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NEUE ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK # 3 2015 –
GESCHWINDIGKEIT
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EDITORIAL
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«All you need is speed!» Vor wenigen Tagen: Die Magnetschwebebahn der Central Japan Railway (JR Tokai) stellt bei Yamanashi einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf. Erstmals werden – wenn auch nur für kurze Zeit – 603 km/h erreicht. Damit verkürzt sich die Reisedauer zwischen Tokyo und Osaka um etwa eine Stunde. Gewonnene Lebenszeit? Die Neuzeit sucht das «wahre Leben» in der Beschleunigung. Das Glücksversprechen der Moderne lautet: Der Tod» kann durch «quantitative Zeiterfüllung» wenngleich letztlich nicht überwunden, so doch hinausgeschoben werden. Auf die technische Beschleunigung im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus folgte die Erhöhung des allgemeinen Lebenstempos und die Beschleunigung des sozialen Wandels. Die Folge: eine «Gegenwartsschrumpfung» (Hermann Lübbe), die wir durch allerlei «Techniken» und «Kunstgriffe» der Selbstbeschleunigung zu kompensieren trachten. Das Individuum sucht «Zeit zu gewinnen, um mehr von der Welt zu haben» (Hans Blumenberg). Ein Trug. Am Ende wird das Leben vorbeigerast sein – wir sterben lebensarm, weltarm. Jeder Versuch der Beschleunigung – heutzutage durch Begriffe wie «Echtzeit», «Interaktivität», «Telepräsenz», «Informationsgesellschaft» etc. repräsentiert – zeitigt neue Formen des Weltschwundes. Wir befinden uns, wie der Soziologe Hartmut Rosa sagt, «in einer Art Sisyphos-Dauerzustand, der im ‹rasenden Stillstand› mündet». Dem Beschleunigungstotalitarismus haben sich nicht wenige Künstler unter dem Label «Modernität» ergeben; andere haben sich ihm wirkungsvoll entgegengestellt. Ihre Antworten zeigen, wie mit dem allumfassenden Zwang zur vermeintlichen Modernität und der Entfremdung, die unentrinnbar mit ihm einhergeht, umzugehen wäre. Auf Seiten der bildenden Kunst ist Jean Tinguely unter Letztere zu rechnen. Sein Manifest «Seid statisch – mit der Bewegung», dem er in seinen Werken gültigen Ausdruck verliehen hat, zeigt eine unbändige Lust, das kurze Leben jenseits aller verzweifelten Bemühungen der Kompensation durch Beschleunigung zu genießen. «Es bewegt sich alles», so Tinguely, «Stillstand gibt es nicht. Lasst Euch nicht von überlebten Zeitbegriffen beherrschen. Fort mit den Stunden, Sekunden, Minuten. Hört auf, der Veränderung zu widerstehen. SEID IN DER ZEIT – SEID STATISCH, SEID STATISCH – MIT DER BEWEGUNG.» Unter den Komponisten, die ja «von Amts wegen» die Aufhebung des Zeitbegriffs zugunsten einer wiederzugewinnenden Eigenzeit betreiben, sind György Ligeti – der durch aberwitzige Tempi letztlich so etwas wie die Illusion der Bewegungslosigkeit schafft –, Conlon Nancarrow – der in der konsequenten Überschreitung der menschlichen Fähigkeiten ein Fanal der bevorstehenden Übernahme der Kontrolle des Menschen durch die Technik setzt –, Morton Feldman oder LaMonte Young, die durch die Abkehr von der gemessenen Zeit durch die jedes Maß sprengende Überschreitung das Außerkraftsetzen wahrnehmbarer Zeitstrukturen und damit die Aufhebung der Versklavung durch das Diktat der Beschleunigung betreiben. (Mit anderen, weiteren Beispielen befassen sich die Beiträge dieses Hefts.) Gerade darin erweisen sich die Genannten als «modern» – in freilich distinkter Weise: als Sachwalter der unabgegoltenen Ansprüche, die das Individuum gegen Rolf W. Stoll den Lauf der Geschichte geltend macht.
Rasender Stillstand | Fortschritts- und Männlichkeitssymbol Rennwagen © imago | Westend61
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Neu Zurück zur Gegenwart? Weltbezüge in Neuer Musik hg. von Jörn Peter Hiekel Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, Darmstadt – Band 55 Schott Music, Mainz 2015, 224 Seiten ED 22346
1
GESCHWINDIGKEIT NEUE ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK # 3_2015
GESPRÄCH 8
Noten und nicht viel mehr
Christian Wolff über den Sinn und das Handwerk des Komponierens, sein Verständnis von Professionalismus und die Konzertaufführung als demokratische Praxis | von Christoph Wagner LABEL 12
Ein Vierteljahrhundert im Dienst vergessener Musik
Die Produktionen von EDA Records | von Stefan Drees STANDPUNKT 15
Gegen Applaus
Oder: Schafft das Klatschen ab! | von Johannes Kreidler
THEMA 16
Jetzt noch schneller!
Geschwindigkeit zwischen Obsession und Kreativität | von Michael Rebhahn 20
«Zeit und Raum sind schwankend geworden»
Zur künstlerischen Inszenierung von Geschwindigkeit und Beschleunigung | von Stefan Drees 26
Illusionsmuster, Präzisionsmechanismen, kaputte Maschinen
Das Prinzip Hochgeschwindigkeit in der Musik von György Ligeti | von Dirk Wieschollek 32
Der «Zwang, neue Tempi zu wählen»
Tempobeschleunigung bei Theodor W. Adorno | von Frauke Fitzner 36
Prestissimo ma troppo
Ein Schnellschuss | von Johannes Ullmaier
© Schott Promotion – Peter Andersen | © Alexander Perrell
Conlon Nancarrow und György Ligeti | Sam Pluta | Anna Korsun | Hans Werner Henze
2
INHALT
KLANGMOMENT
BERICHTE
42
66
Schwarze Lieder, inszenierte Lieder, Moritaten
Wege des Liedes in der Gegenwart | von Ellen Freyberg 46
ZKM KARLSRUHE
Porträt einer Zusammenarbeit | von Janosch Korell
41
Dominanz des Linearen
Christian Josts «BerlinSymphonie» | von Torsten Möller ORTE NEUER MUSIK 52
Breitseite für die Bratschensaiten
Das Festival «Viola moderna» in Essen lockte Studierende und Komponisten zugleich | von Jörg Loskill 54
IMPROVISATION Meister des «Instant Composing»
Georg Graewes Weg zwischen Improvisation und Komposition PORTRÄT 59
Aus Stille geboren
Die Musik der ukrainischen Komponistin Anna Korsun | von Martin Tchiba 62
Veranstaltungen | Termine
SERVICE 4 84 85 74 86 88
Notizen Uraufführungen Bilder + Töne Tonträger Bücher AutorInnen / Impressum
Klanggärten und harte Stochastik
Im Ensemble Boswil stimmt sich der internationale Musikernachwuchs auf die Musik der Gegenwart ein | von Max Nyffeler
56
Berlin | Witten | Eckernförde | Linz | Hannover | Paris
Hans Werner Henze und Volker Schlöndorff
NEUES WERK 50
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Interaktion, Energie, Klarheit
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© Konrad Fersterer | © Ferrill Arnacker
Der New Yorker Laptop-Musiker Sam Pluta | von Thomas Meyer
Die Neue Zeitschrift für Musik als App – kostenlos für AbonnentInnen
3
Weiteres Wachstum | Für das vergan-
gene Geschäftsjahr meldet die GEMA
rigen Frankfurter Musikmesse sowie
eine Ertragssteigerung von knapp fünf
«Prolight + Sound». In ihrem Schluss-
Prozent auf 893,6 Mio. Euro, die an die
bericht betonen die Veranstalter die ge-
jeweiligen Rechteinhaber ausgeschüt-
stiegene Zufriedenheit der Aussteller
tet werden. Ein Wachstum ist in fast
und die Akzeptanz des neuen Business-
allen Geschäftsfeldern zu verzeichnen.
Areals für Hersteller, Distributoren und
Die Bereiche «Öffentliche Wiedergabe
Fachhändler für Musikinstrumente. Im
von Musik», «Fernsehen und Hörfunk»
© Anna Katharina Scheidegger
Mehr als 108 000 Besucher aus 146
Ländern waren zu Gast auf der diesjäh-
nächsten Jahr möchte die Musikmesse mit einem neuen Konzept die Endkunden und die Musikinstrumentensowie Entertainment-Industrie stärker in den Blick nehmen. Die Musikmesse findet statt vom 7. bis zum 10. April; «Prolight + Sound» vom 5. bis zum 8. musik.messefrankfurt.com
guten Ergebnis bei. Trotz der steigenden Erträge im Digitalbereich sieht die GEMA hier noch deutlichen Handlungsbedarf, da die Urheber in Augen der Verwertungsgesellschaft nicht genügend von digitalen Bezahlmodellen
MUSIK UND ARCHITEKTUR
April 2016. n
und «Online» tragen maßgeblich zum
profitieren. In Deutschland vertritt die ZeitRäume Basel heißt ein neues Fes-
und seine Plätze mit «offenen Ohren»
GEMA zurzeit mehr als 65 000 Mit-
tival in der Schweiz, das dem Zusam-
kennenzulernen – etwa in Klangspa-
glieder.
menspiel von Musik und Raum in den
ziergängen oder durch Installationen.
Künsten ein umfangreiches Forum bie-
Eröffnet wird das Festival mit einer
Aufwertung des Musikunterrichts in
Zwei wichtige Szenetreffs des Mu-
ten möchte. Die von Georg Friedrich
Raumkomposition für den Münster-
Schulen | In Baden-Württemberg soll
siklebens arbeiten von 2015 an zusam-
Haas, Beat Gysin und Marcus Weiss
platz in Basel (s. Foto), an der mehr als
das Schulfach Musik ab dem Schuljahr
men: Die «SoundTrack_Cologne» und
initiierte Biennale für neue Musik und
100 Musiker beteiligt sein werden. Aus-
2016/17 wieder von der ersten Klasse
die «c/o pop Convention» finden vom
Architektur findet erstmals vom 10. bis
gewählte «Teaser-Veranstaltungen» ma-
an auf dem Lehrplan stehen. In einer
19. bis zum 23. August 2015 erstmals
zum 13. September in Basel statt. Kon-
chen bereits jetzt auf das spätsommer-
Landtagsdebatte erklärte Kultusminis-
gemeinsam statt. Mit einem abgestimm-
zerte, Performances,Vorträge und Dis-
liche Festival neugierig. Das von Bern-
ter Andreas Stoch (SPD), dass das Fach
ten Programm, koordinierten Themen
kussionen von Komponisten, Klang-
hard Günther, ab 2016 Leiter von
aus dem momentanen Fächerverbund
und Veranstaltungen sowie einem ge-
künstlern und Wissenschaftlern erwar-
Wien Modern, kuratierte Programm
«Mensch, Natur und Kultur» herausge-
meinsamen Eintrittsticket für beide
ten das Publikum. Diesem soll zudem
wird im Sommer 2015 veröffentlicht.
löst werde; die anderen Fächer gingen
Veranstaltungen soll das Publikum ge-
die Möglichkeit gegeben werden, Basel
n
zeitraeumebasel.com
in neuen Verbünden auf.
bündelt angezogen werden – Synergieeffekte zwischen den Veranstaltungen
SISTERMANNS GOES ORBIT
sind erhofft. Die Musik des Komponisten Johannes
rellen wie wissenschaftlichen) Errun-
nien via Livestream in den Orbit ge-
S. Sistermanns wird bald auch im Welt-
genschaften bekannt zu machen. Die
sendet. Der Transport via Raumschiff
all zu hören sein: Sistermanns’ Kompo-
Platten der 1970er Jahre können bis zu
soll baldmöglichst folgen. Sämtliche
sition Abun_Dance wurde von einer in-
500 Mio. Jahre im Weltall «überleben».
Beiträge zu «Forever now» sind nebst
Anlässlich des 90. Geburtstags von
ternationalen Jury ausgewählt, gemein-
Die Einminüter von «Forever now»
kurzer Beschreibung kostenfrei auf der
Pierre Boulez lädt das Klavier-Festival
sam mit 44 anderen Beiträgen in den
leisten ihnen dabei mittlerweile schon
Homepage des Projekts abrufbar.
Ruhr ein zur interaktiven Begegnung
Orbit geschossen zu werden. Neben
Gesellschaft – als Schallwellen. Am 18.
mit den Douze Notations. In der Reihe
Sistermanns steuern Künstler aus rund
Januar 2015 wurden die Beiträge im
«Explore the score», in der auch Igor
120 Ländern, darunter Boris Eldagsen,
Rahmen des MoFo Festivals in Tasma-
Strawinskys Petruschka und die Klavier-
Kai Miedendorp sowie das Duo Erik
werke György Ligetis digital aufberei-
Bünger und Steven Cuzner, weitere
tet werden, bietet das Klavier-Festival
Werke für die Reise ins All bei. Jeder
einen faszinierenden Einblick in die
Beitrag ist eine Minute lang, muss ein
musikalische Welt des Pierre Boulez.
Audio oder ein Video sein und soll die
Videos mit dem Komponisten und mit
aus seiner Sicht jeweils wahrgenomme
der Interpretin Tamara Stefanovich,
gegenwärtige Situation der Mensch-
vielfältige Textdokumente, Interviews,
heit reflektieren. «Forever now» wurde
aber auch Erläuterungen und Hin-
initiiert von der australischen Künstler-
weise zur Aufführungspraxis der Nota-
organisation Aphids. Das ganze Projekt
tions sowie eine mit der Musik syn-
liest sich als Fortsetzung der «Voyager
chronisierte und von den Künstlern
Golden Records», die 1977 ins All ge-
kommentierte Partitur warten auf die
schossen wurden, um etwaige außer-
interessierten Besucher.
irdische Lebensformen mit der Erde,
n
c-o-pop.de/convention/
www.explorethescore.org
ihrer Fauna und Flora, vor allem aber mit der Menschheit und ihren (kultu-
4
n
www.fbbva.es/awards
© Bryony Jackson
n
NOTIZEN
n
Best Edition | Die diesjährigen Deut-
Schlossmediale | Die Schlossmediale
Neuen Vocalsolisten Stuttgart, das En-
gestrichen oder gezupft und vermag
schen Musikeditionspreise wurden im
Werdenberg im Schweizer Kanton St.
semble 333 und weitere Künstler zu-
die Zuhörer durch seinen eigentümli-
Rahmen der Frankfurter Musikmesse
Gallen blickt in diesem Jahr auf Rän-
sammen. Mit dem Hang, einer ufoar-
chen Klang in Trance zu versetzen.
vergeben: Preisträger sind Schott Music,
der und darüber hinaus. Vom 22. bis
tigen zweiteiligen Stahlblechschüssel,
Arno Oehri stellt das kultige Instru-
Bärenreiter, Breitkopf & Härtel, Furore,
zum 31. Mai 2015 widmet sie sich dem
steht ein besonderes Instrument im
ment zusammen mit dem Klanglabor
Universal Edition, Edition Peters und
Thema «Randerscheinung» in all sei-
Fokus der Schlossmediale. Es wird von
Liechtenstein vor.
Helbling. Mit seiner Auszeichnung ehrt
nen Facetten. Das internationale Festi-
Hand berührt, angetippt, angeschlagen,
n
www.schlossmediale.ch
der Deutsche Musikverleger-Verband
val für Alte Musik, Neue Musik und
seit 1991 jährlich herausragende Publi-
audiovisuelle Kunst vereint während
kationen deutscher Musikverlage.
zehn Tagen über 50 Künstler, darunter
STICHWORT: STREAMING
n
www.best-edition.de
Helmut Oehring, der für die Schlossin ihrem musikalischen Realismus die
ist Stipendiatin des Programms «Com-
Schattenseiten des heutigen Lebens
poser in Residence – Komponistinnen
bündeln. Ein musikalisches Sägespäne-
nach Frankfurt» des Archivs Frau und
Spektakel im Montforthaus Feldkirch
Musik sowie des Instituts für zeitge-
bringt die Jodlerin Nadja Räss, Markus
nössische Musik an der Hochschule für
Flückiger auf dem Schwyzerörgeli, die
© Daniel Ammann
mediale drei Werke geschaffen hat, die Arbeitsstipendium | Manuela Kerer
Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main (HfMDK). Die Südtiro-
DIGITAL MUSIC REPORT
lerin konnte sich zwischen 50 Bewerberinnen durchsetzen und wohnt bzw.
Glaubt man dem jüngst veröffentlich-
den Auswirkungen auf den finanziel-
n
arbeitet ab Mitte April für drei Monate
ten Digital Music Report der IFPI, dem
len Rückfluss an die Künstler, die vom
Die «10 Fragen zum Musikstreaming»
in Frankfurt am Main. Ihr Stipendium
Weltverband der Phonoindustrie, so
Streaming in der Regel weit weniger
der Gütesiegel-Initivative «Play fair –
dient unter anderem der Komposition
haben die Erlöse aus digitalen Verkäu-
profitieren als von traditionellen Han-
Pay fair» des Bundesverbands Musikin-
einer neuen Kammermusik, die im Juli
fen via Download und Streaming erst-
delsmodellen, ebenso wie die rechtli-
dustrie geben einen instruktiven Über-
2015 uraufgeführt werden soll.Weitere
mals mit dem analogen Geschäft gleich-
chen Rahmenbedingungen der natio-
blick über die verschiedenen Facetten
Projekte, unter anderem mit Studenten
gezogen. Insbesondere Subskriptions-
nalen Urheberrechte seien wesentliche
des Musikstreamings. Was bedeutet es?
der HfMDK Frankfurt, sind geplant.
modelle seien mit hohen Wachstums-
Punkte für zukünftige Diskussionen.
Welche Angebote gibt es? Ist es legal?
Das Arbeitsstipendium wurde erstmals
raten weiterhin stark im Kommen. Die
Der gesamte Digital Music Report nebst
Welche Erlöse bleiben beim Künstler
2009 vergeben.
Endkunden würden zunehmend den
kurzer Zusammenfassung ist auf den
hängen?
Zugang zur Musik und nicht ihren Be-
Seiten der IFPI erhältlich.
n
www.archiv-frau-musik.de
sitz bevorzugen, betont Frances Moore, Musikfest Berlin | Arnold Schönberg
CEO der IFPI. Die hieraus resultieren-
n
www.ifpi.org
n
www.playfair.org
n
www.musikindustrie.de
bildet einen der thematischen Schwerpunkte des diesjährigen Berliner Musikfests (2. bis 20. September 2015). In
RESIDENZEN
den Werke des Wiener Meisters vorge-
Matthias Pintscher ist 2015 gleich bei
stellt. Das Musikfest knüpft damit an
mehreren Festivals als Artist in Resi-
das «Berg-Fest» der Staatsoper Unter
dence gefragt: Beim Grafenegg Festival
den Linden an, das Alban Bergs Ge-
residiert er als Komponist (unter ande-
samtwerk in den Fokus einer eigenen
rem wird eine von ihm komponierte
Programmreihe rückte.
Fanfare zur Eröffnung des Festivals ur-
n
www.berliner-festspiele.de
© Andrea Medici, BACI & BACI STUDIO, New York, NY
16 von insgesamt 30 Konzerten wer-
aufgeführt), als Dirigent und als Leiter des Composer-Conductor-Workshops
Zusammenarbeit | Das Festpielhaus
«Ink Still Wet», bei dem es Nachwuchs-
St. Pölten und «ImPulsTanz» haben
komponisten und -komponistinnen
eine dreijährige Kooperation verkün-
ermöglicht wird, mit Unterstützung
dert. Das 1984 erstmals ausgetragene
von Pintscher ihre eigenen Werke mit
Wiener Festival für zeitgenössischen
dem Tonkünstler-Orchester Nieder-
sprächen mit den künstlerischen Leiter
das er ein Festivalprogramm mit insge-
Tanz und das Konzerthaus möchten mit
österreich einzustudieren und als Diri-
des Festivals, dem Cellisten Jan Vogler,
samt 14 Konzerten bzw. Veranstaltun-
gemeinsamen Produktionen die inter-
gent/-in einem breiten Publikum zu
in Erscheinung treten. Auf dem Pro-
gen zu dem Motto «Idyll» zusammen-
nationale Strahlkraft von Tanzprojekten
präsentieren. Als Artist in Residence
gramm steht unter anderem die Urauf-
gestellt hat.
aus Österreich stärken.Das nächste Im-
folgt Pintscher unter anderem auf Brett
führung von Now II für Violoncello
PulsTanz –Vienna International Dance
Dean, Jörd Widmann, Tan Dun und
solo. – Als künstlerischer Leiter zeich-
n
www.grafenegg.com
Festival findet statt vom 16. Juli bis zum
Heinz Holliger. – Beim diesjährigen
net Pintscher auch für die dreißigste
n
www.moritzburgfestival.de
16. August 2015.
Moritzburg Festival wird Matthias
Ausgabe des Avanti! Summer Sounds
n
www.avantimusic.fi
Pintscher als Komponist und in Ge-
Festival in Finnland verantwortlich, für
n
www.matthiaspintscher.com
n
www.impulstanz.com
5
Personalienticker +++ Henning Bey
Hochschule für Musik Nürnberg mel-
wird zum 1. Juli 2015 neuer Chefdra-
det zwei Berufungen: Nina Janßen-
maturg der Internationalen Bachaka-
Deinzer ist neue Professorin für Kam-
von der Beethovenstiftung für Kunst
demie Stuttgart und folgt damit auf
mermusik, Holzblasinstrumente; Peter
und Kultur der Bundesstadt Bonn ini-
Michael Gassmann. Bey studierte unter
Gahn ist zum Professor für Komposi-
tiierte Wettbewerb soll die Arbeit jun-
anderem Musikwissenschaft und wurde
tion, Neue Medien und Sound Studies
ger Klangkünstler fördern und ihre
mit einer Arbeit über Joseph Haydns
ernannt worden. Er studierte Kompo-
Sicht- bzw. Hörbarkeit im Musikleben
und Wolfgang Amadeus Mozarts Sin-
sition bei Jo Kondo, Nicolaus A. Huber
erhöhen. Førde studierte an der Aca-
fonik promoviert. +++ Die Spanierin
und Ludger Brümmer, ist Preisträger
demy of Art and Design in Bergen und
Elena Mendoza ist zur Professorin für
mehrerer Wettbewerbe und war Gast-
ist Absolventin des Nordic Sound Art
Komposition an die Berliner Univer-
künstler am ZKM Karlsruhe und an
Programme. Das Preisgeld in Höhe von
sität der Künste berufen worden. Seit
der Cité Internationale des Arts Paris.
10 000 Euro soll der Realisation einer
vielen Jahren ist sie im Bereich der Ver-
+++ Jörg Widmann steht im Mittel-
Klanginstallation in Bonn dienen, die
mittlung Neuer Musik aktiv, zurzeit ar-
punkt des Komponistenporträts des
im Rahmen des diesjährigen Interna-
beit sie an einer Oper für das Teatro Real
Staatstheaters Mainz gemeinsam mit
tionalen Beethovenfests Bonn vorge-
in Madrid. +++ Matthias Lošek, künst-
SWR2 und der Akademie der Wis-
stellt werden wird.
lerischer Leiter von Wien Modern, ist
senschaften und der Literatur Mainz.
ab 2016 neuer Operndirektor der Fon-
Kammer- und Sinfoniekonzerte sowie
Iris ter Shiphorst ist mit dem Heidel-
dazione Orchestra Haydn di Bolzano e
ein Workshop nebst Gesprächsrunde
berger Künstlerinnenpreis 2015 ausge-
Trento. Seine Wiener Nachfolge tritt
stellen das Werk des Komponisten vor.
Thomas Hengelbrock erhält den mit
zeichnet worden, dem weltweit einzi-
Bernhard Günther an, zurzeit Chefdra-
+++ Helmut Lachenmann erhält den
50 000 Euro dotierten Herbert von
gen Preis für Komponistinnen, eine der
© Gunter Glücklich, NDR
AUSZEICHNUNGEN
maturg der Philharmonie in Luxem-
Deutschen Musikautorenpreis 2015 für
Karajan Musikpreis 2015/2016. Die
burg. +++ Der Engländer Howard
sein Lebenswerk. Er nimmt den Preis
seit 2003 von der Kulturstiftung des
Arman ist ab der Spielzeit 2016/17
am 21. Mai im Rahmen der offiziellen
Festspielhauses Baden-Baden an he-
neuer künstlerischer Leiter des Chors
Gala zur Verleihung des Deutschen
rausragende Einzelkünstler und Ensem-
des Bayerischen Rundfunks. Er tritt
Musikautorenpreises entgegen.
bles vergebene Auszeichnung zählt zu
die Nachfolge von Peter Dijkstra an,
Weitere Meldungen:
den weltweit renommiertesten Musik-
dessen Verpflichtung ausläuft. +++ Die
n
www.musikderzeit.de
preisen. Das Preisgeld soll für die musikalische Nachwuchsarbeit eingesetzt werden. Hengelbrock, der in diesem Jahr auch den Preis der Brahms-Gesell-
AUSSCHREIBUNGEN
schaft Schleswig-Holstein erhalten hat, Noch bis zum 1. August 2015 können
eines Hörwerks, das in akustischen
Komponisten und Komponistinnen,
Spielformen musikalische Materialien
die nach dem 15. August 1975 geboren
und Strukturen benutzt». Bewerben
wurden, eine Klavierkomposition beim
können sich Hörspielautoren, Kompo-
Für ihre Komposition Anthracite Fields
Mauricio-Kagel-Kompositionswettbe-
nisten, Regisseure und Realisations-
erhält Julia Wolfe, unter anderem Mit-
werb der Universität für Musik und
teams. Nach dem 1. Juni 2014 gesen-
Ensembleleiter und insbesondere als Musikvermittler ausgezeichnet.
© Susanne Müller
wird für seine Tätigkeiten als Dirigent,
gründerin des New Yorker Künstler-
renommiertesten Auszeichnungen des
darstellende Kunst Wien einreichen.
dete Beiträge sind ebenso willkommen
kollektivs Bang on a Can, den Pulitzer
Landes Baden-Württemberg. Der mit
Erwünscht sind «Stücke für Klavier, die
wie bisher unveröffentlichte. Der Preis
Price 2015 für Musik. Ihr Oratorium
5 000 Euro dotierte Preis wird seit 1987
sich an Kinder und Jugendliche wen-
wird am 18. Oktober 2015 im Rah-
für Chor und Streichsextett dokumen-
regelmäßig vergeben.
den und sich daher einer Beschrän-
men der Donaueschinger Musiktage
tiert das Schicksal der Kohlearbeiter in
kung des technischen Schwierigkeits-
verliehen. n
ihrer Heimat Pennsylvania und wurde
Renate Matthei erhält den Soroptimist
grades unterwerfen, die aber andererseits
2014 in der Philadelphia Episcopal Ca-
Deutschland Preis 2015. Matthei ist
in künstlerischen Ansprüchen keine
thedral durch die Bang on a Can All-
Gründerin und Geschäftsführerin des
Kompromisse eingehen und in einer
Auch in diesem Jahr findet wieder die
Stars uraufgeführt. Wolfe verarbeitet
Furore Verlags, der ausschließlich Musik
zeitgemäßen Tonsprache den Lernen-
Edirom Summer School statt, bei der
Werbeanzeigen, Interviews mit Zeit-
von Komponistinnen verlegt. Gewür-
den Anregungen, Erkenntnisse, neue
Interessierte in neue Notationsformen
zeugen, Todesannoncen verstorbener
digt wird sie für ihren verlegerischen
Erfahrungen anbieten: Erfahrungen
und -formate eingeführt werden. In
Bergwerker, geografische Daten sowie
Einsatz für das in der breiteren Öffent-
über sich selbst und die Welt, in der sie
den zwischen dem 7. und 11. Septem-
Kinderreime und weitere Textformate
lichkeit häufig weniger bekannte weib-
leben», so der Text der Ausschreibung.
ber stattfindenden Workshops vermit-
zu einem dichten textuellen und mu-
liche Musikschaffen. Der Soroptimist
n
www.mauricio-kagel-kompositions-
teln Wissenschaftler der Universität Pa-
sikalischen Netz.
Deutschland Preis wird alle zwei Jahre
wettbewerb.com
vergeben und ist insgesamt mit 20 000
www.swr2.de/sczuka
derborn Grundlagen und fortgeschrittene Anwendungen rund um das MEI-
Die Norwegerin Helene Førde ist
Euro dotiert. Preisträger müssen sich in
Am 15. Juni 2015 endet die Bewer-
Format sowie um weitere Datenfor-
Preisträgerin des erstmals ausgetrage-
besonderer Weise um die Verbesserung
bungsfrist für den Karl-Sczuka-Preis
men. Bewerbungen sind ab dem 1. Juli
nen europäischen Studentenwettbe-
der Stellung der Frau in der Gesell-
des SWR für Hörspiel als Radiokunst.
2015 möglich.
werbs «bonn hoeren – sonotopia». Der
schaft verdient gemacht haben.
Gesucht wird die «beste Produktion
n
6
ess.uni-paderborn.de
NOTIZEN
n
WERGO
FESTIVALS von Toshio Hosokawa in der Regie und Choreografie von Sasha Waltz
Jetzt neu bei WERGO
runden das Festival ab. n
www.staatsoper-berlin.de
© 33 1/3 Collective
blurred edges | Seinen 10. Geburtstag
feiert das Hamburger Festival für aktuelle Musik «blurred edges» vom 5. bis 20. Juni 2015. Wie auch in den letzten
John Cage
Jahren stehen analoge neben elektroni-
Two3
Sommer in Stuttgart | Private View,
schen Sounds, Performances, Work-
ein Musiktheater der belgischen Kom-
shops, Vorträgen und Field Recordings.
für Sho- und fünf mit Wasser gefüllte Muscheln
ponistin Annelies Van Parys, eröffnet
Klangspaziergänge führen quer durch
am 12. Juni 2015 das Festival für Neue
die Hansestadt, bei einigen Konzerten
Musik «Der Sommer in Stuttgart» mit
dürfen die Besucher selbst über die
den Neuen Vocalsolisten als Protago-
Höhe des Eintrittsgelder entscheiden.
nisten. Inspiriert von Alfred Hitchcocks
«blurred edges» wird als Produzenten-
Rear Window (Das Fenster zum Hof)
Festival vom Verband für aktuelle
nimmt das Stück alltäglichen Voyeuris-
Musik Hamburg koordiniert.
mus und soziale Isolation mit einschlä-
n
Stefan Hussong: Akkordeon, Muscheln / Wu Wei: Sheng, Muscheln WER 67582 (2 CDs) Koproduktion: Deutschlandradio
www.vamh.de
gigen Filmtechniken aus Psychothrillern unter die Lupe. Demgegenüber
«Lernen was tun» lautet das Motto der
steht das Musiktheater-Pasticcio Honig-
Kürtener Stockhausen-Konzerte und -
land mit Werken von Sylvano Bussotti,
Kurse, die vom 11. bis zum 19. Juli die
Peter Maxwell Davies, Hilda Paredes
Musik von Karlheinz Stockhausen in
und Sergey Khismatov. In den Konzer-
den Mittelpunkt von Konzerten, Semi-
The Wild Beasts Landmark Recordings
ten sind unter anderem filigrane Blä-
naren, Vorträgen und Diskussionen
After the Butterfly / The Wild Beasts
serstücke von Jakob Ullmann zu hören
stellen. Unterrichten werden in diesem
und Neues von Stipendiaten der Aka-
Jahr unter anderem Suzanne Stephens,
demie Schloss Solitude. Einen Schwer-
Kathinka Pasveer, Benjamin Kobler,
punkt bilden die thematischen Kon-
Marco Blaauw und Hubert Mayer. An-
zerte der Ensemble-Gesellschaft, die
meldungen sind online bis zum 1. Juni
Mario Guarneri: Trompete / Alan K. Bartholemew, Dane Richards Little: Cello / William Edward Powell, James D. Rohrig: Klarinette / Jay Charles Bulen, Toby L. Holmes, Miles Anderson: Posaune / Marvin B. Gordy III: Percussion / Virko Baley: Klavier / Morton Subotnick: Leitung
sich aus sechs deutschen Ensembles zu-
2015 möglich.
sammensetzt, darunter ascolta, ensem-
n
Morton Subotnick
WER 73112 (CD)
www.stockhausen-verlag.net
ble recherche und das Neue Ensemble Hannover.Veranstaltet wird das Festival
Ohren auf! | Zum zweiten Mal find-
in Kooperation von vier Stuttgarter In-
vom 16. bis zum 20. Juni 2015 das in-
stitutionen mit Konzentration auf die
ternationale Festival für Musikvermitt-
Musik der Gegenwart.
lung «YEAH!» in Osnabrück statt. Die
n
vom netzwerk junge ohren und der
www.mdjstuttgart.de
Stiftung Stahlwerk Georgsmarienhütte «Fluxus reloaded» | In seiner fünften
getragenen Festtage widmen sich vor
Ausgabe widmet sich das INFEK-
allem neuen partizipativen Konzertfor-
Giacinto Scelsi
TION! Festival für Neues Musikthea-
maten. Höhepunkt ist die Verleihung
Suite 9 & 10 per pianoforte
ter der Staatsoper Berlin den Läufen
des Young EARopean Awards, für den
Sabine Liebner: Klavier
der Fluxus-Bewegung der 1960er Jahre
sich über 100 Projekte aus 20 Ländern
bis in die Gegenwart.Vom 13. bis zum
beworben haben.
12. Juli erklingen unter anderem Karl-
n
www.yeah-award.com
WER 67942 (CD) Koproduktion: Deutschlandradio
heinz Stockhausens ORIGINALE, die Europeras 3 & 4 von John Cage und Cabinet des curiosites von Jef Chippewa (Uraufführung). Zeitgenössische Insze-
nek und Musik von Richard Wagner, Footfalls/Neither von Samuel Beckett und Morton Feldman sowie Matsukaze
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nierungen wie Rein Gold von Nicolas Stemann mit Texten von Elfriede Jeli-
Vertriebe Deutschland: New Arts International BV, 02571 / 5819462, marie.batenburg@newartsint.com Österreich: Lotus Records,06272 / 73175,office@lotusrecords.at Schweiz: Tudor, 044 / 4052646, info@tudor.ch Fordern Sie bitte unseren Katalog an! WERGO, Weihergarten 5, 55116 Mainz, Deutschland, service@wergo.de | www.wergo.de
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NOTEN UND NICHT VIEL MEHR CHRISTIAN WOLFF ÜBER DEN SINN UND DAS HANDWERK DES KOMPONIERENS, SEIN VERSTÄNDNIS VON PROFESSIONALISMUS UND DIE KONZERTAUFFÜHRUNG ALS DEMOKRATISCHE PRAXIS VON CHRISTOPH WAGNER
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«Mein Vater hat als Achtjähriger noch Brahms kennengelernt», lacht Christian Wolff (Jahrgang 1934) bei dem Gedanken, der ihm bis heute – wie er sagt – «einen Kick gibt». Der amerikanische Komponist stammt aus einem musikalischen Milieu: Sein Urgroßvater Hermann Wolff war Dirigent, sein Großvater Leonard Wolff Komponist und Violinist in Bonn und mit Brahms befreundet. Sein Vater Kurt Wolff wurde Verleger, publizierte Franz Kafka, Boris Pasternak, Robert Musil und Walter Benjamin. Über Frankreich und Italien rettete sich die Familie 1941 vor den Nazis ins amerikanische Exil. Christian Wolff wuchs am Washington Square in Manhattan auf. Gleich um die Ecke wohnte Edgard Varèse, der manchmal vorbeischaute.Viele emigrierte Schriftsteller, Musiker, Wissenschaftler und Intellektuelle, die in den USA gestrandet waren, gehörten zum Freundeskreis der Familie. Als 16-Jähriger erhielt Wolff Kompositionsunterricht von John Cage und übte im Sommer in dessen winziger Wohnung auf der Lower East Side Klavier, weil seine Eltern kein Instrument besaßen. Aus dieser Verbindung ging die Komponistengruppe The New York School hervor, zu der außer Cage und Wolff noch Morton Feldman, Earle Brown und David Tudor gehörten. Im vergangenen Jahr ist der Komponist, der «am Ende einer schmutzigen Straße auf einem hohen Berg» in Royalton,Vermont lebt, achtzig Jahre alt geworden. n
Darf ich mit Grundsätzlichem beginnen: Worin liegt für Sie der Sinn des Komponierens? Die Frage beschäftigt mich nicht. Komponieren ist für mich etwas, das ich einfach mache – machen muss! Ich habe Glück, weil ich inzwischen genügend Kompositionsaufträge bekomme. Es gibt
eine Nachfrage nach meiner Musik. Ich komponiere nur, wenn mich jemand um ein Stück bittet oder ich einen Auftrag erhalte. Dann mache ich mich an die Arbeit. Manchmal habe ich Lust, ein Stück einfach so zu schreiben: für ein bestimmtes Instrument oder eine spezielle Besetzung, die mich interessiert. Doch das ist selten der Fall. Normalerweise fehlt mir die Zeit dazu, weil ich Verpflichtungen habe, denen ich nachkommen muss. Wenn ich die Kompositionsaufträge nicht hätte, würde ich aber wahrscheinlich trotzdem komponieren, weil ich mir ein Leben ohne Musik schwer vorstellen kann. Musik ist, was ich mache! Natürlich spiele ich auch Klavier – aber nur zum Hausgebrauch. Ich bin nicht gut genug, damit als Solist aufzutreten. Deshalb komponiere ich. Das hält mich mit der Musik in Kontakt, abgesehen vom Hören. Ich höre ziemlich viel Musik. n
Gibt es keine existenziellen Zweifel? Nein, gravierende Zweifel kenne ich nicht, was ein Glück ist. Manchmal gibt es einen Anflug davon. Dann blicke ich auf mein Werk zurück, das inzwischen ja eine beachtliche Menge an Kompositionen umfasst, und frage mich: «Hat das irgendeinen Wert? Hat es Bestand?» Auf einer anderen Ebene treiben mich jedoch keinerlei Bedenken um, sondern ich mache einfach, was ich machen muss, und das ist komponieren! Ich mache es so gut, wie ich nur kann. Ich bin in der glücklichen Situation, dass es über die Jahre immer genug Leute gab, die daran interessiert waren, meine Musik zu spielen. Wenn ich ein neues Stück geschrieben habe, sind für mich die Menschen am wichtigsten, die es aufführen. Ich mache mir keine Gedanken über das Publikum
oder über die Kritiker. Auf was es ankommt, sind die Interpreten. Wenn es ihnen gefällt und sie es spielen wollen, habe ich meine Arbeit ordentlich gemacht. Erfreulicherweise gab es über die Jahre immer eine Handvoll Musiker, die ein neues Stück von mir haben wollten. n
Der Klempner will von anderen Handwerkern respektiert werden … So ist es. Man kann es auch Berufsehre nennen oder Professionalismus. Deshalb nehme ich auch Kompositionsaufträge für Instrumente oder Besetzungen an, von denen ich nicht im Traum gedacht hätte, jemals dafür zu schreiben. Gerade arbeite ich an einem Stück für zwei Pianos und zwei Perkussionisten – also die Bartók-Sonate. Das will ich doch nicht machen! Warum tue ich mir das an? Nun, es sind zwei Pianisten, die ich mag und die mich fragten. Zudem verfügten sie über ein vernünftiges Budget. Deshalb habe ich mich darauf eingelassen. Ich bin ein professioneller Komponist, und das ist die Aufgabe. Also mache ich es! Hoffentlich fällt mir etwas Interessantes ein. n
Können solche Anstöße von außen den Horizont erweitern? Immer im eigenen Saft zu schmoren kann ja eine Beschränkung sein … Absolut. Deshalb habe ich auch den Kompositionsauftrag für die zwei Klaviere und die zwei Perkussionisten angenommen, obwohl es wirklich das letzte ist, was ich machen wollte. Ich frage mich dann: «Was kann ich aus dieser für mich wirklich schwierigen Aufgabe machen?» n
Wie gehen Sie an einen Kompositionsauftrag heran? Haben Sie eine bestimmte Routine, eine Arbeitsmethode?
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Gibt es zusätzliche Strategien? Ich arbeite nicht, wenn es mir nicht danach ist. Ich muss in der richtigen Gemütsverfassung sein. Normalerweise komponiere ich am Morgen. Da bin ich frisch. Am Nachmittag lassen Aufmerksamkeit und Konzentration nach. Grundsätzlich gilt: Ich fange einfach an ohne großes Trara. Ich schreibe nicht am Klavier, gehe nicht in die Nähe des Instruments. Erst wenn ich schon etwas auf dem Papier habe, probiere ich es am Piano aus. Wenn es meinen Ansprüchen genügt,
Entwürfe, die ich dann entwickle, sondern zimmere das Stück aus dem Augenblick heraus. n
Wie oft überarbeiten Sie eine Komposition, bis sie fertig ist? Nicht oft. Manchmal fällt mir auf, dass zum Beispiel die Arbeit der letzten beiden Tage nicht meinen Qualitätsmaßstäben entspricht. Dann streiche ich alles durch und beginne von Neuem. Manchmal nehme ich auch Teile heraus, die mich nicht befriedigen. Wenn sich dadurch das © Czech Center New York
Zwei Dinge müssen vorab geklärt werden: Für welche Instrumente soll die Komposition sein? Also: Was ist das Material, mit dem ich arbeiten kann? Schwierig wird es, wenn die Komposition für ein Ensemble gedacht ist, dessen genaue Besetzung noch nicht feststeht. Wenn es also nur heißt: «Kannst Du uns ein Stück für vier oder fünf Instrumentalisten schreiben?» Der zweite Punkt betrifft die Dimension des Stücks: Soll es kurz sein, mittlere Länge oder abendfüllend? Das beeinflusst meine Herange-
«Komponieren ist für mich etwas, das ich einfach mache – machen muss!» | Christian Wolff
hensweise, meine mentale Einstellung. Morton Feldman hatte eine sehr sinnvolle Regel: «Je länger ein Stück werden sollte, desto geringer war das Material, mit dem er anfing.» Das ist sehr klug, denn es zwingt einen dazu, sich wirklich aufs Detail zu konzentrieren und zu versuchen, das Maximale aus der kleinsten Menge an Material herauszuholen. Es muss ja für drei Stunden Musik reichen. Wenn ich also an einem langen Stück arbeite, habe ich Feldmans Leitspruch im Kopf. Ein kürzeres Stück erfordert eine andere Haltung.
