert für Lernende und Lehrende. Das Land Vorarlberg wird für bereits laufende oder mit dem Schuljahr 18/19 startende Kooperationen die Kosten übernehmen.“ – Eine schöne Bestätigung unserer Arbeit! (( Prof. Peter Heiler ist Leiter der Musikschule der Stadt Bregenz.
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Das Kinderchorprojekt CANTARA eröffnet Perspektiven für neu zugewanderte Kinder
Eine Brücke aus Gesang Im Kinderchorprojekt CANTARA der Bertelsmann Stiftung singen neu zugewanderte und ansässige Kinder gemeinsam. Durch die Freude am gemeinschaftlichen Singen wird kulturelle Vielfalt für alle positiv erlebbar und ein großer Schritt in Richtung Integration getan.
)) Viele Diskussionen über die Integration von Menschen mit Fluchtgeschichte kreisen um die kulturellen Unterschiede zwischen Europäern und Menschen aus dem Nahen Osten – der Region, aus der seit ein paar Jahren besonders viele Menschen vor Krieg und Gewalt Zuflucht bei uns suchen. Dabei lohnt es sich, den Blick hinzuwenden auf die Dinge, die allen Menschen gemeinsam sind und uns verbinden. Musik gilt als universale Sprache. Es gibt Musik, die uns im Innersten berührt, ohne dass Herkunft oder Sprache des Liedes eine Rolle spielen. Insbesondere das Singen ist uns allen in die Wiege gelegt – schon Babys singen, bevor sie sprechen können. Um in anderen Sprachen zu singen, benötigen wir keine ausgewiesenen Sprachkenntnisse. Besonders Kindern fällt es leicht, Wörter über das Gehör wahrzunehmen und nachzuahmen. Darauf aufbauend initiierte die Bertelsmann Stiftung 2016 das integrative Kinderchorprojekt CANTARA. Der Projektname basiert auf dem lateinischen Wort cantare, ist aber auch im Arabischen vorhanden: cantara ist das arabische Wort für Brücke. Dieses Wort, das sowohl im europäischen als auch im arabischen Sprachraum vorhanden ist und zwei Bedeutungen hat, die sich im Projektkontext ergänzen – „singen“ und „Brücke“ –, bringt zum Ausdruck, was das Projekt erreichen möchte: Das gemeinschaftliche Singen im Chor soll Kindern eine Brücke sein, die ihnen einen Weg in die Mitte unserer Gesellschaft weisen soll.
Projektphase 1: CANTARA in der Schule Das Projekt CANTARA besteht aus zwei Phasen – einer schulischen und einer außerschulischen. Für das Modellprojekt wurden mehrere Grundschulen in Gütersloh und Bielefeld ausgewählt, die seit 2015 besonders viele zugewanderte Kinder aufgenommen haben. Eine Chorleiterin geht einmal pro Woche in die Schulen, wobei ein besonderer Fokus auf der interkulturellen Chorarbeit liegt. Die Chorleiterin hat selbst einen arabischen Hintergrund, was die Akzeptanz des Projekts bei vielen Zugewanderten aus dem Nahen Osten erleichtert. Selbstverständlich kann es keine Voraussetzung für CANTARA-ChorleiterInnen sein, selbst über einen Migrationshintergrund zu verfügen. Es empfiehlt sich aber, eine solche Person als Vermittlerin mit einzubeziehen. Im besten Fall verfügt diese Person über musikalische Kenntnisse, die aber nicht zwingend im Chorgesang liegen müssen. Der Chor steht allen Kindern offen, wobei zumeist Kinder mit Migrationsgeschichte ihren Weg dorthin finden – auch aufgrund gezielter Ermutigung durch die Lehrkräfte an den Schulen. Idealerweise stellt die Schule den ChorleiterInnen eine Lehrkraft zur Seite, die während der Chorprobe und darüber hinaus bei organisatorischen Dingen unterstützend wirkt.
Welches Repertoire singen die Kinder? Zum Einstieg eignen sich Lieder in einer Quatschsprache wie z. B. das Lied Jimba Papaluschka. Während im Deutschunterricht alles darauf ausgerichtet ist, die Deutschkenntnisse der Kinder zu verbessern, können sie hier ihre Befangenheit
Leila Benazzouz
und Unsicherheit ablegen. Man kann die Erleichterung der Kinder förmlich in ihren Gesichtern ablesen, wenn sie hören, dass es sich um eine Quatschsprache handelt. Endlich sind sie nicht im Nachteil gegenüber anderen Kindern, sondern können sich ganz der Freude an der Musik hingeben. Um elementares Vokabular wie Farben, Wochentage, Monate etc. zu verfestigen, eignen sich Kinderlieder wie Grün, grün, grün sind alle meine Kleider, Laurentia, liebe Laurentia oder Lieder zu Monaten und Jahreszeiten. Die Lieder werden mit Gesten und Bewegungen begleitet, damit sich die Kinder die Texte besser merken können. Neue Wörter oder Sätze werden ausführlich erklärt und besprochen, sodass die Kinder verstehen, was sie singen. Das alles läuft ohne Noten oder Textzettel ab, deren Lesen nur unnötig Zeit kosten würde. Einen genauso hohen Stellenwert hat aber auch das Singen von Liedern aus den Herkunftsländern der Kinder. Besonders bewährt hat sich in diesem Zusammenhang die Einbindung der Eltern. So sollten die Kinder für ein Konzert gemeinsam mit ihren Eltern oder Großeltern bekannte Lieder aus der alten Heimat vorschlagen. Eingeschickt werden konnten die Lieder als YouTube-Link per WhatsApp. Diese Lieder wurden dann für einen Kinderchor musikalisch arrangiert und in einem Konzert auf die Bühne gebracht. Es war erstaunlich, wie viele Eltern sich meldeten und Liedvorschläge machten. So war der Erstkontakt zu den Eltern hergestellt – und zwar auf Augenhöhe: „Wir haben Interesse an Ihrer Kultur und möchten gerne gemeinsam mit Ihren Kindern etwas darüber lernen.“ Dieser Kontakt schafft Vertrauen, was wiederum für eine verbindlichere Unterstützung der Kinder bei der Ausübung ihres Hobbys sorgt – zum
© Bertelsmann Stiftung
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Beispiel bei Auftritten, wo die Eltern für die Anwesenheit ihrer Kinder sorgen müssen.