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schreibe ich etwas mehr, und dann mache ich immer so weiter. Aus dem ersten ursprünglichen Gedanken erwächst das ganze Stück. Jeder kleine Abschnitt schafft den Kontext für den nächsten Teil, aber nicht im Sinne der Komponisten der Vergangenheit. Ludwig van Beethoven arbeitete mit Motiven, die er dann im Laufe einer Komposition entwickelte. Ich denke nicht auf diese Weise. Ich beginne, schreibe etwas, und denke dann: «Wie weiter jetzt?» Es geht Stück um Stück in ziemlich kleinen Etappen voran. Ich komponiere auf Sichtweite. Ich mache keine großartigen
Konzept der Gesamtkomposition verändert, kümmert mich das nicht. Die Teile, die funktionieren, bleiben erhalten. Daran arbeite ich weiter. n
Welche Rolle kommt den Interpreten zu? Das Verhältnis zwischen Komponist und Interpret ist elementar für meine Arbeit. Wenn ich weiß, für welchen Musiker oder welche Musikerin ich schreibe, macht das die Sache einfacher. Die Perkussionistin Robyn Schulkowsky ist so ein Fall. Ich mag die üblichen Perkussionsinstrumente, die man in Musikgeschäften
GESPRÄCH
kaufen kann, nicht besonders: Becken, Trommel, solche Dinge. Schulkowsky verfügt über dieses ganze Instrumentarium, dazu aber noch über ein riesiges Arsenal anderer Gegenstände, die alle einen ganz speziellen Klang haben: Schrottteile – die verrücktesten Sachen! Ich habe längere Zeit in Schulkowskys verschiedenen Studios verbracht und dort diese Klangerzeuger ausprobiert. Wenn ich dann für Perkussion schreibe, halte ich die Instrumentierung ziemlich offen, notiere vielleicht nur: Fell, Metall, Holz. Ich bin mir sicher, dass Robyn Schulkowsky, wenn sie das spielen wird, eine interessante Auswahl trifft. Sie weiß, was funktioniert! Wenn ich dagegen für Violine komponiere, mache ich genauere Angaben, weil ich ungefähr weiß, was man mit einer Geige machen kann und was nicht. Mein generelles Verständnis von den Rollen des Komponisten und des Interpreten ist sehr altmodisch – wie im Barock bei Johann Sebastian Bach. Es gibt die Noten und nicht viel mehr. Bach ließ vieles offen und überließ die Entscheidung dem Interpreten. Er vertraute dem Instrumentalisten, dass dieser eine interessante Wahl treffen würde. Das heißt: Es gibt keine «richtige» Interpretation. Genau dasselbe gilt für meine Musik. Ich habe Probleme mit Instrumentalisten, die mich fragen: «Ist das so, wie Sie es wollen?» Normalerweise antworte ich darauf: «Ich weiß es nicht». Es gibt nicht den einzig richtigen Weg. Der Interpret muss den für ihn stimmigen Zugang finden. Es besteht ein Unterschied zwischen der Musik auf dem Notenblatt und derjenigen der Konzertaufführung. Die Musik entsteht in einem Dialog zwischen der Partitur und dem Interpreten. Das ist wesentlich für mein Werk und nicht wirklich neu in der klassischen Musiktradition. Stücke werden in verschiedenen Tempi gespielt, anders phrasiert etc. Das kann schon sehr verschieden sein. Das gleiche Stück dauert bei einem Interpreten 20 Minuten, bei einem anderen 25. n
Manche Komponisten wollen die Kontrolle nicht aus der Hand geben ... Das stimmt. In den 1950er Jahren gab es Kompositionen, da wurde jeder einzelnen Note das kleinste Detail vorgeschrieben: die Dynamik, die Phrasierung, alles! Das kam mir schon damals ziemlich verrückt vor. Es verwandelt den Interpreten
in eine Maschine. Er macht nichts anderes als zu reproduzieren. Für mich hat das nichts mit einer wirklichen Aufführung zu tun. Für mich ist die Musik erst Musik, wenn sie gespielt wird. Das ist ein Moment mit eigener Dynamik, eigener Vitalität usw. Ein Interpret wird es anders machen als der nächste. Es sind verschiedene Menschen, die verschieden denken, verschieden fühlen. Es scheint mir angemessen, dass sich das auch in der Musik niederschlägt, die ich geschrieben habe.
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Robyn Schulkowsky zu sprechen zu kommen: Sie macht oft Dinge, die ich nicht bedacht habe, und es klingt meistens besser, als ich es mir vorgestellt habe. Das ist der Vorteil dieser Arbeitsmethode, dass die Musik interessanter ausfällt, als ich ursprünglich gedacht habe, weil ich im Idealfall das Können, die Fähigkeiten und die Kreativität der Interpreten einbeziehe, und diese natürlich ihr Instrument besser kennen als ich. n
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Was bedeutet das für das Rollenverständnis des Komponisten? Ich muss offen sein und Vertrauen zu den Aufführenden haben. Außerdem muss ich bereit sein, Überraschungen zu erleben. Ich habe auf diese Weise interessante Erfahrungen gemacht. Wenn mir etwas als vollkommen falsch erscheint, frage ich den Interpreten, aus welchem Grund er es so gespielt hat? Wenn er eine schlüssige Erklärung parat hat, dann ist es okay. Öfters ist es aber einfach ein Missverständnis der Partitur, und das lässt sich klären. Wenn mir eine Interpretation wirklich nicht behagt, mache ich ein paar leise Bemerkungen, wie man es vielleicht anders phrasieren könnte, es vielleicht ein bisschen sanfter angehen könnte. Die meisten Interpreten sind offen für solche Ratschläge, oft sogar dankbar. Sie beklagen sich eher darüber, dass es nicht genug Anweisungen in meinen Partituren gibt. Es kommt darauf an, die richtige Balance zu finden zwischen meinen Vorgaben und der Verantwortung für die Musik, die ich den Interpreten übertrage.
Die Interpreten werden von Ausführenden zu Beteiligten – zu Co-Autoren? In gewissem Sinne: Ja! Eine Aufführung ist eine gemeinsame Anstrengung – eine Kooperation. Eines meiner Stücke, Edges, geht so weit, dass es ein gehöriges Maß an Improvisation verlangt. n
Sie waren schon in den 1960er Jahren an Improvisation interessiert? Ja, als ich 1967 nach London kam und Cornelius Cardew und die Gruppe AMM traf. Allerdings stellte sich heraus: Ich kann nur zusammen mit anderen Musikern improvisieren, allein schaffe ich das nicht. Ich weiß nicht warum, aber es gelingt mir einfach nicht. n
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Hat diese Art des Komponierens für Sie eine politische Dimension? Das kann man so sehen. Die traditionelle Kompositionsweise ist hierarchisch, top-down, meine ist eher partizipatorisch – demokratischer! Sie setzt ein beiderseitiges Vertrauen voraus: Ich muss den Interpreten vertrauen, und sie müssen mir vertrauen, dass die Partitur ihnen etwas gibt, mit dem sie arbeiten können und bei dem am Ende etwas Interessantes herauskommt. n Gibt es Konzertaufführungen Ihrer Werke, die Sie kreativ anregen? Auf jeden Fall. Manchmal spielen die Interpreten Sachen, die ich nicht in Betracht gezogen habe, die aber Sinn haben. Um noch einmal auf die Perkussionistin
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INFO n Christian Wolff: For Piano I / For Pianist / Burdocks David Behrman, Gordon Mumma, John Nash, Frederic Rzewski, David Tudor, Christian Wolff Wergo studio reihe WER 67772
n Christian Wolff: Bread and Roses Malcolm Goldstein, Matthias Kaul Wergo WER 66582
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© André Laks
EIN VIERTELJAHRHUNDERT IM DIENST VERGESSENER MUSIK DIE PRODUKTIONEN VON EDA RECORDS von Stefan Drees
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Simon Laks
Seit nunmehr 25 Jahren bemüht sich das 1990 gegründete Label EDA Records darum, vernachlässigte Werke des 20. Jahrhunderts im Rahmen ihrer jeweiligen historischen und musikästhetischen Kontexte zu präsentieren. Auf diesen Gedanken verweist der ursprüngliche Name «Edition Abseits», auch wenn die inhaltliche Ausrichtung mittlerweile Veränderungen erfahren hat und reichhaltiger geworden ist als in der Anfangszeit:1 Während in den ersten Jahren noch kammermusikalische Raritäten für Klavierquintett aus Spätromantik und früher Moderne im Mittelpunkt der Produktionen standen, gefolgt von drei substanziellen Veröffentlichungen zur russischen Klaviermusik-Avantgarde zwischen 1910 und 1930 sowie von mehreren CDs zu Franz Schrekers Meisterschülern aus Wien und Berlin, beteiligte sich EDA Records bald als erstes Label überhaupt mit Ersteinspielungen von Werken sogenannter «Theresienstädter Komponisten» an den Diskussionen über die Relevanz «verdrängter Musik». Was 1993 mit der hochgelobten Weltersteinspielung der Klaviersonaten Nr. 1 bis 4 von Viktor Ullmann durch Edith Kraus (EDA 5) begann und 2014 durch eine Gesamtaufnahme der Sonaten in Kombination mit fünf entsprechenden Werken Norbert von Hannenheims mit dem jungen Pianisten Moritz Ernst (EDA 38) eine gleichsam aktualisierte Abrundung erfuhr, hat sich mittlerweile zum wichtigsten Alleinstellungsmerkmal des Labels entwickelt: die Veröffentlichung bedeutender Musik jenseits der ausgetretenen Pfade. Das Attribut «bedeutend» muss hier besonders betont werden, denn es geht tatsächlich um Kompositionen, die aus historischen und politischen Gründen durch das Raster der öffentlichen Aufmerksamkeit gefallen sind, deren verspätete Rezeption aber mitunter einschneidende Veränderungen für unsere Konstruktion von musikund kulturgeschichtlichen Narrativen haben kann. «POLAND ABROAD»
Am deutlichsten wird dies, wenn man sich die mittlerweile sechsteilige Reihe «Poland Abroad» anschaut, die sich mit den gravierenden Folgen von Exil und Schoah für das polnische Musikleben beschäftigt und dabei Komponisten in den Mittelpunkt stellt, deren Schaffen zumeist weder im Konzertleben noch auf dem Tonträgermarkt bislang eine ihrer Bedeutung angemessene Würdigung erfahren haben. Als
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erste Produktion erschien 2006 eine CD mit Werken für Streichorchester von Simon Laks, Alexandre Tansman, Jerzy Fitelberg und Mieczysław Karłowicz (EDA 26). Ihr schlossen sich 2007 eine Platte mit Sinfonischen Dichtungen von Tansman, Laks, Grzegorz Fitelberg und Eugeniusz Morawski an, 2010 eine Veröffentlichung mit Streichquartetten von Laks, Joachim Mendelson und Roman Padlewski (EDA 34)2, 2013 eine CD mit Kammermusik von Laks, Constantin Regamey und Józef Koffler (EDA 37) sowie zuletzt 2014 eine Platte mit drei konzertanten Werken von Jerzy Fitelberg, Tadeusz Zygfryd Kassern und Michał Spisak (EDA 39). Die wohl bisher aufwändigste Produktion widmet sich, kombiniert mit zwei Werken von Karol Rathaus, dem erstmals 2014 im Rahmen der Bregenzer Festspiele auf einer Bühne inszenierten Operneinakter L’Hirondelle inattendue (1965) von Laks (EDA 35), der sich als ebenso reizvolle wie intelligente musikdramatische Reflexion über die Verachtung populärer Melodien und damit nicht zuletzt auch als indirekter Kommentar zur Avantgarde der 1960er Jahre und ihrer ausschließenden Tendenzen erweist.3 «EN HOMMAGE»
Komponisten wie Laks und Mendelson sind darüber hinaus auch Schwerpunkte innerhalb der bislang zwei CDs umfassenden Reihe «en hommage»: Während die 2010 erschienene Produktion mit Werken des Auschwitz-Überlebenden Laks (EDA 31) vor allem Einblicke in dessen Kammerund Klaviermusik aus den 1930er Jahren bietet – Werke, die für herausragende Interpreten wie Vlado Perlemuter und Maurice Maréchal entstanden und den Durchbruch des Komponisten in der französischen Musikszene markieren –, bündelt die Ende 2014 veröffentlichte Mendelson-CD zwei sinfonische und zwei kammermusikalische Kompositionen (EDA 40). Dass das Label damit auf zwei seiner Veröffentlichungen sämtliche heute noch erhaltenen Werke des 1943 im Warschauer Ghetto ermordeten Komponisten dokumentiert, ermöglicht es erst, die Bedeutung von Mendelsons quer zu jeglicher stereotypen Zuordnung stehendem musikalischem Schaffen zu erahnen und ihn als international tätige Schlüsselfigur der europäischen Musikszene zwischen den beiden Weltkriegen zu verstehen. Gemeinsam ist den Veröffentlichungen, dass sie – in den meisten Fällen anhand von
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Starb 29-jährig im Warschauer Aufstand | Geiger, Pianist, Dirigent und Musikwissenschaftler Roman Padlewski
Ersteinspielungen – Komponisten ins Bewusstsein zurückrufen, deren Schaffen durch die Folgen der deutschen Okkupation Polens und dem damit einhergehenden Versuch einer vollständigen Eliminierung aller einheimischen kulturellen Wurzeln dem Vergessen anheim gegeben wurde. Einerseits lässt dies einen mitunter überraschenden Blick auf musikgeschichtliche Details wie den stilistischen Reichtum des polnischen Musiklebens vor Beginn des Zweiten Weltkriegs zu. Andererseits versucht das Label mit der Konzeption solcher Reihen auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die polnische Musikgeschichte sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein zu weiten Teilen im erzwungenen oder selbst gewählten Exil, etwa in Frankreich, entwickelte, dass wir es hier also mit dem «Phänomen einer gleichsam virtuellen, von einer territorialen Bindung losgelösten Kulturgeschichte eines Landes zu tun haben, das mit dem vorherrschenden, von der Idee der Entwicklung nationaler Schulen im 19. Jahrhundert geprägten Musikgeschichtsverständnis nicht erfasst wurde und wird».4 Durch Fokus auf Persönlichkeiten wie Krzysztof Meyer, der hierzulande immer noch weniger als Komponist, denn als
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Autor einer bedeutenden SchostakowitschBiografie5 bekannt sein dürfte, rücken zudem Namen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt, die darauf verweisen, dass sich jenseits der allgemein anerkannten Beiträge Polens zur musikalischen Avantgarde auch wichtige kompositorische Beiträge einer alternativen Moderne entdecken lassen. Entsprechend macht die CD mit den pianistischen Hauptwerken Meyers aus dem Zeitraum von 1962 bis 2006 in einer Wiedergabe durch Christian Seibert (EDA 36)6 – darunter insgesamt sieben Klaviersonaten – mit dem facettenreichen Individualstil eines Komponisten bekannt, dessen Schaffen im deutschsprachigen Raum weit mehr Aufmerksamkeit als bisher verdient. REFERENZCHARAKTER
Welch hohen Anspruch insbesondere viele jüngere Veröffentlichungen des Labels verfolgen, lässt sich daran ablesen, dass viele der sehr guten bis exzellenten Einspielungen – beispielsweise die von Łukasz Borowicz geleitete Aufnahme der Laks’schen Oper unter Mitwirkung des Polnischen Rundfunkchors und -orchesters, die beeindruckend klare Produktion von Regameys Klavierquintett mit Ib Hausmann (Klarinette), Frank Forst (Fagott) und Mitgliedern des Aperto Piano Quartetts oder die Aufnahme von Mendelsons Zweiter Sinfonie durch das Polnische Rundfunksinfonieorchester unter Jürgen Bruns – Referenzcharakter besitzen. Es zeigt sich aber auch im Bemühen um möglichst fundierte und erschöpfende Bookletbeiträge, die, oft unter Bezugnahme auf weit verstreute Quellen, zumeist eine Darstellung übergeordneter kulturgeschichtlicher Kontexte ins Zentrum rücken.7 Angesichts dieser Leistungen bleibt zu hoffen, dass die von EDA Records geleistete Arbeit in Zukunft weit stärker als bisher einen adäquaten Widerhall in renommierten Fachzeitschriften und im deutschen Feuilleton finden wird. n 1 Detaillierte Informationen zu den mittlerweile vierzig Produktionen aus dem Katalog von EDA Records finden sich auf der Website des Labels (www.eda-records.com). 2 vgl. Stefan Drees: «Polnische Streichquartett-Perlen», http://magazin.klassik.com/reviews/reviews.cfm?task=review&REID=11956&RECID=19042 (letzter Aufruf am 23. März 2015). 3 vgl. dazu Frank Harders-Wuthenow: «Irrflug einer Schwalbe. Zu Simon Laks’ wiederentdeckter Oper L’Hirondelle inattendue», in: Die Tonkunst 6/2012, H. 2, S. 231–233. 4 ders. im Booklet-Text zu EDA 39, S. 1. 5 vgl. Krzysztof Meyer: Schostakowitsch: sein Leben, sein Werk, seine Zeit, Bergisch Gladbach 1995. 6 vgl. Stefan Drees:«Anstiftung zur Entdeckung», http://ma-
gazin.klassik.com/reviews/reviews.cfm?TASK=REVIEW&R ECID=21774&REID=13311 (letzter Aufruf am 23. März 2015). 7 Diese Texte sind – allerdings ohne die gelegentlich in der Druckversion vorhandenen Fußnotenapparate – auch auf der Internetseite des Labels einsehbar.
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INFO n Viktor Ullmann: Klaviersonaten 1–4. Edith Kraus, Klavier. EDA 5
n en hommage Simon Laks: Trois pièces de concert (1935) | Sonate pour violoncelle et piano (1932) | Suite polonaise (1935) | Ballade «Hommage à Chopin» (1949). EDA 31
n en hommage Joachim Mendelson: Symphony no. 2 (1939) | Quintet for oboe, violin, viola, cello and piano (1939) | Sonata for violin and piano (1937) | Chamber Symphony (1938). EDA 40
n Poland Abroad, Vol. 1.: Music for String Orchestra. Alexandre Tansmann: Triptyque (1930) | Simon Laks: Sinfonietta (1936) | Jerzy Fitelberg: Concerto (1928) | Mieczyław Karłowicz: Serenade op. 2 (1897). EDA 26
n Poland Abroad, Vol. 2: symphonic poems. Grzegorz Fitelberg: The Song of the Falcon (1905) | Eugeniusz Morawski: Nevermore (1911) | Simon Laks: Poème for Violin and Orchestra (1954) | Alexandre Tansman: Hommage à Erasme de Rotterdam (1968/69). EDA 27
n Poland Abroad, Vol. 3: string quartets. Joachim Mendelson: String Quartet no. 1 (c. 1925) | Roman Padlewski: String Quartet no. 2 (1940/42) | Simon Laks: String Quartet no. 5 (1963). Silesian String Quartet. EDA 34
n Poland Abroad, Vol. 5: chamber music. Constantin Regamey: Quintet for clarinet, bassoon, violin, cello and piano (1944) | Józef Koffler: Love (Miłosc/ Die Liebe) Cantata op. 14 (1931) | Simon Laks: Divertimento for flute, violin, cello and piano (1966). EDA 37
n Poland Abroad, Vol. 6: concerto. Jerzy Fitelberg: Concerto for trombone, piano and string orchestra (1948) | Tadeusz Kassern: Concerto for string orchestra (1943) | Michał Spisak: Concertino for string orchestra (1942). EDA 39
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GEGEN APPLAUS ODER: SCHAFFT DAS KLATSCHEN AB! von Johannes Kreidler
Als der Kreis um Arnold Schönberg im Jahr 1918 den «Verein für musikalische Privataufführungen» gründete, verfügte man in den Statuten, dass dem Publikum Missfallenskundgebungen während oder nach den Darbietungen untersagt seien; doch nicht nur das, auch jedweder Beifall wurde dem Auditorium verboten. Die Maßnahme mag eine verbitterte Reaktion auf die Skandalkonzerte der frühen Atonalität gewesen sein, hatte aber Gültiges darüber hinaus. Applaus ist eine Unsitte – aus zwei Gründen: Erstens: Fort mit dem kollektiven Soforturteil; alles über dem Anstandspegel ist Soforturteil. Ein Stück, an dem monate-, womöglich jahrelang gearbeitet wurde, kann nicht Sekunden nach dem letzten Ton schon taxiert werden. Dieses notorische letzte Wort ist unangemessen und anmaßend. Da es aber erfolgt, korrumpiert die Aussicht auf bzw. die Angst vor Applaus die Komponisten und Komponistinnen, verführt zu Gefallsucht, begünstigt sichere Effekte, nährt eine Kunstproduktion, die die bestehende Meinung lieber bestätigt. Jedoch nach Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem, nach Anton Weberns Aphorismen ebenso wie nach einer Vorführung von Pier Paolo Pasolinis Saló oder nach einer Inszenierung von Heiner Müllers Hamletmaschine, in Anbetracht von Marcel Duchamps Urinal sind andere Reaktionen geboten als konform im Massenorgan Applaus einzustimmen. Das Individuum möge seine eigenen Schlüsse ziehen. Hat man Georg Wilhelm Friedrich Hegel nach Erscheinen der Phänomenologie des Geistes etwa auf die Schulter geklopft? Ein Kunstwerk braucht keine eilige Akklamation oder ein instantanes Daumen-runter-Fazit. Musiker und Musikerinnen, Komponisten und Komponistinnen sollen schlichtweg anständig bezahlt werden, dann braucht das Publikum ihnen keinen Applaus zu spenden. Zweitens: Keine Einrahmung. Statt dass das Kunstwerk sich in den Köpfen, im Handeln fortsetzt, statt dass seine Vibrationen weitergetragen werden, wird ihm der Riegel des Applauses vorgeschoben, wird real und symbolisch Distanz geschaffen
durch eine anspruchslose Schüttelbewegung, mit der man das Stück abschüttelt, es «schlussendlich» von sich fern hält, das Werk mit Beifall zu Fall bringt, es hinterm Lärmwall begräbt. Was nützt es, Spannung aufzubauen, wenn diese gleich wieder entladen wird? Wie unerträglich muss es für manche anmuten, wenn nach dem Doppelstrich der Partitur die Stille langsam überginge in die Kontinuität des Konzertprogramms oder in das Aufbrechen der Menschen; wenn die Feinheit und Energie, die Offenheit und Verantwortung des Kunstwerks nicht sogleich in Weißem Rauschen eingeschmolzen, nicht akustisch neutralisiert und hässlich simpel übertüncht würden, sondern der Stab weiterginge an die Hörer und Hörerinnen, auf dass sie gut damit umgehen; und erst recht, wenn das Publikum, wie es die Phrase gern reklamiert, «irritiert» wurde durch Kunst. Ist das Publikum wirklich irritiert, gar «verstört», dann kann es nicht noch klatschen! – Dann soll es das nicht müssen.Wiederum spricht wenig dagegen, wenn bei der Aufführung getrunken wird oder man währenddessen ein- und ausgeht, ebenso gegen das Betreiben von Smartphonekommunikation, so-
© Arno ld Schö nberg C enter, W ien
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lange sie andere nicht beeinträchtigt; das sind gleichermaßen Momente der Aufhebung des starren Rahmens.Wenn dann sollte das Stück einen an den Stuhl fesseln, nicht die Konvention. Ja, und wenn das Publikum von dem Erlebten begeistert ist? – Dann soll es sich nachher lieben. Niemand, der oder die zu Hause Musik hört, sieht es für angebracht, hernach dem Lautsprecher Beifall zu klatschen. Auch im Kino geht es ohne. Am Wiener Burgtheater fand bis 1983 das sogenannte Vorhangverbot von 1778 seine Anwendung: Verbeugungshandlungen sind zu unterlassen, «weil dadurch der Eindruck der darzustellenden Handlung gestört würde». Bei Konzerten in Kirchen, zumal mit Werken wie Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion, wird im Programmheft meist vermerkt, dass man aufgrund des Gegenstands bitte auf das Beklatschen verzichten möge. Auch ohne Theologie sollte das grundsätzlich walten; so viel Würde hat jede Kunstmusik. Schafft den Applaus ab! n
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Giacomo Balla: «Velocità astratta» (Abstrakte Geschwindigkeit), 1913
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Als Sten Nadolny Mitte der 1980er Jahre in seinem Debütroman die Langsamkeit zur Metapher des behutsamen Widerstands ausersah, nahmen sich Bedenken gegenüber dem Ideal der Beschleunigung, das die Unterminierung der zeitlichen Grenzen als Fortschritt feierte, noch eher befremdlich aus. Am Dogma der Zeitmaximierung bestand kaum ein Zweifel: Je schneller, desto zeitgemäßer! Spätestens im «Turbokapitalismus» der New Economy mehrten sich dagegen die Stimmen, die Alternativen zu der allgegenwärtigen Tempo-Euphorie einforderten; «Entschleunigung» lautet das Schlagwort, mit dem Geschwindigkeitskritiker einen planvollen
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Ausstieg aus der vermeintlich unabdingbaren Hetze reklamieren. In der Rückbesinnung auf das Gemächliche, im buchstäblichen Mit-der-Zeit-Gehen, versuchen sie die rastlose Gesellschaft aus dem Klammergriff der selbstgerufenen Geister zu befreien. Vor hundert Jahren wären derlei Mahnrufe vermutlich ungehört verhallt: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Maschinen der industriellen Produktion zu den Zeitgebern der Moderne gerieten und Beschleunigung, Vertaktung und Zeitkontrolle zu elementaren Strategien einer progressiven Lebensführung avancierten, galt dem «modernen Menschen» das Vertrauen in die stete Zunahme der Geschwindigkeit
als unerlässlich. Mechanische Gleichförmigkeit, vom Takt der Maschinen vorexerziert, wurde zum Ideal einer fortschrittlichen Zeitauffassung, die nicht zuletzt in den Künsten ihre Widerspiegelung fand. FUTURISMUS
Vornehmlich im Schaffen der italienischen Futuristen fand sich das Tempo zum Kunstgegenstand verklärt. Die Wegbereiter der radikalen Avantgardeströmung wollten sich der Fesseln der Tradition entschlagen, sich in der Literatur von Syntax und Semantik, in Malerei und Musik von überkommenen Ordnungsprinzipien befreien; stattdessen galt es, den Eindruck der Moderne, des
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JETZT NOCH SCHNELLER! GESCHWINDIGKEIT ZWISCHEN OBSESSION UND KREATIVITÄT von Michael Rebhahn
«Man lasse die Schnellen schnell und die Langsamen langsam sein, jeden nach seinem aparten Zeitmaß.» Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit
Neuen und Zukünftigen festzuhalten. Die Kategorien Raum und Zeit lösten sich in einer von technischem Fortschritt dominierten Weltsicht auf, in deren Zentrum das Phänomen der (schnellen) Bewegung stand. 1909 verkündete Filippo Tommaso Marinetti in seinem Manifeste du Futurisme, «dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert [habe]: die Schönheit der Geschwindigkeit.» Demgemäß beschied sich die Kunst der Futuristen nicht mit der Darstellung des Unbewegten, vielmehr wollte sie den Dynamismus des sie Umgebenden zum Ausdruck bringen: Die Szenerien der modernen Welt finden sich nicht als Abbilder von Augenblicken
fixiert, sondern in ihren Bewegungsabläufen aufgezeichnet – die Energie ihrer Geschwindigkeit soll im Objekt wahrnehmbar werden. Dem Rausch des Tempos, dem Großstadtleben, den Errungenschaften des Maschinenzeitalters gedachten die Futuristen mit einer Kunst zu entsprechen, die «Spontaneität und Kraft verkündet», die den Werken der als «impotente Sommerfrischen-Maler» geschmähten Impressionisten eine Kunst der «aggressiven Bewegung» und der «fiebrigen Schlaflosigkeit» entgegenhält. Ihre Künstlerkollegen forderten sie mit polemischen Botschaften auf, sich den Konsequenzen der Veränderung der räumlichzeitlichen Wahrnehmung zu stellen und in ihrer Arbeit der «neuen Moral-Religion der Geschwindigkeit» (Marinetti) zu huldigen. Gleichermaßen wurde die Musik von den technikversessenen Bilderstürmern ins Visier genommen: Luigi Russolo verlangte 1913 nach einer «futuristischen Musik mit Geräuschen des Explosionsmotors», da «Beethoven und Wagner die Nerven und Herzen der Menschen lange genug gemartert» hätten; an deren Stelle solle die Geräuschkulisse der Industriemetropolen in die «schläfrige Atmosphäre der Konzertsäle» Einzug halten.
War der Ansicht, «dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert [habe]: die Schönheit der Geschwindigkeit»: Filippo Tommaso Marinetti
TÖNENDE RASEREI
Dagegen war die ansonsten omnipräsente Forderung nach Beschleunigung in Bezug auf die Musik zu Zeiten der Futuristen längst obsolet – den Rausch der Geschwindigkeit hatte die Tonkunst bereits hinlänglich ausgekostet. Spätestens mit Beginn des 19. Jahrhunderts etablierte sich der gezielte Einsatz extremer Tempi als Ausdrucksmittel: Das nahezu unspielbare Tempo, das Beethoven dem ersten Satz seiner Großen Sonate für das Hammerklavier Nr. 29 B-Dur op. 106 (1817/18) zugrunde legte, spricht gleicher-
Verlangte nach einer «futuristischen Musik mit Geräuschen des Explosionsmotors»: Luigi Russolo
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terung des musikalischen Materials, mithin die Formierung einer neuen Ästhetik des musikalischen Kunstwerks lassen Probleme der Zeitgestaltung zunächst weitgehend unangetastet. Erst in der seriellen Musik der späten 1950er Jahre kommt es zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Frage, «wie die Zeit vergeht» – neben Ton-
führt zu einem Resultat, das die Triebkraft der Geschwindigkeit ins Gegenteil verkehrt: Die rasenden Tonverläufe lassen sich weder als Tonhöhenbewegungen noch als rhythmische Gestalten adäquat wahrnehmen; die strömende Kontinuität der Klangbänder bringt eine neue akustische Qualität zum Vorschein – von Gottfried Michael © François Lacour
maßen vom Bedürfnis nach musikalischer Rasanz wie die zwei Jahre später entstandenen Capricci Niccolò Paganinis, mit denen der Genueser «Teufelsgeiger» die zweifelhafte Gleichsetzung von Tempo und Virtuosität vorantrieb. Selbst die offensichtliche Paradoxie nahm die Sehnsucht nach Geschwindigkeit in Kauf: Als ob die For-
Musik für den hastlosen Hörer: Morton Feldman
derung «So rasch wie möglich» dem Interpreten nicht schon das Äußerste abverlangte, lässt Robert Schumann in seiner Klaviersonate g-Moll op. 22 (1830–38) wenige Takte später die Überbietung folgen: «Jetzt noch schneller!» Den musikalischen Nerv der Zeit traf die Temposeligkeit allemal: Neben den spärlichen Ausnahmen, denen extreme Geschwindigkeit als schlüssige Ausdrucksgeste eingeschrieben ist, feierte die selbstreferenzielle Zurschaustellung tönender Raserei in unzähligen Vivacissimi und Prestissimi fragwürdige Erfolge. Erst mit dem Anbruch der musikalischen Moderne gerät die schiere Lust an der Rasanz ins Hintertreffen:Von den musikantischen Attitüden des Neoklassizismus oder den martialischen Klangmechaniken eines George Antheil abgesehen, gerät die ausdrückliche Thematisierung des Parameters Tempo zu einem eher marginalen Aspekt. Die Suche nach Gestaltungsmöglichkeiten jenseits tonaler Normen, Fragen der Erwei-
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Geschwindigkeitsexzess als Medium der Entspannung?
höhe und Dynamik galt es auch die Zeitproportionen des musikalischen Materials einer definitiven Systematisierung unterzuordnen. Die erneute Beschäftigung mit dem Faktor Tempo als Basis der Erzeugung von Klangwirkungen vollzog sich dagegen abseits der «Darmstädter Schule». Insbesondere in György Ligetis und Conlon Nancarrows Suche nach unverbrauchter Klanglichkeit spielen hochgradige Geschwindigkeiten eine zentrale Rolle (s. hierzu den Beitrag von Dirk Wieschollek in diesem Heft). Als exemplarisch für Ligetis auf Schnelligkeit gründende Technik der «Illusionsrhythmik» kann die 1968 entstandene Cembalokomposition Continuum gelten. Das «so extrem schnell wie möglich» vorzutragende Stück schichtet gegenläufige Skalenmotive übereinander, die eine irisierende Oberfläche erzeugen und das der «Trägheit» des Ohres geschuldete Trugbild klanglicher Stasis hervorrufen. Ligetis Methode in Continuum
Koenig treffend als «Bewegungsfarbe» bezeichnet. In den seit 1985 entstehenden Études pour piano setzt Ligeti das Spiel mit der tempobedingten Verwischung der Wahrnehmungsgrenzen fort. Der Funktion des «Übungsstücks» gemäß ersinnt er motorische Techniken, die komplexeste Polyrhythmiken zu bewältigen und das Ohr des Hörers zu überlisten imstande sind. Ligetis Etüden jonglieren mit der Illusion vermeintlicher Fasslichkeit, die bei genauerem Hinhören ungreifbar bleibt. Wenngleich Ligetis Études vielfach an die Grenzen des pianistisch Machbaren heranreichen, bleibt ihre Ausführbarkeit letztlich doch gegeben. Im Œuvre Nancarrows, dessen Einfluss auf das eigene Werk Ligeti wiederholt herausstrich, findet sich dieses Limit dagegen vielfach überschritten; die Realisation seiner rigorosen Schichtungen metrisch unabhängiger Ebenen in Kombination mit extremen Geschwindigkeiten siedelt im Großteil seiner Kompositionen
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THEMA
Player-Piano indes nur scheinbar; das Potenzial der Klaviermaschine dient ihm nicht zur baren Demonstration von Schnelligkeit, sondern als zweckmäßiger «Vollstrecker» komplexer kontrapunktischer Ideen, die sich bis heute als singuläre Erscheinung ausnehmen.
licher Metronome nicht selten überschreiten, ist unbeirrte Schnelligkeit konstitutives Moment. Dass es indessen gerade solche Geschwindigkeitsexzesse sind, die von ihren Rezipienten als Medium der Entspannung reklamiert werden, erscheint auf den ersten Blick paradox, mag aber zugleich als Beleg dafür dienen, dass der tachykarde Rhyth-
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© imago | Thomas Frey
weit jenseits menschlichen Spielvermögens. Ganz im Sinne Marinettis verzichtet Nancarrow konsequent darauf, seine Stücke den beschränkten Fähigkeiten eines Instrumentalisten aus Fleisch und Blut anzuvertrauen und ersieht die Maschine als praktikables Wiedergabemedium aus: In seinen über 50 Studies for Player Piano ist das na-
Techno Rave 2009
Kein Bedarf an Entschleunigung: Conlon Nancarrow und György Ligeti
hezu unbegrenzte Geschwindigkeits- und Simultaneitätspotenzial des mechanischen Selbstspielklaviers Vehikel seiner musikalischen Vorstellungen. Nancarrows Hochgeschwindigkeitsmusik ergründet dabei zwei verschiedene Aspekte musikalischer Darstellung: Zum einen entstehen durch die aberwitzigen Ballungen, die stellenweise bis zu 200 Töne pro Sekunde vorsehen, bislang ungehörte Klanglichkeiten, die den akustischen Assoziationen mit dem vertrautesten aller Instrumente gründlich zuwiderlaufen; zum anderen sucht Nancarrow durch das Aufeinandertürmen zeitlich autonomer Ereignisse das Tempo aus einem verbindlichen Zeitraster zu lösen. In der in den Studies erprobtenVerknüpfung von konstanten mit variablen Geschwindigkeiten, von kontinuierlichen mit abrupten Tempowechseln, erweitert sich die Polyphonie der Einzelstimmen zur «Polytempik» übereinander gelagerter Schichten. Als «virtuosus ex machina» gebraucht Nancarrow das
ENTSPANNUNG
Als Nancarrow 1993 den Zyklus der Studies beendete, war musikalische Hochgeschwindigkeit hierzulande alles andere als zeitgeistkompatibel; die Sehnsucht nach «Entschleunigung» fand sich selbst noch in den musikalischen Präferenzen widergespiegelt. Hitlisten und Konzertprogramme stellten eindrücklich unter Beweis, dass das vornehmliche Interesse den Vertretern bedächtiger Klänge galt. Morton Feldman hielt Einzug in die Konzertsäle, das «Revival» des Gregorianischen Chorals boomte, die Arvo Pärt-CD geriet zum unverzichtbaren Utensil der hastlosen Hörer, und die Heroen meditationstauglicher Popmusik hießen Adiemus und Enigma. Gleichfalls im populären Sektor trat zur gleichen Zeit wiederum der Gegenentwurf seinen Siegeszug an: Im Techno erfolgte eine erneute Auseinandersetzung mit dem Parameter Tempo; in dessen forcierteren Spielarten, deren Metren die Obergrenze handelsüb-
mus des Medienzeitalters längst auch die auditive Wahrnehmung durchpulst.An «Entschleunigung» besteht hier kein Bedarf. – Die Futuristen hätten ihre Freude gehabt. n
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INFO n Conlon Nancarrow: Late and Unknown: Works on Rolls. Aufnahmen der originalen Player Pianos des Komponisten. Wergo WER 67542
n Morton Feldman: Early Piano Pieces Sabine Liebner, Piano 2 CDs, Wergo WER 67472
n György Ligeti: Études pour piano Thomas Hell, Piano Wergo WER 67632
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«ZEIT UND RAUM SIND SCHWANKEND GEWORDEN» ZUR KÜNSTLERISCHEN INSZENIERUNG VON GESCHWINDIGKEIT UND BESCHLEUNIGUNG von Stefan Drees
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«Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig.»1 Diese Bemerkung Heinrich Heines, am 5. Mai 1843 mit Blick auf die Eisenbahn niedergeschrieben, versucht dem als doppeldeutig empfundenen Umstand Rechnung zu tragen, dass der Einzug der Geschwindigkeit ins Leben auch eine Veränderung von Wahrnehmung und Erleben nach sich ziehen müsse.2 Bereits 1830, also fünf Jahre vor Eröffnung der ersten deutschen Eisenbahnstrecke von Nürnberg nach Fürth, hatte Adelbert von Chamisso in seinem Gedicht «Das Dampfross» Vergleichbares angestrebt, indem er den Wechsel vom Pferd zur Lokomotive thematisierte und Letztere als «Muster der Schnelligkeit» beschrieb, das «die laufende Zeit» hinter sich lasse.3 Chamissos Auffassung von der Eisenbahn als «Bote der Neuzeit», der es der dichterischen Fantasie erlaube, «gleichsam auf Dampfesschwingen durch die Zeit»4 zu reisen, nimmt nicht nur die Vorstellung von Modernität als Zustand unaufhörlicher Dynamik vorweg, sondern ist auch bemerkenswert, weil der Dichter darin «die Beschleunigung selbst»5 zu erfassen sucht. Dazu treibt er, ausgehend von der Schilderung einer Umrundung der Erde von Osten nach Westen und der damit verbundenen Zeitersparnis, das imaginierte Geschehen in seinen Versen bis zum Gedanken einer vollständigen Aufhebung von Zeit voran.
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GESCHWINDIGKEIT
Was Chamisso so früh in Gestalt poetischer Bilder zu einer utopischen Sicht auf Historie formt, verdankt sich einer positiven Lesart technologischen Fortschritts und verweist letzten Endes auf die «Beschleunigung von Prozessen und Ereignissen als Grundprinzip der modernen Gesellschaft».6 In der musikalischen Produktion dagegen sind die Spuren solcher Umwälzungen zunächst nur spärlich auszumachen: Zwar hatte bereits 1836 Johann Strauss (Vater) anlässlich eines Sommerfests unter dem Motto «Buntes aus der Zeit» einen Eisenbahn-Lust-Walzer op. 89 komponiert und ihn der Eröffnung der Kaiser-FerdinandsNordbahn am 13. November 1837 vorausgeschickt, was er visuell durch eine mehr als 30 Meter breite Dekoration aus der Werkstatt des Bühnenbildners Michael Mayr mit der Vision einer Eisenbahnfahrt unterstreichen ließ. Doch sind die in Introduktion und Coda sowie vereinzelt auch in den fünf Walzern eingestreuten Akkord- und Tonrepetitionen als Imagination von Fahr- und Betriebsgeräuschen des neuen Verkehrsmittels eher als publikumswirksame, mit untrüglichem Sinn für tagesaktuelle Entwicklungen eingestreute Effekte, denn als Indizien für den künstlerischen Widerhall der Veränderung von Wahrnehmung und Erleben aufzufassen. Ein weitaus anschaulicheres Beispiel für die Beeinflussung der Musik durch die neue Bewegungsform der Eisenbahn schuf Charles Valentin Alkan zeitgleich mit William Turners berühmtem Gemälde Regen, Dampf und Geschwindigkeit. Die Great Western Railway im Jahr 1844. In seinem Klavierstück
Le chemin de fer (Die Eisenbahn) op. 27 ist der Gedanke der Geschwindigkeit gleichgesetzt mit einem hohen Grundtempo, das der Komponist mit vivacissimo (Halbe = 112) angibt. Zwar dient die Idee einer schnellen Eisenbahnfahrt vor allem der Legitimierung technischer Brillanz, doch flicht Alkan über das rasende Skalenspiel hinaus illustrative Elemente ein, die – weitaus stärker als die Repetitionen bei Strauss – die besondere Eigenart des musikalisch imaginierten Erlebnisses unterstreichen: einen ostinaten, auf der ersten Achtel betonten Grundrhythmus in der linken Hand, dessen repetitiver Charakter über weite Stre-
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Das neuartige Fortbewegungsmittel Eisenbahn beeinflusst die Musik | William Turner: «Regen, Dampf und Geschwindigkeit. Die Great Western Railway», 1844
cken hinweg den Fixpunkt einer wenig veränderlichen Harmonik bildet, oder die später in den Bass getupften, das Ostinato ersetzenden Vorschlagsfiguren. Dabei bleibt der Komponist ausschließlich dem metrischen Rahmen des vorgegebenen 2/4-Takts verpflichtet, den er erst am Schluss überschreitet, um die vorangegangene Bewegung in einem Prozess der Verlangsamung, verbunden mit schrittweiser Verdoppelung der Notenwerte, zum Stillstand zu bringen. Was Alkan hier mit Rückgriff auf die kompositorischen Gestaltungsregeln seiner Zeit in einem effektvollen Salonstück verpackt, lässt sich als künstlerische Inszenie-
rung von Geschwindigkeit begreifen, bei der vor allem das Gefühl des Dahineilens – also eine spezifische Wahrnehmung von Raum im Verhältnis zur Zeit – im Mittelpunkt steht. Knapp 150 Jahre später hat sich der Komponist John Adams in seinem Orchesterstück Short Ride in a Fast Machine (1986) auf vergleichbare Weise mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Die zugrundeliegende Idee der Fahrt in einem rassigen Sportwagen spitzt den Gedanken des Geschwindigkeitsrauschs allerdings weiter zu und appliziert ihn auf das Automobil in seiner Funktion als mythische Idealisierung von Freiheit, wie sie beispielsweise seit
jeher im Genre des US-amerikanischen Roadmovies gepflegt wird.Wie Alkan bindet Adams seine Musik an einen schnellen Grundpuls (delirando, Halbe = 152). Diesem weist er den charakteristischen Klang eines hohen Woodblocks zu, den er, gleichmäßig akzentuierte forte-Schläge ohne Rücksicht auf die Metrik des eingangs vorgezeichneten 3/2-Taktes zur Markierung der Halben fordernd, zum roten Faden macht, an den alle übrigen musikalischen Ereignisse angelagert werden.Adams behält diese perkussive Klangspur während des ersten (T. 1–81) und des zweiten Teils (T. 82–138) unverändert bei, wechselt jedoch zwischenzeitlich die
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© 1986 by Hendon Music, INC., for all countries. All Rights Reserved. Mit freundlicher Genehmigung von Boosey & Hawkes Bote & Bock GmbH, Berlin
John Adams: «Short Ride In A Fast Machine» für Orchester, 1986 | Beginn
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THEMA BESCHLEUNIGUNG
Während die bisherigen Beispiele vorrangig auf eine Abbildung der Wirkung von Geschwindigkeit zielen, geht es in Arthur Honeggers «mouvement symphonique» Pacific 231 (1923) auch um den Übergang von Stillstand zu Bewegung. Die Benennung des Werks nach den Pacific-Dampflokomotiven – vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Ende der Dampflokzeit zu den schnellsten, stärksten und modernsten Maschinen gehörend – hat, gestützt durch einen frühen Werkkommentar10, die Interpretation der Musik als realistische Imitation einer rasenden Eisenbahnfahrt befördert, auch wenn der Komponist selbst in späteren Jahren eher den abstrakten Gehalt seines Orchesterstücks zu akzentuieren versuchte.11 Tatsächlich fokussiert Honegger über weite Strecken hinweg die Fragestellung, wie sich der Vorgang der Beschleunigung, physikalisch betrachtet ein Zuwachs an Geschwindigkeit, kompositorisch umsetzen lässt: Die ersten elf Takte verweisen zunächst mit einem Kontrabass-Orgelpunkt und einem durch Beckenwirbel gestützten Streichertremolo auf den Stillstand, während eingestreute Akzente im Horn zusammen mit einzelnen Bass-Pizzicati zugleich jenen «Eindruck des Atmens der Maschine»12 entstehen lassen, den Honegger in seinem Kommentar erwähnt. Bereits innerhalb dieser Ruhephase setzt mit einem im pianissimo beginnenden chromatischen Aufstieg der Tuba (T. 9–12) der Eindruck von Bewegung ein, der nachfolgend (ab T. 12) kontinuierlich weitergetragen wird. Das hieran erkennbare Prinzip einer stetigen Verkürzung sukzessiv aufeinanderfolgender Notenwerte fängt jenen Kraftaufwand ein, der für die «Anstrengung des Anfahrens»13 notwendig ist, und verzweigt sich anschließend in den gesamten Tonsatz. Verknüpft mit einem stetigen Wandel der Harmonik, unterstützt es die Wahrnehmung einer zunehmenden Geschwindigkeit, was von der Artikulation ganzer Takte in T. 12 (Halbe = 80) über den kontinuierlich durchlaufenden Achtelpuls ab T. 90 (Viertel = 152) hin zu den in ihren Drehfiguren frei schwingenden Holzbläserkonfigurationen über triolischem Grundgerüst ab T. 118 (Viertel = 144) führt. Ihren Höhepunkt erreicht die Musik in T. 169 (Viertel = 132), gekennzeichnet durch «die gleichsam im Triumph auftretende Melodie der Blechbläser»14 über einem komplexen, Triolenund Sechzehntelbewegung verschachtelnden Hintergrund, der zugleich auch den
Zustand größter harmonischer Dichte bezeichnet. Diesem Abschnitt folgt ein Prozess der Verlangsamung (ab T. 204), der, kompositorisch mit der Phase der Beschleunigung und dem dortigen Umgang mit dem Rhythmus korrespondierend, über eine relativ rasch vollzogene Verlängerung der Notenwerte zum endgültigen Stillstand (T. 216–217) führt. Dass sich – ähnlich wie bei Adams – die Komposition als Reflex auf eine spezifische kulturelle Gemengelage verstehen lässt, erscheint angesichts der historischen Kontexte naheliegend: Als Versuch, die Veränderung der Geschwindigkeit © Deborah O’Grady
Tonlagen, indem er bei T. 79–121 einen tiefen und bei T. 133–138 einen mittleren Woodblock einsetzt, wogegen er im finalen, eine Spur ruhiger beginnenden Abschnitt (T. 138–188, Slightly slower, Halbe = 144) vollständig auf das Schlaginstrument verzichtet. Allerdings wird der Puls dort von anderen Instrumenten durch repetierte Viertel (in Teilen der Holzbläser und Streicher sowie im Triangel) und Achtelketten (in Klarinetten und Synthesizern) weitergetragen und verschwindet erst ab T. 181 mit der Rückkehr zum initialen Tempo aus der Partitur. Diese alternativen rhythmischen Schichten setzen schon zu Beginn des Werks ein, wo Adams den Woodblockpuls sogleich durch ein Klangband aus Achtelketten in Klarinetten und Synthesizern (ab T. 2) sowie aus Viertelimpulsen der Trompeten (ab T. 3) ergänzt. Ihr Reiz liegt darin, dass sie sich nicht affirmativ zum Grundpuls verhalten, sondern ihn immer wieder stören, weil sie permanent zur Schaffung von Konflikten zwischen Rhythmus und Metrum benutzt werden.7 Short Ride in a Fast Machine lebt geradezu von den rhythmischen Widersprüchen, mit denen Adams den initialen Puls überschreibt, seine Wahrnehmung verändert und – verknüpft mit allmählichen harmonischen Transformationen – in jedem Abschnitt erneut auf eine Klimax hinarbeitet. Stanley Kleppinger deutet dieses Verfahren als Versuch der Konstitution eines musikalischen Narrativs, in dessen Mittelpunkt er die negative Erfahrung einer Autofahrt sieht, die der Komponist in einem Interview geschildert hat.8 Dabei bleibt der Schluss des Werks mit seiner spezifischen Wirkung jedoch unberücksichtigt, obgleich gerade hier die Transzendierung des Sujets ansetzt: Nachdem die Musik zwei Höhepunktsbildungen durchlaufen hat, schafft Adams im dritten Teil Platz für den Einsatz einer im Tonraum weit ausgreifenden, den Trompeten anvertrauten Melodie. Ihr schwebender, aus der metrischen Indifferenz resultierender Charakter, unterstrichen durch miteinander konkurrierende rhythmische Schichten in den unterschiedlichen Instrumentengruppen, markiert die Überführung des Geschwindigkeitsgefühls in einen rauschartigen Zustand. Sie lässt sich daher als Klangsignatur deuten, deren Bezug zum erhabenen Tonfall heroischer Fanfaren9 für den Versuch einer musikalischen Akzentuierung des an das Automobil geknüpften Freiheitsmythos einsteht.
Setzt sich mit dem an das Automobil geknüpften Freiheitsmythos auseinander | John Adams
zum Gegenstand moderner ästhetischer Erfahrung zu machen, wendet sich Honegger hier gegen die noch immer virulenten Vorstellungen der futuristischen Manifeste von Francesco Pratella (1911) und Luigi Russolo (1913).15 Indem er nämlich gerade nicht auf maschinelle Klangerzeuger der modernen Zivilisation, sondern auf das Instrumentarium eines Orchesters zurückgreift, bindet er seine Auseinandersetzung mit dem Beschleunigungsprozess dezidiert an die von den Futuristen als obsolet verworfene Grundlage eines traditionellen Tonvorrats und der daraus entwickelten harmonischen wie rhythmischen Dispositionen.16 Während Honegger seiner Musik die Idee einer beschleunigenden und abbremsenden Lokomotive einschreibt und davon ausgehend eine asymmetrische Bogenform konstruiert, spielt sich Louis Andriessens Auseinandersetzung mit dem Phänomen
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© 1994 by Boosey & Hawkes Music Publishers Ltd. Mit freundlicher Genehmigung von Boosey & Hawkes Bote & Bock GmbH, Berlin
Louis Andriessen: «De Snelheid» für Ensemble, 1983, Seite 78 | Alle drei Gruppen in Aktion
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Grundschläge immer rascher werden, verlängert er zugleich die Pausen zwischen den akkordischen Ereignissen und erzeugt so auf dieser Ebene den Eindruck allmählichen Abbremsens. Mit dem Eintritt des zehnten Abschnitts (T. 1088, punktierte Viertel = 92) gehen die Woodblockschläge in ein nicht mehr weiter zu steigerndes Tremolo über und reißen endgültig ab, während die Akkordsetzung in den drei Ensemblegruppen einem Prozess der Verlangsamung unterworfen ist. Dieser geht mit Beginn des elften Abschnitts (T. 1120) durch Betonung ganzer Takte (Ganze = 46) in einen Zustand zunehmender Statik über, der durch Verlängerung der Akkorde eine nochmalige Ausweitung erfährt; zugleich setzt aber genau an dieser Stelle wieder der Woodblockpuls in quintolischer Unterteilung des Takts, also von der Tempowahrnehmung her identisch mit dem Anfangspuls, ein. Andriessens Kunstgriff besteht darin, das Gefühl ständig sich steigernder Beschleunigungsimpulse mit dem Prozess harmonischer Verlangsamung zu verknüpfen und eine die Wahrnehmung herausfordernde Kippfigur herzustellen, um schließlich am Ende zu einer Neudeutung der Ausgangslage zu gelangen. Dass er dieses Geschehen rein abstrakt vermittelt, ohne dabei auf eine bildliche Konkretion der zugrundeliegen Idee zu verweisen, macht die Besonderheit seines Werks aus.20 Von dieser Wirkung her betrachtet spiegelt sich in De Snelheid wie in keinem anderen der hier besprochenen Stücke die Ambiguität des Beschleunigungsgedankens, die ganz ähnlich auch aus der eingangs zitierten Heine-Passage spricht. Der Zustand des Vorwärtsdrängens wird durch die gegenläufigen Ereignisse in Frage gestellt und in seiner Mehrdeutigkeit vorgeführt, was sich letzten Endes auch als ästhetisch vermitteltes Abbild der Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen begreifen lässt. n 1 Heinrich Heine: «Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben», in ders.: Werke und Briefe, hg. von Hans Kaufmann, Berlin und Weimar 21972, Bd. 6, 478–479. 2 Zu den Wechselbeziehungen zwischen technischem Fortschritt und gesellschaftlichen Veränderungen vgl. allgemein Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2004. 3 Max Sydow (Hg.): Chamissos Werke in fünf Teilen, 1. Teil: Gedichte, Berlin 1907, S. 66. 4 Kurt R. Biermann/Ingo Schwarz: «‹Da Asien nahe Amerika›: Adelbert von Chamisso – oder: Der Dichter ohne Schatten als Naturforscher», in: Kultur & Technik 20/1996, H. 2, S. 51–57, hier S. 53. 5 Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, 32013, S. 151. 6 Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005,
102014,
S. 15. 7 vgl. dazu ausführlich Stanley V. Kleppinger: «Metrical Issues in John Adams’s Short Ride in a Fast Machine», in: Indiana Theory Review 22/2001, H. 1, S. 65–81. 8 ebd., S. 78. Entsprechend äußerte Adams 1999 in einem Gespräch mit Terry Gross (zit. nach ebd., S. 65): «The image that I had while composing this piece was a ride that I once took in a sport car. A relative of mine had bought a Ferrari, and he asked me late one night to take a ride in it, and we went out onto the highway, and I wished I hadn’t [...]. It was an absolutely terrifying experience to be in a car driven by somebody who wasn’t really a skilled driver.» 9 Es sei daran erinnert, dass Adams die Komposition im Untertitel als «Fanfare for Orchestra» bezeichnet hat. 10 vgl. den kurzen Erläuterungstext, den Honegger der Erstausgabe seiner Partitur (Editions Maurice Senar, Paris 1924) voranstellte, zit. in Herbert Schneider: «Vorwort» zur Partitur Edition Eulenburg No. 1397, London 2011, S. VII– IX, hier S. VIII. 11 vgl. Arthur Honegger: Je suis compositeur, Paris 1951, © Francesca Patella
der Beschleunigung im Ensemblestück De Snelheid (1983) auf einer weitaus abstrakteren Ebene ab. Grundlage der Komposition, nach Nicolaus A. Huber ein «Muster an Sparsamkeit, Einfachheit und in die Tiefe gedachter Komplexität der Elementauswahl und Elementführung»17, ist ein permanenter Tempozuwachs, der über die Pulse zweier Woodblockparts angezeigt wird und erst gegen Ende eine Brechung erfährt. Das musikalische Geschehen erstreckt sich über einen zehnteiligen Verlauf und unterliegt einer Tempoprogression, die von 5/16 = 46 zu Beginn bis punktierte Achtel = 92 reicht, dann aber in einem als Coda dienenden elften Abschnitt erneut zum Grundpuls 46, diesmal auf Basis einer fünffach unterteilten Ganzen, zurückkehrt. Die spezifische Wirkung der Pulse resultiert nicht nur aus den von Abschnitt zu Abschnitt sich wandelnden Betonungsverhältnissen, sondern auch aus der räumlichen Artikulation der mitunter voneinander abweichenden Woodblockparts. Maßgeblich hierfür ist die Zuordnung beider Perkussionisten zu zwei identischen, mit je zwölf Musikern besetzten Ensemblegruppen (mit Saxofonen, Blechbläsern, Schlagzeug und Klavier), die sich links und rechts auf dem Podium gegenüberstehen und auch zur Erzeugung räumlich alternierender Akkordschläge eingesetzt werden. Die akkordischen Ereignisse, zunächst spärlich über den Woodblockpulsen eingestreut, verdichten sich über die ersten Abschnitte hinweg durch «Häufung der Anschläge und Hinzufügung neuer Akkorde»18, wodurch zusätzlich zum rascher werdenden Puls der Eindruck von Beschleunigung unterstrichen wird. Ergänzend hierzu setzt Andriessen eine dritte Ensemblegruppe mit eigener Klangcharakteristik ein (bestehend aus drei Flöten, zwei elektrischen Harfen, E-Bass, Hammondorgel, Großer Trommel, zwei Tomtoms und Streichern), die «keilförmig von vorn nach hinten»19 zwischen den übrigen Gruppen aufgestellt ist. Sie steuert neben eingeworfenen Akkorden auch lang gehaltene mehrstimmige Klangbänder bei und verschränkt beide Elemente ab Abschnitt V zu einer Abfolge von gehaltenem Klang und gestisch anschließendem Akkordakzent. Im Verlauf des Ensemblestücks verdichtet Andriessen zunächst das Geschehen und schafft damit auf harmonischer Ebene eine Korrespondenz zu den sich beschleunigenden Woodblockpulsen. In einem weiteren Schritt bringt er jedoch beide Schichten miteinander in Konflikt: Während die
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Komponiert die Ambiguität des Beschleunigungsgedankens | Louis Andriessen
S. 142–143. Zur ausführlichen Diskussion der Interpretationsansätze vgl. Egon Voss: «Pacific 231 – reine Programmusik oder doch ein Stück absoluter Musik?», in: Arthur Honegger. Werk und Rezeption, hg. von Peter Jost, Bern 2009, S. 199–212. 12 ebd., S. 208. 13 Honegger, zit. nach Schneider, S. VIII. 14 Voss, a. a. O., S. 209. 15 vgl. Francesco Pratella: Manifeste des Musiciens futuristes, Nantes 2014; Luigi Russolo: Die Kunst der Geräusche, hg. und mit einem Nachwort versehen von Johannes Ullmaier, Mainz 2005. 16 Dass dem Komponisten dennoch von Kritikern ein hohes Maß an Technizismus vorgeworfen wurde, entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie; vgl. dazu etwa die bei Voss, a. a. O., S. 202, abgedruckte Kritik von Paul Graener aus der Münchener Zeitung vom 5. April 1927. 17 Nicolaus A. Huber: «Erlebniswanderung auf schmalem Grat. Das Hörbarmachen von Zeit und Geschwindigkeit bei Louis Andriessen», in ders.: Durchleuchtungen. Texte zur Musik, hg. von Josef Häusler, Wiesbaden 2000, S. 236– 247, hier S. 244. 18 ebd. 19 ebd., S. 242. 20 Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet Nicolaus A. Huber seine Analyse an die Vorstellung eines immer schneller werdenden Läufers knüpft, sich dem Stück also durch eine visuelle Analogie nähert.
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© Berlingske Media
ILLUSIONSMUSTER, PRÄZISIONSMECHANISMEN, KAPUTTE MASCHINEN DAS PRINZIP HOCHGESCHWINDIGKEIT IN DER MUSIK VON GYÖRGY LIGETI von Dirk Wieschollek
Kunst soll nicht wahr sein, Kunst soll lügen – was György Ligeti einmal als Seitenhieb auf die ästhetischen Ideale der Schönberg-Schule hatte verlauten lassen, sollte nicht die Integrität und Einzigartigkeit eines spezifischen kompositorischen Gebildes in Frage stellen, schon gar nicht eines seiner eigenen. Trotzdem wurde der diktaturgeprüfte Ungar zeitlebens nicht müde, gegen die Wahrhaftigkeits- und Ausschließlichkeitsansprüche künstlerischer Ideologien zu polemisieren, und der ausgewiesene Synästhetiker Ligeti verwies damit auf einen der wesentlichen Aspekte seiner Klangsprache: die Illusion. «Das unwillkürliche Umsetzen optischer n
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und taktiler Empfindungen in akustische kommt bei mir sehr häufig vor. Zu Farbe, Form und Konsistenz assoziiere ich fast immer Klänge, wie auch umgekehrt zu jeder akustischen Sensation Form, Farbe und materielle Beschaffenheit. Sogar abstrakte Begriffe wie Quantitäten, Beziehungen, Zusammenhänge und Vorgänge erscheinen mir versinnlicht und haben ihren Platz in einem imaginären Raum.»1 Der assoziativ-illusionistischen Ästhetik Ligetis gingen eine Hinterfragung und die komplette Neubestimmung aller kompositorischen Parameter voraus, wie sie sich in der Nachkriegsavantgarde insgesamt zeigte und im Serialismus Darmstädter Prägung
besonders strenge konstruktive Organisationsformen ausbildete. Aus den strukturellen Problematiken serieller Partituren zog Ligeti ganz eigene Konsequenzen mit einer Musik, die intervallische und rhythmische Konturen in einer vielstimmigen Mikropolyphonie auflöste. Die minutiös konstruierte Regungslosigkeit der Atmosphères (1961), mit der Ligeti prominent wurde, hat jedoch in seiner Musik ein gewichtiges Pendant, welches auf den ersten Blick strukturell diametral entgegengesetzt scheint, hörphysiologisch jedoch ähnliche Wirkungen zeitigt: die Hochgeschwindigkeit.
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Gegen die ästhetischen Dogmen der Avantgarde gerichtet | György Ligeti: «Poème Symphonique» (1962)
«POÈME SYMPHONIQUE»
Es ist interessant, sich zu vergegenwärtigen, dass Ligetis erstes Experiment mit extremer Geschwindigkeit mitten in der Hochphase stationärer Klangkomposition stattfand: eine «sinfonische Dichtung» ohne Musiker, die mit dem subversiven Geist des Fluxus kokettierte. Das 1962 konzipierte Poème Symphonique verstand sich als launische «Kritik» gegen das traditionelle Konzertleben ebenso wie gegen die ästhetischen Dogmen der Avantgarde in Gestalt einer «ad absurdum geführten Aleatorik und Schichtkombination» und einer «totalen Mechanisierung der Aufführung».2 Ligeti schichtete in dieser Mischung aus Happening und Klanginstallation Pulsierungen von 100 Metronomen übereinander, die zum gleichen Zeitpunkt mit verschiedenen Geschwindigkeiten aufgezogen, angeworfen und dann sich selbst überlassen werden. Das Ergebnis: ein rhythmisches Riesen-Diminuendo, in dem sich aus einem kollektiven Rauschen sukzessive rhythmische Konturen herauskristallisieren. «CONTINUUM»
Das im Poème Symphonique im Kontext einer praktisch automatisierten Form relevante Phänomen extremer Ton- bzw. Pulsdichte,
deren Komplexität das menschliche Wahrnehmungsvermögen überfordert, avancierte wenige Jahre später zu einem bedeutenden kompositorischen Verfahren in Ligetis Instrumentalmusik. Im Cembalo-Stück Continuum (1968) tritt es gleich in Extremform zu Tage. Der Titel ist Programm:Wellenbewegungen minimal gegeneinander verschobener Spielfiguren und Einzelton-Repetitionen lassen in rasendem Tempo Punkte zu Linien und Töne zu Massen verschmelzen. Verglichen mit den zeitlupenhaften Klangfluktuationen der Atmosphères wird der Eindruck musikalischer Statik hier durch ein scheinbar völlig konträres Verfahren erzeugt: der Kombination von extremer Geschwindigkeit und größtmöglicher Ereignisdichte, «so dass das prestissimo Dahinfliegende in ein Stillstehen übergeht.»3 Dass das auf dem Cembalo stattfindet, ist kein Zufall, ermöglicht dieses doch im Vergleich zum Klavier eine deutlich höhere (Repetitions-)Frequenz des Anschlags sowie das Spiel fast identischen Materials auf zwei Manualen in derselben Lage. Um größtmögliches Tempo zu garantieren, ist das Stück spieltechnisch praktisch auf ein «FünfFinger-System» beschränkt, in dem die figurativen Einheiten meist von außen nach innen abgespult werden; der Ausführende
hat dazu teilweise nicht weniger als 14 Anschläge pro Sekunde zu bewältigen. Continuum verkörpert Ligetis «objektale» Auffassung musikalischer Zeit- und Raumverhältnisse geradezu idiomatisch: «Die Musik erscheint, als ob sie ein Objekt wäre, als stünden Formen in der Zeit still, als wäre die Zeit Raum, also das Gegenteil von Prozess und Entwicklung.»4 Mit dieser dreidimensionalen Konzeption des musikalischen Raums eng verbunden ist Ligetis Vorliebe für die Konstruktion maschineller musikalischer Abläufe. Schon in Continuum wird der Eindruck erweckt, als sei gar kein Spieler mehr am Werk, sondern eine (rasend schnell laufende) Maschine, die, einmal angeworfen, ein Eigenleben führt. Die Gestaltung des Endes ist bezeichnend: die flirrenden Tonrepetitionen sollen «plötzlich aufhören, wie abgerissen» – als wäre eine Apparatur abgestellt worden oder hätte aufgrund eines Problems ihren Betrieb selbst eingestellt: «Die Vorstellung von monströsen, zwecklosen Maschinen, die Zeit verschlingen und bis zu ihrem plötzlichen, unerwarteten Verstummen in unbeeinflussbarer Stetigkeit dahinschwirren, kehrt in meinen Kompositionen immer wieder».5 KOMPOSITORISCHE VISITENKARTE
Ligetis geradezu personalstilistische Spielanweisung «Wie ein Präzisionsmechanismus» taucht erstmals in den PrestissimoPassagen am Ende seines 1. Streichquartetts (1953/54, rev. 1958)6 auf, begegnet kurzzeitig in den «Horloges démoniaques»7 der Nouvelles Aventures (1962/65) und im 2. Satz (T. 41-43) des Cellokonzerts (1966) wieder und avanciert spätestens mit dem 2. Streichquartett (1968) zu einer kompositorischen Visitenkarte. Ligetis Obsession für uhrwerkartig tickende Strukturen findet sich im 3. Satz des Quartetts, der als reiner Pizzicato-Satz Ligetis launische FluxusApparatur für 100 Metronome ebenso in Erinnerung ruft wie das Scherzo aus Béla Bartóks 4. Streichquartett, besonders plastisch ausformuliert. Der Satz beruht auf dem Prinzip der gitterartigen Überlage-
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© 1998, Schott Music, Mainz
György Ligeti: Étude No. 9 «Vertige» für Klavier | Beginn
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rung pulsierender Tonrepetitionen, als wären verschiedene Geschwindigkeitsschichten übereinanderkopiert. Allein die additive, satztechnisch als Kanon gegeneinander verschobene Steigerung der Tondichte innerhalb der einzelnen Takte suggeriert trotz eher geringem Grundtempo unregelmäßige Beschleunigungsvorgänge perkussiver Impulse. Strukturell handelt es sich sozusagen um den umgekehrten Vorgang des Poème symphonique, da in mehreren Anläufen aus anfänglichen Unisoni immer komplexere Unregelmäßigkeiten erwachsen. Plötzliche Verlangsamungen, Risse und Neuansätze brechen den temporären Gleichlauf immer wieder auf: «Der Satz ist wie eine Maschine, die kaputt geht.»8 Auch das «Movimento preciso e meccanico» des Kammerkonzerts (1969/70) erweckt den Eindruck, «als würde sich ein kurioser, halb kaputter Präzisionsapparat in Bewegung setzen.»9 Das komplexere Pendant zum Pizzicato-Satz des 2. Streichquartetts enthält zahlreiche senza tempoAbschnitte, deren Tondichte eine Art «granuliertes Kontinuum» (Ligeti) erzeugt. Es ist bezeichnend, dass die ein Kontinuum evozierenden großräumigen Repetitionspulse ohne klar definiertes Tempo meist so schnell wie möglich gespielt werden sollen, «wobei die rhythmische Artikulation und das Tempo der Einzelstimmen von der Technik des jeweiligen Instrumentes abhängig sind (ein ‹so schnell wie möglich› ist etwa bei einer Posaune langsamer als bei einer Klarinette).»10 Extreme Tempowerte begünstigen eine latente Diskontinuität im Zusammenspiel, die letztlich aus den natürlichen Gegebenheiten der Instrumente resultiert. Zum Tempo (presto) im Finale merkt Ligeti in der Partitur an: «Ein schnelleres Tempo (so virtuos als möglich) ist vorzuziehen: die Metronomangaben zeigen im ganzen Satz die untere Tempo-Grenze an.» BIZARRE VIRTUOSITÄT
Das Kammerkonzert, grundsätzlich als ein konzertantes Miteinander von 13 Solisten angelegt, führt uns einen weiteren zentralen Aspekt der Musik Ligetis vor Ohren, für den hohes Tempo ebenfalls unabdingbar ist: eine ins Bizarre gesteigerte Virtuosität, deren expressive Abgründigkeit einkomponiert ist; einer ihrer charakteristischen Vortragsanweisungen lautet: «wie verrückt». Sollen bei den mechanistischen Pulsierungen die Ebene der Klangerzeugung und die Identität der Einzelstimme in hohem Tempo praktisch aufgelöst wer-
den, werden sie in den ausgewiesen expressiven Passagen häufig als ein ächzendes Exzerzieren extremer Tonsprünge evident.11 Diese «irr» gewordene Virtuosität, oft gleichbedeutend mit einer Gestik emotionalen Außersichseins, ereignet sich nicht selten als eruptiver Ausbruch der mit höchstem Bogendruck spielenden Streicher, was zwangsläufig mit starker Geräuschhaftigkeit einhergeht. Im Finalsatz des Kammerkonzerts manifestiert sich diese überzeichnete Expressivität am markantesten in einer Klavierkadenz, wo der Pianist Clusterfolgen hämmert «like a madman: prestissimo possibile, wie verrückt, martellato, stets sehr hart und spitz, stets mit übetriebener Kraft und Hast». Virtuosität, im bürgerlichen Konzertsaal als technische Meisterleistung von Ausnahmemusikern kultiviert, erscheint an derartigen Stellen wie ein Zerrbild aus gestischer Überspitzung und formaler Destruktion: «Die Musik wird gleichsam in Fetzen zerrissen und gerät schließlich ganz aus den Fugen.»12 «MONUMENT | SELBSTPORTRAIT | BEWEGUNG»
«Was mich im Bereich der rhythmischmetrischen Mehrstimmigkeit am meisten beschäftigt, ist die Erzeugung musikalischer Gestalten und Formvorgänge ‹zweiter Ordnung›, also von Gestalten und Prozessen, die nicht unmittelbar von den Spielern hervorgebracht werden, sondern erst durch die Zusammenwirkung von Vorgängen verschiedener Konfiguration und Geschwindigkeit auf einer illusionären Ebene entstehen.»13 Schon die geräuschhaft summenden Klangbänder von Continuum generieren Muster, wo «außer der realen Bewegung (reale Reihenfolge der Töne) eine ‹ideale› Bewegung» präsent ist.14 Das Triptychon Monument – Selbstportrait – Bewegung. Drei Stücke für zwei Klaviere (1976), das von Ligetis Begegnung mit der amerikanischen Minimal Music beeinflusst ist, stellt in dieser Hinsicht sowohl eine Weiterentwicklung von Continuum (deshalb «Selbstportrait») als auch eine Vorstufe zu den späteren Klavieretüden dar. Insbesondere im zentralen Stück «Selbstportrait mit Reich und Riley (und Chopin ist auch dabei)» werden «Techniken der Riley’schen Patternwiederholung und Reich’schen Phasenverschiebung mit den eigenen Verfahren der Gitterüberlagerung und des ‹übersättigten› Kanons»15 kombiniert in raumgreifenden Repetitionsmustern zwei- bis dreizehntöniger Patterns. Hierzu bedient sich
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Ligeti erstmals (später noch intensiver in «Touches bloquées» der Études pour piano. Premier livre) der Technik der «mobilen Tastenblockierung».16 Sie beruht darauf, dass in einer Hand bestimmte Tasten stumm niedergedrückt werden, während die andere Hand schnelle Tonfolgen spielt, welche die stumm niedergedrückten Töne in der Spielbewegung mit einbeziehen. Gerade bei extrem schnellen Tempi werden auf diese Weise stark diskontinuierliche Rhythmus-Konfigurationen ermöglicht, die das scheinbare Gleichmaß der PatternStrukturen immer wieder unregelmäßig aufbrechen und «durchlöchern». Die Tempoangabe beim Selbstportrait lautet denn auch: «Presto: so schnell und so gleichmäßig wie möglich». Wesentlicher Faktor ist, dass zwei Klaviere miteinander vernetzt sind, was die Möglichkeit erlaubt, musikalische Gestalten zu konzipieren, die erst aus der Interaktion beider Pianisten resultieren. Wenn am Ende des Stücks die einzelnen Bewegungsschichten schließlich zu einem Presto unisono erstarren, ist die Anspielung an das Presto aus Frédéric Chopins b-MollSonate gewollt – Heraufbeschwörung einer «Aura des eminent Pianistischen.»17 «ÉTUDES POUR PIANO»
Ligetis Intention, im Rahmen einer «Denkweise in Bewegungsmustern (unabhängig vom europäischen Taktdenken)»18 aus einem begrenzten Ausgangsmaterial die größtmögliche konstruktive Komplexität zu entwickeln, setzt sich in besonders komprimierter und zugleich vielschichtiger Weise in einem auf den ersten Blick traditionellen pianistischen Kompositionsformat fort: der «Klavieretüde». Die Études pour piano (Premier livre, 1985; Deuxième livre, 1988/94; Troisième livre, 1995/2001) wurden zu Ligetis zentralem kompositorischen Experimentierfeld der 1980er und 1990er Jahre. Erneut gehen rhythmische Mehrdimensionalität und Geschwindigkeit eine untrennbare Allianz ein. Angelehnt an die großen Etüdenzyklen von Chopin, Robert Schumann, Franz Liszt und Claude Debussy wird die «innere Mechanik» virtuoser Klaviermusik mit ihren Läufen, Skalen, Arpeggien und Oktavgängen zum Motor komplexer Strukturprozesse.19 Neben pianistischen Traditionen europäischer Provenienz macht Ligeti im Fokus seines Konzepts einer «hybriden Ästhetik» eine Vielzahl unterschiedlicher Einflüsse geltend, die sich allerdings nie idiomatisch niederschlagen, sondern strukturell transformiert sind: darunter die
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heterogene Metrik der Vokalpolyphonie der Ars subtilior des 14. Jahrhunderts, die polyrhythmische Musik zentralafrikanischer Musikkulturen20 sowie Conlon Nancarrows Musik für Selbstspielklaviere, deren aberwitzige rhythmische Polyphonie von Menschenhand praktisch nicht mehr spielbar ist.21 Die Kombination von Prestissimo-Charakteren, pulsierender Motorik, Prinzipien der Phasenverschiebung und unregelmäßiger Akzentuierung einzelner Töne innerhalb der melodischen Bewegungen erzeugt in den Études mehrdimensionale, zwischen Bewegung und Statik, Ordnung und Chaos fluktuierende Klangprozesse. Programmatisch in dieser Hinsicht (schon vom Titel her) das erste Stück des Zyklus: «Désordre», das zunächst «Pulsation irregulière» heißen sollte. In «Automne à Varsovie» ist die auditive Desorientierung darauf zurückzuführen, dass «die rechte Hand jeden fünften Puls akzentuiert, die linke aber jeden dritten. Die Akzentketten verbinden sich in unserer Wahrnehmung zu Supersignalen, als ob zwei Melodien in zwei Geschwindigkeiten gleichzeitig verlaufen würden: Die Fünfer-Akzentuierung ergibt eine langsamere, die Dreier-Akzentuierung eine schnellere Melodie.»22 Besonders vexierbildhaft erscheint die 9. Etüde «Vertige» (Schwindel), deren Prestissimo ähnlich wie in Continuum so schnell aufgefasst werden soll, «dass die Einzeltöne auch ohne Pedal fast zu kontinuierlichen Linien verschmelzen» (Partitur).23 Der Einfluss afrikanischer Musik zeigt sich besonders in der 12. Etüde «Entrelacs» (Geflecht), deren rhythmische Vertracktheit auf permanente Akzentverschiebungen bei hohem Tempo zurückzuführen ist. Ligeti knüpft an Praktiken zentralafrikanischer Trommelmusik und deren «inherent patterns»24 an und konstruiert ein vieldeutiges rhythmisches Flechtmuster, wo bestimmte Dauern mit spezifischen Pulsfrequenzen verbunden sind.25 KLAVIERKONZERT
Die im ersten Etüdenband erprobten Techniken polyrhythmischer Gestaltung kulminieren in Ligetis Konzert für Klavier und Orchester (1985/88) innerhalb einer sinfonischen Kontrastdramaturgie. Die disparate rhythmische Organisation kann bei hohem Tempo tumultuarische Formen annehmen, gleichzeitig steigert sich der Grad an Virtuosität (Signum eines Klavierkonzerts per se) ins Groteske. Nicht nur der Klavierpart, auch die Orchesterstimmen
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sind von Beginn an beteiligt an der Übereinanderschichtung asymmetrisch gegliederter periodischer Abläufe. «Wenn diese Musik richtig gespielt wird, also in richtiger Geschwindigkeit und mit richtiger Akzentuierung innerhalb der einzelnen Schichten, wird sie nach gewisser Zeit ‹abheben› wie ein Flugzeug nach dem Start.»26 Besonders prägnant zeigt sich die damit verbundene Illusionsrhythmik im 3. Satz «Vivace cantabile», wo sich im Kontext einer mechanisch abgespulten Sechzehntelbewegung melodische Akzent-Muster überlagern, die ein komplexes Total aus sieben individuellen Schichten ergeben. In diesen scheinen reliefartig melodische Konturen auf, die durch unterschiedliche Gruppierungen der Pulse entstehen und so den Eindruck einer Simultaneität unterschiedlicher Tempi erzeugen. Ligeti beschreibt den strukturellen Sachverhalt analog zur visuellen Erfahrung von Pixel und Bild: «Die Pixel leuchten auf und verlöschen in schneller Sukzession, sie bewegen sich nicht. Das alternierende Aufleuchten und Verlöschen der unbewegten Bildelemente erzeugt jedoch die Illusion von bewegten Bildern».27 Der damit verbundene Raumeindruck ist tiefenperspektivisch komplex: «In der musikalischen Form gibt es eine Hierarchie von Ebenen: Signale, Supersignale, Supersupersignale, das heißt, man kann die Struktur gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen hören. Die musikalische Form ist gleichsam mehrdimensional. Man hört sie als Geschehen in einem imaginären Raum, wobei die Illusion der Raumtiefe, einer Art von stereoskopischem Muster, ausschlaggebend ist.»28 Ligetis Affinität zu den Praktiken der Amadinda-Xylophon-Musik spiegelt sich im Schlusssatz auch instrumentatorisch: ein Pianist und ein XylophonSpieler lassen im finalen «Presto luminoso» «Kern-» und «Kontrastreihen» aus vier individuellen Pulsen mit genau gleicher Lautstärke miteinander verschmelzen und erzeugen dadurch – extreme Geschwindigkeit vorausgesetzt – imaginäre Melodiegebilde. Wie sehr die scheinbar chaotischen Klangprozesse von Ligetis grundlegender Faszination für naturwissenschaftliche Fragestellungen und deren künstlerischer Transformation inspiriert sind, offenbart sich in allen Sätzen des Klavierkonzerts. Ligetis intensive Beschäftigung mit Phänomenen und Erkenntnissen aus fraktaler Geometrie, Chaostheorie und Computerwissenschaft spiegelt sich im gesamten Spätwerk in komplexen, organisch-selbstrefe-
renziellen Strukturen, in die Ligeti jedoch im Sinne «rein handwerklicher Konstruktionen» gezielt Brechungen, Unebenheiten und subjektive Störfaktoren einbaut. «Ich habe doch eine paradoxe Einstellung. Ich bin im Grunde genommen ein Computerkomponist. Die Muster, die ich mir vorstelle, sind sehr stark von der Computerwelt beeinflusst, vom pattern-transformation-Gedanken, von Computergrafik. Aber ich benutze keinen Computer und mache keine computergenerierte Musik. Ich baue aus Holz ein Modell eines Computerbildes, so ungefähr.»29 MENSCHENMUSIK | MASCHINENMUSIK
Eine ähnlich ambivalente Einstellung zeigt sich in Ligetis Verhältnis zur Realisierung von klingender Materie, die minutiös ausnotiert, aber in der Regel niemals hundertprozentig exakt spielbar ist. Ein Umstand, der einkalkuliert ist. Schon in den mikropolyphonen Texturen der 1960er Jahre waren die rhythmischen Ungenauigkeiten, unvermeidlichen Intonationsschwankungen und Schwebungen/Interferenzen im Zusammenklang der Einzelstimmen integraler Bestandteil des kompositorischen Ganzen und trugen ihren Teil zu den großangelegten Verwischungsprozessen und Klangfarbentransformationen bei. Auch in der ungeheuren Virtuosität und rhythmischen Komplexität von Ligetis später Musik ist das Moment subtiler Ungenauigkeit gewollt: «Ich muss sagen, mir ist doch lieber die nicht so gleichmäßige Interpretation, mit allen Schwankungen – wegen des Moments der ‹Gefahr›. [...] mein Medium ist der ungesicherte Mensch. Und ich will die Fehler und Abweichungen.»30 Ligeti hat oft von einer «gefährlichen Virtuosität» seiner Musik gesprochen, ihr Umschlagen in ein Nicht-Funktionieren, ihre letztendliche Sinnlosigkeit und Absurdität stets mitreflektiert. Auch so ist zu erklären, dass Menschenmusik zu Maschinenmusik mutiert und umgekehrt, weil hinter jeder Maschine letztlich ein unvollkommener Mensch und hinter jedem Menschen eine Maschine steht, die kaputt gehen kann. Deshalb erzählt Ligetis Musik vom Schein, vom Scheitern, vom Schmutzigen und Unvollkommenen.31 Ihre Virtuosität ist nur eine Illusion … n 1 György Ligeti: «Zustände, Ereignisse, Wandlungen», in: Melos 34, 1967, S. 165. 2 György Ligeti, zit. n. Ove Nordwall: György Ligeti. Eine Monographie, Mainz 1971, S. 7. 3 ebd., S. 92. 4 «György Ligeti über eigene Werke. Ein Gespräch mit
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Detlef Gojowy aus dem Jahre 1988», in: Constantin Floros et al. (Hg.): Für György Ligeti. Die Referate des LigetiKongresses Hamburg 1988, Hamburg 1991, S. 353. 5 «György Ligeti», zit. n. Monika Lichtenfeld (Hg.): György Ligeti. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Mainz 2007, S. 247. 6 Es ist bezeichnend, dass die progressivsten Passagen im 1. Streichquartett, wo sich am Ende die musikalische Faktur in indifferente Klangflächen auflöst wie eine Vorahnung von Ligetis späterer Musik, verbunden sind mit den höchsten Tempowerten im Stück (punktierte Achtel = 200; 220): 1. eine ostinate Sechzehntelbewegung, die aufgrund der hohen Geschwindigkeit einen Verwischungseffekt produziert, die Premiere von Ligetis «mechanischer Musik» («sehr gleichmäßig, wie ein Präzisionsmechanismus») (T. 781 ff.); 2. auf- und abwogende Flageolettfelder, die rein geräuschhaft klingen (T. 1059 ff.). 7 T. 31 f. – Auch dort heißt es am Ende der betreffenden Passage: «Plötzlich aufhören, wie ein unerwartet stehengebliebenes Uhrwerk.» 8 Ligeti, Nordwall, a. a. O., S. 146. 9 Ligeti, Lichtenfeld, a. a. O., S. 256. 10 ebd. 11 Sie haben ihren Ursprung in den Apparitions von 1959 (2. Satz, T. 24–29). Weitere frühe Beispiele finden sich punktuell im Cellokonzert (vgl. die metrisch freien prestissimo-Kadenzen im 2. Satz, ab T. 44, insbesondere Fg. und Kb. bei T. 47: feroce, impetuoso, prestissimo possibile, virtuosissimo; T. 62 Solo-Cello; T. 68 Streicherpizzicati: «jeder Instrumentalist spielt so schnell wie möglich, ohne Rücksicht auf die anderen Instrumentalisten»). 12 Ligeti, Lichtenfeld, a. a. O., S. 257 f. 13 ebd., S. 278. 14 Ligeti, Nordwall, a. a. O., S. 92. 15 Ligeti, Lichtenfeld, a. a. O., S. 279. 16 vgl. Henning Siedentopf: «Neue Wege der Klaviertechnik», in: Melos 40, 1973, S. 143–146. 17 Ligeti, zit. n. Lichtenfeld, a. a. O., S. 279. 18 ebd. , S. 289. – Diese im konkreten Fall auf afrikanische Musikformen bezogene Äußerung lässt sich vollständig auf Ligetis eigene Musik übertragen. Signifikant ist die Anweisung in fast jeder Komposition, sei sie noch so unterschiedlich in Charakter und Aufbau: «Die Taktstriche dienen nur zur Synchronisation der Stimmen, Taktstriche und Takteinteilungen bedeuten niemals Betonung». 19 «Sie [die Klavieretüden ] verhalten sich wie wachsende Organismen.» (Ligeti, Lichtenfeld, a. a. O., S. 289.) 20 Ligeti nennt hier insbesondere die Xylophonmusik aus Buganda (heute südliches Uganda) und die zentralafrikanische Orchestermusik der Banda-Linda. 21 «Ich habe mir die Aufgabe gestellt, für einen lebenden Spieler eine ähnlich labyrinthische Musik zu schreiben wie das Nancarrow für das mechanische Klavier tat. Und da kam mir die inzwischen erlangte Kenntnis der afrikanischen Polyrhythmik mit ihrer wahnsinnig schnellen Pulsation […] zugute.» (Über eigene Werke, a. a .O., S. 361). 22 Ligeti, Lichtenfeld, a. a. O., S. 292. 23 «Technisch bilden abwärts laufende chromatische Skalen die Grundlage des Stückes. Ein solcher Lauf ist noch nicht beendet, schon beginnt der nächste, so dass es zur Interferenz von Wellenbewegungen kommt: Die einzelnen Wellen überschlagen sich. Die chromatischen Läufe sind in sich regelmäßig, ihre Kombination aber, durch ständig wechselnde Einsatzabstände, ergibt so ein chaotisches Muster. Unsere Wahrnehmung pendelt, wie bei einem Vexierbild, zwischen den Läufen als Bewegung und ihrer Interferenz als statischem Bilde.» (György Ligeti, zit. n. Contantin Floros: György Ligeti. Jenseits von Avantgarde und Postmoderne, Wien 1996, S. 187 f.) 24 Rhythmische Strukturen, die nicht wirklich gespielt werden, sondern erst im Zusammenwirken einzelner Stimmen in der Wahrnehmung des Hörers entstehen. Zum Phänomen der «inherent patterns» vgl. Gerhard Kubik: «Die AmadindaMusik von Buganda», in: Artur Simon (Hg.): Musik in Afrika, 20 Beiträge zur Kenntnis traditioneller afrikanischer Musikkulturen, Berlin 1983, S. 139–156. 25 Ligeti markiert beispielsweise im ersten Abschnitt halbe Noten alle 13 (rechte Hand) und 17 Pulse (linke Hand), Viertelnoten alle sieben (r. H.) und elf Pulse (l. H.), Achtelnoten alle vier (r. H.) und fünf Pulse (l. H.), Sechzehntelnoten alle drei Pulse (l. H.). 26 Ligeti, Lichtenfeld, a. a. O., S. 297. 27 ebd., S. 300 f.