Projektphase 2: Kooperation mit Kinderchören Wie eingangs erwähnt, findet CANTARA an Schulen statt, wo überdurchschnittlich viele Kinder eine jüngere Migrationsgeschichte haben. Es gibt Schulen, an denen jedes dritte Kind nicht länger als drei Jahre in Deutschland lebt. Das hat natürlich negative Auswirkungen auf die Verbesserung der Deutschkenntnisse – insbesondere im mündlichen Bereich. Die Kinder bleiben unter sich und haben wenig Aussicht auf eine Verbesserung ihrer verbalen Fähigkeiten mangels Kontakte mit deutschsprachigen Kindern. Die ursprünglich angestrebte Begegnung zwischen ansässigen und neu zugewanderten Kindern im Rahmen von CANTARA fand aufgrund der Schülerstruktur an den Schulen nicht statt. Daher entstand die Idee, mit den Kindern aus den Schulen herauszugehen und sie mit den SängerInnen eines bestehenden Kinderchors zusammenzubringen.
Kulturelle Vorbehalte als Hinderungsgrund Auch wenn sich einige Kinderchöre in den Schulen aktiv um Nachwuchs bemühen, so bleibt doch der Anteil von Kindern mit Migrationsgeschichte in den Chören recht gering. Grund dafür sind häufig der Mangel an Sprachfähigkeit sowie kulturell motivierte Vorbehalte der MigrantInnen. Es erfordert eine hohe transkulturelle Kompetenz und Sensibilität, um Probleme zu vermeiden. Im CANTARA-Modellprojekt in Gütersloh ist die Bertelsmann Stiftung eine Kooperation mit dem Gütersloher Knabenchor und der Gütersloher Choral-
singschule für Mädchen eingegangen. Durch das aus der Elternarbeit entstandene Vertrauen und die unkomplizierte wechselseitige Kommunikation via WhatsApp oder Telefon gelingt es, eine Gruppe von Kindern regelmäßig mit der Unterstützung von Ehrenamtlichen zu den Chorproben in die Räumlichkeiten des Knabenchors und der Choralsingschule Gütersloh zu bringen. Die Probe wird für eine Übergangsphase von ca. drei Monaten gemeinsam von der CANTARA-Chorleiterin und dem Leiter der genannten Kinderchöre geleitet. So haben die Kinder weiterhin ihre vertraute Ansprechpartnerin, während sie sich an die neue Umgebung und den neuen Chorleiter gewöhnen können. Eine zentrale Rolle in dieser zweiten Projektphase spielen die Ehrenamtlichen, die sich um den Transport der Kinder zur Probe kümmern, solange die Kinder noch zu jung sind, um selbstständig zu kommen, oder deren Eltern nicht so mobil sind. Das Engagement der Ehrenamtlichen schafft wiederum Begegnung – zwischen ihnen und den Kindern sowie deren Eltern.
Über die CANTARA-Brücke in den Kinderchor Aktuell befindet sich das Projekt in der zweiten Phase, die gemeinsam von beiden ChorleiterInnen gestaltet wird. Diese Phase läuft sehr gut: Die Kinder kommen regelmäßig und haben große Freude in den neuen Räumlichkeiten und an den neuen Impulsen, die sie dort bekommen. Die Herausforderung wird sein, dass die Kinder in der nächsten Phase aus ihrem CANTARA-Chor heraus in den Knabenchor oder die Choralsingschule für Mädchen gehen werden, wo sie dann endlich die Begegnung mit anderen Kindern erleben können.
Bertelsmann Stiftung: Musikalische Bildung Die Aktivitäten im Projekt „Musikalische Bildung“ der Bertelsmann Stiftung folgen dem Leitziel, allen Kindern und Jugendlichen die Teilhabe an kultureller Bildung zu ermöglichen und deren Bildungs- und Teilhabechancen insgesamt zu verbessern. www.bertelsmann-stiftung.de/ de/unsere-projekte/musikalischebildung
Die CANTARA-Chorleiterin wird sich nach diesem Schritt zurückziehen und wieder neue CANTARA-Chöre an den Schulen leiten, um auch anderen Kindern den Übergang in einen lokalen Chor zu ermöglichen. Unterstützen die ehrenamtlich Engagierten den Transport der Kinder und gelingt es der Chorleitung, den Draht zu den Eltern aufrechtzuerhalten, sollte der Integration der Kinder in die Chöre nichts entgegenstehen. Erweist sich dieses Vorhaben als schwierig, so sollte man dennoch nicht unterschätzen, was während des Halbjahrs im CANTARA-Chor an den Schulen und der dreimonatigen Phase beim Knabenchor und der Choralsingschule an Impulsen gesetzt werden konnten. Für die Kinder ist eine erste Brücke zu kultureller und sozialer Teilhabe in unsere Gesellschaft geschlagen, der hoffentlich noch viele weitere folgen werden. ((
Leila Benazzouz ist Projektmanagerin bei der Bertelsmann Stiftung und leitet das Projekt CANTARA. Kontakt: leila.benazzouz@bertelsmann-stiftung.de
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Bleibende Eindrücke hinterlassen Natalia Ardila-Mantilla
Wie JeKits eine nachhaltige Wirkung erzielen kann (Teil 1)
Wie kann JeKits bleibende Eindrücke hinterlassen? Wie können JeKitsLehrende und -Verantwortliche dafür sorgen, dass die in JeKits gemachten Erfahrungen nachwirken und sich in der Zukunft entfalten?1
)) Wenn ich diese Fragen höre, dann spüre ich ein starkes Unbehagen. Die Frage nach der Wirkung von Bildungsangeboten hat in der Pädagogik eine lange Tradition, und es ist eine Tradition des Scheiterns. Ob wir für die Schule oder fürs Leben lernen, darüber scheiden sich in der Pädagogik die Geister. Ob der Instrumentalunterricht tatsächlich zum guten Leben beiträgt, ob er wirklich die Aneignung lebensnotwendiger Kompetenzen fördert, wissen wir nach der Bastian-Studie und ihren Folgen nicht wirklich.2 Außerdem muss ich hier an die wunderbare – und für die Pädagogik verhängnisvolle – Unberechenbarkeit des Menschen denken, die Heinz von Foerster mit der Metapher der trivialen und nicht trivialen Maschinen großartig auf den Punkt gebracht hat. Menschen, so von Foerster, unterscheiden sich von trivialen Maschinen darin, dass bei Eingabe eines bestimmten Inputs der Output unvorhersehbar ist: Wenn ich bei einem Menschen einen pädagogischen Impuls setze, ist es unmöglich zu wissen, was er daraus machen wird.3 Wie soll ich angesichts dieser Tatsache behaupten, irgendetwas – z. B. JeKits – könnte unter irgendwelchen Bedingungen nachhaltige Wirkung erzielen? Trotzdem glaube ich tatsächlich, dass JeKits bereits blei-
bende Eindrücke bei Schülern, Lehrkräften und Institutionen hinterlässt und dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, auf welche Weise das passiert bzw. passieren kann. Nachhaltigkeit ist ein breites, vielschichtiges Thema. In diesem Text wird der Fokus auf vier Teilaspekte dieser Thematik gelegt: vier „Dimensionen des Bleibens“, die meines Erachtens ein wirkungsmächtiges Beziehungsgeflecht im System JeKits darstellen. Der Leserin sei geraten, sich stets den inneren Zusammenhang dieser vier Dimensionen in Erinnerung zu rufen.
1. „Bildung ist, was bleibt“ – der Modus des Ästhetischen Zu Beginn stelle ich eine provokante Frage: Muss überhaupt etwas bleiben? Bis jetzt hat JeKits nämlich die Relevanz der Gegenwart („Vom Lauern auf dem Moment“) betont.4 Reicht es denn nicht, wenn Schülerinnen und Schüler im JeKits-Unterricht erfüllte Momente erleben? Das sehen wohl doch nicht alle so. Dazu Anja Bossen: „Grundsätzlich begrüße ich den Ansatz, Kindern, die sonst aufgrund einer nicht förderlichen Haltung ihrer Eltern niemals mit dem Musizieren in Berührung gekommen wären, einen Zugang zu einem Instrument zu ermöglichen. Nur: Was passiert eigentlich nach ‚JeKi‘? Was nützt es den Kindern, eine kurze sinnstiftende Erfahrung gemacht zu haben, wenn sie diese Erfahrung nicht fortsetzen können, weil sie keinen Platz an der Musikschule bekommen, die Eltern das Musizieren nicht weiter unterstützen oder
schlichtweg das Geld für anschließenden Instrumentalunterricht oder ein eigenes Instrument fehlt?“5 Ich möchte diesen Fragen ein geflügeltes Wort entgegensetzen: „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat, was man gelernt hat“, soll der Physiker Werner Heisenberg gesagt haben. Was soll aber vom Musikunterricht bleiben? Ich werde jetzt nicht über die häufig versprochenen Effekte von Musikunterricht sprechen: Teamfähigkeit, Kreativität, Ausdauer … Natürlich können sich Schülerinnen und Schüler solche Kompetenzen im JeKits-Unterricht aneignen – im Mathematik- oder Religionsunterricht aber wohl auch. Was denn sonst? An dieser Stelle möchte ich den Blick auf etwas richten, das sich in den folgenden Aussagen von drei JeKits-Tanzschülerinnen manifestiert: ) „Mir hat das Tanzen Spaß gemacht, weil wir haben uns so schön bewegt, und die Musik war einfach richtig schön.“ ) „Man macht das ja auch nicht jeden Tag oder so.“ ) „Beim Tanzen lass ich mich immer treiben, und wenn ich die Musik höre, bleibe ich dann im Takt, und mir hat das richtig Spaß gemacht.“6 Die Rede ist hier nicht von Transfereffekten, sondern davon, sich selbst und Musik im Modus des Ästhetischen erlebt zu haben. Was meine ich damit? Der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth behauptet: „Wer […] allein mehr Wissen vermitteln will, der versteht die Aufgabe der Schule nicht. Die Schule hat Schülern Modi des Weltzugangs zu vermitteln, nicht in erster Linie Wissen.“7
© JeKits-Stiftung
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Szene aus dem „JeKits-Film“: Der Informationsfilm stellt das JeKits-Programm mit seinen drei Schwerpunkten Instrumente, Tanzen und Singen vor.
Ausgehend von der Vorstellung, dass wir uns der Welt auf unterschiedliche Weisen nähern, bestimmt Tenorth die Vermittlung solcher „Modi der Weltbegegnung“8 als Kernaufgabe der Schule: Demnach sollte die Schule Kindern und Jugendlichen Möglichkeiten bieten, verschiedene Modi – im Fach Musik: den Modus des Ästhetisch-Expressiven – systematisch zu erproben, ein Bewusstsein für ihre Funktionen zu entwickeln und Interessen diesbezüglich zu verfolgen.9 Das hieße für JeKits, zu ermöglichen, dass Schülerinnen und Schüler etwas machen, was sie „nicht jeden Tag“ tun, und Musik anders begegnen, als sie ihr jeden Tag im Supermarkt und in Videospielen begegnen. Was heißt aber in diesem Zusammenhang „anders“? Dazu Georg Picht: „In einer musikalischen Bildung, die diesen Namen verdient, entwickelt sich jene wache Sensibilität, jene subtile Beweglichkeit der Empfindung und jener Sinn für geistige Ordnung, für weitgespannte Analogien und für die unermessliche Fernwirkung der leisesten Erschütterungen, an denen man den geistigen, den gebildeten Menschen erkennt.“10 Ich würde mir einen JeKits-Unterricht wünschen, der solche Fähigkeiten fördert. Wie ließe sich das umsetzen? Ich möchte gerne die Aufmerksamkeit auf eine für mich zentrale und oft vernachlässigte Komponente des Musizierens richten: die körperliche. Der Modus des Ästhetischen ist ein Modus des Sinnlichen: Er hat mit der Empfindsamkeit und Beweglichkeit der Sinne zu tun. Wir haben es aber in Deutschland mit einer langen Tradition der Körper-
feindlichkeit im Musikunterricht zu tun: Der Körper ist etwas, das man in der mitteleuropäischen Tradition der musikalischen Bildung entweder zähmt und trainiert (in der Instrumentalpädagogik) oder zugunsten der Vernunft ausschaltet und ausblendet (in der Schulmusik). Wir versuchen immer wieder, nur mit dem Kopf und mit den Fingern Musik zu machen, nicht mit den Hüften, dem Bauch, den Augen, dem Atem, dem Herz. Ästhetische Erfahrungen ermöglichen heißt für mich: ) am Anfang der Unterrichtsstunde die Sinne mit Wahrnehmungsübungen zu wecken, ) Rhythmen nicht zu lesen und nachzuklatschen, sondern sich treiben zu lassen und sich im Takt zu bewegen, ) körpersprachlich miteinander zu kommunizieren, gemeinsam zu atmen, sich mit den Augen Impulse zuzuwerfen, ) der Stille immer wieder bewusst zu lauschen, ) die Stimme in all ihrer Vielfalt einzusetzen und Welten damit zu erschaffen, ) im Klang zu versinken, Sounds zu entdecken, die Möglichkeiten der eigenen Ohren kennenzulernen und ) Bewegungsdrang und Spiellust als Ausdrucksquelle zu verstehen. Womöglich gibt es doch Kristallisationsmomente: jene besonderen Momente, um die es eigentlich im Musikunterricht geht und auf die Musiklehrerinnen lauern. Aber die für den Modus des Ästhetischen typische Haltung der körperlichen Präsenz und der Beweglichkeit der Empfindung kann auch stets im Unterricht vorgelebt und geschult werden.