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28 ebd., S. 302 f. 29 «Gespräch mit Manfred Stahnke», in: Heinz Klaus Metzger/Rainer Riehn: Musik der anderen Traditionen: Mikrotonale Tonwelten, München 2003, S. 80 f. 30 ebd. 31 Selbst die Klavieretüden sah Ligeti letztlich als Ergebnis der eigenen pianistischen Defizite, als «Verwandlung von Ungenügen in Professionalität». (Ligeti, Lichtenfeld, a. a. O., S. 288).
Luigi Russolo
Die Kunst der Geräusche hg. von Johannes Ullmaier, aus dem Italienischen von Owig DasGupta Schott Music, Mainz 2005 Bestellnr. NZ 5001-50 111 Seiten, mit CD, 25,50 Euro Luigi Russolos «Plädoyer für das Geräusch» von 1913 erstmals vollständig in deutscher Übersetzung. Die CD enthält originale und rekonstruierte Tonaufnahmen der berühmten «Intonarumori» Russolos.
Jürgen Hocker
Begegnungen mit Conlon Nancarrow Schott Music, Mainz 2002 Bestellnr. NZ 5003 283 Seiten, mit CD, 39,90 Euro
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INFO n György Ligeti: Continuum / Zehn Stücke für Bläserquintett / Artikulation / Glissandi / Etüden für Orgel / Volumina. Antoinette Vischer, Cembalo, u. a. Wergo WER 60161-50
n György Ligeti: Musica Ricercata / Capriccio 1 u. 2 / Invention / Monument · Selbstportrait · Bewegung Karl-Hermann Mrongovius / Begoña Uriarte, Piano WER 60131-50
In seinem mexikanischen Exil schrieb Conlon Nancarrow eine höchst originelle und zugleich emotionale Musik, die zur Fortentwicklung der Musik im 20. Jahrhundert beitrug. Jürgen Hocker begleitete Nancarrow in dessen beiden letzten Lebensdekaden. Er berichtet von den künstlerischen Stationen des Komponisten Nancarrow und über dessen Persönlichkeit. Die CD zum Buch enthält zum Teil unveröffentlichte Aufnahmen der Musik Nancarrows sowie musikhistorische Einspielungen für mechanische Klaviere. Bestellen Sie bei: zeitschriften.leserservice@schott-music.com Tel: ++49 (0) 61 31 246 857
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DER «ZWANG, NEUE TEMPI ZU WÄHLEN» TEMPOBESCHLEUNIGUNG BEI THEODOR W. ADORNO von Frauke Fitzner
n Im Wechselspiel zwischen Musikwissenschaft und Musikpraxis wuchs in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Wissen über historische Aufführungsbedingungen von Musik voriger Jahrhunderte massiv an. Einige musikalische Parameter konnten durch historische Quellen einigermaßen rekonstruiert werden, zum Beispiel die Instrumentalisierung sowie die Bau- und Spielpraxis von Instrumenten, die zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten waren, wie der Viola da Gamba. Ein Parameter, der sich bis heute nur schwer rekonstruieren lässt, ist das Tempo. Für die Zeit vor der Verfügbarkeit des Metronoms, das 1816 erfunden wurde, fehlen Angaben zum absoluten Zeitmaß in Musikstücken. Es stellen sich daher die Fragen, in welchem Grundtempo ein historisches Musikstück gespielt werden soll und wie die Temporelationen innerhalb eines Musikstücks gestaltet werden sollen:Wann
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soll es schneller werden, wann langsamer, und in welchem Ausmaß? Schon in den 1920er Jahren entspannen sich Diskussionen hierzu, etwa in der österreichischen Musikzeitschrift Pult und Taktstock, die sich aus musikästhetischer Perspektive den Herausforderungen musikalischer Aufführungskultur widmete. Mehrfach erscheinen Artikel zu den Fragen, wie ein Interpret auf das Tempo eines Werks schließen könne, für das keine präzisen oder gar keine Tempoangaben notiert sind; wie in der Gegenwart der 1920er Jahre mit der Metronomisierung zu verfahren sei; und ob jedem Werk eine verbindliche Tempoangabe in Schlägen pro Minuten beigefügt werden solle. Den Versuchen, das Tempo eines Musikstücks absolut festzuschreiben, stellt sich Theodor W. Adorno 1930 mit einem Beitrag in der genannten Zeitschrift vehement entgegen. Er wendet sich insgesamt gegen
die Vorstellung einer zu rekonstruierenden Originalität des Musikwerks und stellt dagegen die Interpretation heraus, die ein Werk für die Gegenwart zu aktualisieren vermag. Dies gelte insbesondere für das gewählte Tempo einer Interpretation, und so trägt dieser Text Adornos denn auch den Titel Neue Tempi. KRISIS DES EXPRESSIVEN PATHOS
Adorno konstatiert eine «Notwendigkeit, die Werke rascher zu interpretieren».1 Eine Interpretation, die bloß versuche, das Originaltempo zu rekonstruieren, müsse scheitern. Die entscheidende Hürde liege in der schriftlichen Überlieferung: Die Noten bildeten nicht alles ab, was für die Realisierung eines Werks relevant sei. Daher könne man den Notentext auch nicht zum Original deklarieren und eine Treue zu diesem Text als Grundlage einer «richtigen» Interpretation beschwören. Das gelte
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für Gegenwartsmusik genauso wie für historische. Für Adorno liegen hierin aber keine Defizite der Notenschrift, sondern Möglichkeitsräume neuer Interpretationen; und diese sind für ihn unabdingbar, um ein Werk lebendig zu halten. Die eigentliche Werktreue zeige sich darin, es neu zu interpretieren. In Hinblick auf das Tempo fordert Adorno für seine eigene musikalische Gegenwart daher eine Beschleunigung, die aus der «Krisis des expressiven Pathos» folge:2 In der Gestaltung der romantischen Musik hätten kleine Einzelheiten als unmittelbare Erlebnisse im Vordergrund gestanden. Nun, im 20. Jahrhundert, müsse es darum gehen, große formale Zusammenhänge aufzuzeigen, in denen jedes Einzelne als Teil des großen Ganzen erscheine. Die Interpretation von historischer Musik bedürfe eines Tempos, das die Einzelheiten der Komposition zeitlich näher zusammenbringt: «Die Zuordnung von großen Formteilen zueinander, ja oft schon der Bau eines Teilganzen, einer bestimmten melodischen Gestalt, wird erst in einem Tempo deutlich, das diese Teile nicht mehr als autonome Einheiten gibt, sondern so anlegt, dass sie im Augenblick des Erklingens unvollständig sind, nur als Teilstücke des Ganzen verstanden werden können.»3 Es gehe nicht darum, eine neue organische Einheit, eine «Versöhnung von Ganzem und Teil»4 herzustellen; vielmehr müsse es der «wahre Sinn der heute unabweislichen Tempobeschleunigung sein, die als organisch verlorene Einheit der Werke konstruktiv nochmals zu erzeugen, indem im zerfallenen Kunstwerk die dissoziierten Teile dicht aneinander rücken und Schutz suchen beieinander.»5
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seien, habe sich verändert. Es habe eine Gewöhnung an die Wendungen stattgefunden, die dem zeitgenössischen Hörer damals noch in einem langsameren Tempo offenbart werden mussten. In der Gegen-
das Anliegen einer historisch informierten Aufführungspraxis, die es anstrebt, das vermeintliche Original eines Werks zu rekonstruieren. Für Adorno ist dieses Vorgehen kein «historisches», sondern geradezu «ge-
wart des Jahres 1930 seien nun andere Aspekte an Händels Musik reizvoll, etwa auf der Ebene der Melodie. Das langsame Tempo sei nicht mehr nötig, vielmehr kontraproduktiv, und müsse durch ein rascheres ersetzt werden. Die Anpassung an die musikalische Wirklichkeit der Gegenwart stellt für Adorno die wahre historische Treue dar, die ein Interpret einem Werk entgegenbringen könne. Das Beharren auf einer «Würde» des Originals ist für Adorno der falsche Ansatzpunkt. Damit wendet er sich auch gegen
schichtslos», da es nicht die Wahrheit des Werks vermittle, sondern eine «vergangene Wirkung konserviert», die in der Gegenwart nicht greife und dem Werk somit dessen Lebendigkeit nehme: «So führt gerade der Wille, das Werk geschichtslos zu bewahren, schließlich zu einer Musikregie, die von außen, aus der reaktionären Ideologie der Interpreten kommt und in ihrer Krassheit und Starrheit mit der konkret-musikalischen Gestalt des Werks selber in Widerspruch gerät.»7
AUSEINANDERGETRETENE TEILE
Hier scheinen Bezüge zu einer Ästhetik der Neuen Musik durch, zu einer Ästhetik, der eine «rationale Konfiguration der bereits auseinandergetretenen Teile»6 zugrunde liegt: Die vergangenen Musiktraditionen können nicht unreflektiert fortgesetzt werden, sondern müssen, um der Entwicklung des musikalischen Materials gerecht zu werden, gebrochen werden, um gleichzeitig neue Möglichkeiten musikalischer Einheit zu schaffen. Adorno illustriert dies am Beispiel der Musik Georg Friedrich Händels, die schneller interpretiert werden müsse, als es zu Lebzeiten des Komponisten sinnvoll gewesen sei. Das Empfinden für die harmonischen Bewegungen, die zu Händels Zeit noch relativ neu und ungewohnt gewesen
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GEGENKONZEPTE
Mit diesem Konzept, das den eigentlichen Wert der Interpretation gerade in der angemessenen Veränderung des Tempos sieht, stand Adorno weitestgehend allein in der Diskussion um die Relevanz präziser Temporealisationen. Der Berliner Musikwissenschaftler Hans Heinrich Stuckenschmidt plädierte beispielsweise für eine umfassende Mechanisierung auch des Tempos: Mit technischen Mitteln sollte es in Zukunft möglich sein, die mangelnden Fähigkeiten des Menschen, Tempi exakt zu reproduzieren, zu beheben. Stuckenschmidt entwirft eine nahezu posthumane Vorstellung vom zukünftigen Interpreten, der «lediglich ein Verwalter der Wünsche sei, die der Komponist durch seine (allerdings bisher unzugängliche) Notenschrift geäußert hat.»8 Während Adorno 1930 die Leistung des Interpreten als das Wesentliche in der Aufführung historischer Musik betrachtet, ist die Interpretation bei Stuckenschmidt auf die totale Reproduktion gerichtet. Diese soll mit der konsequenten Metronomisierung der Werke gelingen, eine Idee, die auch Erwin Stein, Herausgeber von Pult und Taktstock, verfolgt: In der ausführlichen Debatte über Vor- und Nachteile der Technisierung als Hilfsmittel der Aufführungspraxis plädiert er dafür, das Verständnis der Metronom-Angaben in der musikalischen Ausbildung so zu trainieren, dass die Angabe in Form einer Zahl unmittelbar in eine Klangvorstellung übersetzt werden könnte, ohne sie am Metronom zu überprüfen.9 Er fordert somit eine Art musikpädagogische Fundierung eines absoluten Gehörs für Tempi als methodische Grundlage für eine Interpretationspraxis, die darauf abzielt, das Tempo eines Werks historisch zu konservieren. Auch Adorno nimmt an der Diskussion um die Mechanisierung teil: Er begrüßt die Möglichkeit, durch eine konsequente Metronomisierung die Intentionen des Komponisten deutlicher zu kommunizieren. Doch dürfe dies nicht zu einer starren Festschreibung des Werks führen. Dessen Lebendigkeit wächst für ihn gerade mit der Veränderung der historischen Interpretationen.Veränderte, raschere Tempi sind für ihn unabdingbar: «Im Zwang, neue Tempi zu wählen und die Darstellung von Musik insgesamt in raschere Zeitmaße als die traditionalen zu verlegen und in eins damit insgesamt zu modifizieren, zeigt sich diese Notwendigkeit [zur Neuinterpretation] unabhängig von den technischen Mitteln
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an und fundiert sie von den Werken her. Die Interpretation, die heute die Werke ihrem geschichtlichen Stande nach selber verlangen, und die, deren Chance die Technisierung bietet, nähern sich ideell an.»10 BESCHLEUNIGUNG ALS KONSEQUENZ
Die Beschleunigung, die er in der Musik ausmacht, ist für Adorno nicht etwas, das der Musik von außen, etwa durch das Fortschreiten in der Technikgeschichte, aufgezwungen wird. Sie ist für ihn eine Konsequenz aus der musikalischen Entwicklung. Im Fortschritt des musikalischen Materials – unter dieser Benennung führt Adorno diesen Aspekt 1949 in seiner Philosophie der neuen Musik weiter aus – manifestiere sich die Beziehung zwischen der bestehenden Musikkultur und ihrer stetigen Veränderung: In der Kompositionsarbeit werde das musikalische Material einer Epoche in eine Form gebracht, die ihrerseits sofort zum Material zukünftiger Kompositionen werde. «In immanenter Wechselwirkung konstituieren sich die Anweisungen, die das Material an den Komponisten ergehen lässt, und die dieser verändert, indem er sie befolgt.»11 Auf diese Weise sei das Material, mit dem der Komponist arbeitet, genuin historisch, denn es bestehe in einer ständigen Überformung, die in den Werken geleistet werde. «Alle seine spezifischen Züge sind Male des geschichtlichen Prozesses.»12 Die Realisierung des musikalischen Materials verweise ständig auf vergangene Formungen, so dass im einzelnen Werk quasi Musikgeschichte sedimentiert sei. Der Komponist nehme einerseits Tendenzen auf, die im Material liegen, die durch die bis dahin geleistete historische Entwicklung entstanden seien, andererseits müsse er eigenen Impulsen folgen, um zur ständigen Überformung des Materials beizutragen und um Neues in die Werke zu bringen. «Er verliert jene Freiheit im Großen, welche die idealistische Ästhetik dem Künstler zuzusprechen gewohnt ist. Er ist kein Schöpfer. Nicht äußerlich schränken Epoche und Gesellschaft ihn ein, sondern im strengen Anspruch der Richtigkeit, den sein Gebilde an ihn stellt.»13 Adorno betrachtet den Komponisten als ein Element im Zusammenhang des Fortschritts des musikalischen Materials. Dieses fordere bestimmte Formungen ein, determiniere das Komponieren aber nicht vollkommen. Es «erfüllt sich in der Vollstreckung dessen, was seine Musik [die Musik des Komponisten] objektiv von ihm verlangt. Aber zu solchem Gehorsam bedarf
der Komponist allen Ungehorsams, aller Selbständigkeit und Spontaneität. So dialektisch ist die Bewegung des musikalischen Materials.» Diejenigen musikalischen Techniken, die zum jeweiligen Stand des Materials passen, gehen ein in den «Kanon des Verbotenen»14 kompositionstechnischer Mittel. In seiner Philosophie der neuen Musik verteidigt Adorno die Zwölftontechnik denn auch, indem er das tonale Komponieren in Gänze diesem Kanon veralteter, nicht mehr wirksamer Techniken zuweist: «Wenn nicht alles trügt, schließt er [dieser Kanon] heute bereits die Mittel der Tonalität, also die der gesamten traditionellen Musik, aus.» Jene Klänge seien nicht mehr zeitgemäß. «Sie sind falsch. Sie erfüllen ihre Funktion nicht mehr. Der fortgeschrittenste Stand der technischen Verfahrensweise zeichnet sich Aufgaben vor, denen gegenüber die traditionellen Klänge als ohnmächtige Clichés sich erweisen.»15 BESCHLEUNIGTE TEMPI
Dieses Argument ist bereits 1930 der Ausgangspunkt bei Adornos Forderung nach beschleunigten Tempi – die Überformung durch den Fortschritt des musikalischen Materials gelte nicht nur für die Komposition neuer Werke, sondern auch für historische Musik. In diesem Sinn sind die «Zwänge» zu verstehen, die Adorno bei der Wahl von schnelleren Tempi in der Interpretation bespricht: «der Zwang, neue Tempi zu wählen» sowie der Zwang, die Werke rascher zu interpretieren. Letztere können für ihn nur dann weiter lebendig sein, wenn sie durch die Interpretation einen wahren Gehalt übermitteln können – nicht einen vergangenen, inzwischen falschen, in einer veralteten Form, die durch veränderte Hörgewohnheiten zudem ihre Verständlichkeit eingebüßt hat. n 1 Theodor W. Adorno: «Neue Tempi», in: Musikalische Schriften IV, Frankfurt am Main 2003, S. 66–73, S. 70. 2 ebd., S. 71. 3 ebd. 4 ebd., S. 72. 5 ebd. 6 ebd. 7 ebd., S. 70. 8 Hans Heinz Stuckenschmidt: «Die Mechanisierung der Musik», in: Pult und Taktstock, 1/1925, S. 1–8, S. 4. 9 Erwin Stein: «Vortragsbezeichnungen und Neumen», in: Pult und Taktstock, 9–10/1926, S. 154–157, S. 155. 10 Adorno, Neue Tempi, a. a. O., S. 73. 11 Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt am Main 2003, S. 40. 12 ebd., S. 38. 13 ebd., S. 42. 14 ebd., S. 40. 15 ebd.
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PRESTISSIMO MA TROPPO EIN SCHNELLSCHUSS von Johannes Ullmaier
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«Je schneller sie herumniedeln, desto hohler klingt es. Streng genommen ist das gar keine Musik, sondern eine Art kollateral-akustischer Extrem(itäten)-Sport.» | Steve Vai
1. ÜBER GESCHWINDIGKEIT LÄSST SICH NICHT STREITEN
Die Urszene: Ein Mensch erzeugt vor anderen mithilfe seines Körpers bzw. eines Instruments eine Musik, die in prominenten Teilen so schnell vonstattengeht, dass dies vom Publikum nicht allein wahrgenommen, sondern distinkt als «Schnelligkeit» identifiziert, markiert und so zur eigenständigen Kategorie, Qualität oder auch Streitfrage erhoben wird. Im abendländischen Traditionszusammenhang1 lassen sich spätestens seit dem Virtuosenwesen des 19. Jahrhunderts und – strukturell bemerkenswert konstant – auch im traditionellen, d. h. von Menschen mittels ihrer Körper und in Echtzeit bedienter Instrumente hervorge-
brachten Jazz, Rock oder Pop im Prinzip drei Basisreaktionen resp. -positionen unterscheiden: A) Faszination: «Wow! So schnell – und dabei doch fehlerfrei, präzise, lässig, kontrolliert und was es sonst an Sekundärtugenden des Schnellseins gibt – kann sonst niemand oder doch kaum jemand spielen, geschweige denn ich selber! Ich bewundere darin a) die mitreißende, mich überwältigende Wirkung der rasanten musikalischen Verläufe und/oder b) die außerordentliche Begabung, wo nicht gar Übermenschlichkeit bzw. Gottgleichheit des jeweiligen Virtuosen und/oder c) dessen heroische Übungsleistung.» B) Skepsis: «Wo immer Schnelligkeit als solche prominent wird, ist sie schon zum zweifelhaften Selbstzweck pervertiert, dient also keiner genuin musikalischen Idee, Ausdrucksintention oder Funktion (etwa der Tanzekstase) mehr, sondern einzig der Zurschaustellung einer sensomotorischen Geläufigkeit, die sich exakt im Maß ihres Hervortretens als leer erweisen muss.» C) Überforderung: «Puh, ich komme da nicht mit, das sind mir einfach zu viele Ereignisse in zu kurzer Zeit. Ich hab es gern etwas gemächlicher.» An welchen messbaren Tempogrenzen sich diese Positionen in concreto jeweils scheiden, ist generell nur sehr grob zu bestimmen. Sicher kennt man inzwischen stammesgeschichtliche Eckdaten, die robust erklären, warum bei – sagen wir – einem Anschlag pro Minute von Grön- bis Feuerland kein Mensch jemals in musikalische Geschwindigkeitsekstase geraten und warum umgekehrt bei – sagen wir – 3 000 Anschlägen pro Minute niemand mehr das musikalische Geschehen im Einzelnen mitverfolgen können wird. Und natürlich kann man, indem man möglichst viele Probanden möglichst viele Musikbeispiele auf einer möglichst feingliedrigen objektiven Temposkala verorten lässt, durchaus «statistisch valide» und mithin vermeintlich «allgemeinmenschliche» Richtwerte herausmitteln. Gleichwohl wird man feststellen müssen, dass derlei Eck- und Durchschnittsdaten realiter fast nie zum Tragen kommen. Hört man doch, zumindest bislang, eher selten Befunde der Form: «Ah, meine App zeigt mir an, dass hier gerade schnell gespielt wird! Als Freund der Schnelligkeit bin ich
folglich begeistert!» – «Und ich als deren Feind folglich düpiert!», was insofern kein Wunder ist, als die Beurteilung der Frage, welche Art von bzw. welcher Grad an Schnelligkeit im Einzelfall vorliege und wie das zu bewerten sei, einerseits maßgeblich von der individuellen Konstitution und Sozialisation des jeweiligen Rezipienten sowie andererseits von qualitativen Aspekten im jeweiligen Material abhängt, kaum dagegen von irgendwelchen objektiven Daten. Dementsprechend pflegen solche Diskussionen meist sehr anders abzulaufen. Zur exemplarischen Veranschaulichung wählen wir das notorische, doch eben deshalb (im Vergleich etwa zur analogen Orgel-, EBass oder Fagott-Debatte) besonders aufschlussreiche Feld der «Gitarrengott-Kontroverse»: A1: Eddie Van Halen! Wahnsinn! Hör/schau dir das an, wie schnell der ist! A2: Naja, aber hier: Joe Satriani – der ist doch noch viel schneller! A1: Nie im Leben! A3: Aber beide sind nicht so schnell wie Steve Vai! B1: Ich nehme zur Kenntnis, dass die alle ihre Finger ziemlich schnell bewegen. Aber was ich da höre, ist unterschiedslos bloß substanzloses Gedudel. Und je schneller sie herumniedeln, desto hohler klingt es. Streng genommen ist das gar keine Musik, sondern eine Art kollateral-akustischer Extrem(itäten)-Sport. A1–3: Du bist nur neidisch, weil du selbst auch Gitarre spielst, bloß nicht so gut. B1: Ich will auf der Gitarre etwas sagen, nicht bloß plappern. Oder etwas ausdrücken, das mehr ist als unerfindliche Getriebenheit oder die Nebenwirkungen bestimmter Aufputschmittel. B3:Wenn ich diese Niedel-Olympioniken höre und sehe, von Alvin Lee bis Joe Bonamassa, fällt es mir schwer, das nicht vor allem als sexualkompensatorische Verschiebung wahrzunehmen. Wir haben es hier doch sehr überwiegend mit Männern zu tun, die unübersehbar phallusförmige Apparate vor sich halten und begehrlich daran herumfingern – ursprünglich wohl in der Pfauen-Hoffnung, so auf direktem (Um-)Weg potenzielle Sexualpartnerinnen zu adressieren, dann aber mehr und mehr in onanistisch-fetischistisch-exhibitionistischer Versteifung. Der Folge-Irrtum, beim
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Rock, Fusion oder Heavy Metal doch für jeden, der sie nicht bloß als Spektakel, sondern substanziell erfährt, nicht irgendeinen mehr oder weniger zeitgemäßen oder verspäteten Markstein auf einem mehr oder weniger borniert zurechtplanierten geschichtsphilosophischen Entwicklungspfad, sondern vielmehr einen Ritus, eine Eucharistie, einen Aufstieg in die Transzendenz, für den man in der realen Zeit zwar Anlauf nehmen und wie bei einem Flugzeugstart beschleunigen muss, der dann jedoch in eine Präsenz aufgeht, die über jeglicher Geschichte liegt.
Holdsworth oder selbst Yngwie Malmsteen gegenüber der substanzfreien «BumbleBee»-Gymnastik einschlägiger YouTube»Fastest-Guitar-Player»-Weltrekordler. B2: Auch komplexe Schnelligkeit kann leer sein. AB2: Sicher, aber es geht ja auch nicht etwa um einen allgemeinen Komplexitätsfaktor, mit dem man das messbare Tempo bloß zu multiplizieren hätte, um so automatisch zu einer «substanziellen», sprich: mehr als rein mechanischen Bewertung zu kommen. Was wir bräuchten, was ich aber – über ein paar sporadische Ansätze und © imago | United Archives International
Wienern unbedingt auch noch der Schnellste sein zu müssen, sitzt dann als Meta-Fetisch quasi auf dem InstrumentenFetisch auf. A1: Mit solcher Küchenpsychologie rationalisierst du bloß deinen Nerd-Neid auf den Ruhm und die durchaus reale erotische Wirkung vieler Gitarreros. B3: Inwieweit die Attraktivität von Instrumental-VirtuosInnen überhaupt an deren Virtuosität hängt oder nicht vielmehr einfach daran, dass hier ein «strahlender», womöglich «auch sonst schöner» Mensch im Rampenlicht glänzen und sich dabei (wie talentierte Redner, Sportler, Models usw.) mehr oder weniger gewollt zur Reproduktion empfehlen darf – all das wäre erst einmal zu klären, bevor man ernsthaft darüber reden könnte, welcher Rang und Anteil dem «Schnellsein» im Gesamtspektrum instrumental-virtuoser und damit hoffentlich eher akustischer denn rein optischer (Überwältigungs-)Wirkungen spezifisch zukommt – neben Aspekten wie individueller Unverkennbarkeit, Klangreinheit, Prägnanz, der Fähigkeit zum «Dahinschmelzen-Lassen», zur erhabenen Aufwallung, Durchgeistigung oder zum souveränen Verschwinden hinter dem Material. AB1: Unabhängig davon ist es generell Unfug, über «Schnelligkeit» so allgemein zu reden. Will man etwa die intervall-harmonisch und metrisch vertrackten Läufe eines Allan Holdsworth auf eine Stufe stellen mit den dumpfen, aber offenbar unausrottbaren Speed-Ralleys um die immergleichen, längst zum Klischee erstarrten Blues- und Metal-Licks? Denn wo die Schnelligkeit im ersten Fall integraler Bestandteil einer progressiven Individualentwicklung ist, wirken die unverdrosssenen Pentatonik-Epigonen doch nur umso grotesker, je panischer sie weiter ihre totgerittenen Pferden spornen. A1: Um so zu urteilen, muss man doppelt blind sein: einmal im Kleinen, sofern man nämlich übersieht, wieviel Humor, popistische Selbst- bzw. Material-Distanz und postmoderne Ironie auch in manchen der neueren Übertreibungsformen von Blues-, Rock- und anderen Traditionspartikeln mitschwingen, schon bei einem Frank-Zappa-Schüler wie Steve Vai, in manchen neueren Metal-Zweigen sogar genretypisch. Die große Blindheit liegt freilich im Glauben, dass geschichtsphilosophische Erwägungen hier überhaupt ein Argument sein könnten. Bildet die Schnelligkeits-Ekstase aus dem Geist des Blues,
«Es fällt mir schwer, das nicht vor allem als sexualkompensatorische Verschiebung wahrzunehmen.» | Alvin Lee (Ten Years After)
A2: Während die geschichtsphilosophischen Erbsenzähler immer auf dem Boden bleiben und darüber räsonnieren müssen, wer was ab wann nicht mehr gedurft hätte. AB1: So oder so ändert das nichts an der Unvergleichbarkeit der hochkomplexen Schnelligkeit eines Derek Bailey, Allan
Bemerkungen hinaus – weder in der akademischen Musikwissenschaft noch im Popdiskurs noch im habituellen MusikerTalk erkennen kann, wäre eine dezidiert musikalische Ausdifferenzierung der Schnelligkeitskategorie. Natürlich abhängig vom jeweiligen Instrument und dessen Mög-
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durch Reduktion (wie im Minimal Techno) usw. AB3: Ob sich das wirklich so «rein musikalisch» auseinanderklamüsern lässt? Ich meine, Jimi Hendrix war ja auch schon schnell. Aber da hatte die Geschwindigkeit noch Wucht und Sinn: dramaturgisch, expressiv, als Steigerung, Überbietung, Unbeschränktheit, juvenile Vitalität, Virität, coole Könnerschaft, meinetwegen auch als Souveränitäts- und Outlaw-Geste im Zuge afroamerikanischer Selbstermächtigung oder in der US-Tradition «schneller» Revolverhelden. Bei den Adepten ist das
© imago | Haytham Pictures
lichkeiten, bei der Gitarre also nicht bloß mit Blick auf ein- oder mehrstimmige Lead- und Solo-Stimmführungen oder gar nur bestimmte Skalen und Läufe, wie bei den meisten bisher Genannten im Vordergrund, sondern genauso auch auf Akkord, Pattern- und Riff-Rasanz (Frippertronics, Johnny Ramone), auf Tapping-Techniken (Marnie Stern, Stanley Jordan), auf blitzartiges Umschalten zwischen verschiedenen Spielmodi (Fred Frith) etc. Zu unterscheiden wäre ferner zwischen Solo- und Ensemble-Formen «schnellen» Spielens – Letztere markant schon im Be-Bop, pro-
«… da hatte die Geschwindigkeit noch Wucht und Sinn.» | Jimi Hendrix
grammatisch bei John Zorns «Naked City» (vgl. Torture Garden), aber auch im gesamten Speed Metal, in der heroischen Gründungsphase des Hardcore-Punk usf. Zudem wäre es hilfreich, immer klar zwischen absolutem und relativem Tempo sowie zwischen Geschwindigkeit und Beschleunigung zu unterscheiden. Vor allem aber müsste man versuchen, eine Sprache für die völlig verschiedenen Aus- bzw. Eindrucksqualitäten des «Schnellen» zu entwickeln und diese soweit es geht am Material – und das meint hier: nicht bloß am Metronom – zu objektivieren: das Durchrasende bzw. Dahinstürmende, das Fugitive/Verhuschende, das Irrwitzige/Ekstatische/Verzückte, das Filigrane, das Hastende/Getriebene, das Umherwirbelnde, das Hämmernde, das Bretternde, das Zitternde, das Sich-Überstolpernde, der «Speed» als Rasanzeindruck
selbstredend alles nur noch Mimikry und Fake. AB4: Naja, ich würde auch der Schnelligkeit des frühen John McLaughlin noch genügend Beseeltheit attestieren, um mich zu ergreifen, dem leerlaufenden mittleren oder jemandem wie Al di Meola dagegen nicht mehr. AB5: Wobei ja auch Al di Meola nicht bloß «noch schneller» war, sondern durchaus eigene, originelle Momente hatte, im Gegensatz etwa zum Gedaddel des späteren Fusion oder neueren Heavy Metal. AB6: Naja, Eddie Van Halen hat mit «Eruption» schon noch einen neuen Kontinent betreten, wo weder McLaughlin noch di Meola noch Hendrix geschweige denn Duane Allman, Wes Montgomery oder Robert Johnson jemals waren. Van Halens Nachahmer dagegen ergehen sich,
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wie er selber seither auch oft, bloß in sinnlosem Gedudel … ABn: Bei n lasse ich die Schnelligkeit (gerade noch) gelten, bei n+1 dagegen nicht (mehr)! ABn+1: Ich hingegen lasse die Schnelligkeit bei n+1 (gerade noch) gelten, bei n+2 aber wird es für mich hohl! [usw. usf.] C: Also mir ist das einfach ALLES viel zu schnell. Ich halte es seit fünfzig Jahren mit «Slowhand» Eric Clapton. Mögen die Namen, der Sprachduktus und die Gewichtung der einzelnen Argumente von Fall zu Fall stark variieren, so zeigt die hier extrapolierte Diskussion, die aus dem jeweiligen Realsubstrat in etwa strukturgleich auch für andere Epochen, Instrumente, evtl. auch andere Kulturkreise zu modellieren wäre, doch dreierlei: erstens die wesentlichen Fraktionen, wobei neben den Reinformen Begeisterung, Ablehnung und Überforderung vor allem charakteristische Ambivalenzpositionen («prinzipiell hingerissen, hier allerdings ...» bzw. «eigentlich dagegen, aber hier ...») sichtbar werden; zweitens die wesentlichen Argumentationsmuster, nämlich technische, gehaltliche, vitalistisch-ikonographische, psychoanalytische, geschichtsphilosophische (wahlweise progressiv oder ursprungsmythologisch), quasi-theologische sowie – meist intuitiv und rudimentär – materialästhetische; drittens schließlich, dass und warum sich solche Diskussionen für diejenigen, die sie führen, gleichermaßen spannend wie angespannt ausnehmen, während sie für Außenstehende weitgehend müßig sind. Unnötig zu sagen, dass sie infolge der inkommensurablen und meist implizit bleibenden Wertmaßstäbe der Beteiligten so gut wie nie ein Ende finden können.Was freilich insofern seine Richtigkeit hat, als es hier bislang um eine rein menschlich-allzumenschliche Angelegenheit ging: um Finger, Münder, Ohren, Hirne. Indes ist die Musik längst keine rein menschliche Angelegenheit mehr – und auch die Schnelligkeit wird mehr und mehr zum Transhumanum. 2. «MANN, SIND DIE SCHNELL!»
Mit dem musikhistorischen Ausgriff aus der puren Körpermusik (Stimme, Klatschen usw.) in eine Musik der (Echtzeit-)Prothesen resp. Instrumente, deren Spektrum vom Klopfstein bis zum per Griffbrett über zehn Effektgeräte hindurch gesteuerten RealTime-Gitarrensynthesizer reicht, ergeben sich in puncto «Schnelligkeit» zwar mar-
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kante graduelle, doch keine fundamentalen Verschiebungen. Sicher erlauben, ja, fordern «leichtgängige» Instrumente, etwa daraufhin optimierte Keyboards, höhere Geschwindigkeiten als etwa das Alphorn (auch körperintern können etwa trainierte Finger ja schon «schneller» werden als das Hirn). Darüber hinaus vermögen manche der traditionellen Prothesen die menschliche Sensomotorik, vor allem durch gezielte Resonanzerzeugung, dezent ins Übermenschliche zu erweitern, etwa bei Snare-Drum-Rolls, die mit bloßen Fingern resp. Händen so nicht spielbar wären, oder mit der Maultrommel.