An dieser Stelle muss ich jedoch auf eine Falle aufmerksam machen, die alle Bemühungen zunichte machen kann. In den Ratschlägen für angehende Orchesterleiter des JeKits-Materialpools ist zu lesen: „Ich rate dir, dich auf Kinder einzulassen ohne hohe musikalischen [sic] Erwartungen, aber mit viel Spielfreude.“11 Spielfreude und musikalischer Anspruch werden in der Instrumentalpädagogik häufig gegeneinander ausgespielt. „Ich rate dir zur Spielfreude“ heißt automatisch: „Vergiss deine musikalischen Erwartungen“. Aber wenn man sich einen Unterricht mit den zuvor genannten Eigenschaften vorstellt, ist es dann überhaupt möglich, zwischen Spielfreude und musikalischem Anspruch zu unterscheiden? Sind all diese Dinge nicht handfeste musikalische Kompetenzen, die als Lernziele in JeKits verfolgt werden können? Außerdem: Impliziert die Beachtung des Körpers nicht auch ein Bewusstsein für Bewegungsqualitäten, etwa für die Durchlässigkeit der Spielbewegungen? Ja, von Spieltechnik ist hier die Rede. Spieltechnik zu erlernen, heißt, die Empfindungs- und Bewegungsmöglichkeiten des Körpers kennenzulernen und zu erweitern – und das ist vom ausdrucksvollen, lebendigen Musizieren nicht zu trennen. Spiel- und Ausdrucksbewegungen bedingen einander. In diesem Sinne rate ich JeKits-Lehrkräften zur Spielfreude und zu einem hohen – aber auch breiten – musikalischen Anspruch, der die Qualitäten des Ästhetischen mit einschließt. Wie kann also der JeKits-Unterricht nachhaltige Wirkung erzielen? Nicht nur, wenn er „auf den Moment lauert“, sondern auch,
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„Mir hat das Tanzen Spaß gemacht, weil wir haben uns so schön bewegt, und die Musik war einfach richtig schön.“
wenn er durch die Schulung des musikalischen Körpers und der daraus folgenden Schärfung der musikalischen Sensibilität Möglichkeiten bietet, sich und der Welt im Modus des Ästhetischen zu begegnen.
Als mein Sohn vor ungefähr zwei Jahren mit der Musikalischen Früherziehung begann, stand irgendwann das Stück Schneck im Haus auf dem Programm:13
2. Was sowieso bleibt – informelles Musiklernen
C A
Was wird nach dem JeKits-Unterricht sowieso bleiben? Das musikalische Leben unserer Schülerinnen und Schüler. Warum? Die Lernerfahrungen, die sie im Musikunterricht machen, machen nur einen Bruchteil ihres musikalischen Lernens aus. Der Großteil davon mit vielen prägenden Lernerfahrungen – auch bei Profis, die viele Jahre in musikalischen Bildungseinrichtungen verbringen – findet außerhalb der Schule und des Unterrichts statt: durch „wildes Lernen“, wie Peter Röbke und ich das in der Vergangenheit genannt haben.12 Trotzdem neigen Instrumentallehrkräfte dazu, Schülerinnen und Schüler – insbesondere im Anfängerunterricht – als musikalisch völlig unerfahrene Menschen zu betrachten. Wir begreifen Programme wie JeKits als eine Möglichkeit für Kinder, die „sonst niemals mit dem Musizieren in Berührung gekommen wären“. Das ist einfach falsch: Alle Menschen – auch Grundschulkinder – haben ein musikalisches Leben. Ich lebe z. B. mit einem Sechsjährigen, der gerade JeKits- und Musikschüler ist, und wenn ich mich frage, welche Musik bei ihm bleibende Eindrücke hinterlässt, muss ich an Soundtracks von Kindersendungen, an seinen Lieblingssänger, an Karnevalslieder und Ähnliches denken.
Schneck im Haus,
Schneck im Haus,
Dieses Stück hat sicherlich keine bleibenden Eindrücke hinterlassen: Weder die musikalische Struktur noch sein Inhalt bieten irgendwelche Anknüpfungspunkte zum Leben meines Sohnes oder zu seiner Musik. Peter Röbke schreibt: „Ich wünsche mir eine Pädagogik, die Schülern nicht deren Wurzeln ausreißt, um sie dann – quasi in einer musikpädagogischen Stunde Null – einem formalen System unterwerfen zu können, in dem der Zusammenhang von Musik und Spielfähigkeit zerreißt …“14 Wenn von JeKits etwas bleiben soll, dann müssen sich Lehrkräfte der Tatsache bewusst sein, dass JeKits nicht der Beginn des musikalischen Lebens ihrer Schülerinnen und Schüler ist und dass ebendiese Schülerinnen und Schüler in JeKits nur dann etwas lernen werden, wenn der Unterricht auf irgendeine Weise an ihre musikalischen Erfahrungen anknüpft. Warum? Lernen heißt nicht, neue Dinge in sich hineinzustopfen, als ob man eine Blumenvase wäre. „Menschen lernen durch den Ausbau, die Differenzierung und Veränderung ihrer Erfahrungen“, schreibt der systemische Pädagoge Rolf Arnold.15 Es ist
also nicht so, dass ich der Viertelnote zum ersten Mal im Musikunterricht begegne, sie übe und sie dann „kann“, sondern eher so, dass ich irgendwelche rhythmischen Er-
strecke
deine
Fühler
raus!
fahrungen gemacht haben muss, die durch die Auseinandersetzung mit der Viertelnote im Unterricht aktiviert und in Folge ausgebaut, differenziert und verändert werden können. Nur dann mache ich eine nachhaltig wirkende Lernerfahrung. Wann hinterlässt also der JeKits-Unterricht bleibende Eindrücke? Wenn er nicht eine einsame Insel im Meer des Musiklebens der JeKits-Schülerinnen und -schüler ist, sondern an ihre musikalischen Erfahrungen anknüpft und Möglichkeiten bietet, sie auszubauen, zu differenzieren und zu verändern, das heißt: wenn er empfänglich für und anschlussfähig an das musikalische Leben von Kindern ist. Wie macht man das? Meines Erachtens wäre es hier am wichtigsten, Kindern im Unterricht große Gestaltungsspielräume zu eröffnen, die sie mit eigenen Erfahrungen und Ideen füllen können. Ein schönes Beispiel dafür bietet das Konzept zur Vertonung des Bilderbuchs Wo die wilden Kerle wohnen von der Musikschullehrerin Sigrun Fischer-Rogall.16 Hier wird anschaulich dargestellt, wie Lehrkräfte im Unterricht Phasen mit mehr oder weniger Vorgaben
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Unsere JeKits-Serie in Peter Röbke: Mehr als nur ein Nachfolgeprogramm. Was JeKits von JeKi unterscheidet, 4/2017, S. 7-9
Thomas Grosse: Lauern statt versauern. Optionen pädagogischer Haltungen im JeKits-Unterricht, 2/2018, S. 4-6
Franz Kasper Krönig: Euphorievorsprung. Was passiert eigentlich in der JeKitsAkademie? Und wem soll sie nützen?, 5/2017, S. 8-9
Silvia Müller: Rezension – Vom Lauern auf den Moment. Praxisimpulse, Reflexionen und Schlüsselfragen aus der Arbeit der JeKits-Akademie, 2/2018, S. 7
Johanna Schie und Stefan Prophet: „Wir verlieren die Kinder …“ Die Kontinuität nach dem zweiten JeKits-Jahr ist gefährdet, 6/2017, S. 10-11
Markus Büring und Martin Theile: Ausflug mit dem Tandem. Co-Teaching im JeKits-Unterricht, 3/2018, S. 8-11
gestalten, Gruppenarbeit ermöglichen und Entscheidungsprozesse begleiten können. Öffnung kann aber natürlich auch radikalere Züge annehmen. Ein bei JeKits mittlerweile viel beachteter und in diesem Zusammenhang erwähnenswerter Ansatz ist das „Improvisationsorchester“: eine Form dirigierter Improvisation, die den Ensemblemitgliedern große musikalische Gestaltungsräume öffnet.17 Denkbar wäre auch, dass JeKits-Lehrkräfte nicht nur gemeinsam mit ihren Tandempartnerinnen und -partnern, sondern auch mit ihren Schülerinnen und Schülern den Unterricht planen.18 Kurz: Das informelle Musiklernen wird so oder so bleiben. Und wenn der JeKits-Unterricht nachhaltige Wirkung erzielen will, dann muss er Wege finden, demgegenüber empfänglich und anschlussfähig zu sein. ((
Akademie. JeKits-Stiftung (Hg.): Vom Lauern auf den Moment. Praxisimpulse, Reflexionen und Schlüsselfragen aus der Arbeit der JeKits-Akademie, Bochum 2017. 5 Anja Bossen/Rüdiger Behschnitt: „Ich bin äußerst pessimistisch. Rüdiger Behschnitt im Gespräch mit Anja Bossen über Sprachförderung mit Musik, JeKi und die Zukunft des Berufs ,Instrumentallehrer/in‘“, in: üben & musizieren 5/2012, S. 45 f. 6 Zitate von JeKits-Tanzschülerinnen aus dem Informationsfilm zum Jekits-Programm, www.jekits.de/ informationsfilm (Stand: 25.6.2018). 7 Heinz-Elmar Tenorth/Thomas Kerstan: „,Bildung ist, was übrig bleibt‘. Der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth über Schule als Weltzugang und Kopfgymnastik“, in: Die Zeit vom 11. August 2011, www.zeit.de/2011/33/InterviewTenorth (Stand: 27.2.2018). 8 Die Vorstellung der Modi der Weltbegegnung geht auf den Erziehungswissenschaftler Jürgen Baumert zurück. Baumert nennt hier etwa den kognitiv-instrumentellen Modus der Naturwissenschaften, den evaluativ-normativen Modus der Geschichte, den rational-konstitutiven Modus der Philosophie und den ästhetisch-expressiven Modus der Künste und des Sports. Jürgen Baumert: Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. Vortrag von Prof. Dr. Jürgen Baumert anlässlich des dritten Werkstattgespräches der Initiative „McKinsey bildet“, im Museum für ostasiatische Kunst, Köln, 2001, S. 7-8; http://gaebler.info/pisa/ baumert.pdf (Stand: 27.2.2018). 9 Tenorth/Kerstan 2011. 10 Georg Picht, zitiert nach Ulrich Mahlert: Wege zum Musizieren. Methoden im Instrumental- und Vokalunterricht, Schott, Mainz 2011, S. 15. 11 JeKits-Stiftung: Ratschläge für angehende JeKits-OrchesterleiterInnen, 2015, https://materialpool.jekits.de/ratschlaege-fuer-angehende-jekitsorchesterleiterinnen (Stand: 28.2.2018). 12 vgl. Natalia Ardila-Mantilla/Peter Röbke (Hg.): Vom wilden Lernen. Musizieren lernen – auch außerhalb von Schule und Unterricht, Schott, Mainz 2009. 13 Verband deutscher Musikschulen (Hg.): Musikalische Früherziehung „Tina und Tobi“. Schülerlernmittel 1. Halbjahr. Musikfibel 1, Bosse, Kassel 2003, S. 8 b. 14 Peter Röbke: „Lösung aller Probleme? Die ,Entdeckung‘ des informellen Lernens in der Instrumentalpädagogik“, in: Ardila-Mantilla/Röbke, a. a. O., S. 25.