«Aufstieg in die Transzendenz»? | Accept-Gitarrist Wolf Hoffmann
Doch so frappierend solche Kunststücke bis heute wirken und wie sehr sich die humaninstrumentale Schnelligkeit – bei aller gebotenen Vorsicht in Bezug auf ältere Epochen – insgesamt im Laufe der Musikgeschichte objektiv gesteigert haben mag (so wie die Leichtathletik-Weltrekorde auch), verbleibt all das doch stets im Rahmen naturgegebener menschlicher Rezeptivität. Wobei sich die Effekte der Prothesen-Evolution hier im Vergleich zu anderen musikalischen Parametern (Ein Mensch kann qua Prothese, zum Beispiel auf einem Klavier, vielstimmig musizieren! Elektrisch verstärkt bringt man mit seiner Stimme oder einer Blockflöte ein Fußballstadion zum Beben!) vergleichsweise in Grenzen halten. Im Zuge des weiteren Übergangs von der Musik-Prothese zum Musik-Automa-
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ten jedoch ändert sich die Situation grundlegend. Können nun doch – etwa schon mithilfe eines Player-Pianos, später mittels Drum-Computer oder Sequencer, ebenso aber durch das beschleunigte Abspielen von Tonaufnahmen oder neuerdings durch digitales Time-Stretching – Geschwindigkeitslevels realisiert werden, die jenseits aller menschlichen Sensomotorik liegen. Damit kommt es, erstmals in der Musikhistorie, zur Entkoppelung des unmittelbaren oder prothetisch vermittelten, doch stets letztlich human-physisch getriggerten Produktionsaktes vom real erklingenden Material und dessen Rezeption. Neben dem überkommenen, nur langsam (weiter-)evolvierenden human-physischen Möglichkeitsraum entsteht so eine zweite, gleichsam geschwindigkeits-fantasmagorische und mithin tendenziell transhumane Sphäre der Musik. Diese wiederum teilt sich in ein semi-transhumanes Zwischenreich, dessen Klangereignisse zwar nicht mehr von Menschen spielbar, wohl aber noch rezipierbar sind (so etwa die meisten Player-PianoStücke von Conlon Nancarrow oder Zappas Synclavier-Etüden auf Jazz from Hell), sowie in einen entschieden transhumanen Tempo-Kosmos, der nicht allein jenseits aller artistischen Sensomotorik, sondern jenseits jeglicher menschlichen Rezeptivität überhaupt angesiedelt ist. Ein markantes Beispiel dafür wäre etwa das Endstadium des «Ringkompressors» von Thomas Kapielski und Frieder Butzmann, wo Richard Wagners vielstündiger Ring-Zyklus durch schrittweises Zusammenziehen (per Fourier-Transformation, also «objektiv» ohne Informationsverlust) schließlich auf etwa eine Sekunde Länge geschrumpft wird, freilich ohne dass ein Mensch darin noch irgendetwas, geschweige den «WalkürenRitt», identifizieren könnte. Allerdings sind die Grenzen zwischen den drei so geschiedenen Tempo-Sphären nicht bloß individuell verschieden, sondern vielfach auch unbestimmt. Die dadurch entstehende Faszination, aber auch Irritation illustriert eine reale Anekdote, die sich Mitte der 1990er Jahre zutrug: Für eine Release-Party der Zeitschrift testcard hatten die Herausgeber relativ große Boxen herangeschafft, aus denen irgendwann auch ein längeres, sehr pures Lärmstück des japanischen Industrial-Pioniers Masami Akita (aka Merzbow) donnerte: reiner, für menschliche Ohren weitgehend amorpher Krach, sprich: rosa-weißes Feedback-Rauschen übers ganze Frequenzspektrum in maxi-
maler Komprimierung, und immerhin laut genug, dass einer der Lautsprecher bald den Geist aufgab.Während die meisten anderen Gäste zügig in die Nebenräume flüchteten, postierte einer – damals Herausgeber eines führenden Punk-/Hardcore-Magazins – sich genau zwischen den Boxen und folgte mit größter Aufmerksamkeit dem unentwegten Lärm, um nach ca. einer Minute, gleichermaßen be- und entgeistert, die geflügelten Worte auszurufen: «Mann, sind die schnell!» Natürlich ist das insofern ein Irrtum, als hier niemand im überkommenen Sinne – weder schnell noch langsam – «spielt», schon gar keine Hardcore-Punkband, wie er sie sozialisationsgemäß in diesen Krach «hineinhörte». Stattdessen wird Merzbow wie üblich eine (fast) beliebige Ausgangssoundquelle (im Zweifelsfall genügt es, die leere Klinke eines Instrumentenkabels in die Luft zu halten) durch so viele Verzerrer gejagt haben, dass ein chaotisch-konstanter Rückkopplungsstrom entsteht. Umso mehr jedoch ballt sich in der Verkennung solcher Entstehungsweise zugunsten der völlig irrealen, zugleich aber als real imaginierten und entsprechend erschütternden Vision einer «unfassbar schnellen Band», die solcherlei zeitgleich hervorbrächte, die ganze Ambivalenz in der humanen Wahrnehmung transhumaner Tempo-Sphären. Man mag sie einerseits gegen die Menschen wenden, gegen den vermeintlich bornierten Hörer, der seine gewohnten Wahrnehmungspatterns noch dort beibehält, wo das Material ihnen in Wirklichkeit längst Hohn spricht; oder auch gegen die Speed-Hardcore-Bands von Menschen, die unter beträchtlichen physischen Mühen und mit maximalem Trainings-Aufwand Klangformationen hervorbringen, die «reinem Lärm» offenbar schon zum Verwechseln ähnlich sind und doch de facto hinter ihm zurückbleiben. Weit fruchtbarer scheint es jedoch, hier die visionäre Aneignung und damit Vermenschlichung eines realiter schon weitgehend außermenschlichen akustischen Geschehens hervorzuheben und zu bewundern. Die Grenzen solcher Aneignung nach Kräften zu erweitern, wird – nicht bloß in puncto Schnelligkeit – zur wesentlichen Disziplin künftigen Hörens werden müssen, solange sich die Menschen noch für die Musik ihrer Maschinen und diese sich noch für ihre hominiden Hörer interessieren sollen. n 1 Inwieweit solche «Schnelligkeit» in allen menschlichen Musikkulturen gleichermaßen (oder gar notwendig) evolviert, ist hier leider nicht zu ermessen.
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GLOBALE
Der Londoner Musiker Helm (Luke Younger) ist Gast beim Festival «sonic experiments».
© Suzy Poling
Globalisierung und Digitalisierung verändern die Welt stetig. Sie bilden die wichtigsten Voraussetzungen für unsere Gegenwart und Zukunft. Das neue Kunstformat, die «Globale» – ein Kunstereignis, das mit dem 300-jährigen Jubiläum der Stadt Karlsruhe im Juni 2015 beginnen und 300 Tage andauern wird – thematisiert die kulturellen Effekte der Globalisierung und Digitalisierung. Polyphone, multipolare Manifestationen wie Ausstellungen, Konzerte, Performances, Vorträge, Konferenzen und Symposien zeigen die entscheidenden Tendenzen des 21. Jahrhunderts. Das Programm des ZKM | Institut für Musik und Akustik (IMA) im Rahmen der «Globale» beginnt mit «next_generation 6.0», dem größten biennalen Treffen der Hochschulstudios für elektronische Musik, das NachwuchskomponistInnen eine Plattform bietet, ihre kompositorischen Neuentwicklungen zu präsentieren.Vom 24. bis 28. Juni 2015 wird unter dem diesjährigen Motto «Immersion» den Studierenden der elektronischen Studios der Musikhochschulen aus Deutschland, Österreich, Holland und der Schweiz die Möglichkeit geboten, ihre Arbeiten in Konzerten und Installationen vorzustellen und sich im Rahmen eines Symposiums in Vorträgen, Diskussionen, Poster-Sessions und Workshops über die eigenen Interessengebiete auszutauschen. ProfessorInnen und DozentInnen können darüber hinaus über aktuelle Entwicklungen der einzelnen Studios berichten. «next_generation 6.0» bietet an fünf Tagen und fünf Nächten der Öffentlichkeit ein interessantes und dichtes Programm, das über die neuesten Positionen zu den Themen «Fixed Media», «Raummusik» und «Live-Elektronik» informiert, und garantiert damit eine repräsentative Übersicht über das aktuelle kreative Schaffen im Kontext von Technologie und Kunst. Das Festival «sonic experiments» widmet sich aktuellen Entwicklungen experimenteller elektronischer Musik. Präsentiert werden eigensinnige internationale KlangkünstlerInnen und MusikerInnen der jüngeren Generation. Der slowakische Klangkünstler und Musiker Jonáš Gruska entwickelt für seine ortsspezifischen Klanginstallationen
und audiovisuellen Arbeiten eigene elektronische Musikinstrumente und Software. Maßgeblich geprägt vom Experimentieren mit modularer Klangsynthese interessieren ihn auch obskure Instrumente wie der Junost, ein seltenes sowjetisches Umhängekeyboard. Im Jahr 2009 gründete er das Label LOM, mit dem er mittelosteuropäischer experimenteller Kunst und Musik mehr Aufmerksamkeit verschaffen möchte. Der in London lebende Musiker Helm kreiert mit Elementen der Musique concrète, des Noise und Post-Industrials dichte Klanglandschaften. Er veröffentlichte zunächst mit Steven Warwick alias Heatsick unter dem Namen «Birds of Delay» und anschließend mit seinem Soloprojekt «Helm» auf Labels wie PAN mehrere Alben, in denen er aus akustischen und elektronischen Klängen rhythmische DroneWolken entstehen lässt. Der niederländische Noise-Musiker Gert-Jan Prins und der experimentell arbeitende Videokünstler Martijn van Boven präsentieren außerdem am ZKM ihre Arbeit Black Smoking Mirror: In einem Klangfeld aus Noise-Schichten wird mit einem Laser eine Leinwand graviert, bis diese schließlich zu brennen beginnt. Der in den USA geborene Musiker und Klangkünstler Keith Fullerton Whitman, der auf Labels wie Kranky und Editions Mego veröffentlicht hat, wird außerdem eine Mehrkanalkomposition mit dem Lautsprechersystem des ZKM_Klangdom präsentieren.
Kristján Loðmfjörð und des dänisch-polnischen Klangkünstlers Konrad Korabiewski. Die Installation basiert auf Audio- und Bildmaterial, das einen isländischen Fischdampfer porträtiert, und auf der Idee, einen Ort des alltäglichen Arbeitens künstlerisch umzudeuten. Auf diese Weise wird der Fischdampfer zu einem lebenden Organismus, einem musikalischen Instrument, einer räumlichen Landkarte, die sich aus verschiedenen Texturen und Farben zusammensetzt. Der unaufhörliche Klang des Motors zieht sich als klangliche Erfahrung an Bord des Dampfers durch die Installation. Überlagert werden diese Klänge unter anderem mit Aufnahmen eines isländischen Kirchenchors. Das IMA unterstützte im Jahr 2013 die Produktion und plant eine Veröffentlichung der Arbeit NS-12 in DVDFormat im kommenden Jahr. n
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INFO
n Mittwoch bis Sonntag, 24. bis 28. Juni 2015 next_generation 6.0 Internationales Treffen der elektronischen Hochschulstudios Vorträge, Workshops, Konzerte, Installationen ZKM Eintritt frei
n Freitag und Samstag, 3. und 4. Juli 2015 sonic experiments Festival für aktuelle experimentelle elektronische Musik Jonáš Gruska, Helm, Gert-Jan Prins & Martijn van Boven, Keith Fullerton Whitman, DJ Zipo u. a. ZKM_Kubus, ZKM_Musikbalkon, 21 Uhr Eintritt jeweils 10/7 Euro
Redaktion: Marie-Kristin Meier
PUBLIKATIONEN
NS-12 ist eine achtkanalige audiovisuelle Installation des isländischen Filmemachers
Die Website des ZKM | Institut für Musik und Akustik finden Sie unter: www.zkm.de/musik
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© Reiner Pfisterer
SCHWARZE LIEDER, INSZENIERTE LIEDER, MORITATEN WEGE DES LIEDES IN DER GEGENWART von Ellen Freyberg
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Das klavierbegleitete Lied Franz Schuberts gilt als Inbegriff des «romantischen» Kunstlieds. Kaum ein Liedkomponist in der Nachfolge Schuberts hat sich dieser Bezugsgröße entziehen können. Selbst Arnold Schönbergs den Durchbruch zur Atonalität besiegelnden Fünfzehn Gedichte aus «Das Buch der hängenden Gärten» von Stefan George op. 15 sind ohne Schuberts Schöne Müllerin und Winterreise kaum denkbar. Der mehr oder weniger deutlich zutage tretende Traditionsbezug mag ein Grund gewesen sein, warum das Interesse am Lied seit den 1920er Jahren abgenommen hat. Der fortschrittsverfangenen Nachkriegsavantgarde galt es als zu rückschrittlich, traditionsbelastet und überholt, als dass es in jenen Kreisen kompositorisch eine Rolle
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gespielt hätte. Abseits avantgardistischer Strömungen jedoch hat sich eine nicht unbeträchtliche Zahl von Komponisten dieser Gattung gewidmet, unter ihnen – auf östlicher Seite – Hanns Eisler und Paul Dessau, Günter Kochan, Kurt Schwaen, Andre Asriel, Fritz Geißler und Siegfried Matthus, der kaum bekannte Reiner Bredemeyer, Paul-Heinz Dittrich, Friedrich Goldmann und Steffen Schleiermacher. Im westlichen Teil Deutschlands waren es die der «Avantgarde» eher fern stehenden Komponisten Hans Werner Henze, Wilhelm Killmayer und Aribert Reimann, Wolfgang Rihm, Manfred Trojahn,Wolfgang von Schweinitz und Hans-Jürgen von Bose, die bedeutende Beiträge zur Gattung hervorgebracht haben.
TEXT-MUSIK-RELATION
Eine zentrale Frage bei der Beschäftigung mit Liedern ist die nach der Text-MusikRelation. Komponisten sind, wenn sie nicht selbst dichtend tätig sind, auf die «Mitarbeit» der Dichter angewiesen. Geeignete Lyrik zu finden, die den kompositorischen Vorstellungen entspricht, ist bisweilen durchaus problematisch, da Komponisten seit der Moderne zunehmend individuelle Konzepte des Lyrik-Vertonens verfolgen. Schon Theodor W. Adorno stellte fest, dass die Beziehung zwischen «Text und Musik heute kritisch geworden» sei.1 Die im Lied seit der Antike immer wieder beschworene Einheit von Lyrik und Musik ist in der Moderne von einer Entwicklung überlagert worden, die von einer Reihe von Autoren
KLANGMOMENT
KUNSTLIED HEUTE
Worin zeigt sich das Charakteristische des gegenwärtigen Liedschaffens? Was reizt junge Komponistinnen und Komponisten, sich mit lyrischer Sprache auseinanderzusetzen, sich auf die Perspektive eines dichtenden Gegenübers einzulassen, um daraus etwas Neues zu formen,5 das im Idealfall liedhaft ist? Welche Relevanz hat hierbei noch das Label «Kunstlied»? Was bedeutet es, im Zeitalter multipler Erlebnis- und Erfahrungshorizonte, einer totalen Verfügbarkeit von Kulturgeschichte, Lieder und Liederzyklen zu komponieren? Das von der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie in Stuttgart initiierte, dem Kunstlied der Gegenwart gewidmete Liedfestival 2015 «Sind noch Lieder zu singen?»6, bei dem zwölf Werke zur Uraufführung gelangten, ging der Frage nach, wie es heute um das Kunstlied bestellt ist. Das Bedürfnis, sich mit lyrischer Sprache kompositorisch auseinanderzusetzen, ist keineswegs mehr selbstverständlich. Umso be-
© Schott Promotion | Stefan Forster
Eine subversive Art, das «Lied» neu zu denken, stellt Carola Bauckholts Membran für Stimme und Klavier dar. Überholte Gattungskonventionen werden in ihrem Stück permanent unterwandert: Anstelle kunstvollen Gesangs erklingt eine einfache Volksweise, starre Rollenverteilungen (Sänger und Begleiter) werden aufgehoben, und
© Schott Promotion | Peter Andersen
merkenswerter erscheint es daher, dass wieder ein Interesse aufzukeimen scheint, über neue/alte Möglichkeiten des «Ver-tonens» von Lyrik nachzudenken, dem lyrischen Ausdrucksbestreben, das sich seit der Romantik im deutschen Kunstlied manifestiert, andere «Töne» entgegen zu setzen. So bedient sich Gordon Kampe beispielsweise des schwarzen Humors surrealer Lyrik und der Sprache des Bänkelgesangs, um seinen Acht schwarzen Liedern nebst einer Moritat für Sopran, Bassklarinette und Klavier die gefühlsgesättigte Schwere zu entziehen. Neben Texten von Hans Fallada, Xavier Forneret, Guillaume Apollinaire und Stefan George verwendet er einen Text des Künstleranarchisten Francis Picabia, den er gleich mehrfach vertont: mal wütend-auftrumpfend, mal trotzig-verschlissen und schließlich lethargisch-verhangen. In einem düster-surrealen Endzeitbild beschreibt er den Verlust von Liebe und familiärer Bindung. Ein Moment tiefer Innigkeit stellt sich im dritten Lied ein, das mit Georges Verszeile «Dies ist ein Lied für dich allein» auf Weberns Vertonung des Gedichts anspielt und damit einen deutlichen Bezug zur expressionistischen Klangsprache der Zweiten Wiener Schule herstellt. Als «Komponieren als Traditionskritik» versteht Iris ter Schiphorst ihre Annäherung an das deutsche Kunstlied, bei der sie, wie sie bekennt, aus vielerlei Gründen großes Unbehagen verspürt, denn allzu viel «Geschichtsschrott» (Marcel Beyer) laste noch immer auf ihm. Lyrik in herkömmlicher Weise zu vertonen, scheint ihr heute überholt. Lied-Komponieren heißt für sie, die deutschlastige Gattungstradition kritisch zu hinterfragen. meine-keine lieder / die aufgabe von musik ist ein szenisches Stück für Frauenstimme, Bassklarinette und Klavier sowie Synthesizer, das sich mit der Rolle der Kunst bzw. des Volkslieds im «Dritten Reich» auseinandersetzt. Im Zentrum stehen die durchweg gesprochenen und in der Rolle der Philosophin Hanna Arendt vorgetragenen Berichte über den Eichmann-Prozess, in denen die Scheinheiligkeit der deutschen «Kulturnation» entlarvt wird. Sie bilden den szenischen Rahmen, in dem die «Vertonungen» der Gedichte Inge Müllers eingebettet sind. Ausdrucksvoll gesungene Lieder sind sie indes nicht; viel eher ein Versuch, die verstörende Lyrik Müllers mit auf ein Minimum reduzierten Mitteln (stereotype Dreitonrepetitionen, gestotterte Vokalisen etc.) gerade noch zum Klingen zu bringen.
© Rolf W. Stoll
als Entfremdung beschrieben worden ist.2 Ich würde hier den neutraleren Begriff der Verselbstständigung der Künste vorziehen, denn der Verlust der symbiotischen Verbindung von Lyrik und Musik eröffnete den Komponisten auch die Möglichkeit, die Beziehung beider Künste zueinander neu auszuloten. Komponisten wie Schönberg, Anton von Webern und Alban Berg haben dieses Potenzial erkannt und in der Neudefinition des Text-Musik-Verhältnisses dem modernen Kunstlied wichtige Impulse verliehen. Das Kunstlied bildet hier ein Beziehungsgefüge aus Text und Musik, in dem Sing- und Klavierstimme weitgehend unabhängig und gleichberechtigt miteinander agieren.3 Reimann, neben Rihm und Killmayer wohl der bedeutendste Liedkomponist der Nachkriegsära, hat das Kunstlied der Zweiten Wiener Schule konsequent weiterentwickelt. In seinen Liedern bilden Text und Musik Gegenpole, die im gemeinsam vollzogenen Zusammenklang kommentierend und interpretierend aufeinander reagieren und auf diese Weise semantisch aufgeladene Klangtexturen hervorbringen. Bezeichnend ist, dass Reimanns Lieder unmittelbar aus dem Sprachklang der Lyrik entstehen, der bei ihm in ein der Singstimme übertragenes Melos überführt wird. Mit einigem Recht ließe sich sagen, dass in diesem Melosprinzip das spezifisch Liedhafte der antiken «méle» seine Neuausformung im Kunstlied gefunden hat.4
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Bedeutende Liedkomponisten der Nachkriegsära: Wilhelm Killmayer, Aribert Reimann, Wolfgang Rihm
ausdrucksvoller Gesang wird durch die (rezitierte) beschreibung eines gedichts von Ernst Jandl ersetzt. Was am Ende von der Idee des Liedes bleibt, ist eine Interaktion zwischen Sänger und Klavierspieler, die jedoch nicht mehr auf direktem Weg stattfindet, sondern in den Resonanzboden des Flü-
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Fünf Lieder nach Gedichten von Paul Celan
Aribert Reimann * 1936
I. Singstimme
(auf den Tasten / on the keyboard)
Klavier
*)
(mit Plektron in den Saiten gezupft / pluck string with plectron)
Komm,
leg
die
(auf den Tasten / on the keyboard)
(auf den Tasten / on the keyboard)
aus
mit
dir,
Komm,
(wie vorher / as before) *) mit den Fingern der linken Hand Saiten hinter dem Steg niederdrücken (’muted’) cover the strings behind the bridge by the left hand (’muted’)
Aribert Reimann: Fünf Lieder nach Gedichten von Paul Celan, 2006 | Beginn
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Welt
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gels verlagert wird. Dieser wird zum Ort des Austauschs zwischen beiden Musikern. Sängerin und Klavierspieler singen, spielen und klopfen sich über die Membran des Resonanzbodens zu. Ganz auf die Körperlichkeit des Singens zielt Schmetterlingsfang III für Tenor, Bassklarinette und Klavier von Carsten Hennig ab, wobei «Singen» hier nicht nur den melodischen Gesang umfasst, sondern alle durch die menschliche Stimme produzierten Laute und Geräusche. Textbasis ist die Beschreibung eines Schmetterlingsfangs, die Hennig einem alten naturwissenschaftlichen Lehrwerk zum Ausstopfen von Tieren entnommen hat. Durch fein dosierte Klänge und Geräusche lädt er den nüchternen Prosatext poetisch auf und lässt in einer ironiegeladenen, fantasievoll-imaginierten Miniaturszene die Figur eines verschrobenen Schmetterlingssammlers entstehen. Mit der Unbefangenheit eines der deutschen Liedtradition Fernstehenden nähert sich der Argentinier Oscar Strasnoy in seinem Liederzyklus Müller für Tenor und Klavier der Kunstliedtradition. Er bedient sich zugleich mehrerer mit dem Schubert-Lied eng verbundener Topoi (unter anderem das Wanderer-Motiv, das den Zyklus durchzieht). Textgrundlage sind Gedichte von Wilhelm, Hertha und Heiner Müller, die das Thema der Romantik, die zerstörte Liebe und Einsamkeit, behandeln. Sowohl in textlicher als auch in musikalischer Hinsicht (Behandlung von Schlüsselwörtern, Textausdeutung etc.) ist der Zyklus in hohem Maße dem Kunstlied Schuberts verpflichtet. Weit entfernt hiervon steht das LiPoLied für Stimme,Viola und Klavier von Martin Smolka, das aus einer anderen Tradition des Liedsingens kommt. In seiner minimalistischen Vertonung eines chinesischen Liebesgedichts interessiert den Komponisten in erster Linie das Spiel mit den klanglichen Dimensionen der Wörter (Assonanzen, Vokal- und Konsonantenfarben etc.). Bernhard Lang steht mit seinem vom Rap beeinflussten Songbook II für Bariton und Klavier der Tradition des Kunstlieds denkbar fern. Bei ihm wird vielmehr der Rhythmus der Wörter auf seine Fähigkeit zur Bildung von repetitiven Klangstrukturen abgeklopft. Das (Volks-)Lied spielte im Prozess der Nationalbildung eine wichtige Rolle und gilt seit Johann Gottfried Herder als Inbegriff kultureller Identität. In seinem Liederzyklus Berlinacht für Stimme und Klavier
geht Dennis Bäsecke-Beltrametti dieser identitätsstiftenden Kraft des deutschen Liedes in der heutigen Zeit nach und fragt nach dessen Potenz angesichts einer immer indifferenter werdenden globalen Gesellschaft. In einer Klangcollage lässt der Komponist stilistisch unterschiedlichste, im kulturellen Gedächtnis der Deutschen verankerte Liedzitate aufeinanderprallen (darunter Anton Wilhelm von Zuccalmaglios Kein schöner Land, Johann Wolfgang von Goethes Wanderers Nachtlied, Rio Reisers König von Deutschland, Wolf Biermanns Berlin, du deutsche deutsche Frau). Das Netz, das Bäsecke-Beltrametti aus vertrauten und unvertrauten Klängen schafft, erodiert, die Liedzitate verlieren ihre Kontur und lösen sich auf, bis am Ende nur Reste einstigen Gesangs, Geräusche, Laute und stimmlose Echos vom Klavier übrig bleiben.
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5 So formulierte Wolfgang Rihm den Schaffensprozess beim Liedkomponieren. Siehe dazu: Carolin Abeln: «Günter Schnitzler, Zwischen Struktur und Semantik – Wolfgang Rihm als Liedkomponist», in: Etwas Neues entsteht im Ineinander. Wolfgang Rihm als Liedkomponist, Karlsruhe 2012, S. 42. 6 «Sind noch Lieder zu singen?». Ein Projekt um das Lied in Deutschland nach 1945, 12.–15. März 2015 in Stuttgart. Neben den zwölf Uraufführungen wurden während des Festivals auch weniger bekannte Liedkompositionen der Nachkriegsära aus Ost und West aufgeführt.
POSTMODERNE FORMEN
Das Lied der Gegenwart ist unter dem Einfluss der Postmoderne vielfältiger, aber auch indifferenter und weniger greifbar geworden. Das deutsche Kunstlied bildet nicht mehr nur die alleinige Bezugsgröße für das heutige Liedschaffen. Der leichter gewordene Zugriff auf die Traditionen anderer Kulturen hat dem Lied neue fruchtbare Impulse verliehen. Unterschiedlichste kompositorische Stile und Techniken verschmelzen miteinander, die von der Avantgarde erprobten neuen Formen des Singens werden durchaus sinnvoll und produktiv in die Form des Liedes integriert. Bei alledem entscheidend bleibt jedoch, dass das Melosprinzip, das für das Lied noch immer als gattungsbestimmend angenommen wird, weitgehend gewahrt bleibt. n 1 Theodor W. Adorno: «Fragment über Musik und Sprache», in ders.: Musikalische Schriften I–III (Gesammelte Schriften Bd.16), Frankfurt am Main 1978, S. 252. 2 Peter Horst Neumann: «Wie der deutschen Lyrik das Singen verging. Von Eichendorff zu Paul Celan», in: Musiksprache-Sprachmusik. Symposium zum 70. Geburtstag von Peter Gülke, Zürich 2004 (= Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft) Neue Folge 25/2005, Bern 2006. S. 81; Hermann Danuser: «Einleitung», in: Musikalische Lyrik Bd. 1, hg. von dems., Laaber 2004, S. 23; Andreas Meyer: «Musikalische Lyrik im 20. Jahrhundert», in: Musikalische Lyrik, Bd. 2, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2004, S. 225. 3 vgl. dazu Arnold Schönbergs Aufsatz «Das Verhältnis zum Text» (1910), in ders.: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik (Gesammelte Schriften I), hg. von Ivan Vojtech, Frankfurt am Main 1979; Aribert Reimann: «Krise des Liedes? Zum Lied im 20. Jahrhundert», in: Musica 3/1981, S. 235–236. 4 Zu den gattungsspezifischen Unterschieden der antiken Begriffe «méle» und «lyriké» vgl. Herwig Görgemann: «Zum Ursprung des Begriffs ‹Lyrik›», in: Musik und Dichtung. Neue Forschungsbeiträge. Victor Pöschl zum 80. Geburtstag gewidmet, hg. von Michael von Albrecht und Werner Schubert, Frankfurt am Main 1990; Wolfgang Rösler: «Musikalische Lyrik in der Antike», in: Musikalische Lyrik 1, a. a. O., Laaber 2004.
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INFO n Aribert Reimann: Kinderlieder / Nacht-Räume / Neun Sonette der Louize Labé Christine Schäfer, Sopran; Liat Himmelheber, Mezzosopran; Axel Bauni, Aribert Reimann, Klavier WER 60183-50
n Wolfgang Rihm: Lieder für Bariton & Klavier. Lenz-Fragmente / 6 Gedichte von Friedrich Nietzsche / Wortlos / Neue Alexanderlieder / Wölfli-Liederbuch Holger Falk, Bariton; Steffen Schleiermacher, Klavier Dabringhaus und Grimm, MDG 4999464
n Wilhelm Killmayer: HölderlinLieder nach Gedichten aus der Spätzeit für Tenor und Orchester Peter Schreier, Tenor; Philipp Jungebluth, Kindersopran; RadioPhilharmonie Hannover des NDR, Bernhard Klee 2 CDs, WER 62452
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© Marianne Adelmann
HANS WERNER HENZE UND VOLKER SCHLÖNDORFF PORTRÄT EINER ZUSAMMENARBEIT von Janosch Korell
n Die gemeinsame Geschichte von Volker Schlöndorff und Hans Werner Henze, die mit einer beruflichen Zusammenarbeit begann und in einer engen Freundschaft mündete, findet ihren Anfang in der Suche nach einem Komponisten für Schlöndorffs ersten Film: Der junge Törless. Schlöndorff gehört in den 1960er Jahren zu den Regisseuren, die gemeinsam das «Oberhausener Manifest» als Reaktion auf das Nachkriegskino, auch «Papas Kino» genannt, begründen. Er ist misstrauisch gegenüber allem, was mit dieser Art des Kinos zu tun hat. Er äußert sich gegenüber seinem
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Produzenten Franz Seitz: «Es muss doch wie in Polen, wo große Komponisten mit Wajda und Polansik arbeiteten, auch in Deutschland ‹richtige› Komponisten geben». Und Seitz antwortet: «Ich stelle anheim Hans Werner Henze!»1 Die hierauf folgende Zusammenarbeit zwischen Henze und Schlöndorff führt zu drei gemeinsamen Werken, Der junge Törless (1966), Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975) und Un amour de Swann (1984), sowie zu einer gemeinsamen Opernproduktion mit Schlöndorff als Regisseur: Wir erreichen den Fluss.
«DER JUNGE TÖRLESS»
Die soziale Beziehung von Henze und Schlöndorff ist zu Beginn eine asymmetrische: Ein junger, noch unbekannter 26jähriger Regisseur tritt auf seiner Suche nach einem Komponisten an einen der bekanntesten, bedeutendsten und überdies 13 Jahre älteren zeitgenössischen Tonschöpfer heran. Schlöndorff beschreibt seine erste Begegnung mit Henze folgendermaßen: «Man empfing mich wie einen Hochstapler, als ich mit den 70 Kilo schweren Filmrollen in einer Villa am Halensee auftauchte, wo Wenzel Lüdecke, ein Freund von Henze
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© Sammlung Volker Schlöndorff im Deutschen Filminstitut – DIF, Frankfurt am Main
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«Wenn ich einen Film gehabt hätte, wo ich mir seine Musik hätte vorstellen können, dann wär ich wahrscheinlich noch ein Jahr vor seinem Tod zu ihm gegangen.» | Volker Schlöndorff
und Chef der Synchronfirma, residierte».2 Die Reaktion von Henze fällt unerwartet aus. Schon während der Durchsicht des Rohschnitts, bei der auch der 21-jährige Fausto Moroni anwesend ist, sagt Henze zu Schlöndorff: «Ich mache Ihnen gerne die Musik zu Ihren Bildern, aber das nächste Mal müssen Sie die Bilder zu meiner Musik machen [...]. Sie müssen Opern inszenieren».3 Schlöndorff folgt seinem Rat und widmet sich 1974 mit Leoš Janáˇceks Kát’a Kabanová erstmals dieser Gattung. Zwei Jahre später, 1976, folgt die gemeinsame Produktion von Henzes Oper Wir erreichen den Fluss. Die sozialen und künstlerischen Unterschiede stellen keine Einschränkung für das Verhältnis von Henze und Schlöndorff dar, im Gegenteil: Ihr Verhältnis ist geprägt von gegenseitigem Respekt und einem von Henze ausgehenden Interesse an Schlöndorff. Henze rät dem Regisseur, «sein Talent ernster zu nehmen»4, wohingegen dieser das übliche, eher durch Autorität geprägte
Regisseur-Komponisten-Verhältnis während der Produktion nicht bedient. Laut Schlöndorff trafen sich er und Henze für den Törless nur einmal im Schneideraum, diskutierten zusammen und hatten außer diesem Termin höchstens zwei bis drei Stunden Konversation. Henze kommt mit der fertigen Musik zur Aufnahme, ohne dass Schlöndorff zuvor einen Ton zu Hören bekommt. Schlöndorff: «Wir haben dann bei der Musikaufnahme, als wir es zum ersten Mal mit dem Bild sahen, überhaupt keine Änderungen gemacht, sondern im Gegenteil, ich war begeistert von dem, was ich gehört habe, und er war auch zufrieden, wie das synchron mit dem Bild abläuft, was sich daraus ergab».5 Die Art und Weise des Verhältnisses dokumentiert auch Marcel Wengler, ein Kompositionsstudent von Henze, der ihn später bei der Filmmusik zu Un amour de Swann unterstützte: «Ich hatte Gelegenheit, bei einigen Gesprächen dabei zu sein. Ich erinnere mich noch genau an ein Treffen zu dritt in Henzes Haus in
Marino. Die Begegnungen waren immer von gegenseitigem großen Respekt geprägt. Es waren immer Gespräche in großer Freundschaft und auf hohem intellektuellem Niveau.» BRIEFWECHSEL
Die in der Paul Sacher Stiftung (PSS) aufbewahrten Briefe von Henze und Schlöndorff sind für das Verständnis ihres Verhältnisses und der Entwicklung ihrer Beziehung sehr aufschlussreich. Nach anfänglicher Distanz wird diese über die Jahre immer persönlicher und freundschaftlicher. Der Briefverkehr beginnt im Frühling 1966 recht unpersönlich mit Schlöndorffs Fragen (an Wohlfang Eisermann, Henzes Sekretär) nach einer Musikaufstellung des Törless für die GEMA sowie nach Karten für eine Oper des «Maestros». Der Briefverkehr setzt sich fort mit einer Antwort Henzes auf einen Brief (der nicht in der PSS vorhanden ist). Henze beginnt den Brief mit «Lieber Schlöndorff», gratuliert
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«KATHARINA BLUM»
Die Genese der Filmmusik zu Die verlorene Ehre der Katharina Blum gestaltet sich anders als beim Törless: Henze beginnt schon vor Fertigstellung des Films, allein anhand des Drehbuchs, mit dem Schreiben der Musik. Er stellt sie mit der Hilfe seines Studenten und Assistenten Henning Brauel innerhalb von einer Woche fertig. Laut Brauel ließ ihn Henze per Flugzeug einreisen, zu seinem Anwesen in Marino bringen, wo er im schönen Klima der Toskana zwölf Stunden täglich unter der Anleitung von Henze und anhand von Kompositionen, die schon fertig gestellt waren, komponierte; Henning Brauel schrieb einen Großteil der Musik.
© Sammlung Volker Schlöndorff im Deutschen Filminstitut – DIF, Frankfurt am Main
ihm zu seinem Drehbuch zu Michael Kohlhaas – Der Rebell und wünscht «viel Gutes, damit es wieder ein Meisterwerk werden möge». Henze bietet Schlöndorff an, die Musik zu schreiben: «wenn Sie wollen, mache ich Ihnen dann die Musik dazu». Eine leichte Asymmetrie ihrer sozialen Beziehung mag zu diesem Zeitpunkt im Schriftverkehr zu erkennen sein – ein Hinweis darauf ist das etwas flapsige «Lieber Schlöndorff» –, jedoch zeigt sich auch der Respekt vor und ein starkes Interesse an dem Regisseur: Henze hegt offenbar den Wunsch, wieder mit Schlöndorff zusammen zu arbeiten. Im Laufe der Jahre scheint ihr Verhältnis persönlicher zu werden: Im nächsten Brief,
«Die verlorene Ehre der Katharina Blum» | Kommissar Beizmenne (Mario Adorf) und Volker Schlöndorff
1974, beginnt Henze mit «Lieber Volker» und endet mit: «Lass bitte von Dir hören». Henze macht Schlöndorff erneut ein Angebot. Er hat Interesse, die Musik für Schlöndorffs Film Die verlorene Ehre der Katharina Blum zu schreiben – «und zwar nicht nur aus politischen, sondern auch aus Geldgründen.» Henze fährt fort: «Durch die Arbeit an der Bond-Oper (die übrigens THE RIVER heißen wird) kann ich keine geldverdienenden Arbeiten sonst machen, aber einen Film für Dich, das würde ich schon noch schaffen».
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Der sozio-politische bzw. staatskritische Aspekt von Schlöndorffs Film motiviert nicht nur Henze, er ist auch das Element, das beide Künstler verbindet: Dass Henze, der das «Dritte Reich» als Jugendlicher erlebt hatte, politisch links eingestellt war und im Allgemeinen sich kritisch gegen jede Form von Unterdrückung, Macht und Gewalt stellte, ist eine bekannte Facette seiner Person. Rudi Dutschke gewährte er etwa für mehrere Monate Unterschlupf in seinem Anwesen. Schlöndorff engagierte sich in den 1970er Jahren in der «Roten
Hilfe», einer Organisation die sich bis heute für politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum einsetzt, und drehte unter anderem mit Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder den Episodenfilm Deutschland im Herbst, der die gesellschaftliche Situation, die «Terroristenhysterie», während des RAF-Terrorismus in den 1970er Jahren darstellt (in dem von Schlöndorff produzierten Kurzfilm wird auch die Musik zu Katharina Blum verwendet). Die Musik zu Katharina Blum ist wohl die reifste und durchdachteste der drei Filmmusiken Henzes. Sie ist auch als Kommentar des Komponisten gedacht, was wohl auch aus seiner politischen Einstellung resultiert; die Filmmusik existiert zugleich als Konzertsuite für kleines Orchester. Die Welt der Liebenden, Katharina Blum und Ludwig Götten, wird in der Filmmusik mit «schönen» Klängen konnotiert. Die Welten der privaten Macht, in Form der Presse, personifiziert durch den Journalisten Töttges, und der staatlichen Gewalt, die die schöne Welt der Liebe zerstört und die Liebenden entzweit, werden mit einer «hässlichen» und «schreienden» Musik verbunden. Wie auch bei der ersten Zusammenarbeit ist das Verhältnis zwischen Regisseur und Komponist nicht autorativ. Im Gegenteil: Henze ist es, der sich abfällig und kritisch gegenüber dem Film (ohne Musik) äußert. «Bei der Katharina Blum hatte er das Gefühl», so Schlöndorff, «der Film sei völlig misslungen, er würde keine Zuschauer kriegen und er müsse nun den Film mit Musik retten».6 Henze kritisierte einen Aspekt des Drehbuchs. Schlöndorff: «Er rief mich an und sagte, es fehle eine Szene. Ich verstand nicht, was er meinte. Er sagte, eine Szene, in der die beiden Liebenden, Katharina und Götten, sich noch einmal begegnen. Ich antwortete, eine solche Szene gäbe es bei Böll nicht, sei auch ganz unwahrscheinlich, da beide ja streng isoliert in getrennten Gefängnissen säßen. Das mag schon sein, insistierte Henze, ‹aber von der Komposition her bräuchte ich gegen Ende ein Rondo, eine Szene, in der Katharina, der verhaftete Götten und die Staatsmacht – das sind die drei musikalischen Themen – noch einmal aufeinandertreffen.»7 Schlöndorff verdankt Henze also eine der stärksten Szenen in seinem Film. Konkret wird hier dargestellt, was der Film zu kritisieren versucht: Die Liebenden treffen sich bei getrennten Gefangenentransporten durch Zufall in einer Tiefgarage, entreißen sich den Polizisten, kommen sich näher, küssen
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sich und werden von den Polizisten gewaltsam getrennt: die Staatsgewalt vernichtet die Liebe. Das Rondo fiel weg, aber die Szene blieb – ohne Musik. Schlöndorff sah in der Dichotomie von Film und Musik einen Pleonasmus; die emotionale Wirkung der Szene entfalte sich am besten ohne Musik.8 In dieser Zeit, in den 1970er Jahren, wird Schlöndorffs und Henzes Verhältnis immer freundschaftlicher. In dem erwähnten Briefwechsel verschwindet das «Maestro», stattdessen verwendet Schlöndorff «Lieber Hans». Auch Henze beginnt seine Briefe mit «Lieber Volker», schreibt zudem einen «halboffiziellen Bettelbrief», in dem er Schlöndorff bittet, Geld für die Beschaffung von Instrumenten zu spenden, da sich Montepulciano diese nicht leisten könne. Er beendet den Brief mit: «Du machst Dich wirklich verdient um eine sehr wesentliche Sache der Musik, wenn du uns hilfst. Sei herzlich umarmt.» In einem Brief von 1984 ist die anfängliche soziale Asymmetrie zwischen Henze und Schlöndorff vollends verschwunden. Letzterer übt unverblümt Kritik an Henzes Filmmusik zu Alain Resnais’ L’amour à mort: «Andererseits bremst es natürlich sehr den Fluss und geht einem, bei aller Qualität auf die Nerven, wenn es so systematisch wird». Möglicherweise liegen diese offene Kritik und das Selbstbewusstsein dahinter auch an seinem Erfolg mit der Verfilmung der Blechtrommel, die Schlöndorff zu einem international renommierten Regisseur machte. «UN AMOUR DE SWANN»
1984 wird die dritte und letzte filmische Zusammenarbeit beendet: Un amour de Swann. Sie entsteht unter enormem Zeitdruck, da Schlöndorff aufgrund von vernichtenden Kritiken aus Paris Teile des Films neu drehen muss. Henze schlägt vor, die Kompositionsarbeit auf drei seiner Studenten zu verteilen: Gerd Kühr, David Graham und Marcel Wengler. Schlöndorff stimmt zu, man trifft sich gemeinsam, und die Aufgaben werden vergeben. Henze gibt genaue Anweisungen, um die herum sich seine Studenten frei bewegen können. Die Kompositionen basieren auf «Compianto» aus Henzes Ariosi für Sopran,Violine und Orchester (1963). Laut Kühr musste das Stück als Variation an den jeweiligen Charakter der Szene angepasst werden. Graham beschreibt die musikalische Arbeit als Balanceakt, da der Film opulent und romantisch angelegt war und man daher zwischen der
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Musik Henzes und diesem romantischen Anspruch changieren musste. «ABER DU VERSTEHST SCHON»
Die Zusammenarbeit von Schlöndorff und Henze ist wohl eine der schönsten Kooperationen zwischen dem Neuen Deutschen Film und der zeitgenössischen Musik. Leider ergab sich nach Un amour de Swann kein weiteres gemeinsamen Filmprojekt. Auch Schlöndorff bedauert das: «Wenn ich einen Film gehabt hätte, wo ich mir seine Musik hätte vorstellen können, dann wär ich wahrscheinlich noch ein Jahr vor seinem Tod zu ihm gegangen.»9 Einen Hinweis auf Schlöndorffs Wunsch, noch einmal mit Henze arbeiten zu können, findet man in den letzten Briefen, die in der PSS aufbewahrt werden. Im Brief vom 1. Juli 1996 schreibt Schlöndorff über seinen Film The Ogre: «Oft hab ich dabei an Dich gedacht – Du wirst verstehen warum, wenn du den Film siehst. Auch als Komponist hatte ich mir natürlich oft gedacht, wie Du es machen würdest. Ich brauchte aber viel Gebrauchsfilmmusik. Die Bilder sind zu grell, der rausgelassene Beelzebub zu dämonisch, dass man noch Zeit/Kraft zum richtigen Zuhören hätte. Damit will ich die Musik, die nun den Film begleitet – von Michael Nyman – nicht verkleinern, aber du verstehst schon.» n 1 Aus dem E-Mail-Verkehr des Verfassers mit Schlöndorff. 2 http://www.volkerschloendorff.com/personen/hanswerner-henze/ (Zugriff: 02.04.2015) 3 ebd. 4 Hommage an Henze, Würdigung von Volker Schlöndorff in der Deutschen Oper Berlin anlässlich des Todes von Hans Werner Henze. 5 Telefonat des Verfassers mit Schlöndorff. 6 Telefonat des Verfassers mit Schlöndorff. 7 http://www.volkerschloendorff.com/personen/hanswerner-henze/ (Zugriff: 02.04.2015) 8 Aus dem E-Mail-Verkehr des Verfassers mit Schlöndorff. 9 Telefonat des Verfassers mit Schlöndorff.