Fortsetzung in der kommenden Ausgabe.
1 Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich am 8. März 2018 im Rahmen des JeKits-Praxistags in der Kölner Musikhochschule gehalten habe. Der zweite Teil erscheint in der kommenden Ausgabe von musikschule )) DIREKT. Ein Transkript des Vortrags ist im JeKits-Materialpool zu finden, https://materialpool.jekits.de/category/inhaltliche-impulse (Stand: 12.7.2018). 2 s. Jens Knigge: Intelligenzsteigerung und gute Schulleistungen durch Musikerziehung. Die Bastian-Studie im öffentlichen Diskurs, VDM-Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007. 3 vgl. Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 72006, S. 54-59 und 65-67. 4 „Vom Lauern auf den Moment“ war das Motto des Praxistags im Jahr 2017 und der Titel der vor Kurzem erschienenen Publikation der JeKits-
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Rolf Arnold: Wie man lehrt, ohne zu belehren. 29 Regeln für eine kluge Lehre. Das LENA-Modell, Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 32015, S. 36. 16 s. Sigrun Fischer-Rogall: Wo die wilden Kerle wohnen. Konzept und Erfahrungsbericht einer Bilderbuchvertonung. Idee für die Praxis aus dem JeKits-Materialpool, 2017, https://materialpool. jekits.de/wo-die-wilden-kerle-wohnen (Stand: 28.2.2018). 17 s. Claudia Meyer/Angelika Sheridan: „Improvisationsorchester – Elementare Musikpraxis. Zusammenspiel individueller Entscheidungen und kollektiver Qualität“, in: Marianne Steffen-Wittek/ Michael Dartsch (Hg.): Improvisation. Reflexionen und Praxismodelle aus Elementarer Musikpädagogik und Rhythmik, ConBrio, Regensburg 2014, S. 207-220; s. auch: Peter Knodt: Einblicke – Perspektiven. Videoreflexion von Instrumental- und Gesangsunterricht. Ein Leitfaden, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2017, S. 33-38. 18 Anne Steinbach (früher: Weber-Krüger) hat in ihrer Dissertationsschrift konkrete Vorschläge für die Integration der kindlichen Perspektive in den musikalischen Früherziehungsunterricht vorgelegt, die bei JeKits rezipiert und weiterentwickelt werden könnten. Anne Weber-Krüger: Bedeutungszuweisungen in der musikalischen Früherziehung. Integration der kindlichen Perspektive in musikalische Bildungsprozesse, Waxmann, Münster 2014, S. 305-359.
Dr. Natalia Ardila-Mantilla ist Professorin für Instrumental- und Vokalpädagogik an der Hochschule für Musik und Tanz Köln.
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5.2018
Achtung, Kamera!
Frank Bauchrowitz
Konzerte filmen und ins Internet hochladen – darf man das eigentlich?
Jeder hat das schon einmal erlebt: Bei einem Konzert hält ein Zuhörer plötzlich sein Handy hoch und filmt unbedarft den Auftritt. Oder die Musikschulleitung lässt vor dem Musikschulkonzert einfach eine Kamera aufbauen und den Auftritt aufnehmen. Die Freude vieler Musikerinnen und Musiker darüber, ungefragt in einem Film verewigt zu sein, hält sich allerdings oft in Grenzen. Vor allem, wenn die Aufnahme hinterher im Internet zu finden ist. Doch ist das Filmen und Hochladen überhaupt erlaubt?
)) Diese Frage, so einfach sie klingt, ist juristisch vielschichtig. In diesem Beitrag werde ich auf Aspekte des Urheberrechts, des Leistungsschutzrechts und der Rechte am eigenen Bild eingehen. Darüber hinaus spreche ich Probleme der DSGVO an.
Urheberrechte am Werk Wer ein Konzert filmt, stellt aus urheberrechtlicher Sicht eine Vervielfältigung des Werks nach § 16 Abs. 2 UrhG her. Sind die im Konzert dargebotenen Werke noch nicht gemeinfrei – das heißt, die an dem Werk Beteiligten sind noch nicht mehr als 70 Jahre tot –, muss die Erlaubnis des oder der Werkschöpfer vorliegen. Andernfalls stellt das Mitfilmen eines Konzerts grundsätzlich eine Urheberrechtsverletzung dar, die strafbar ist und zusätzlich zivilrechtliche Ansprüche auslösen kann. Von diesem Grundsatz weicht das Urheberrechtsgesetz nur in ganz wenigen Ausnahmen ab. So ist das Aufnehmen von nichtöffentlichen Konzerten auch ohne Ein-
willigung der Berechtigten erlaubt, wenn die Aufnahmen lediglich zum privaten Gebrauch des Filmers bestimmt sind (§ 53 Abs. 1 UrhG, sogenannte Privatkopie). Der filmende Konzertbesucher oder die Musikschulleitung darf also nicht die Absicht haben, die Konzertmitschnitte zu verkaufen oder im Rahmen der eigenen Erwerbstätigkeit (zum Beispiel für den Unterricht) zu nutzen. Die Voraussetzung „nichtöffentliche Konzerte“ zieht den Anwendungsbereich dieser Ausnahme noch enger. Denn „nichtöffentlich“ sind nur interne Klassenvorspiele, Hauskonzerte, geschlossene Proben etc. Öffentlich sind aber zum Beispiel das Musikschulvorspiel (mit unbestimmtem Publikum) sowie Schul- oder Vereinsfeste. Wer unter den Voraussetzungen der Privatkopie legal einen Konzertmitschnitt von nichtgemeinfreien Werken hergestellt hat, ist jedoch nicht befugt, diese ohne Erlaubnis (Lizenz) der Rechteinhaber auf der eigenen Website oder auf sozialen Netzwerken wie Facebook hochzuladen (§ 53 Absatz 6 UrhG). Wer es dennoch tut, begeht eine Urheberrechtsverletzung, die zu kostspieligen Abmahnungen führen kann. Das Herstellen eines Videos ist also unter den Bedingungen der Privatkopie erlaubt, das Hochladen ins Internet hingegen nicht.