VERLAG
REIHE CONTEMPORE Heft 90 HYUNBAE LEE (*1980) RGB – Musik für Orchestergruppen Kompositionspreis des Deutschen Koordinierungsrates zur Woche der Brüderlichkeit 2013 zum Thema „Sachor (Gedenke): Der Zukunft ein Gedächtnis“. Das Werk wagt einen interessanten Brückenschlag durch die Verbindung traditioneller kompositorischer Techniken des 18. Jh. mit neuen Klangformen. Durch die Teilung des Orchesters in einzelne Ensembles nimmt Lee zudem in aufführungspraktischer Hinsicht Bezug auf die barocke Formenwelt des Concerto grosso/Concertino. PAN 390 . ISMN 979-0-50216-390-7 Preis: 19,00 € (Partitur), Aufführungsmaterial zur Miete Besetzung: 2.1.2.1.-0.2.2.0, Vl solo, Vl 1-3, Va, Vc, Cb, Perk. I/II, Mar., Vibr., Sopran, Klavier Schwierigkeitsgrad: schwer
HEFT 64 CONNY CAMPAGNE (*1922) Tanzfolge (1993) (5‘30) für Gitarre Auftrag des Gitarristen Martin Oser. Eine Bereicherung für die zeitgenössische Gitarrenliteratur. Darin zeigt sich der Kompositionsstil Campagnes, der durch mannigfaltige FolkloreElemente aus dem osteuropäischen Raum geprägt ist. PAN 364 . ISMN: 979-0-50216-364-8 Preis: 10,00 € Schwierigkeitsgrad: schwer
HEFT 61 MICHAEL TÖPEL (*1958) Mattinata für Blockflöte (T/S ad lib.) und Cembalo (Klavier) Bei der dreisätzigen „Morgenmusik“ kann anstelle des Cembalos auch ein Klavier gewählt werden. Die Dynamik passt sich derjenigen der Flöte an. PAN 361 . ISMN: 979-0-50216-361-7 Preis: 14,00 € Schwierigkeitsgrad: mittelschwer bis schwer.
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DOMINANZ DES LINEAREN CHRISTIAN JOSTS «BERLINSYMPHONIE» von Torsten Möller
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Wer schrieb nicht schon alles Nocturnes? Claude Debussy, Frédéric Chopin, Gabriel Fauré und Erik Satie kommen in den Sinn – und nun zählt offenbar auch Christian Jost zu den «Nachteulen». Josts «Nachtstück» heißt BerlinSymphonie. Und was eine Symphonie ist, das dürfte ein 51-jähriger Komponist wissen. Aber auch Berlin kennt Jost gut. Er treibt sich zu spä-
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ten Zeiten gern dort herum, geht ab und an in den berühmten Techno-Club Berghain, präferiert aber ansonsten eher die ruhigen Orte, Bars wie das «Redwood» oder das «Buck and Breck» in Berlin-Mitte. Die «Intensität der Stadt» spiegle seine BerlinSymphonie wieder, sagt Jost. Man darf hinzufügen: Sie tut es unverblümt – ohne Umschweife. Da wäre der stets vorwärts
treibende Beat, meist mächtig unterstützt von vier bis fünf Schlagwerkern. Er bewirkt eine Ruhelosigkeit durch dieses ständige Treiben, das offenbar nur aufhört, um bald darauf von Neuem zu beginnen. So mächtig das Schlagwerk, so mächtig sind auch die Streicher, die Jost oft parallel führt. Dissonanzen sind die Ausnahme. Eingängiges wird wiederholt. Sind es in den län-
NEUES WERK
VON TAIPEI BIS ZÜRICH
Schon nach den ersten Takten ist klar: Christian Jost ist kein Fall für Donaueschingen oder Witten – weder stilistisch noch institutionell noch finanziell. Sein «Erfolg als Komponist», so die Publizistin Christiane Tewinkel vor Kurzem im Tagesspiegel, «beruht nicht zuletzt darauf, dass seine Musik sich tatsächlich einpassen lässt in einen so großen Apparat wie das Konzerthaus, mit eigenem Sinfonieorchester, mit sorgsam abgestimmten Plänen für ein neuartiges Festival und unzähligen weiteren Modalitäten und Sachzwängen.» Seinen Platz hat der erfolgreiche Komponist in den größeren internationalen Konzertund Opernsälen: Kürzlich hatte seine Oper Rote Laterne nach dem Roman Wives and Concubines von Su Tong (Libretto von Jost) Premiere an der Oper Zürich. Sein Orchesterwerk Taipei Horizon – ein Auftragswerk des Taiwan Philharmonic Orchestra und des Nederlands Philharmonisch Orkest – wurde nach seiner Uraufführung im Jahr 2012 des Öfteren nachgespielt. In Trier, in Heidelberg, in Mailand und in der Berliner Philharmonie. Zurück nach Berlin, und damit zurück zur BerlinSymphonie. Schon als sich Jost 2012 für zwei Monate in Taiwan als Composer in Residence des dortigen National Symphony Orchestra aufhielt, liebäugelte er mit einer Symphonie zu seinem Berliner Lebensmittelpunkt, die – wie schon sein während dieser Residence entstandenes Orchesterwerk Taipei Horizon – die städtische Atmosphäre widerspiegelt. Um den urban-vitalen Lebensräumen Ausdruck zu geben, hatte er anfangs den Wunsch, hinter dem großen Orchester noch eine Bigband aufzustellen. Das jedoch war letztlich eine «etwas rahmensprengende Idee», von der in der Partitur aber wenigstens noch ein Altsaxophon in Es und ein klarinettenlastiger Satz übrig geblieben sind. KOMPLEXITÄT, RELATIV
Die Atmosphäre einer Stadt in Musik zu setzen, bedeutet nicht deren klangliche Imitation. Er sei nicht mit dem Handy durch Kreuzberg, Mitte oder Friedrichshain gelaufen, um die Geräuschvielfalt dann per Lautsprecher zuzuspielen oder
auf instrumentalem Wege zu imitieren. In erster Linie ging es um den Ausdruck der Ruhe- und Rastlosigkeit dieser Hauptstadt, deren Tempo ja enorm ist. Ein ostinates Zweiunddreißigstel-Band der Marimba führt den Hörer ein in die Symphonie, die deutlich vom Minimalismus eines Steve Reich oder eines Michael Gordon beeinflusst ist. Die erste Zählzeit betont Jost bewusst durch Akzentuierungen, zusätzlich durch auftaktige Zweiunddreißigstel-Figu-
Steve Reich und dessen an der Tonbandtechnik geschulten Piano Phase (1967). Komponieren ist für Jost mit der Architektur vergleichbar – beides sei einVorgehen in «linearer Vertikalität». Diese Linearität scheint in der BerlinSymphonie allerdings die Oberhand zu behalten. In harmonischer Hinsicht hält sich Jost zurück. Meist sind tonale Muster dominant. Zuweilen streift Jost die Jazzharmonik, die vor allem in den «entrhythmisierten» Zwischenspielen von
© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
geren Schlagwerk-Passagen kurze, prägnante Motive, die den Schub unterstützen, so sind es in den elegischen Zwischenspielen eher ausladende, eingängige Themen, die süffig in den Ohren klingen.
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Christian Jost: «BerlinSymphonie» für großes Orchester, 2014 | Partitur S. 16
rationen vorangegangener Takte (s. Notenbeispiel). Bewusst einfach, aber zugleich auf Wirkung bedacht, ist der erste Part der insgesamt vier Teile umfassenden Symphonie. Später geht es komplexer zu, nicht im Sinne eines Brian Ferneyhough, eher im Geiste der Tempoüberlagerungen eines
Klarinetten und Streichern getragen wird. Letztlich hat ja auch das mit Berlin zu tun – mit der Berliner Jazz-Euphorie der 1920er Jahre und damit auch mit einer Epoche, von der sich Jost ästhetisch bewusst nicht emanzipieren will. n
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BREITSEITE FÜR DIE BRATSCHENSAITEN DAS FESTIVAL «VIOLA MODERNA» IN ESSEN LOCKTE STUDIERENDE UND KOMPONISTEN ZUGLEICH
Fotos: © Helena Grebe
von Jörg Loskill
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Sie sind in Orchesterkreisen nach wie vor beliebt – die Witzeleien und der Spott über die Gruppe der Bratscher und Bratscherinnen. Warum fürchten die sich immer auf Friedhöfen? Weil sie dort zu viele Kreuze finden… Hahaha... Oder: Wie viele Lagen gibt es auf der Viola? Antwort: zwei. Die erste Lage und die Notlage… Anhaltendes Gelächter bei der Orchesterprobe. Lachen die Bratschen-Interpreten mit? Die Deutsche Viola-Gesellschaft geht zwar nicht konkret gegen diese (uralten) Klischees vor, fordert aber bei fast jeder Gelegenheit die Kollegen in den Ensembles auf, die Witze nicht weiter zu erzählen, vor allem nicht außerhalb der Streichergruppen in Richtung Hörerschaft. Man solle sich solidarisch erklären – ein frommer Wunsch. Man solle sich an Komponisten und Bratschern wie Paul Hindemith und Georg Philipp Telemann (er schrieb das erste Solostück für Bratsche) erinnern.
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«VIOLA MODERNA»
Um das Spektrum dieses einst in sinfonischen Partituren fast vergessenen Instruments zu dokumentieren, um ihren Einsatz gerade in zeitgenössischen Kompositionen vorzustellen, um junge Menschen für dieses Genre entsprechend zu begeistern, unternahm die Essen-Werdener Folkwang Universität der Künste gemeinsam mit der genannten Viola-Gesellschaft erstmals den Versuch, mit «Viola moderna» im Ruhrgebiet ein Festival für die «große Geige» zu etablieren. Emile Cantor, Professor für Bratsche an der Folkwang Universität und Mitinitiator des Festivals, bringt das Ergebnis auf den Punkt: «Das war eine gute Gelegenheit, Professoren und Dozenten aus diesem Fachgebiet mit hochtalentierten und interessierten Studenten zusammenzubringen.» Und weiter: «Wir waren überrascht, dass 26 Aktive bei den Meisterkursen und 24 bei den Improvisations-Workshops teilnahmen.» Das Echo innerhalb der
Akademie und aus benachbarten Orchestern war groß, die Resonanz bei den Seminaren und Konzerten stark. Mit anderen Worten, wie sie von Garth Knox, einem zweiten prominenten Lehrer (und Star-Solisten), geäußert wurden: Es war ein «Schub für unsere Spezies», von dem die jungen, aber auch die bereits älteren und längst in Diensten stehenden Bratschisten profitieren können. Im Pina-Bausch-Theater (Alte Aula), im Kammermusiksaal, in einzelnen Klassenräumen und in der Neuen Aula ging es konsequent und pädagogisch seriös zur Sache – mal in Meisterkursen mit namhaften Repräsentanten der Sparte, mal in öffentlichen Konzerten, mal in Diskussionen, mal in Vorträgen. Mit renommierten Referenten wie Cantor und Knox sowie Werner Dickel, Gareth Lubbe und Vincent Royer, allesamt gefragte Könner auf den Viola-Saiten, hatte man die Elle hoch gelegt. Und man lud Preisträger des Frankfurter Hindemith-Wettbewerbs bei den Konzertprogrammen ein – bahnt sich auf diesem Terrain eine neue musikalische Achse zwischen den Zentren an Ruhr und Main an? Der Anfang jedenfalls ist gemacht. BRATSCHE IM BOOM
Der «Bratschen-Markt» hat in jüngster Zeit kräftige Impulse erhalten. Tabea Zimmermann und Nils Mönkemeyer haben internationale Mitstreiter bekommen, die ebenfalls auf höchstem Niveau die mehr oder minder bekannte Literatur bedienen. Bei «Viola moderna» war gerade diese jedoch nicht gefragt. Zeitgenössisches stand im Fokus – als Anreiz für Komponisten, sich mit diesem Instrument solistisch zu beschäftigen, und natürlich als Ansporn für die Studierenden, ein Auge (und mehr) auf dieses Fach zu werfen. Denn wer hat seit den 1950er Jahren nicht alles etwas Experimentelles und Avantgardistisches für die Bratsche geschrieben? György Ligeti und Giacinto Scelsi, Bernd Alois Zimmermann, Isang Yun, Malika Kishino, Bruno Maderna, George Benjamin, John Trowner, Horatio
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ORTE NEUER MUSIK
Viola plus Klarinette, plus Klavier, plus Streichergruppe, plus Trio oder Quartett, zwei Bratschen im Dialog, plus Schlagzeug. Langweilig wurde das Angebot somit in keinem Moment. Der vielstimmige Einsatz, bei dem die Bratsche jeweils mit baritonalem Klang selbstbewusst aufwartete, sogar auftrumpfte, unterstrich die Behauptung Cantors, dass die Viola noch weitere Anteile an Kammermusikprogrammen erobern könne. Die Kompositionen der genannten Tonschöpfer riefen nahezu das gesamte technische und virtuose Einsatzspektrum für die Viola ab: vom Flageolett bis zu Dreifachgriffen, von höchsten Lagen bis zum Klopfen auf den Resonanzkörper, von pizzicati bis zum Springbogen, vom Saitenkratzer bis zur neuen Klangraffinesse – oft konnte man nur staunen über den Fundus des Experimentellen und Exotischen. Und über den meisterlichen Vortrag der Solisten. Sie alle waren die beste Werbung für dieses Instrument. Eine Ausstellung in den Räumen der Folkwang Universität, an der zurzeit 24 Viola-Talente ausgebildet werden, informierte über die Entwicklung der Bratsche als Solo- und Ensembleinstrument. Etwa 70 Jahre wur-
Vom Publikum sehr gut aufgenommen: Viola plus …
den in Wort, Bild, Dokument und Ton berücksichtigt – als Ergänzung zum Live-Geschehen, zu dem übrigens auch die praktische Anleitung zur freien Improvisation auf den Saiten gehörte. n
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INFO
n «Viola Moderna» fand vom 23. bis zum 28. März 2015 an der Folkwang Universität der Künste in Essen-Werden statt. Weitere Informationen unter www.violamoderna.de.
ALEXANDER SKRJABIN (1872-1915)
MA 6011-01 · 03/15
Radulescu und Luciano Berio, selbstverständlich auch die beteiligten Dozenten Knox, Dickel und Cantor. Letztere schieben den Muff, wenn es ihn denn wirklich einmal gegeben haben sollte, mit ihrem Einsatz rigoros zur Seite. Cantor erhofft sich gar «einen internationalen Impuls für meine Sparte». Und weiter: «Wir sind sicher, dass die Teilnehmer/-innen für eine lange Zeit auf diese Woche bauen können.» Dass es gerade jetzt diesen «Boom» rund um die Bratsche gibt, ist auch dem Deutschen Musikrat zu verdanken, der die Viola 2014 zum «Instrument des Jahres» ernannte und damit für ein bundesweites Interesse sorgte. Zimmermann, Mönkemeyer und Co. haben das Repertoire belebt, mit ihrer Spielfreude dem Instrument Aufmerksamkeit geschenkt, zugleich Musikschulen und -hochschulen animiert, die Reputation des einst unpopulären Instruments aufzuwerten. Das löst zwar nicht ad hoc einen Rummel um die Bratsche aus, aber mittelfristig zahlt sich das aus – darin waren sich alle Essener Professoren einig. Was vom Publikum (mehrheitlich Studierende!) sehr gut aufgenommen wurde, waren die Kombinationsmöglichkeiten:
Werke für Klavier Trois Morceaux op. 2 BEL 535 Zwölf Etüden op. 8 BEL 145 Prélude et Nocturne op. 9 für Klavier (linke Hand) BEL 148 Fantasie h-Moll op. 28 BEL 347 Poème satanique op. 36 BEL 162
ZUM 100. JAHRESTAG
Sonate Nr. 1 f-Moll op. 6 BEL 144 Sonate-Fantasie Nr. 2 gis-Moll op. 19 BEL 156 Sonate Nr. 3 fis-Moll op. 23 BEL 157 Sonate Nr. 4 Fis-Dur op. 30 BEL 159 Belaieff wird exklusiv ausgeliefert von Schott Music www.belaieff-music.com www.schott-music.com
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KLANGGÄRTEN UND HARTE STOCHASTIK IM ENSEMBLE BOSWIL STIMMT SICH DER INTERNATIONALE MUSIKERNACHWUCHS AUF DIE MUSIK DER GEGENWART EIN
© Max Nyffeler
von Max Nyffeler
n Dass Provinz und Internationalität kein Gegensatz sein müssen, weiß man, seit Joseph Haydn im burgenländischen Eisenstadt «originell wurde», wie er selbst sagte, und es mit seinen kompositorischen Neuerungen bis nach Paris und London zur Berühmtheit schaffte. Im Zeitalter der kurzen Verkehrswege und der schnellen Kommunikationsmittel ist dieser Gegensatz noch weiter verblasst. Weltkunst auf dem Land heißt daher ein Band, der im Jahr 2000 erschien und die Aktivitäten des Künstlerhauses Boswil dokumentiert. In diesem Bauerndorf im Schweizer
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Kanton Aargau, wo heute Kuhweiden, Gewerbegebiet und die Häuser der Pendler ins 40 Kilometer entfernte Zürich dicht nebeneinander liegen, traten vor einem halben Jahrhundert noch Yehudi Menuhin, Pablo Casals und Clara Haskil in Wohltätigkeitskonzerten zugunsten notleidender Künstler auf. In den 1970er und 1980er Jahren machten dann die von Klaus Huber geleiteten Kompositions- und die von vielen deutschen Teilnehmern besuchten Kritikerseminare international von sich reden. Heute ist die maßgeblich vom Kanton Aargau alimentierte Stiftung Künstlerhaus
Boswil ein Musikzentrum mit überregionaler Ausstrahlung, in dem Konzerte mit internationalen Solisten, Weiterbildungskurse und musikerzieherische Projekte für eine gut gefüllte Agenda sorgen, für eine fruchtbare Mischung, die mit ihrer Vernetzung der Disziplinen Zukunftscharakter hat. Sie entfaltet ihre Wirkung jenseits von Bologna-Zwängen und dem akademischen Punktewesen und vermittelt dem schweizerischen Musikleben nachhaltige Impulse. Einen nicht geringen Stellenwert in diesem subtil austarierten System von Lehren, Lernen und Konzertieren nimmt das En-
ORTE NEUER MUSIK
semble Boswil ein. Das Nachwuchsensemble für Neue Musik feiert im kommenden Oktober sein zehnjähriges Bestehen. Gegründet wurde es 2005 von der in Luzern lehrenden Komponistin Bettina Skrzypczak, die als künstlerische Leiterin bis heute für das Programm und die personelle Zusammensetzung verantwortlich ist. Was in Zielrichtung und Arbeitsweise zu Beginn noch den Charakter eines Experiments hatte, ist heute institutionell gut verankert. Fortgeschrittene Studierende von Musikhochschulen aus der deutschen, französischen und italienischen Schweiz kommen jeden Oktober für eine Probenwoche nach Boswil, wo sie unter der Leitung eines erfahrenen Dirigenten ein Konzertprogramm mit Werken von der Nachkriegsavantgarde bis heute einstudieren. Nach der Premiere in der denkmalgeschützten, als Konzertraum eingerichteten Alten Kirche Boswil geht es dann auf Tournee durch vier bis fünf Schweizer Städte.Von den Ensemblemitgliedern – die größte Besetzung umfasste bisher 19 Spieler – wechselt jährlich rund die Hälfte, wie auch der Dirigent jedes Jahr ein anderer ist. Bisher waren es Jürg Wyttenbach, Peter Hirsch, Rüdiger Bohn, Pierre-Alain Monot, Beat Furrer, Tsung Yeh, Wojciech Michniewski, Zsolt Nagy und der hochbegabte Seitaro Ishikawa, der zurzeit in Düsseldorf studiert. AUS DER AKADEMISCHEN ENGE IN DIE TÄGLICHE PRAXIS
Ziel dieses strukturell flexiblen Unternehmens war von Anfang an, die jungen Musikerinnen und Musiker aus der akademischen Enge heraus an die tägliche Praxis der zeitgenössischen Musik heranzuführen und sie mit dem Tourneealltag vertraut zu machen. Initiativen wie etwa die 2003 gegründete Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA) gab es vor einem Jahrzehnt in der Schweiz in der freien Szene noch nicht; auch innerhalb der Hochschulen gab es das nur in Ansätzen, was sich aber inzwischen geändert hat. Skrzypczak, die sich an Erfahrungen aus ihrer Studienzeit in Polen erinnern konnte, hatte die Idee, diese Lücke zu füllen, und das Künstlerhaus Boswil war bereit, die nicht geringen Kosten hierfür zu tragen. Das Ensemble ist inzwischen zu einem schweizweit bekannten Markenzeichen der Stiftung geworden. Über die Resonanz der aktuellen Konzerttourneen hinaus haben seine Aktivitäten auch nachhaltige Auswirkungen, was vor allem an den individuellen Biogra-
fien abzulesen ist. Manche Ensemblemitglieder haben an Einrichtungen wie der IEMA teilgenommen und sind so in die internationale Ensembleszene hineingewachsen, andere wurden zu Gründern und festen Mitgliedern von neuen Gruppierungen wie dem Berner Ensemble Proton oder dem Ensemble Lemniscate in Basel. In seiner Zusammensetzung ist das Ensemble Boswil ein Spiegelbild der schweizerischen Studienlandschaft, vielleicht der durchglobalisierten Schweizer Gesellschaft überhaupt.Von den 17 Mitgliedern des vergangenen Jahres kamen nur drei aus der Schweiz, die übrigen stammten aus Italien, Argentinien, Spanien, Frankreich, Japan, Polen, Deutschland, Litauen, England, den USA und aus Russland. So hält gleichsam durch die Hintertür wieder die Internationalität Einzug, die in Gestalt der musikalischen Koryphäen schon vor einem halben Jahrhundert zum Boswiler Erscheinungsbild gehörte. PLURALISTISCHE PROGRAMME
Die Programme des Ensembles sind pluralistisch angelegt. Die Studierenden sollen mit maßstabsetzenden Werken der zeitgenössischen Musik seit dem Zweiten Weltkrieg bekannt gemacht werden – die einzige «historische» Ausnahme war Octandre von Edgar Varèse im Eröffnungsjahrgang 2005. Kombiniert wurde Varèse mit Musik von Giacinto Scelsi, Gérard Grisey, Morton Feldman und Beat Furrer. Als stilübergreifende Klammer dient jeweils ein Motto. Unter «Musik der sechziger Jahre» stand zum Beispiel Bruno Madernas improvisatorische Serenata per un Satellite neben dem stochastischen ST/10-1,080262 von Iannis Xenakis, Kazimierz Serockis Swinging Music neben dem Kammerkonzert György Ligetis und der Michelangelo-Vertonung La Notte von Jacques Wildberger. «Blick nach Osten» legte 2008 den Fokus auf Komponisten aus Mittel- und Osteuropa. Unter «Giardini sonori» wurde 2009 dem damals 85-jährigen Klaus Huber mit zwei Werken die Referenz erwiesen: mit dem Kammerkonzert Intarsi – dessen letzter Satz ist mit «Giardino arabo» überschrieben – und dem Trio Schattenblätter. Abenteuer der besonderen Art bildeten die Programme von 2010 und 2014 mit Schwerpunkten auf Fernost: Hier handelte es sich um Musik ausschließlich chinesischer bzw. japanischer Komponisten. Eine größtmögliche Annäherung an die den meisten Ensemblemitgliedern fremden Kulturen ga-
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rantierten die Dirigenten: der in den USA und in Fernost tätige Chinese Tsung Yeh sowie Seitaro Ishikawa. Das Konzert mit Werken von Toshio Hosokawa, Joji Yuasa, Toru Takemitsu und Misato Mochizuki war vermutlich das erste rein japanische Programm, das in der Schweiz je gespielt wurde. Das Zustandekommen dieser beiden Länderprogramme verdankte sich der Zusammenarbeit mit Culturescapes, einer spartenübergreifenden Einrichtung, die mit staatlicher Unterstützung jährlich solche Länderporträts durchführt und dabei Veranstalter aus der ganzen Schweiz einbezieht. So kamen da, wo die Konzerte in das Gesamtprogramm von Culturescapes integriert waren, stattliche Besucherzahlen zusammen. Das Publikum ist nach Zusammensetzung und Interesse höchst unterschiedlich. Bei den Konzerten in Hochschulen beschränkt es sich meist auf akademische Insider, was aber kompensiert werden kann, wenn sich Drittveranstalter wie eine lokale IGNM-Sektion oder eine bestehende Konzertreihe beteiligen. KOOPERATIONEN
Die interessanteste Besucherstruktur ergibt sich jedoch bei Kooperationen mit musikfernen Institutionen. So etwa das Konzert, das im Rahmen der Tournee 2009 im Palais des Nations der UNO in Genf stattfand und viele Mitarbeiter der internationalen Organisationen anlockte, oder das Gastspiel 2012 im Paul Scherrer Institut, der Kernforschungseinrichtung der Eidgenössischen Technischen Hochschule, das eine Berührung von Musik und Wissenschaft ermöglichte. Bei solchen Gelegenheiten erweist sich, dass die Neue Musik keineswegs so gesellschaftsfern ist, wie es oft behauptet und durch eine unflexible Veranstalterpolitik manchmal leider auch bestätigt wird. Das ist nicht die geringste Aufmunterung für einen Interpretennachwuchs, der sich der Musik der Gegenwart verschrieben hat. n
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INFO
n www.kuenstlerhausboswil.ch/ort-der-musik/ensembleboswil n www.bettina.skrzypczak.com n www.ensembleproton.ch n www.ensemblelemniscate.com
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Fotos: © Kurt Rade
MEISTER DES «INSTANT COMPOSING» GEORG GRAEWES WEG ZWISCHEN IMPROVISATION UND KOMPOSITION von Holger Pauler
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Zum Frühlingsanfang dieses Jahres lud das Kunstmuseum Bochum ein zur sonntäglichen Matinée. Anlass war die Eröffnung einer Ausstellung mit Fotografien und Zeichnungen aus der Sammlung der Sepherot Foundation; begleitet wurde die Feier von der Uraufführung von words|vows|gifts|tears – Sechs Selbstgespräche nach William Shakespeare für Sopran,Violoncello und Klavier des Pianisten und Kom-
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ponisten Georg Graewe. Es erklang eine konzertante Vorabversion; das eigentliche Werk entsteht zur Zeit, weitaus umfangreicher und für Sopran, Instrumentalensemble und Videoprojektionen angelegt. Die reduzierte Instrumentation sowie das reduzierte Zeitfenster von knapp 15 Minuten hatte der gebürtige Bochumer eigens für die Ausstellungseröffnung arrangiert. Basis der Selbstgespräche bilden Textpassagen verschiedener
Frauengestalten aus Shakespeares Theaterstücken (u. a. Cressida, Imogen, Beatrice, Tamora). Reflektierend begleitet von Cello und Klavier, changiert die Gesangspartie zwischen Zitat, Anverwandlung und Kommentar und lässt auf diese Weise die Shakespeare’schen Figuren wie in einer imaginären Galerie in Erscheinung treten. Das Stück fügt sich nahtlos in Graewes Gesamtwerk ein. Es spiegelt musikalische
IMPROVISATION
Er kann dabei auf bedeutende Vorbilder verweisen. Arnold Schönberg prägte den Satz: «Komposition ist verlangsamte Improvisation.» Auch Daniel Martin Feige geht in seiner Philosophie des Jazz darauf ein: «Man kann über den Jazz nicht nachdenken, ohne zugleich kontrastiv über andere Arten von Musik und hier vor allem die Tradition der europäischen Kunstmusik nachzudenken. Letztere ist deshalb ein wesentlicher Bezugspunkt für das Nachdenken über den Jazz, weil sie lange Zeit als paradigmatische künstlerische Musik überhaupt galt.»1 Graewe macht dies an prominenten Beispielen fest: «Die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts ist oftmals geprägt durch mehr oder weniger gleichaltrige Figuren, die zwar in ihren ‹Paralleluniversen› wirken, sich jedoch künstlerisch ergänzen. Das zieht sich quer durch alle Musikarten, im Jazz und der europäischen Kunstmusik ist mir das jedoch besonders aufgefallen. So gibt es bei John Coltrane Motive und Entwicklungen in manchen Bereichen seiner Arbeit, die ja immer auch eine forschende, suchende war, die ich auch bei Pierre Boulez erkennen kann». Und weiter: «Allein die Boulez’sche Unterscheidung von pulsierender und amorpher Zeit, manifestiert sich in Coltranes Spielweise während seiner ‹sheets of sound›-Periode, also etwa gleichzeitig.» Boulez hat in seinen Douze Notations für Klavier früh versucht, das Verhältnis von Ordnung und Freiheit in einem begrenzten Rahmen zu beschreiben, um später den Ansatz auf größere Formationen zu übertragen. Der Zyklus Notations pour orchestre ist eine Neu-Interpretation der frühen Klavierstücke. Die dort schematisch notierten Skizzen und Ideen entfalten sich mithilfe des Klangmediums Orchester um ein Vielfaches, bis schließlich die Verbindungen zwischen den Klavier- und Orchesterstücken beinahe verschwinden und sich erst bei einem genaueren Studium wieder erschließen. SOLO-PIANO ALS BASIS
Erfahrungen wider, die der 58-Jährige im Laufe seiner mittlerweile vier Jahrzehnte andauernden Tätigkeit als Pianist und Komponist gesammelt hat. Europäische Kunstmusik und Jazz stehen bei ihm gleichberechtigt nebeneinander, freie und streng konstruierte Parts wechseln einander ab. «Es ist mir immer wichtig zu zeigen, dass sich für mich Komposition und Improvisation gegenseitig bedingen», sagt Graewe.
Das ist eine Arbeitsweise, die sich auch auf Graewe übertragen lässt. Für ihn bilden Solokonzerte und -aufnahmen oft die Grundlage für die Entwicklung größerer Kompositionen und für die Arbeit mit Ensembles, während im Solospiel die gesammelten Erfahrungen aus Komposition und Improvisation gleichermaßen einfließen. Innerhalb der freien Improvisation gehört das Solo längst zum Standard prägender Pianisten.
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Die Neue Musik kommt ihm oftmals zu starr und zu ignorant daher | Georg Graewe
Irène Schweizer, Cecile Taylor und Alexander von Schlippenbach haben auf diesem Wege ihre individuelle Stimme entwickelt und verfeinert. Graewe nahm sein erste Soloalbum im Jahr 1987 auf: Six Studies for Piano Solo – bis heute eine seiner wichtigsten Aufnahmen. Im Herbst vergangenen Jahres erschien mit Stills and Stories das vierte Soloalbum. Die Musik war Ende 2010 eingespielt worden, lagerte aber anschließend gut vier Jahre unberührt im Archiv, bis sich Graewe entschloss sie zu veröffentlichen: «Aus etwa fünf Stunden brauchbaren Materials musste ich schließlich knapp 80 Minuten auswählen». Übrig geblieben sind 23 Stücke, die zu sechs mehrsätzigen Sammlungen nebst Nachsatz zusammengefasst sind. Einige davon sind Zustände («stills»), andere eher narrativ («stories») oder kommentierend. Die meisten Stücke sind recht kurz und intim. «Für mich hat das tatsächlich etwas von jenen Klavieralben, wie sie noch bis ins frühe 20. Jahrhundert verbreitet waren – Träume am Kamin von Max Reger etwa oder Sports et Divertissements von Erik Satie.» Graewes Klavierspiel ist geprägt von der Suche nach dem Klang in all seinen Schattierungen, der Suche nach Klarheit inmitten von Komplexität, gerade dort, wo die Musik sich verdichtet, überlagert und sich letztlich wieder aufhebt. Am besten lässt sich die Herangehensweise bei Trio-Auftritten mit dem Cellisten Ernst Rejseger und dem Schlagzeuger Gerry Hemingway erkennen. Seit gut einem Vierteljahrhundert bilden die Musiker eine der lebendigsten Formationen der frei improvisierenden Szene. «In unserem Trio entsteht alles spontan in der Interaktion», so Graewe. «Jeder von uns ist mit zum Teil konträren Dingen beschäftigt, wir treffen uns allerdings regelmäßig auf einem Terrain, das wir
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für die Dauer des Konzerts betreten und anschließend wieder verlassen». Der niederländische Pianist und Bandleader Misha Mengelberg hat dafür den Begriff «Instant Composing» geprägt. FREE JAZZ
Armin Köhler / Bernd Künzig (Hg.) und+ Komponisten, ihre Musik und ihre anderen Künste Schott Music, Mainz 2014, 184 Seiten, 29,95 Euro Bestellnr. NZ 5038 Der reich bebilderte Katalog ist zugleich ein Essayband, der sich mit dem Musikdenken, wie es sich gegenwärtig durch digitale und multimediale Einflüsse in Richtung Diversifikation und Spezialisierung verändert, auseinandersetzt. Eingeladen wurden KomponistInnen, die sich über ihr musikalisches Tun hinaus auch in anderen Metiers äußern und von den Wechselbeziehungen der Disziplinen profitieren. Im Zentrum steht dabei nicht die große neue Welt hybrider oder transdisziplinärer künstlerischer Produkte als vielmehr solche, die durchaus auf die Autonomie der jeweiligen Kunstsparte setzen. Folgende KomponistInnen sind vertreten: Peter Ablinger, Ondrˇej Adámek, Jaap Blonk, Friedrich Cerha, Renald Deppe, Pascal Dusapin, Brian Ferneyhough, Mazen Kerbaj, Johannes Kreidler, Kryštof Marˇatka, Chris Newman, Josef Anton Riedl, François Sarhan, Chiyoko Szlavnics, Salvatore Sciarrino, Manos Tsangaris und Jennifer Walshe. Bestellen Sie bei: zeitschriften.leserservice@schott-music.com Tel: ++49 (0) 61 31 246 857
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Die ersten Aufnahmen Graewes von 1976 mit seinem Quintett sind stark vom Free Jazz geprägt: New Movements heißt die mittlerweile vergriffene Schallplatte, die bei FMP, einem der wichtigsten Labels für die frei improvisierende Szene in Europa, erschien. Die Musik gehorcht einer gewissen Orthodoxie des Free Jazz, obwohl die Erschütterung des musikalischen Establishments bereits ein gutes Jahrzehnt zurücklag. In den 1980er Jahren öffnete sich die Szene anderen musikalischen Formen und Inhalten. Graewe gründete das GrubenKlangOrchester. Die Gruppe widmete sich dem Repertoire der Bergmannskapellen und später einigen Kompositionen Hanns Eislers. Mehr als 50 Aufnahmen als Leader und Sidemen folgten. Dazu kamen seit den 1990er Jahren diverse Aufenthalte in Kanada und den USA:Vancouver, New York, San Francisco und Chicago. NEUE MUSIK
In dieser Zeit begann Graewe auch, sich verstärkt mit der Neuen Musik zu beschäftigen. Seit einem guten Jahrzehnt komponiert er neben Kammermusik und Orchesterstücken auch Opern. Drei Bühnenwerke entstanden bisher: Kopenhagen (2003), Quicksilver (2006) und Barbara Strozzi oder die Avantgarde der Liebe (2010). Musikalisch nehmen sie einen wichtigen Platz in Graewes Œuvre ein, auch wenn seine größere Liebe nach wie vor der Improvisation gilt. «Obwohl ich mich in letzter Zeit verstärkt der Komposition gewidmet habe, arbeite ich weiterhin lieber im Rahmen des Jazz, weil sich dort etwas gehalten hat, was ich in der Neuen Musik vermisse: Die Fantasie, das Lebendige im Musizieren». Die Neue Musik komme oftmals zu starr und zu ignorant daher. «Beinahe jeder Jazzmusiker hat sich mit Stockhausen oder Schönberg und mit den entsprechenden theoretischen Grundlagen auseinandergesetzt, aber kaum ein Komponist hat sich mit Derek Bailey oder Anthony Braxton beschäftigt, sollte er überhaupt ihre Namen kennen», so Graewe. Gerade Braxton war es, der als erster konsequent versuchte, die scheinbaren Antipoden europäische Kunstmusik und Jazz miteinander zu verbinden und auf eine musi-
kalische wie theoretische Grundlage zu stellen. Braxton spricht bei seiner Quartettmusik auch von «Co-ordinate music», von einer großen Plattform, die «eine Architektur aus stabilen Logiken demonstriert, in der sich die Musiker in einem Netz architektonischer Welten bewegen und nach den Gesetzen der architektonischen Strukturen improvisieren und interagieren.» RENOMMIERTER JAZZPREIS
Im Herbst 2015 wird Graewe im Rahmen des Festivals «Enjoy Jazz» mit dem im internationalen Vergleich immer noch bescheiden mit 15 000 Euro dotierten, dafür aber umso renommierteren SWR-Jazzpreis ausgezeichnet. «Ich bin natürlich froh darüber, auch wenn eine Auszeichnung für das Lebenswerk eines Künstlers immer etwas Schräges hat», lacht Graewe. Jedenfalls fühle er sich aktuell nicht so, als habe er den Höhepunkt bereits hinter sich. Vor einigen Jahren hat Graewe seinen Wohnsitz nach Wien verlegt, in die Geburtsstadt Schönbergs, zugleich aber auch die Stadt mit der höchsten Dichte an Jazzclubs im deutschsprachigen Raum. Auf der Agenda der beiden nächsten Jahre stehen neben Solokonzerten und weiteren Auftritten eine DVD-Produktion mit GraeweReijseger-Hemingway, die Arbeit mit seinem neuen Trio (mit dem Kontrabassisten Peter Herbert und mit dem Schlagzeuger Wolfgang Reisinger). Auch mit dem Saxofonisten John Butcher und dem Schlagzeuger Mark Sanders sind Auftritte geplant. Von beiden Formationen (dem «Wiener» und dem «Londoner Trio», wie Graewe sie nennt) sollen noch in diesem Jahr CDs veröffentlicht werden. Graewes aktuelle Kompositionspläne beinhalten ein Konzert für Klavier und Orchester sowie eine Oper auf Robert Musils Die Schwärmer. Einen strengen Zeitplan gibt es nicht. Das würde auch nicht zu seiner Arbeitsweise passen. n 1 Daniel Martin Feige: Philosophie des Jazz, Berlin 2014, S. 17.
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INFO n Georg Graewe: Stills & Stories Random Acoustics CD028 (2015)
n grubenklang.reloaded 2010 Random Acoustics 120 Seiten plus DVD (2011)
PORTRÄT
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© Konrad Fersterer
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AUS STILLE GEBOREN DIE MUSIK DER UKRAINISCHEN KOMPONISTIN ANNA KORSUN von Martin Tchiba Im September 2014 gewann Anna Korsun den Preis der GaudeamusMusikwoche in Utrecht. Ihre «auffallende Unbefangenheit und große Hingabe an Material und Form» stellten den «konstanten Faktor» in ihrer
Das Ringen um Gleichgewicht: Auf der verformbaren Asthenosphäre, der zweitäußersten Schicht des Erdkörpers, «schwimmt» die starre Lithosphäre, die sich bei Belastung absenkt, bei Entlastung wieder aufsteigt. Im Klavierquintett Isostasie (2011) von Anna Korsun wird dieses geologische Prinzip Klang. Die Komponistin betrachtet jahrhundertelange Prozesse im Zeitraffer, komprimiert die Bewegungen der Erdkruste zu großzügigen Glissandi – es ächzt, quietscht, schreit. Eine nahezu berstende Spannung herrscht zwischen Klavier und Streichquartett, gut zehn Minuten lang. Und dann ist es still. Beim Streifzug durch Korsuns Œuvre fällt auf, dass sie sich in den meisten ihrer Arbeiten konsequent auf eine einzige – oft recht kompakte – kompositorische «Aufgabenstellung» pro Werk konzentriert. Diese allerdings wird in aller Ausführlichkeit «durchleuchtet», sodass auch aus einfachsten Ideen hochdifferenzierte Partituren resultieren. Das gilt für Isostasie ebenso wie für das Kammermusikstück Dream of a Whale (2010), für welches Korsun die «Erforschung der Langsamkeit» als Sujet wählte. Laut Anweisung der Komponistin soll das Werk von den Musikern erst in zügigerem, dann in zunehmend langsamerem Tempo geprobt werden, bis schließlich – nahe der sensiblen Grenze, an der sich die Strukturen in Einzelereignisse auflösen – das subjektive «as slow as possible» erreicht wird. Es geht abwärts, hinunter in die unwirtlichen Tiefen der Ozeane, die Heimat gigantischer Meeressäuger, deren Gesang Korsun in ausgedehnte Glissandi übersetzt. Eine düster-fesselnde Poesie ist es, die sich hier ob einer gelungenen Klang-Melange aus Horn, Bassposaune, tiefer Stimme,Tomtom und zwei Kontrabässen entfaltet, zehn Minuten im Bassregister verweilend. Der eigentlich erschütternde Moment findet sich am Ende des Stücks: Plötzlich schießt das Geschehen, begleitet von einem heftigen accelerando, in die Höhe; ein leidenschaftliches Aufbäumen ist das, gegen die Dunkelheit, gegen die Langsamkeit. Die beinahe kathartische Wirkung dieses abschließenden Abschnitts resultiert aus den vorhergegangenen zehn Minuten, aus dem Mut, den Aufenthalt am untersten Limit der Tempo-Skala fast irritierend ausführlich zu gestalten, sodass das Verlassen dieses Segments tief aufatmen lässt. Korsun wagt viel, reizt Extreme aus.