Lizenz derzeit nicht notwendig. Diese dürfen gemäß der Einigung zwischen GEMA und YouTube vom 1. November 2016 bei YouTube hochgeladen werden, wobei YouTube die Gebührenzahlung übernimmt. Diese Einigung gilt allerdings zunächst nur noch bis Oktober 2018. Zu beachten ist jedoch hinsichtlich beider Lizenzen: Die hochgeladenen Werke dürfen nicht bearbeitet sein. Nur sogenannte „Coverversionen“ (also möglichst werkgetreue Interpretationen) sind für den Upload zulässig. Das bedeutet, dass die Stilrichtung der Komposition nicht verändert werden darf. Nichtoriginale Instrumente dürfen in einer Coverversion nur eingesetzt werden, wenn die Komposition unbearbeitet bleibt und sich keine andere ästhetische Aussage ergibt. Fazit: Es ist aus urheberrechtlicher Sicht grundsätzlich nicht erlaubt, Konzertmitschnitte von Darbietungen fremder (nichtgemeinfreier) Werke auf der eigenen Website ohne Lizenz hochzuladen. Eine solche Lizenz kann aber für unbearbeitete Werke bei der GEMA erworben werden. Der Upload von unbearbeiteten Werken auf YouTube bedarf zurzeit keiner Lizenz, ist also zulässig.
Lizenzmöglichkeiten
Liegt eine urheberrechtliche Lizenz zur Nutzung der Werke vor oder sind die aufgeführten Werke gemeinfrei, muss zusätzlich beachtet werden, dass derjenige, der ein Konzert filmt und die Datei auf der eigenen Website oder bei YouTube hochlädt, auch über die Leistungsschutzrechte an
Für den Upload von nichtgemeinfreien Werken auf der eigenen Website kann aber eine Lizenz bei der GEMA erworben werden. Für den Upload von nichtgemeinfreien Werken bei YouTube hingegen ist eine
Leistungsschutzrechte
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„Wer ein Konzert filmt, stellt aus urheberrechtlicher Sicht eine Vervielfältigung des Werks her.“
der Aufnahme verfügen muss. Auch Verstöße gegen die Leistungsschutzrechte sind strafbar und können zivilrechtliche Ansprüche auslösen. Leistungsschutzrechte erwirbt nach dem Urheberrechtsgesetz derjenige, der zur äußeren Formgebung des Werks beigetragen hat. Bei der Aufführung von Musikwerken betrifft dies in erster Linie die Musikerinnen und Musiker und eventuell den Ensembleleiter. Zu beachten ist aber, dass daneben auch der Veranstalter Leistungsschutzrechte erlangt. Veranstalter ist in der Regel, wer die Veranstaltung wirtschaftlich und organisatorisch verantwortet. Sowohl von den beteiligten Musikern und dem Ensembleleiter als auch vom Veranstalter muss also, wenn eine (Film-)Aufnahme eines Konzerts gemacht werden soll, jeweils eine Erlaubnis hierzu vorliegen. Darüber hinaus bedarf es jeweils einer gesonderten Erlaubnis, diese Aufnahmen auf einer Website oder bei YouTube hochzuladen. Die Grundsätze des Urheberrechts hinsichtlich der Privatkopie für nichtöffentliche Aufführungen gelten sinngemäß auch für die Leistungsschutzrechte. Das Aufnehmen von nichtöffentlichen Konzerten auch ohne Einwilligung der Berechtigten ist also aus leistungsschutzrechtlicher Sicht dann erlaubt, wenn die Aufnahmen lediglich zum privaten Gebrauch des Filmers bestimmt sind. Das Hochladen der Aufnahmen auf der eigenen Website, einer Videoplattform wie YouTube oder auf sozialen Netzwerken wie Facebook ist jedoch auch hier gesetzlich ausgeschlossen, sofern nicht die oben erwähnten Einwilligungen der Beteiligten vorliegen.
Tritt also beispielsweise ein Jugendorchester auf und möchte jemand Filmaufnahmen von diesem Konzert machen und diese später bei YouTube hochladen, muss ihm von jedem einzelnen Musiker (bzw. dessen Erziehungsberechtigten) und dem Veranstalter vorher eine Erlaubnis vorliegen. Ansonsten werden deren Leistungsschutzrechte verletzt. Zusätzlichen müssen auch die obigen Ausführungen zu den Urheberrechten beachtet werden, sofern nicht ausschließlich gemeinfreie Werke aufgeführt werden. Fazit: Sind die urheberrechtlichen Fragen geklärt, muss der Hersteller einer Filmaufnahme zusätzlich die Leistungsschutzrechte für die Aufnahme und den Upload bei den am Konzert Beteiligten einholen. Soll nur eine Aufnahme zu privaten Zwecken von nichtöffentlichen Konzerten erfolgen, ist dies auch ohne Einwilligung möglich. Die Aufnahme darf jedoch nicht ohne Einwilligung der Beteiligten ins Internet hochgeladen werden.