Arbeit dar, so die Begründung einer von Korsuns Musik «tief berührten» Festival-Jury. Das Werkverzeichnis der 1986 im ostukrainischen Donezk geborenen Komponistin, die bei Moritz Eggert in München studiert hat und zur Zeit als Stipendiatin der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart lebt, zählt bereits knapp fünfzig Einträge.
«BURST A BALLOON»
In UnderSurFace für Flöte, Oboe, Horn,Violine, Violoncello und Klavier (2012) gibt es ebenfalls einen derartigen Bruch kurz vor Schluss: In den ersten acht Minuten entwirft Korsun
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© Anna Korsun
Anna Korsun: «Wehmut» für 5 Stimmen, Violine, Kontrabass und Klangobjekte, 2011 | Beginn
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eine leise, von zittrigen Glissandi, von zu Trillern gesteigertem Vibrato und außerdem von flüchtigen Einzelaktionen geprägte Musik. Die durch den Pianisten auszuführende Aktion «burst a balloon» markiert zu Beginn der letzten Minute einen Schnitt, nach dem sich die im ersten Teil angestauten Emotionen wuchtig entladen. In The Song of a Fish für Stimme solo (2010) untersucht Korsun die «Interaktion» der – wie sie es ausdrückt – «psychologisch gefärbten Sphären» Harmonie und Disharmonie. Damit assoziiert sie auch das Aufeinandertreffen «melodischer und nichtmelodischer Elemente», den klanglichen Kontrast zwischen Vokalen und Konsonanten, ferner die Divergenz zwischen in sich ruhenden Strukturen und solchen, die sich abrupt verändern. Im Laufe ihrer komponierten Suche durchschreitet sie unterschiedliche Modalitäten der Interaktion: «das Koexistieren, das Sich-Vergleichen, das Konflikte-Austragen, das Sich-gegenseitigBeeinflussen, das Sich-gegenseitig-Verdrängen, das Sich-gegenseitig-Durchdringen». Dies wissend, lassen sich all diese Konstellationen tatsächlich in der Partitur wiederfinden. Noch spannender jedoch ist es, an Korsuns Lippen zu kleben, zu verfolgen, wie sie, aus einem trotz einiger charmanter Klangkreationen (wie dem «sound of a kiss») letztlich doch recht sparsamen Material-Pool schöpfend, durch feinste Nuancierung der Stimmfarbe eine ununterbrochen fesselnde Musik zustande bringt. Nur in wenigen ihrer Vokalwerke verwendet Korsun Poeme anderer Autoren. Im Fall von Wehmut für Sopran, vier weitere Singstimmen,Violine, Kontrabass und präpariertes Klavier (2011) taucht neben Versen Joseph von Eichendorffs auch Musik von Robert Schumann auf, die zum Ende des rund elfminütigen Werks in ihre Einzelteile zerlegt wird. Zwar ist die Idee, Lieder der Romantik «neuzukomponieren» – etwa um aus diesem in der Konzertpraxis meist zu bürgerlichem Kulturgut degradierten Stoff so etwas wie eine aktuelle Message zu extrahieren –, nicht neu; man denke an Hans Zenders «komponierte Interpretation» von Franz Schuberts Winterreise. Doch stehen für Korsun nicht die Schumann’sche Musik oder gar die Gedichtzeilen im Vordergrund: Der aufgrund der Positionierung der Sopranistin (sie soll «weit entfernt von den anderen Musikern» singen) ohnehin schwer verständliche Text hat hier eher assoziative Funktion. Wenn man die Ohren spitzt und ihn trotzdem verfolgt, scheint es
dennoch, als konkretisiere er den Seelenzustand, der sich hinter Korsuns Konzept verbirgt: Es gehe um Einsamkeit, so die Komponistin, um das Auf-sich-allein-gestellt-Sein in einer «surrealen Welt koexistenter Leben», in der die Stimmen parallel laufende «Linien» gestalten, die selten in Verbindung zueinander stehen. Während eine der vier Stimmen immerhin zeitweise die Sopranistin doppelt – durch das Singen in ein Kazoo ironisch verzerrt –, entfaltet sich in den übrigen Stimmen ein filigranes, minutiös ausgearbeitetes Klanggewebe: Da wird geschmatzt, geschnarcht, gesäuselt und geschluchzt, zudem mit Plastiktüten sowie Papier geraschelt, während Kontrabass und Klavier eher in den Hintergrund treten und das Geschehen mittels Einzelaktionen, die durch lange Pausen voneinander getrennt sind, kommentieren und komplementieren. Das Ringen um Gleichgewicht: Diese Musik ist komplex und einfach, ernst und humorvoll zugleich. EINSAMKEIT
Um Einsamkeit dreht sich auch Tohuwabohu (2012), Korsuns erste Kammeroper, konkretisiert auf die exzessiven Usern sozialer Online-Netzwerke drohende Gefahr einer Entfremdung von der realen Umgebung. Das in Zusammenarbeit mit dem jungen Regisseur Manuel Schmitt entstandene, rund fünfzigminütige Opus wurde 2012 im Münchner «schweren reiter» uraufgeführt. Der «Prologue», ein Wirrwarr aus überwiegend sinnfreien, jedoch eindeutig internetverwandten textlichen Äußerungen der Darsteller, aus Mausklick- und Computertastatur-Geräuschen sowie aus zugespielten Facebook-, Skype- und ICQ-Signaltönen, mutet – womöglich aufgrund seiner Verwandtschaft mit der imaginierten Klangkulisse eines überfüllten InternetCafés – zunächst sogar ein stückweit heimelig an.Wie expressive Fremdkörper wirken dann die Schreie des zweiten Abschnitts, «Pause and Screaming». Während Korsuns Figuren die weiteren Stationen des Werks – mit Titeln wie «Perplexity», «Indignation and Procession» und «Bacchanalia» – durchlaufen, verlassen sie in Schmitts Inszenierung nur selten ihre käfigartigen Boxen, aus denen heraus sie sich sonst nur virtuell miteinander vernetzen. Dieses Networking transferiert Korsun in die Struktur ihrer Musik: Zuerst existieren nur Einzelkämpfer, einsame Surfer. Dann bilden sich Communities, diese vergrößern und verkleinern sich, nähern sich aneinander an, gehen wie-
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der auf Distanz; ebenso kommt es zu Interferenzen, zu offenen Konflikten, die Korsun in ihrer Musik dramatisch zuspitzt, trotz einer grundsätzlichen Tendenz zum Humoristischen. Auch in Vocerumori für sechs Stimmen (2012), dem Preisträgerstück der Gaudeamus-Musikwoche 2014, ist die Komponistin der Selbstironie nicht abhold. Korsun verwandelt die Vortragenden in eine Art menschlichen Sound-Generator: Es faucht und zischt, seufzt und keucht in den sechs eng miteinander verwobenen Stimmen, wobei stellenweise der Eindruck humoristisch überzeichneter Tierlaute entsteht. Aus diesem wundersamen Klangkosmos hebt sich zeitweise ein weltentrückter Choral heraus. Viele der Stücke Korsuns beginnen dal niente und enden al niente; die Komposition an sich kann wie ein zeitweiliges Unterbrechen einer intensiven Stille erlebt werden. Überdies scheint es, als seien viele Werke der Komponistin – die sich selbst als einen innerlich wie äußerlich «leisen Menschen» charakterisiert – trotz gelegentlicher dynamischer Ausbrüche auch innerhalb des von Schweigen begrenzten Segments durchweg «still gedacht»; als sei das fortissimo eine Begebenheit auf einer äußeren Schicht, hinter der sich die wesentliche innere Schicht verbirgt. So wirken die heftigen Glissandi am Ende ihres Klavierstücks Aqua Sonare (2008) eher wie eine ins Energische projizierte Variante der pastellartigen Klänge vom Stückanfang, und auch Landscapes für fünf Stimmen (2011) – dessen mannigfaltige Klanglandschaft an mit menschlichen Stimmen imitierte Naturgeräusche denken lässt – trägt, ungeachtet einiger markiger Akzente, eine unantastbare Stille in sich, in deren Angesicht jeder kräftige Impuls wie etwas Auswärtiges erscheint. Sogar im eingangs erwähnten Klavierquintett Isostasie, einem der vermeintlich eher lauten Stücke Korsuns, ist dieses Charakteristikum zu erkennen; das Streben nach Gleichgewicht weist auf einen in letzter Konsequenz kaum fassbaren Zustand hin: den Still-Stand. n
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INFO
Tonaufnahmen und Videos aller Werke sind verfügbar unter http://www.annakorsun.com/media.html.
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n Eine Einspielung von Song of a fish mit der Komponistin als Solistin findet sich auf https://soundcloud.com/annakorsun/the-song-of-a-fish.
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INTERAKTION, ENERGIE, KLARHEIT KOMPONIST, INTERPRET UND IMPROVISATOR – DER NEW YORKER LAPTOP-MUSIKER SAM PLUTA INTERAGIERT DAZWISCHEN von Thomas Meyer
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Portraits / Self Portrait heißt ein Stück des New Yorker Komponisten Sam Pluta für Solovioline und Ensemble aus dem Jahr 2011. Entstanden ist dieses Selbstporträt freilich nicht in jahrelangen Therapiesitzungen, sondern als musikalisches Selfie fast im Moment. Pluta improvisiert häufig mit dem Geiger Jim Altieri und dem Trompeter Peter Evans, beide sind, wie auf dem Album sum and difference zu hören ist, Extremkünstler auf ihren Instrumenten, die feinste Mikrotöne hervorbringen können. Aus diesen Improvisationen entwickelte Pluta nun seine Komposition: eine Reflexion über den musikalischen Prozess und eine Rekomposition der Energie und des improvisierten Klangs mit einem größeren Ensemble. Die Improvisa-
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tion mit Jim Altieri ist, wenn man sie mit der Partitur vergleicht, recht deutlich erkennbar, der Soloviolinpart gibt sehr genau wieder, was er spielte. Sam Pluta transkibierte sie; der Geiger Joshua Modney vom Wet Ink Ensemble nahm dieses Solo neuerlich auf, während Pluta seinerseits dazu auf dem Computer improvisierte; und dessen Partie wurde dann ins Ensemble übertragen. So entstand ein neues Stück, in dem die Energie der Interaktion auf mehreren Ebenen vorhanden bleibt. «CHAIN REACTIONS/FIVE EVENTS»
Gerade darum geht es Sam Pluta in seinen Kompositionen: Er will Energien evozieren. Mehrere seiner Stücke bewegen sich deshalb in einem Grenzbereich. Chain Re-
actions/Five Events, komponiert 2013 für das Mivos Quartet und sich selbst am Laptop, besteht großformal aus zwei Teilen. Der erste umfasst eine Folge von Kettenreaktionen: Ein Instrument gibt einen Impuls, die anderen reagieren darauf in einer vorgeschriebenen Weise. Solche Gestaltungsverfahren lernte Pluta in einem Workshop der Komponistin Pauline Oliveros kennen. Pluta: «Danach begann ich solche Stücke zu schreiben, die nicht wirklich improvisiert werden, da die Partitur ausnotiert ist, in der aber die Musiker aufeinander reagieren. Irgendetwas ist in dieser Art System anders. Es ist eine Energie, die sich mit einer herkömmlichen Partitur kaum herstellen lässt.» Die Partitur ist sehr frei gehalten, fast improvisatorisch, aber doch ver-
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Klarheit, ja, Ordnung: Auf seiner Homepage erscheint Pluta mit Krawatte und einem grau-blauen Anzug, die Brille gerade und markant, die Frisur sauber gescheitelt. Er ginge auch als junger Banker durch, hielte er nicht so lässig seinen Laptop im Arm. Das Bild trügt. Hinter der Ordnung verbirgt sich eine wilde Musikalität. 1979 wurde Sam Pluta in New York geboren. Relativ spät erst kam er zur Musik. An der High School entschied er sich dafür, Musiker zu werden. Am College lernte er Klavier und Gesang, dann Komposition. Durch einen Kurs in Audiotechnik 1998 fand er zur Elektronik – und damit zu seinem Instrumentarium. «Das erlaubte mir, jene Musik zu machen, die ich machen wollte. Ohne das wäre ich heute wohl etwas anderes geworden – vielleicht Computerprogrammierer, was ja auch einen Hauptteil meiner Arbeit ausmacht.» Er spielt ausschließlich auf dem Laptop, nimmt die Klanginformationen der anderen Musiker auf und verarbeitet sie mit einer Software, die er selbst entwickelt hat. Dabei manipuliert er die Klänge auf unterschiedliche Weise, «durch Verzögerung, Hall, Umkehrung, Granulation etc.» Das meiste Klangmaterial stammt tatsächlich aus der LivePerformance und wird gewöhnlich nicht vorher aufgenommen. Nur in Ausnahmefällen benutzt er in den Improvisationen zum Beispiel alte Jazzaufnahmen.
jeder Musiker seine Persönlichkeit ein. Dieser Austausch über den Klang und über die Art, Musik zu schreiben, ist außerordentlich. Ich bin sehr glücklich darüber.» Und hier sind auch höchst unterschiedliche Klänge möglich. Stellt man zum Beispiel Plutas American Tokyo Daydream V mit seiner grellen «over-the-top absurdity», die sich, wie er schreibt, kompositorisch von allem Zwang lösen möchte, neben andere, sehr reduzierte und gedrungene Partituren, möchte man kaum meinen, dass es sich um © Alexander Perrell
bindlich. Dann jedoch, etwa nach zwei Fünfteln des Stücks, leitet eine kurze rhythmische Passage in den zweiten Satz hinüber, der ganz anders wirkt. «Five Events», der zweite Teil, ist genau ausnotiert und entwickelt eine andere Direktionalität, einen anderen Fluss. «Dieser Gegensatz interessierte mich, die Teile sind unterschieden in der Kompositionstechnik, aber ähnlich in der Klangsprache.» Plötzlich jedoch bleibt die Musik stehen – wie eine große Klangwand, die sich nur ganz wenig bewegt. Nach einem langen, langsamen Glissando mündet das Stück in einer raschen FlageolettPartie: Die Instrumente geben die Linien einander jeweils nach einem Impuls weiter, zwischendurch verstimmen die Musiker die Saiten. Dazu mischt sich der Laptop ein. Die Abfolge beschleunigt sich und führt zum Schluss: einem fast elektronisch wirkenden hohen Flageolett-Klang, der in der Höhe entschwindet. Es sind solche eindringlichen, ja, fast penetranten Momente in Plutas Musik, die nachwirken. Sie verleihen ihr eine unkonventionelle Dramatik – mit einer schneidenden Klarheit. Chain Reactions/Five Events ist typisch für die Arbeitsweise dieses Musikers: Zum einen wegen der langsam glissierenden mikrotonalen Klangfelder und Klangblöcke, zum anderen wegen der rhythmisch prägnanten Strukturen, schließlich durch die improvisatorische Spielanweisung und durch die Verwendung der Live-Elektronik via Laptop.
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WET INK ENSEMBLE GEGENSÄTZE
Dieses Spielfeld einander widerstrebender Kräfte kennzeichnet ihn: «Es gibt bei mir immer diesen Gegensatz zwischen sehr gegensätzlichen Klängen, zwischen sehr laut und sehr ruhig, zwischen frenetisch und zurückhaltend. Ich wünsche mir die Musik sehr klar.» Und er denkt dabei auch an sein Publikum. Pluta möchte, dass der Zuhörer mit einem deutlichen Eindruck des Stücks den Konzertraum verlässt und später zurückkommen und weitere Details entdecken kann. Sein Vorbild dafür ist der Filmregisseur Quentin Tarantino: «Seine Filme gehören oberflächlich betrachtet einem bestimmten Genre an, zum Beispiel dem Kung-Fu-Film; auf einer zweiten Ebene aber bieten sie klare formale Strukturen und starke Gegensätze, und auf einer dritten beziehen sie sich auf die Filmgeschichte. Hinter der einfachen, klaren Oberfläche stehen vielschichtige und komplexe Ebenen. So auch in meinen Stücken: Die Leute hören nicht alles auf einmal, auch ich nicht.»
Weil er viel für das Wet Ink Ensemble komponiert, in dem er selbst mitspielt, taucht in seinen Stücken meist Live-Elektronik auf. Neben dem Mivos Quartet um Joshua Modney steht diese Gruppe aus New York, das Ensemble der noch «nassen Tinte», im Zentrum seiner Tätigkeit (vgl. den Beitrag in NZfM 1/2015, Seite 52). Es existiert seit 17 Jahren und besteht aus sieben Musikerinnen und Musikern, die gleichermaßen interpretieren und improvisieren können und von denen vier auch selbst komponieren. Seit neun Jahren ist Sam Pluta mit von der Partie. Hier fand er Gleichgesinnte. Die enge Zusammenarbeit von Komponisten und Interpreten sei ideal. «Für einen Komponisten ist es unbezahlbar, wenn er weiß, dass seine Musik auf dem absolut höchsten Niveau aufgeführt wird.» Hier kann er seine Kompositionstechniken erproben. Es sei ja schön, wenn ein neues Stück von Interpreten gut aufgeführt werde, aber noch schöner sei es, wenn seine ganze Persönlichkeit von ihnen erfasst werde. «Bei Wet Ink bringt
Das Bild trügt. Hinter der Ordnung verbirgt sich eine wilde Musikalität: Sam Pluta
denselben Komponisten handelt. Und auch im Wet Ink Ensemble gibt es kaum eine gemeinsame Ästhetik – außer einer ungemeinen Neugier. OBERTÖNE
Im Hintergrund erscheint allenfalls der Einfluss des Spektralismus, der zum Beispiel in hohen mikrotonalen Schichtungen hörbar wird. Pluta hat einige Zeit in New York bei Tristan Murail studiert. Er sucht jedoch einen eigenen Umgang damit: «Wenn man einmal diese Obertonklänge zu erforschen beginnt, wie es die Spektralisten um Gérard
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© 2013 Sam Pluta | Signal Path Publishing
© 2013 Sam Pluta | Signal Path Publishing
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Grisey und Tristan Murail taten, entdeckt man ihre Faszination. Die meisten Nachfolger der Spektralisten allerdings arbeiten in einer ähnlichen Klanggestik und vergessen darüber die Obertonreihe.» Von da her möchten Pluta und seine Wet Ink-Kollegen die Obertonstruktur selbst wieder in den Vordergrund rücken. Sie reduzieren die Form zuweilen auf mikrotonal fluktuierende Klangblöcke. So entstehen bei Pluta monolithische Stücke in der Tradition eines Morton Feldman oder Alvin Lucier. Lyra für Streichquartett beginnt mit einem lang ausgehaltenen, nur wenig bewegten Klang. Ähnliche Klangwände tauchen auch in seinen Klanginstallationen auf, etwa jenem Selbstportrait mit Peter Ablinger, das 2011 in New York zu erleben war. Auch dabei entsteht eine ungemein energetische Musik. ETWAS NEUES SCHAFFEN
Gemeinsam mit Wet Ink, aber auch als freier Improvisator erforscht er neue Bereiche. Wie gut freilich schätzt er die Chancen ein, überhaupt noch etwas Neues zu schaffen? Ist nicht schon alles gesagt? «Es ist schwierig, aber ich glaube nicht, dass schon alles gemacht wurde, gerade im Bereich von Improvisation/Komposition oder in der Interaktion, aber auch in Bereichen, die wir zu kennen glauben, ja, vielleicht dort besonders.» Der Improvisation schreibt Pluta so auch eine große Innovationskraft zu. Vielleicht steht sie deshalb zurzeit etwas im Vordergrund. Im Übrigen wechsle sein Musizieren ganz natürlich zwischen unterschiedlichen Arbeitsphasen, und die beiden Seiten würden einander gegenseitig befruchten. Für neue Klänge seien, so findet er, Improvisatoren am ehesten zuständig. «Man kann fast nicht ausnotieren, was ein Evan Parker macht, und wenn, dann verliert man etwas Wesentliches.» Eine solch spontane Interaktion entstehe in Ensemblekompositionen selten. «Dafür ist es in einer Improvisation schwieriger, die Dinge auf eine Reihe bringen und einen bestimmten Klang zu erzielen.» Er erinnert an den Anfang von Gérard Griseys Partiels: «Eine so starke wiedererkennbare Harmonik kann man fast nicht ohne Notation erzeugen. So hat jede Art des Musikmachens seine Stärken und Schwächen.» Es sei ihm deshalb am liebsten, wenn er in beide Musizierweisen gleichermaßen involviert sei und ihre Qualitäten verknüpfen könne. Interaktion ist dabei wichtig, ja, überhaupt ein Schlüsselbegriff für Sam Pluta, den er aber sogleich noch mit Energie verbindet. Das macht für ihn die Lebendigkeit aus. n
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n edition neue zeitschrift für musik Jetzt auch als E-Book Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.) Im Laufe der Zeit. Kontinuität und Veränderung bei Hans Werner Henze Hofer, Wolfgang (Hg.) Ausdruck – Zugriff – Differenzen. Der Komponist Wolfgang Rihm Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.) Was noch kommt … Der Komponist Matthias Pintscher Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.) Identitäten. Der Komponist und Dirigent Peter Eötvös Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.) Der Atem des Wanderers. Der Komponist Helmut Lachenmann Gratzer, Wolfgang / Jörn Peter Hiekel (Hg.) Ankommen: Gehen. Adriana Hölszkys Textkompositionen Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.) Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.) Schwarze Milch und bunte Steine. Der Komponist Erkki-Sven Tüür Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.) Aufgehobene Erschöpfung. Der Komponist Mauricio Kagel Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.) Das Gedächtnis der Struktur. Der Komponist Pierre Boulez Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.) Stimmen im Raum. Der Komponist Beat Furrer Fein, Markus Im Sog der Klänge. Gespräche mit dem Komponisten Jörg Widmann Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.) Woher? Wohin? Die Komponistin Kaija Saariaho Hiekel, Jörn Peter / Patrick Müller Transformationen. Zum Werk von Klaus Huber Jungheinrich, Hans-Klaus (Hg.) Spuren. Der Komponist Jörg Widmann
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Einspielungen von Sam Pluta sind erhältlich beim Label Carrier Records, das Pluta 2009 mit Jeff Snyder und David Brynjar Franzson gründete. Weitere Angaben auf seiner Homepage www.sampluta.com
Erhältlich auf www.notafina.de oder über die E-Book-Stores von Amazon, Thalia, Weltbild, Libri, Hugendubel und der Mayerschen Buchhandlung sowie auf den Plattformen buch.de, bücher.de, bol.de und im iBookstore.
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ZEITBÜNDEL DAS BERLINER FESTIVAL «MAERZMUSIK» UNTER NEUER LEITUNG
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Die «MaerzMusik», das Berliner Festival zur Neuen Musik, im Jahr 2000 als Anschluss an die Musik-Biennale unter dem Dach der bundeseigenen Berliner Festspiele GmbH gegründet, wird seit 2015 von Berno Odo Polzer verantwortet. Polzer, der in Wien Archäologie, Musikwissenschaft, Philosophie und Germanistik studierte, war von 2000 bis 2009 Dramaturg, dann Leiter des Festivals «Wien Modern» und anschließend in Brüssel, Frankfurt, Salzburg und Venedig tätig. Hinter der Umbenennung der MaerzMusik in «Festival für Zeitfragen» (vormals «Festival für aktuelle Musik») steckt die Idee, so der Intendant der Berliner Fest-
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spiele Thomas Oberender, «in den nächsten Jahren das Phänomen der Zeit als eine Sonde» zu nutzen. Dazu schafft Polzer umfangreiche Erlebnisräume, in denen in großzügig bemessenen Zeitfenstern verschiedene Formate – Konzerte, Performances, Installationen, Filme, Gespräche und Diskussionen – realisiert werden können. Zur Eröffnung im Haus der Berliner Festspiele diente u. a. das Projekt Liquid Room: Das Brüsseler Ictus Ensemble und das Berliner Ensemble Mosaik brachten auf vier Bühnen insgesamt vier Stunden instrumentale und elektronische Musik von 20 Komponisten, Audio und Video.
«THINKING TOGETHER»
Eine ausführliche «Theorieschiene» unter dem Motto «Thinking Together», die den performativen Veranstaltungsformaten tagsüber vorausging, suchte zunächst die Verbindung der Zeitthematik zu Ökonomie, Politik und Gesellschaft: Am Anfang stand eine dreitägige englischsprachige Konferenz mit jeweils vier bis sechs Referenten und den Schwerpunkten «The Politics of Time», «Politico-temporal Strategies», «Time and the Arts» (dazu sprachen unter anderem Helga de la Motte und Gregor Herzfeld), der an den sechs nachfolgenden Tagen weitere Referate sowie Interviews mit den anwesenden Komponisten folgten.
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(2013) durch das Klangforum Wien unter Emilio Pomárico. Die künstlerischen Entscheidungen, die Aperghis bei der Komposition dieses Werks traf, sind aus dem Dialog und der Zusammenarbeit mit 23 individuellen Musikern des Klangforums hervorgegangen. Entstanden ist ein konzertant-lebhaftes Werk, gelegentlich bruitistisch pulsierend, dann wieder stark individualisiert. Wie Intarsien eingefügt wurden unter anderem Texte von Elias Canetti (rezitiert vom Pianisten Florian Müller) und Aleksandr S. Puškin (gesprochen durch den Akkordeonisten Krassimir Sterev); die Geigerin Sophie Schafleitner sang mit einer Kollegin ein finnisches Wiegenlied.
grundgeräusche des Kraftwerks verstärkt (und damit vergröbert) werden mussten, folgte das Berliner Publikum mit konzentrierter Aufmerksamkeit. Mehr noch als in dem achtzigminütigen 1. Streichquartett (1979) scheint Feldman in seinem 2. Quartett mit überraschenden Klangfarbwechseln nicht nur auf Kontinuität, sondern auch auf Kategorien wie «Kontrast» und sogar «Bruch» zu setzen; dabei scheut er vor Material, das Assoziationen zulässt, gelegentlich nicht zurück. Wie in einem großen, langsam gedrehten Kaleidoskop erschienen ungefähr zu jeder vollen Stunde wiedererkennbare oder wiederkehrende Elemente,
Fotos: © Kai Bienert
«ÖKONOMIEN DES HANDELNS»
GEORGES APERGHIS
Mehrere Veranstaltungen galten Georges Aperghis, der, 1945 in Athen geboren, seit den 1970er Jahren zu den «Klassikern» der französischen Musik zählt, in Deutschland aber noch immer wenig bekannt ist. Seine instrumentalen Soli, bestimmten Solisten «auf den Leib» geschrieben, sind, mental wie physisch, ungefähr so anspruchsvoll wie diejenigen Isang Yuns. Eine Auswahl führten Ernesto Molinari (Kontrabassklarinette), Geneviève Strosser (Viola) und Christian Dierstein (Singende Säge und Schlagzeug) vor. Eingebettet in dieses Konzert war ein Gespräch mit Aperghis; vorausgegangen war die Vorführung des Films Énumérations (1990), der aus dem gleichnamigen Musiktheater (1988) hervorgegangen ist. Ebenfalls mit einem Film – dem Sprachkunstwerk (und «Sprechwettbewerb») Machinations (2000/2012) – kombiniert war die Aufführung von Situations für 23 Solisten
Teil der Trilogie «Ökonomien des Handelns» sind die beiden Musiktheaterwerke KREDIT. Von der Erwartbarkeit zukünftiger Gegenwarten (2013) und RECHT (2015) von Hannes Seidl und Daniel Kötter. Es handelt sich hier jeweils um Gespräche, die von den Autoren mit Bankern in Frankfurt bzw. mit Juristen auf einer Moselinsel geführt wurden. Die Gespräche wurden verfilmt und suggerieren das Protokoll eines Tagesablaufs. KREDIT erschien als Stummfilm; die Dialoge der Banker wurden ersetzt durch eine Collage aus originalen Texten sowie von Nassim Nicholas Taleb (Der Schwarze Schwan, 2008), Joseph Vogl (Das Gespenst des Kapitals, 2010), Christian Marazzi (Verbranntes Geld, 2011) und anderen. Hinzu kamen ein virtuoser Geräuschemacher, Cembaloklänge sowie kommentierende Choräle und Credos des Chors der Deutschen Bundesbank (Ltg. Rochus Paul). Die Texte sind realistisch, auch zynisch; wir wissen längst, dass Banker zocken und es aufgrund der Konzentration des Kapitals «weniger, aber schwerere Krisen geben» wird. Das Stück ist zu gleichförmig; es trug nicht über die Spieldauer einer vollen Stunde. «THE LONG NOW»
Die äußerste zeitliche Ausdehnung brachte der dreißigstündige Abschluss des Festivals: «The Long Now» im riesigen Kraftwerk Berlin begann mit Morton Feldmans fünfeinhalbstündigem 2. Streichquartett (1983) – zweifellos ein «Kultstück», dessen Aufführung unkonventionelle Räume braucht, die es dem Hörer ermöglichen, sich unauffällig zu entfernen und ebenso lautlos zurückzukommen.Wenn auch die Klänge des Minguet Quartetts infolge der Hinter-
Ein Schwerpunkt galt dem 1945 in Athen geborenen Georges Aperghis, einem «Klassiker» der französischen Musik Links: «KREDIT. Von der Erwartbarkeit zukünftiger Gegenwarten» (2013), Teil der Trilogie «Ökonomien des Handelns» von Hannes Seidl und Daniel Kötter
und anstelle des Dominantorgelpunkts gab es einige Zeit vor Schluss schnellere Gangarten, darunter klagend aufwärts geführte Zweitongesten. Zu diesem dreißigstündigen Event gehörten unter anderem auch die Aufführung des Stücks 9 Beet Stretch (2002) von Leif Inge, der Beethovens Neunte Sinfonie in elektroakustischer Dehnung über 24 Stunden ausbreitet und verfremdet, und Phill Niblocks achtstündiges Projekt Music and The Movement of People Working (1973/ 2004), das mit dem für Niblock typischen Gedröhne anhub. n Walter-Wolfgang Sparrer
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ZWITSCHERNDE VÖGEL UND «NACHTSCHWARZER HÖRRAUM» DIE WITTENER TAGE FÜR NEUE KAMMERMUSIK 2015
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Hätten die maßgeblich vom Westdeutschen Rundfunk verantworteten Wittener Tage für neue Kammermusik in ihrer 47. Ausgabe vom 24. bis 26. April unter einem Motto gestanden, so hätte es lauten müssen: die Natur – oder im Weiteren die Natur des Klanges und die Natur des Menschen. Die Natur, wie sie idyllischer kaum sein kann, bereitete denn auch den Boden für ein großartiges Sonderprojekt: eine ausgedehnte Klangwanderung, die durch das nahe gelegene Muttental, der Wiege des Ruhrbergbaus, führte und bei der Naturerlebnis und zeitgenössische Klangkunst fruchtbare Symbiosen eingingen. Allein fünf der zwölf Klangstationen gestalteten das Schlagquartett Köln und
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Studierende der Schlagzeugklassen aus Detmold und Köln mit Werken, die eigens für diese Klangwanderung komponiert oder adaptiert wurden und die, so Carola Bauckholts Der aufgefaltete Raum oderVolker Staubs Vier Stücke Nr. 29:Teil II, sinnfällig mit Naturphänomenen oder Bergbaurelikten korrespondierten. Der zweite Schwerpunkt der Klangwanderung lag auf Installationen, die sich ebenfalls reizvoll mit der Landschaft und dem geschichtsträchtigen Ort auseinandersetzten. Franz Martin Olbrisch, der seine dreiteilige Arbeit mit dem Titel Dennoch lauert im Gesang der Vögel das Schreckliche versah, wählte als Ansatzpunkt den Umstand, dass die Bergleute einst Kanarienvögel mit unter
Tage genommen haben – aber nicht etwa, um sich in unwirtlicher Umgebung durch das Zwitschern aufheitern zu lassen, sondern als lebende Messgeräte, da Kanarienvögel extrem empfindlich auf schlechte Luft reagieren. Wenn sie aufhörten zu singen, war das ein Alarmsignal, was Olbrisch plastisch zur Geltung brachte. Während er im akustischen Teil seiner Klanginstallation Vogelgesänge verfremdete, abstrahierte die Schweizer Komponistin Barblina Meierhans in Steinsengen von subtilen Knirschgeräuschen, wie sie beim Spalten von Steinen entstehen und die sie auf Stahlplatten übertrug. Und Matthias Kaul schuf im Bethaus am Ende des Muttentals einen «nachtschwarzen Hörraum», den er Glück
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BERICHT
auf nannte und in dem er den Begriff «unter Tage» auf psychische Dimensionen transformierte.
Fotos: © WDR | Claus Langer
«… BLINDE WORTE … » – VERDRÄNGTE ÄNGSTE
War der Klang der Natur bei der Klangwanderung wie selbstverständlich integriert, so spielte in den sechs Konzerten – mit 16 Uraufführungen – die Natur des Klanges eine maßgebliche Rolle. Elektronik kam kaum zum Einsatz, viele Kompositionen für Stimmen waren vertreten; allein vier Stücke aus dem fulminanten Enigma-Zyklus für Chor von Beat Furrer, der als «Composer in residence» besonders im Fokus stand. Doch ausgerechnet seine im Abschlusskonzert mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter Titus Engel uraufgeführten Zwei Studien für Kammerorchester blieben blass. Groß auftrumpfen konnten demgegenüber … blinde Worte … (Musik für G.P.H.) von Andreas Dohmen mit der Sopranistin Sarah Maria Sun und dem Posaunisten Uwe Dierksen. Eine herbe Enttäuschung war dann das Finale mit 13 Bildern aus der Oper Die schöne Wunde von Georg Friedrich Haas auf Texte von Franz Kafka und Edgar Allan Poe. Nicht nur, weil Haas stilistisch trotz mikrotonaler Klangfinessen eine Rolle rückwärts bis zur Tonsprache von Richard Strauss und der Zweiten Wiener Schule vollzog, sondern vor allem, weil die dichte Verknüpfung von Textcollagen und Orchestersatz kaum Sogwirkung entfaltete – und das lag weder an den Neuen Vocalsolisten Stuttgart noch am WDR Sinfonieorchester. Haas’ Stück blieb dem Plakativen verhaftet. Die Natur des Menschen und seine Abgründe auszuloten, gelang in einigen Solowerken viel überzeugender – etwa in Psychogramm II für Klarinette solo des Ungarn Márton Illés, der sich eindringlich dem Zustand der Angst widmete. Dabei ging es ihm darum, musikalisch zum Ausdruck zu bringen, wie sich Ängste, zumal verdrängte, im Körper(-Klang) widerspiegeln. Die Psychogramm II innewohnende Steigerung von intimem Kreisen bis zur heftigen Entladung zelebrierte die Solistin Boglárka Pecze mit bravouröser Intensität. INS GEISTERHAFTE MUTIERT
Glänzen konnte auch der Akkordeonist Teodoro Anzellotti in Origami des WittenDebütanten Miroslav Srnka. An der Oberfläche schlug Srnka einen fast harmlosen volkstümlichen Ton an, der jedoch ins Gei-
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Oben: Mehr Luft für die Kumpel: Franz Martin Olbrischs Klanginstallation «Dennoch lauert im Gesang der Vögel das Schreckliche» . Links: Versteht es bravourös, verdrängte Gefühle im Körper(-Klang) widerzuspiegeln: die Klarinettistin Boglárka Pecze.
Linke Seite: Bei der Klangwanderung durchs Muttental – Wiege des Ruhrbergbaus – gingen Naturerlebnis und zeitgenössische Klänge eine fruchtbare Symbiose ein.
sterhafte mutierte und zur Maske geriet, die abbröckelte und hinter der das wahre Gesicht allmählich zu erkennen war. Ob in das Konzept des tschechischen Komponisten unterschwellig auch politische Aspekte samt der Renaissance überwunden geglaubter Bedrohungsszenarien eingeflossen sind, sei dahingestellt. Jedenfalls ist auffällig, dass sein Landsmann Ondrej Adámek in Steinar für sechs Stimmen und Instrumente mit einer Tendenz ins Verspielte und Groteske ein ähnliches Spannungsfeld entwarf. Als Virtuosin ersten Ranges präsentierte sich – einmal mehr – Carolin Widmann in Pascal Dusapins in vivo. Dass das Solostück für Violine im Nachtkonzert «Spuren, lesen» von exzentrischen Vokalwerken (Neue Vocalsolisten Stuttgart) zweier junger polnischer Komponistinnen, Joanna Wozny und Agata Zubel, umrahmt wurde, war eine feine Programmidee. Dagegen litten die Auftritte des exorbitanten Pianisten Nicolas Hodges beträchtlich unter den ihm anvertrauten Novitäten: James Clarkes Untitled No. 7 erfüllte die Erwartungen nicht, und Hans Thomallas Ballade.Rauschen markierte den Tiefpunkt des gesamten Festivalprogramms. Die Ensemblestücke lagen in den bewährten Händen des Ensemble KNM Berlin und des österreichischen ensembles für
neue musik, geleitet von Johannes Kalitzke. Das Spektrum reichte von Chaya Czernowins Slow Summer Stay, worin die Phänomene Bewegung und Stille höchst sensible musikalische Empfindungen motivierten, über das technisch aufwändige, klangliche und seelische Entgrenzung thematisierende Les derniers cris von Clemens Gadenstätter bis zu Aftertouch von Vito Žuraj, der sich für sein Witten-Debüt vom gleichnamigen, im Prinzip schlichten MIDI-Parameter inspirieren ließ. Der bizarre «Tanz» der Farben und Formen, den Zuraj daraus hervorzauberte, zog nachdrücklich in den Bann und zeugte vom zukunftsweisenden schöpferischen Potenzial des jungen Slowenen. n Egbert Hiller
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CD-Dokumentation 2014 Wittener Tage für neue Kammermusik 2014 – Dokumentation live. Werke von Stefan Prins, Wolfgang Mitterer, Clara Iannotta, Franck Bedrossian, Tristan Murail, Michael Pelzel, Hans Abrahamsen, Wolfgang Rihm, Rebecca Saunders und Philippe Manoury. 2 CDs, WDR 3 n
Die Wittener Tage für neue Kammermusik 2016 finden vom 22. bis 24. April 2016 statt. Geplant ist ein Porträt von Gérard Pesson.