Rechte am eigenen Bild Doch damit nicht genug. Bei einer Videoaufnahme von Musikdarbietungen ist juristisch ein weiterer Bereich betroffen, nämlich das Recht am eigenen Bild. Dieses richtet sich nach den §§ 22 und 23 des Kunsturhebergesetzes (KUG). Es schützt das Recht von Personen, selbst darüber entscheiden zu dürfen, ob Bild- oder Videoaufnahmen von ihnen veröffentlicht werden oder nicht. Grundsätzlich bedarf demnach (§ 22 S. 1 KUG) jede Veröffentlichung von Bildnis-
sen einer Person der Einwilligung des oder der Abgebildeten (bei Kindern durch deren Erziehungsberechtigte, Jugendliche können ab dem 16. Lebensjahr selbst entscheiden). Bei Videos von Konzerten sind die Musiker und der Ensembleleiter, eventuell auch das Publikum betroffen. Eine Einwilligung der Abgebildeten zur Veröffentlichung der Bilder kann sich aus den Umständen ergeben und muss nicht zwangsläufig schriftlich erfolgen. Da der Fotograf oder Filmer jedoch beweispflichtig für die Einwilligung ist, wäre dies ratsam. Dabei sollte die Art der späteren Verwendung (hier: Hochladen ins Internet) so genau wie möglich beschrieben werden. Ein Verstoß gegen das KUG ist strafbar. Von der Einwilligungspflicht gibt es Ausnahmen, die in § 23 Abs. 1 KUG geregelt sind. Die relevanteste Ausnahme besteht in der Erlaubnis, das Publikum oder eine größere Gruppe von Musikern (z. B. einen Chor oder ein Orchester) ohne Einwilligung zu filmen, sofern nicht einzelne Personen fokussiert werden. Für alle anderen Fälle ist das Einholen einer schriftlichen Einwilligung zur Veröffentlichung der Videoaufnahmen aber der juristisch sicherste Weg. Fazit: Bei der Herstellung von Videoaufnahmen von Konzerten ist auch das Recht am eigenen Bild bei allen Beteiligten betroffen. Eine Veröffentlichung solcher Aufnahmen ohne die Einwilligungen der Abgebildeten ist unzulässig, wenn nicht eine der Ausnahmen des KUG greift. Die Einwilligung sollte schriftlich unter Nennung des geplanten Verwendungszwecks eingeholt werden.
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5.2018
Die kürzlich in Kraft getretene Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) erschwert das Herstellen und Hochladen von Konzertvideos weiter. Zumal hier zum aktuellen Zeitpunkt noch viele Fragen offen sind. Grundsätzlich gilt Folgendes: Die Anfertigung digitaler Fotos und Videos, auf denen Personen zu erkennen sind, gelten als Datenverarbeitung. Ohne Einwilligung der abgebildeten Personen dürfen künftig nur noch Mitglieder der „institutionalisierten“ Presse und des Rundfunks solche Fotos und Videos anfertigen und veröffentlichen. Dasselbe gilt für Personen, die die Aufnahmen ohne Bezug zu einer beruflichen oder wirtschaftlichen Tätigkeit (also ausschließlich zu persönlichen Zwecken) anfertigen. Jeder andere Fotograf oder Filmer benötigt eine Einwilligung der abgebildeten Personen (bei Kindern und Jugendlichen: von den Erziehungsberechtigten), damit er Fotos anfertigen, speichern, weitergeben und nutzen darf. Damit sind auch Musikschulen und Musikvereine betroffen, die Videos oder Fotos von Auftritten auf ihrer Website veröffentlichen möchten. Für die Situation bei Konzerten bedeutet dies, dass Fotografen und Filmer, die nicht von der institutionalisierten Presse stammen oder als Privatperson anwesend sind, von allen Personen, die gefilmt oder fotografiert werden sollen, eine
Einwilligung zur Datenverarbeitung einholen müssen. An diese werden hohe Anforderungen gestellt.* Die Einholung der Einwilligungen ist in der Praxis, gerade hinsichtlich eines zu filmenden Publikums, kaum umsetzbar. Der sicherste Weg wäre die schriftliche Einwilligung aller abgebildeten Personen. Hier stößt man jedoch bei Konzerten schnell an Grenzen. Es liegt daher nahe, nach anderen Lösungen zu suchen. Ob aber zum Beispiel für Musikschüler die pauschale Einwilligung für alle zukünftigen Auftritte oder hinsichtlich des Publikums Aushänge bei Konzerten ausreichen, die auf die Anfertigung von Fotografien und Videoaufnahmen und für alle Anwesenden auf eine unterstellte Einwilligung hinweisen, ist noch ungeklärt. Noch komplizierter wird die Angelegenheit, wenn nicht alle bei einem Konzert anwesenden Personen die Einwilligung erteilen. In solchen Fällen könnten diese Personen bei den Konzerten optisch gekennzeichnet werden. Sportvereine tun dies angeblich durch farblich unterschiedliche Trikots. Eine Erleichterung für das datenschutzkonforme Fotografieren und Filmen wird hiermit aber sicher nur sehr begrenzt erreicht und lässt sich auf die Situation bei Konzerten nur bedingt übertragen. Bei Verstößen gegen die DSGVO muss der Videofilmer mit Bußgeldern, Abmahnungen, Untersagungen und Schadenersatzforderungen rechnen.
erscheint alle zwei Monate als Supplement zu üben & musizieren
Redaktion: Sebastian Herbst und Rüdiger Behschnitt Ständige Mitarbeiter: Anja Bossen und Bernd Dahlhaus Layout: Rüdiger Behschnitt Grafik: Nele Engler
Datenschutzgrundverordnung
Fazit: Wer Videoaufnahmen von Vereins-
oder Musikschulkonzerten ins Internet hochladen möchte, benötigt grundsätzlich eine datenschutzrechtliche Einwilligung aller gezeigten Personen. Dies gilt nicht für Vertreter der institutionalisierten Presse und für Personen, die die Aufnahmen lediglich zu privaten Zwecken anfertigen. Die Einwilligung sollte von allen gezeigten Personen sicherheitshalber schriftlich eingeholt werden. ((
* zu den Voraussetzungen: www.lda.bayern.de/ media/oh_einwilligung.pdf (Stand: 28.8.2018).
Frank Bauchrowitz berät als Rechtsanwalt in den Bereichen Urheberrecht und Musikvertragsrecht. Er ist u. a. Dozent für Musikrecht und Karriereentwicklung an verschiedenen Musikhochschulen in Nordrhein-Westfalen sowie an der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen. Darüber hinaus steht er bundesweit für Inhouse-Seminare zu allen musikrechtlichen Themen zur Verfügung. www.musikerkanzlei.de