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WEIT ENTFERNTE RESONANZEN DAS FESTIVAL «PROVINZLÄRM» IN ECKERNFÖRDE
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KomponistInnen vertreten gewesen wären. Bei den InterpretInnen traf dies aber weitgehend zu, wobei das in Eckernförde ansässige und von Gerald Eckert künstlerisch geleitete Ensemble Reflexion K die Hauptlast zu tragen hatte. TRAUMLANDSCHAFTEN UND ECHOS
Dem um zahlreiche Gäste erweiterten Ensemble war diese «Last» jedoch eine Lust, was schon das Eröffnungskonzert mit Werken der Argentinierin Natalia Solomonoff und von Gerald Eckert selbst, der auch dirigierte, markant unterstrich. Solomonoffs Raunächte (2006–10) für Sopran, Ensemble und Tonband zeichneten mit der Sängerin Maria Boulgakova eindringliche Traumlandschaften, die die Komponistin in zwölf Sequenzen gliederte und als räumlich und © Auditivvokal Dresden
Dass das Ostseebad Eckernförde in der «Provinz» liegt, steht ebenso außer Frage wie der Umstand, dass die zeitgenössische Musik immer noch oft als «Lärm» bezeichnet wird. Die Flötistin Beatrix Wagner und der Komponist, Cellist und Dirigent Gerald Eckert, die maßgeblich Verantwortlichen für das internationale Festival für Neue Musik Eckernförde, kokettierten mit diesen Klischees, als sie es «Provinzlärm» nannten. Darüber hinaus spielt der Titel aber auch auf den Roman Der Provinzlärm von Wilhelm Lehmann an, der sich als scharfer Beobachter des Eckernförder «Provinzlebens» in den Jahren vor der NS-Diktatur hervortat. Vom 20. bis 22. Februar 2015 wurde nun bereits zum fünften Mal «Provinzlärm» gemacht; das Festival findet im Zweijahres-
Großartig: Das Auditivvokal Dresden interpretierte Luigi Nono wie Guillaume Dufay klangsinnlich und intonationssicher.
rhythmus abwechselnd mit den «Chiffren» im benachbarten Kiel statt. Zum Konzept von «Provinzlärm» gehört, für jede Ausgabe ein Schwerpunktland – vorzugsweise aus dem näheren geographischen Umfeld – zu bestimmen. Nach Island, Lettland, Finnland und Polen lautete das Motto in diesem Jahr «Focus: Deutschland». Das bedeutete nicht, dass in den sechs Konzerten nur deutsche
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zeitlich weit entfernte Resonanzen auf Arnold Schönbergs berühmten Zyklus Pierrot lunaire verstanden wissen will. Schrieb dieser Pierrot lunaire (1912) in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche, so begreift Solomonoff ihre Raunächte als klangmetaphorischen Ausdruck sozialer und politischer Unsicherheiten unserer Tage. «Echos weit entfernter Ereignisse» beschäftigen Gerald
Eckert in Sopra di noi … (niente) von 2014, das uraufgeführt wurde. Zwar zielen diese «Echos» zumal auf innermusikalische Prozesse mit mehreren voneinander unabhängigen Zeitschichten, angesprochen werden aber nicht zuletzt existenzielle Dimensionen im Spannungsfeld von Nähe und Distanz – was in der hochkonzentrierten Darbietung des zum kleinen Orchester angewachsenen Ensemble Reflexion K fulminant zur Geltung kam. Anteil daran hatte auch die Raumakustik von St. Nicolai, dem zentralen Aufführungsort des Festivals, dessen atmosphärische Dichte die Hörerlebnisse beflügelte. Ein weiteres Charakteristikum des «Provinzlärms» ist die feste Einbindung in vorhandene Strukturen, wovon beispielsweise die Umfunktionierung des traditionellen Marktgottesdienstes zum Festivalkonzert – unter versierter Mitwirkung der Kantorin und Organistin Katja Kanowski – zeugte. HÖRENSWERTE KONTRAPUNKTE
Mitglieder von Reflexion K präsentierten sich als Solisten oder im Duo und setzten hörenswerte Kontrapunkte zur Ensemblekultur. Lotete dense/Echo I von Robert HP Platz mit solistischen Aktionen gewissermaßen den Klangraum aus, brillierten der Klarinettist Joachim Striepens in Luciano Berios Lied und, gemeinsam mit Gerald Eckert (Cello), in Iannis Xenakis’ Charisma, der Posaunist Matthias Jann und der Akkordeonist Felix Kroll in Steffen Schleiermachers Atem Los, die Bratschistin Christiane Veltman in Fausto Romitellis Ganimede und die Flötistin Beatrix Wagner in Georg Katzers Von d nach d. Letztere glänzte auch in Luigi Nonos Das atmende Klarsein (1980/81), einem Höhepunkt des Festivals, wozu das Auditivvokal Dresden und Roland Breitenfeld, der noch mit Nono selbst die Live-Elektronik eingerichtet hatte, ebenfalls beitrugen. Dass sich das großartige Vokalenensemble zuvor genauso klangsinnlich und intonationssicher Guillaume Dufays Missa L’homme armé (um 1450/60) widmete, barg erhebliches Kontrastpotenzial und bescherte zugleich eine wundersam entrückte Klangreise von der Renaissance ins 20. Jahrhundert. Im Mittelpunkt der abschließenden Konzerte stand dann Nicolaus A. Huber, der vor Kurzem seinen 75. Geburtstag feierte und das Festivalmotto «Focus: Deutschland» wesentlich motivierte. n Egbert Hiller
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GRATWANDERUNG DER GEFÜHLE
© Ursula Kaufmann
DANIELA KURZ’ ATEMBERAUBENDE BILDER ZU KAIJA SAARIAHOS «L'AMOUR DE LOIN» IN LINZ
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Kaum hatte das neue Linzer Musiktheater einen überwiegend hauseigen besetzten Ring vollendet, stand schon die Premiere einer zeitgenössischen Oper auf dem Programm: Mangelnden Wagemut wird man dem scheidenden Linzer Intendanten Rainer Mennicken kaum vorwerfen können. Seit das Musiktheater im April 2013 mit der Uraufführung von Philip Glass’ Handke-Vertonung Spuren der Verirrten eröffnet wurde, bietet es die derzeit sicher interessantesten Spielpläne von Österreichs Landesbühnen. Und wird für sein Bekenntnis zur zeitgenössischen Oper auch belohnt: Denn die Aufführung von Kaija Saariahos erster Oper L’amour de loin (2000) in einer Inszenierung von Daniela Kurz kann sich sehen lassen. BILDKRÄFTIGE INSZENIERUNG
Die an der Stuttgarter John Cranko Schule ausgebildete Choreografin wählt einen völlig anderen Zugang zu Saariahos Stück als Peter Sellars, der die bittere Liebesgeschichte zwischen dem Troubadour Jaufré Rudel und Clémence, der Gräfin von Tripoli, in seiner Salzburger UraufführungsInszenierung in eher weihevoll-statischen Bildern auf der spiegelnden Fläche eines künstlichen Bühnensees spielen ließ. Ohne die bedächtige Musik der finnischen Komponistin zu stören, setzt Kurz hingegen auf bildkräftige, abstrakt-choreographische Lösungen, die sie in einer selbst entworfenen Ausstattung entwickelt. Das Bühnenbild erinnert ein wenig an Gemälde von Juan Miró: Rote Farbflächen in merkwürdig organischen Formen ragen in die offene Bühne, auf der sich ein Gewirr aus Stegen befindet, deren Neigungen durch kaum sichtbare Seile unmerklich verändert werden können. Im Hintergrund schwebt ein hauchzarter, verheißungsvoll rot angeleuchteter Bogen. Eine Brücke ins Glück? Oder doch ein glühender Steg ins Jenseits? Kurz lässt in ihrer Arbeit bewusst einiges offen und folgt darin dem oft schwebend zweideutigen Text von Amin Maalouf, der die «Amour fou» aus dem 12. Jahrhundert in einer Mischung aus historischer Realität und Fantasie schildert. Abgesehen von dem
Martha Hirschmann als der Pilger und Gotho Griesmeier als Clémence, jeweils durch einen Tänzer (Samuel Delvaux) und eine Tänzerin (Bonnie Paskas) verdoppelt.
mal mit überlangen Pilgerstäben, mal mit mittelalterlich wirkenden Fähnchen ausgestatteten Bewegungschor ist es vor allem die Verdoppelung der Protagonisten durch eine Tänzerin (Bonnie Paskas) und einen Tänzer (Samuel Delvaux), die theatralische Abwechslung in Saariahos eher statische Partitur bringt. Das hat auch dramaturgisch Sinn, können diese Doubles doch als die jeweiligen Projektionen der beiden Liebenden gedeutet werden, die sich nur aus Briefen kennen und einander erst im Moment des Todes begegnen. Stets sind also Fantasien im Spiel, um sich aus der Ferne wenigstens Vorstellungen voneinander machen zu können. Kurz entwickelt dies unprätentiös, ohne unnötigen Aktionismus in einer spannungsgeladenen Langsamkeit, die ein wenig an die Bühnenästhetik Robert Wilsons erinnert, dabei jedoch frei ist von deren artifiziellen Stilisierungen. Zumal die Inszenierung auch einer zunehmenden Rhythmisierung folgt: Aufgeregt schwankt im vierten Akt in nebelverhangenem Blau eine an Seilen abgehängte Spielfläche hin und her, die das Schiff symbolisiert, mit dem Jaufré das Ferne nah zu rücken und seine Liebesdichtung Wirklichkeit werden zu lassen sucht, um letztlich an seiner Angst und der damit zusammenhängenden Krankheit zu scheitern.
EREIGNISLOSE MUSIK
Saariahos Musik zu dieser Liebestragödie konnte den Rezensenten auch 15 Jahre nach der Uraufführung wenig überzeugen. Das aus einem einzigen, bereits im Orchestervorspiel auftauchenden Akkord in variierten Tonkombinationen entwickelte Material erweist sich als viel zu statisch, um die innere Bewegtheit der beiden Liebenden musikalisch erfassen zu können. Immerhin bemühte sich Kasper de Roo am Pult des prägnanten Bruckner-Orchesters, der ereignislosen Musik Saariahos durch stärkere Akzentuierung des Perkussionsinstrumentariums einige Kanten zu verleihen. Respektierlich schlugen sich der Chor und das hauseigene Ensemble – allen voran der sonore Bariton Martin Achrainer, der nie in Gefahr lief, in das Klischee eines Schmerzensmanns zu verfallen, obwohl er anfänglich in Weiß gekleidet ist, der asiatischen Farbe für Trauer und Tod. In symbolkräftigem Rot, der Farbe des Lebens und der Energie, präsentiert Kurz den zwischen den Liebenden vermittelnden Pilger, die Mezzosopranistin Martha Hirschmann.Von nachdenklichem Schwarz ins glühende Rot wandelt sich die hell timbrierte Clémence von Gotho Griesmeier, die am Ende sogar aus schwindelnder Höhe singt, als die Spielfläche in die Senkrechte geklappt wird. Ein atemberaubendes Finale. n Reinhard Kager
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AUS DEM LEBEN EINER GLÜHBIRNE DAS PROJEKT «SCHATTENHAFT» DES ENSEMBLE L’ART POUR L’ART
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POUR L’ART. Sie haben, jeder für sich, aber doch mit Bezügen innerhalb der Szenen, eine Art Collage entworfen. Es gibt viel gesprochenen Text, darunter Zitate über Thomas Edison. Der Schauspieler Torsten Schütte, der in unterschiedlichen Rollen auftritt, spricht diese mit einer Glühbirne auf dem Kopf und auf einem Fahrrad fahrend ebenso pointiert wie skurril. Am Ende der ersten Szene beißt er beherzt in den Sattel seines Fahrrads und erfreut sich of© Achim Duwentäster
Das Ensemble L’ART POUR L’ART kümmert sich seit vielen Jahren um den kompositorischen Nachwuchs. Der Unterricht, den dieser in der Kompositionsklasse des Ensembles erhält, ist weniger akademisch, weniger theoretisch geprägt, sondern geht assoziativ und inspirierend vor sich. Die Dinge des Lebens geben Impulse für Kompositionen. In diesem Jahr haben acht Nachwuchskomponistinnen und -komponisten einen Mu-
Junge KomponistInnen entwarfen Szenen mit bisweilen grotesken Momenten: Torsten Schütte als Willi und Anaela Dörre als Teddy.
siktheaterabend entworfen, der im Rahmen des Musik 21 Nachwuchsfestivals, veranstaltet von Musik 21 Niedersachsen, in Hannover uraufgeführt worden ist. «SCHATTENHAFT»
Schattenhaft ist ein Musiktheaterabend in acht Szenen. Jeweils ein Mitglied der Kompositionsklasse hat eine Szene kreiert, über allem steht eine verbindende Geschichte – das Leben einer Glühbirne, die, natürlich, wo immer sie leuchtet, auch für Schatten sorgt. Es geht nicht um das chronologische und kohärente Erzählen der Geschichte. Das Fragmentarische ist konstitutives Element dieses Stücks. Jonathan Mummert, Mahnaz Shahriyari, Armon Böhm, Lea J. Mummert, Agnes Homann, Anna Weißbach, Rebekka Homann und Kikan E. Nelle, Jahrgänge 1996 bis 2000, sind schon bis zu neun Jahre Mitglieder der Kompositionsklasse von L’ART
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fenbar sehr an dessen Verzehr – nur ein Beispiel für die vielen grotesken, surrealen Einfälle, die dem Stück seine theatralische Würze verleihen. Elisabeth Bohde, Regie, und Gesine Hansen, Kostüme, haben Schattenhaft wirkungsvoll in den Raum des hannoverschen Ballhof Zwei, einer ehemaligen Probenund jetzigen Studiobühne, gebracht.Videoprojektionen spielen dabei ebenfalls eine Rolle. Live-Einstellungen einer auf das Publikum gerichteten Videokamera verdeutlichen, dass dieses Stück in seinem Spiel mit Höhen und Tiefen, Stärken und Schwächen alle angeht. Schattenhaft ist auch ein Stück über den Ursprung des Lebens, fast schon biblisch – und es ward Licht. SUGGESTIVE KRAFT
Astrid Schmeling (Flöte) und Matthias Kaul (Percussion) zeichnen verantwortlich für die musikalische Leitung. Das Ensemble
besteht weiter aus John Eckhardt am Kontrabass und E-Bass sowie Ulf Mummert an der E-Gitarre. Was die Kompositionen der jungen Menschen durchweg ausmacht, ist nicht eine verkrampfte Suche nach unbedingt Neuem, vielmehr eine stark suggestive, illustrativ auf die Szenenfolge bezogene Kraft. Dabei bleibt die Musik nicht beim bloßen Illustrieren stehen, sondern vermag zugleich die Szene zu stützen und ihr einen ganz individuellen Kontrast entgegenzusetzen. Vorgänge in der Szene werden durch geräuschhafte Einwürfe konterkariert, gespiegelt, plastisch gemacht – der Ideenreichtum ist bemerkenswert. Die kompositorische Herangehensweise ist so fragmentarisch und punktuell, dass sie sich einer konkreten Beschreibung nahezu entzieht. Auf diese Weise entsteht musikalisch die absurde Wirkung des Stücks, die sich in der szenischen Umsetzung fortsetzt. Neben der Live-Musik gibt es Einspielungen unterschiedlicher Werke bis hin zu Johann Strauss Sohn. Lautmalerische Vokaleinspielungen, wie zum Beispiel aus der Ferne klingende Stimmen, gehören ebenso dazu. Die Sopranistin Julia Spaeth und die Mezzosopranistin Truike van der Poel haben in Schattenhaft zwar nicht allzu viel zu tun, lassen in ihren Rollen als zwei immer mal wieder auftauchende Damen aber durchaus erkennen, dass die Nachwuchstonsetzer auch die vielleicht schwierigste Disziplin beherrschen – das Komponieren für die menschliche Stimme. Was vorrangiger Anspruch der Kompositionsklasse ist, verrät folgender Satz aus der Selbstbeschreibung: «Komponieren bedeutet hier nicht, musikimmanent zu entscheiden, sondern sich von außen der Musik anzunähern.» Zu welchen Ergebnissen das führt, das bezeugt Schattenhaft eindrucksvoll. Welchen Einfluss hat Licht auf unser Bewusstsein? Brauchen wir Licht, um bewusst zu leben? Gewichtige Fragen, die von den jungen Menschen in einen spannenden und kurzweiligen Theaterabend umgesetzt worden sind. Beim Uraufführungspublikum stieß das auf große Begeisterung. n Christian Schütte
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EIN PLANET BEWOHNT SICH SELBST DAI FUJIKURAS «SOLARIS» IN PARIS
Solaris, das ist in dem gleichnamigen Roman von Stanisław Lem ein Planet, der eine seltsame Eigenschaft hat. Er kann denken oder zumindest zielgerichtete Operationen vornehmen. Sein Gehirn besteht aus einem dickflüssigen, wabernden Ozean, der fast die gesamte Oberfläche bedeckt. Paradox formuliert: Der Planet bewohnt sich selbst. Um seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, kreist eine Forschungsstation um den Planeten. Dorthin ist der Psychologe Kris Kelvin unterwegs. Und mit ihm das Publikum im Pariser Théâtre des Champs-Elysées. Bewaffnet mit 3D-Brillen folgt es seinem Landeanflug und blickt dabei auf eine Video-Projektion des Multimedia-Künstlers Ulf Langheinrich. Sie zeigt den mysteriösen Ozean als unruhiges Wellenspiel einer aschgrauen Masse. Beinah unmerklich gewinnt sie an Räumlichkeit, wird transparent und grobkörniger. Diese ersten Minuten der Oper Solaris von Dai Fujikura sind von einer packenden Intensität, weil sie das Gefühl verstärken, sich einem Ungreifbaren, Geheimnisvollen zu nähern. Auf der Station angekommen, findet Kris erschütternde Zustände vor. Der Forschungsbetrieb ist seit Langem zum Erliegen gekommen, die Besatzungsmitglieder sind psychisch zerrüttet. Der Grund: Wer Solaris betritt, trifft alsbald auf Figuren aus seinem eigenen Unterbewusstsein, begegnet aber auch längst Verstorbenen. Diese merkwürdigen Untoten schickt der denkende Ozean als «Gäste» hoch zur Raumstation. Auch Kris entgeht diesen alptraumhaften Vorgängen nicht: Er begegnet seiner Geliebten Hari (Sarah Tynan) wieder, an deren Selbstmord vor zehn Jahren er sich schuldig fühlt. Auch Gibarian (Callum Thorpe), der sich vor Kurzem das Leben genommen hat, sucht die Station wieder heim. Das Libretto konzentriert sich auf das zum Scheitern verurteilte Zusammentreffen von Kris und Hari. Diese verliebt sich in Kris. Der aber zweifelt immer mehr, ob er es mit einem Klon oder der echten Hari zu tun und rutscht langsam in eine Psychose. Die Identitätskrise findet Ausdruck in der Verdoppelung dieser Rolle: Leigh Melrose singt den handelnden
© Vincent Pontet | WiKiSpectacle
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Zuständig für die Veranschualichung der Emotionen: die Tänzer Rihoko Sato (Hari), Nicolas Le Riche (Snaut) und Václav Kuneš (Kris).
Kris, Marcus Farnsworth dessen innere Gedankenwelt. Diese Live-Stimme aus dem Off schickt Fujikura durch allerlei aufwändige elektronische Verfremdungsprozesse (Realisation durch Gilbert Nouno vom Pariser IRCAM).Tragisches Ende der Geschichte: Hari lässt sich von dem Kybernetiker Snaut (Tom Randle) eliminieren, um Kris zu retten, man kann auch sagen, zu erlösen. Der wiederum gibt sich dem Ozean hin – um Hari nahe zu sein. Doppelselbstmord aus Liebe – Lems Weltraumabenteuer enthält also eine gehörige Portion romantischer Tragik. KONVENTIONELLE GESANGSPARTIEN
Solaris ist Fujikuras erste Oper, die Gesangspartien sind anspruchsvoll, aber recht konventionell. Die Sänger bewältigen die Herausforderung am Premierenabend auf bewundernswerte Weise. Doch die vokalen Linien verbreiten eine permanente Aufgeregtheit. Gleich der erste Auftritt von Kris auf der Station schlägt einen heldischen Ton an, als wolle der Neuankömmling die Besatzung aus den Klauen eines Weltraumungeheuers retten. Diese Dauer-Espressivität kippt denn auch bald in Ermüdung um, sie lässt zu wenig Raum für das Verstörende, Fremde, Ungreifbare. Am ehesten gelingt das noch in instrumentalen Klangbildern wie etwa in den ersten Minuten von «Tag 2», wenn Kris auf Hari trifft. Zart flirren hier die Streicher, unheimlich flöten
Flageoletts und heulen Glissandi (untadelig: das Ensemble Intercontemporain unter Erik Nielsen). TANZOPER
Doch Solaris (eine Koproduktion zwischen dem Théâtre des Champs-Elysées, der Oper Lille und der Oper Lausanne) ist weit mehr als eine Oper – es ist eine Tanzoper. Die Idee dazu geht auf Saburo Teshigawara zurück. Der Japaner schrieb nicht nur das Libretto, sondern ist in der Produktion auch als Choreograph, Lichtdesigner, Kostümund Bühnenbildner, Regisseur und Tänzer gegenwärtig. In seiner Konzeption erscheint jede Figur doppelt – als Sänger und als Tänzer. Die Bühne dafür ist ein leerer, von kaltem Licht erfüllter Raum. Die Sänger verharren zumeist links und rechts dieser Guckkastenbühne, eingezwängt in seltsames, an Raumanzüge erinnerndes Drahtgeflecht. Es obliegt den Tänzern, die Emotionen der Figuren auf die Bühne zu bringen: Verzweiflung, Macht, Wahnsinn, Begehren, Enttäuschung. Rihoko Sato als Hari, Václav Kuneš als Kris, Nicolas Le Riche als Snaut und Teshigawara selbst als Gibarian liefern grandiose Tanzdarbietungen ab und geben Stück den Freiraum, vor dem sich die Musik zu fürchten scheint. «Es gibt auf ‹Solaris› keine Antworten», heißt es einmal in Lems Roman. Fujikuras Tonwelt aber gibt zu viele Antworten. n Mathias Nofze
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ORCHESTER
OTHMAR SCHOECK SOMMERNACHT | SONATE FÜR BASSKLARINETTE UND ORCHESTER | PENTHESILEASUITE | BESUCH IN URACH Rachel Harnisch, Sopran; Bernhard Röthlisberger, Bassklarinette; Berner Symphonieorchester, Mario Venzago Musiques Suisses MGB CD 6281
So tief der schweizerische Komponist Othmar Schoeck (1886–1957) in Kunstanschauungen des 19. Jahrhunderts verwurzelt war, so wenig wird ihm der Ruf eines «letzten Romantikers» gerecht. Der Reger-Schüler verstand sich durchaus als «Moderner». Zwar hielt er am Ausdrucksprinzip fest und wahrte die Tonalität, die er aber immer weiter ausränderte. Sein Anspruch auf Modernität macht sich nicht zuletzt in der gewagten Harmonik seiner Oper Penthesilea (1923-25, revidiert 1927) und ihrem Verzicht auf formale Geschlossenheit geltend. Wogegen sich die dramatische Kantate Vom Fischer un syner Fru (nach dem plattdeutschen Märchen von Philipp Otto Runge) dem epischen Theater der 1920er Jahre nähert. Neben den Opern gründet sich Schoecks früher Ruhm vor allem auf sein Liedschaffen. Das dichterische Wort blieb ihm zeitlebens primärer Schaffensimpuls. Seit den 1920er Jahren fasste er seine Lieder fast ausnahmslos in Zyklen zusammen – ein Indiz, dass er dem Geltungsverlust des Genres entgegenzuwirken suchte (wie Schönberg mit seinem GeorgeZyklus). Eine Ehrenrettung erster Klasse gelang Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll 1986 mit ihrer Schallplattenaufnahme des KellerZyklus Unter Sternen. Schoecks Orchesterwerke harren noch der Entdeckung. Diese Kenntnislücke sucht der Zürcher MigrosGenossenschaftsbund mit der vorliegenden CD zu schließen, beginnend mit Sommernacht, einem «pastoralen
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Intermezzo für Streichorchester». 1945 für die Bernische Musikgesellschaft komponiert, fußt die bildhafte Tondichtung en miniature auf Gottfried Kellers gleichnamigem Gedicht. Es erzählt von einem Brauch, den die Erfindung des Mähdreschers zunichte machte: nach dem großflächigen Ernteinsatz schnitten die Dorfburschen den Witwen oder Waisen, die sich keine Helfer leisten konnten, deren Getreide um Gottes Lohn. Im Gegensatz zu Paul Hindemith oder Alban Berg destillierte Schoeck aus seinen Opern keine Orchestersuiten. Wie ansprechend eine Blütenlese der Oper Penthesilea hätte ausfallen können, zeigt Andreas Delfs (über den sich das Beiheft leider ausschweigt) in seiner Orchesterbearbeitung. Seine Kunst besteht darin, ariose Teile der Oper zu verknüpfen und öfter auch die Gesangsstimmen ins Orchester aufzunehmen. Eine wertvolle Bereicherung der Holzbläser-Literatur ist Schoecks Sonate für Bassklarinette von 1928, deren Klavierpart Willy Honegger orchestrierte (auch ihm widmet das Booklet keine Zeile). Bernhard Röthlisberger, Soloklarinettist des Berner Symphonieorchesters, ist ihr berufener Interpret. Im dritten Satz spielt der Komponist mit der absurden Charakterseite des Instruments, indem er schräge Ragtime-Elemente mit Jagdhornmotiven konterkariert. Das Lied Besuch in Urach entstand 1948 für den Mörike-Zyklus Das holde Bescheiden: das einzige Klavierlied, das der Komponist selbst für Orchester einrichtete. Rachel Harnisch (Sopran) spürt der wehmütigen Erinnerung des Komponisten an seine jugendlichen Wanderungen durchs Schwabenland nach. Lutz Lesle MUSIK nnnnn TECHNIK n n n n n BOOKLET n n n n n
EMPFEHLUNG
HELMUT LACHENMANN SCHREIBEN | DOUBLE (GRIDO II) SWR Sinfonieorchester BadenBaden und Freiburg. Experimentalstudio des SWR, Lucerne Festival Academy Ensemble, Sylvain Cambreling, Matthias Hermann Kairos 0013342 KAI
Es wäre dem redlichen Helmut Lachenmann wohl peinlich, wenn man ihn als so etwas wie den «Meister der Geräuschkomposition» bezeichnen würde. Aber es hat schon was: In Werken vieler seiner Schüler (und Epigonen) klingt das Geräusch eher als Akzidenz, oft als manieristisches. Anders bei Lachenmann: Schon in den frühen 1970er Jahren – etwa im Orchesterwerk Klangschatten – mein Saitenspiel für 48 Streicher und drei Konzertflügel (1972) – ist das so schwer kontrollierbare Geräusch richtig am Platz. Gleiches gilt für die beiden großformatigen Stücke auf der CD, für Schreiben (2003) ebenso wie für die Ausarbeitung des bekannten Grido für Streichquartett in Form von Double (Grido II) für Streichorchester (2004). Es gibt wenige Orchester, die sich – erstens – überhaupt auf Lachenmann einlassen, und – zweitens – solche Hörabenteuer gut zu spielen wissen. Für die Experten des SWR Sinfonieorchesters ist das Erste selbstverständlich. Aber auch das Zweite gelingt ihnen in aufsehenerregender Weise. In Double (Grido II), schon 2005 im Rahmen des Lucerne Festival aufgenommen im akustisch hervorragenden Saal des KKL in Luzern, spielen die ersten Geigen feinste Figurationen in unwirklichen Höhen. Die rhythmische Komplexität bewältigt das Orchester, ohne jedoch dem Stück seine schroffen Abgründe zu nehmen. Angemessener, ja, perfekter ist eine Lachenmann-Interpretation kaum vorstellbar.
Das komplette Orchester ist etwas anderes als ein Streichorchester – es potenziert die Klang- und Geräuschvielfalt. Reichhaltiges Schlagwerk, gestopfte Bläser und variable Streicher durchschreiten in Schreiben verschiedene Felder, die Rainer Nonnenmann im informativen BookletText mit Lachenmanns einst aufgestellten Klangtypologien in Zusammenhang bringt. Sylvain Cambreling ist im Falle von Schreiben ein sicherer Bändiger orchestraler Energien. Überwältigende Prägnanz hat auch diese Einspielung aus der – dem Luzerner KKL akustisch ebenbürtigen – Berliner Philharmonie. An den sämtlichen Höchstnoten haben die überzeugenden Produktionen des Schweizer Radios (Double) und des SWR (Schreiben) großen Anteil. Selten bis nie kamen Lachenmanns Orchesterwerke in solch fulminanter Räumlichkeit zur Entfaltung. Die Publikation aus dem Hause Kairos ist ein Ereignis – sie wirft die Frage auf, ob es nicht sinnvoll wäre, eine CD-Reihe zu starten mit großen, bisher unveröffentlichten Orchesterwerken. Vielleicht lagert ja auch im Fall solcher «Meister» wie Iannis Xenakis, Bernd Alois Zimmermann oder Pierre Boulez noch einiges in den Archiven der Rundfunksender? Einziger Wermutstropfen bleibt das immer näher rückende Verschwinden des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. Torsten Möller
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TONTRÄGER
VALENTIN SILVESTROV SPEKTREN | SINFONIE NR. 2 | KANTATE | MEDITATION | «WELT, LEB WOHL …!» Nelly Lee, Sopran; Juri Olijnik, Bariton; Valentin Potapow, Violoncello; Solistenensemble der Leningrader Philharmoniker, Leningrader Kammerorchester, Kammerorchester «Perpetuum Mobile», Kiewer Kammerorchester, Igor Blaschkow Wergo WER 67312
Der 1937 geborene ukrainische Komponist Valentin Silvestrov hat über die Jahre seines Wirkens ein enorm diverses Œuvre geschaffen, wovon außerhalb seines Heimatlandes sträflich wenig bekannt ist. Auf der vorliegenden CD bietet sich die Möglichkeit des Kennenlernens der musiksprachlichen Vielfalt und Innovationskraft des Autodidakten. Alle Aufnahmen sind historisch, die jüngste – Welt, leb wohl ...!, Nr. 5 aus dem Vokalzyklus Stille Lieder (1974–77) für Bariton und Kammerorchester, in einer Bearbeitung von Igor Blaschkow – datiert auf 1991. Die für Kammerorchester besetzten Werke Spektren und Symphonie Nr. 2 (beide 1965) wurden Mitte der 60er Jahre aufgenommen, was nicht nur ganz erstaunlich ist, weil man ihnen das Alter in keinem Moment anhört, sondern auch, weil die Musik so vollkommen anders klingt als alles, was zum damaligen Zeitpunkt westlich der Ukraine komponiert wurde, und gleichzeitig von einer fundierten Kenntnis dessen zeugt. Entstanden als Auftragsarbeit für einen schließlich von der Zensur verhinderten Film des Regisseurs Sergei Paradschanow war die Abbildung von Feuer und Licht in allen denkbaren Nuancen die musikalische Grundidee von Spektren. Silvestrov findet schlüssige poetische Entsprechungen für die Schattierungen des Lichts in der farbenreichen Orchesterbesetzung, den Tempowechseln und dynamischen Bewegungen
des Klangs. Graduelle Übergänge von hell zu dunkel bestimmen die Struktur der Musik, als Aufflammen, Flackern, Strahlen oder Verglimmen. Parallelen zur Spektralmusik sind im häufigen Aufsplittern der Klänge und ihrem irisierenden Nachhall durchaus auszumachen, obwohl Silvestrovs Intention eine gänzlich andere ist – seine Idee ist vielmehr die einer formgebenden Melodie als Material, die noch jedes Zucken des Lichts durchwirkt und auch die im Raum versprengten Funken leitet. In Spektren etabliert Silvestrov eine Notationsweise, um Aleatorik explizit mit einzubeziehen: senkrechte Pfeile über dem Notensystem unterteilen die musikalische Zeit in reale Zeitmaße, innerhalb derer komponierte und improvisierte Anteile verschwimmen. In der einsätzigen Symphonie Nr. 2 verleiht dies dem musikalischen Gefüge eine Schwerelosigkeit, die in drei Abschnitten jeweils unterschiedlich konnotiert wird. Nach einer dramatischen Passage mit Ensembleintroduktion, Glockensolo und Beantwortung durch die Flöte öffnet sich die Musik zu einem lyrischen Adagio, das trotz ruckartig vorgetragener Schlagzeug-Kadenz durchweg leise Töne anschlägt. Das kurze Finale befriedet den nie zum Ausbruch gekommenen Konflikt. In der Tat scheinen sich in Silvestrovs Musik neoromantische Tendenzen, Tonalität wie Atonalität, erweiterte Spieltechniken und avancierte Kompositionskonzepte unter der schützenden Hand einer poetischen Logik des Ausdrucks zu umarmen: ein auf faszinierend eigenständige Weise Differenzen zusammendenkender Ansatz, der unbedingt mehr Aufmerksamkeit verdient. Patrick Klingenschmitt MUSIK nnnnn TECHNIK n n n n n BOOKLET n n n n n
MARK ANDRE …AUF… SWR Sinfonieorchester BadenBaden und Freiburg, Sylvain Cambreling; Experimentalstudio des SWR Wergo WER 73222
Es ist sicher nicht abwegig, wenn Lydia Jeschke im Booklet der CD mit Orchesterwerken von Mark Andre Begriffe wie «Auferstehung» und «Triptychon» verwendet. Schließlich hält der Komponist mit Hinweisen auf Transzendenz und Metaphysik, Bibelstellen und Sinnsuche nicht hinter dem Berg. Aber warum «Triptychon» und nicht «Trilogie», wenn schon unentschieden bleibt, ob es ein dreisätziges Werk oder ein Zyklus sein soll? …auf… 1: Zwanzig Sekunden lang ist nur der Hauch eines Bogenstrichs zu hören. Dann saust ein Hieb darnieder, und noch einer: eine Geißelung?Von religiöser Zuversicht scheint Andre so weit entfernt wie vom vollen Klang – aus vollem Herzen? – einer Bach-Kantate. Es sind, wie bei einem Lachenmann-Schüler kaum anders zu erwarten, dem sonoren Wohlklang entgegengesetzte Bereiche, denen der Komponist in den drei Orchesterwerken nachhorcht, oft ganz leise, dann wieder fast roh und gewaltsam. Leichte Schläge mit der Bogen-Rückseite auf Korpus und Saiten. Klaviercluster. Explosive Trommelschläge. Multiphonics bei den Holzbläsern, Reibungen eng aneinanderliegender Frequenzen bei den Blechbläsern: Mark Andre ist gewiss nicht der einzige, der solche geräuschhaften Erweiterungen des Instrumentalklangs zelebriert, aber er tut es mit besonderer Andacht und Ernsthaftigkeit. …auf… 2 beginnt mit einem leisen Klopfen, gefolgt von einem einzelnen Klavierton. Dann zwei hart hintereinander angeschlagene Cluster, und nochmal zwei. Minuten lang
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sind nur zwei Klaviere zu hören, eines präpariert, nur Geräusche von sich zu geben. Dann greift eineVioline den Nachhall eines Klaviertons auf, und auf einmal kommt mehr Bewegung ins Spiel. In …auf… 3 ist zunächst nur ein vereinzeltes Kratzen hie und da auf den Violinsaiten zu vernehmen, bevor auch hier heftige Schläge ertönen und in diesem Fall in einem elektronischen Resonanzraum verhallen. Es klappert und hallt, hohe Obertöne perlen aus den Instrumentalklängen heraus – oder sind sie auf elektronischem Wege erzeugt? Wie ein Hagelsturm prasseln die Schläge der Perkussionisten und Pianisten hernieder. Dann wieder stehen lange Töne, Klangflächen im Raum, von den Violinsaiten, Oboen, aus den Drähten kommend. An einer der schöneren leisen Stellen raschelt und trippelt es, als hätte man Ameisen auf einer Trommel abgesetzt, die dann von einem Gongschlag aufgeschreckt werden. Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, das …auf… 3 bei den Donaueschinger Musiktagen 2007 uraufgeführt und mit einem Preis ausgezeichnet hat, hat unter Sylvain Cambreling auch die vorliegenden Aufnahmen eingespielt. Zweifellos ist dies Spielkunst auf höchstem Niveau, mit erweiterten Spieltechniken, hohen Anforderungen an den Zusammenklang und die Geistesgegenwart jedes Einzelnen. Für den, der Nachbarn hat, ist die Aufnahme im heimischen Wohnzimmer allerdings nicht leicht anzuhören, da die leisen Passagen zwingen, die Anlage so weit aufzudrehen, dass die lauteren Stellen Zimmerlautstärke deutlich übersteigen. Dietrich Heißenbüttel MUSIK nnnnn TECHNIK n n n n n BOOKLET n n n n n
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KLAVIER
CHRISTOPHER FOX WORKS FOR PIANO Philip Thomas, Klavier hat[now]ART 192
Der 1955 geborene Brite Christopher Fox gehört zu jenen zeitgenössischen Komponisten, die, ohne irgendeiner Schule anzugehören, in ihrer Musik stets das Neue suchen – und damit nicht etwa jene Klänge und Strukturen meinen, die wir seit jeher als «neu» zu definieren gewohnt sind. Elemente einer minimalistischen Ästhetik finden sich in den von Philip Thomas auf der vorliegenden CD interpretierten vier Klavierwerken ebenso wie solche der «New Complexitiy» – ohne dass die resultierende Musik dem Mainstream dieser Stilrichtungen auch nur im Geringsten ähnelte. Im Vordergrund jedes der vier Stücke steht eine technische Aufgabe, die sich der Komponist selbst gesetzt hat, die aber ohne Mithilfe des Interpreten (und des Instruments!) nicht gelöst werden kann. L’ascenseur beschreibt die allmähliche Entwicklung von den tiefsten zu den höchsten Regionen des Klaviers nach Art einer Wendeltreppe, wobei die Dichte der Musik sich im Verlauf der Komposition immer mehr ausdünnt: Die Bassregionen sind von dichten Clustern beherrscht, und am Schluss, wenn der Pianist am rechten Rand des Klaviers angekommen ist, bestimmen nur noch Einzeltöne in schneller Frequenz das Bild. Ein einziger Ton ist es, der das Grundmaterial von at the edge of time bildet – konterkariert von tieferen Noten, deren Saiten mit Gummi präpariert sind, um die verschiedenen Obertöne hörbar werden zu lassen. Diese Obertöne dominieren, gemeinsam mit dem Rhythmus der angeschlagenen Tasten und dem immer wiederkehrenden Einzelton, das klangliche Geschehen.
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KAMMERMUSIK
In Thermogenesis bedient sich Fox eines quasi theatralischen Tricks: Eine Folge von Akkorden wird vom Pianisten dreimal nacheinander gespielt, wobei beim ersten Mal seine Hände in Fäustlingen stecken, beim zweiten Mal in normalen Handschuhen; erst beim dritten Mal benutzt er «nur» seine Finger. Das Ergebnis: immer größere Klarheit. In den Republican Bagatelles unternimmt Fox schlussendlich das Experiment, zwei Variationszyklen, einen «nach Art» Beethovens, den anderen in Ives’scher Couleur, miteinander zu verknüpfen und die beiden Themen (eines davon ist uns als Oh Tannenbaum bekannt!) zu einem neuen zu verschmelzen. Wenn nun all diese Methoden auf den ersten Blick arg technisch anmuten, so kann vermeldet werden, dass das akustische Ergebnis alles andere als trocken anmutet. Die spielerische Freude am Experiment kommuniziert sich nicht zuletzt deswegen so unmittelbar, weil eben dieses Experiment so kompositorisch klug durchdacht und durchgeführt ist – und zwar vor allem auf pianistische Art. So neu und unerhört viele der produzierten Klänge auch erscheinen mögen: Sie sind dem Instrument abgelauscht und dem Pianisten in die Finger geschrieben – in der Absicht, dessen technische Möglichkeiten stets zu erweitern. Und nicht zuletzt vermögen sie, wenn man sich mit ihnen auseinandersetzt, den Kopf zu öffnen – sowohl den des Musikers als auch den des Hörers! Thomas Schulz
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JACK QUARTET – FIRST PERFORMANCE, VOL. IV Streichquartette von Rodericus, Elliott Carter, Ruth Crawford Seeger und Georg Friedrich Haas CD und Blu-Ray, Bonitz / harmonia mundi BMN 20145
Es zeugt schon mal von enormen Selbstbewusstsein, solch ein Programm live einzuspielen. Mit Elliott Carters Streichquartett Nr. 3, Ruth Crawford Seegers String Quartet und Georg Friedrich Haas’ Streichquartett Nr. 8 schufen sich die Herren des JACK Quartet gewiss keine leichte Arbeitsgrundlage. Jedes der Stücke fordert einiges und Eigenes: da wären die stringente Dauerkomplexität Carters, die aparte Sprödigkeit Crawford Seegers und die intonatorischen Gratwanderungen Haas’scher Prägung. Erstaunlich, wie die Herren Ari Streisfeld (Violine), Christopher Otto (Violine), John Pickford Richards (Viola) und Kevin McFarland (Cello) das rund einstündige Programm nicht nur absolvieren. An keiner Stelle verlieren sie die Kontrolle. Die Präsenz und Direktheit, mit der sie offensiv agieren, erinnert tatsächlich an ihre einstigen Mentoren vom Arditti String Quartet, als deren Thronfolger die «JACKs» offenbar gehandelt werden. Solche hochvirtuose Bändigung hat aber auch Kehrseiten. Sie mag passen zu Carters verkrampftem Verdichtungswollen, das schlicht an des Hörers Nerven zerrt. Im Fall von Haas’ wunderbarem Achten Streichquartett hätten mehr Ton und mehr Flexibilität allerdings nicht geschadet. Das rauschhaft Dionysische dieser vitalen Klangwelten kommt nicht so recht heraus. Die JACKs tauchen nicht ein, sie bleiben an der Oberfläche, scheinen zu sehr am Notentext zu kleben. Schade ist das deshalb, weil die JACKs es auch anders können. In Crawford Seegers die Zwölftontechnik Schönbergs widerspiegelndem
String Quartet gibt es Passagen mit wundervolle Klangformungen, teils irreal-fahlen Welten, deren Ursprünge nicht im Streichquartett zu liegen scheinen. Ähnliches gilt für die einleitenden Takte aus dem Angelorum psalat tripudium des Vertreters der Ars Subtilior, des Meisters Rodericus. Wenn auch die Bearbeitung der Motette durch Christopher Otto vor allem wegen unnötig vieler Pizzikati etwas überkandidelt-manieristische Züge hat, so zeigen die JACKs doch eine Variabilität, die in anderen Stücken zuweilen fehlt. So erstaunlich die Virtuosität der JACKs ist, so erstaunlich gelungen ist die Live-Aufnahme. Manches Husten mag den Puristen stören. Aber im Baseler Hans-Huber-Saal atmet die Musik, hat nichts von einem sterilen Studiosound. Für diejenigen, die das Konzert sehen wollen, ist neben der herkömmlichen CD eine Blu-RayDisc dabei mit einer zwanzigminütigen Einführung von Elmar Budde zu Haas’ Streichquartett. Auf dieser ist auch Platz für eine audiophile Fassung der Einspielung in Form einer 96 000-Hertz-Fassung mit 24 Bit.Wer den qualitativen Unterschied zur CD mit ihren 44 000 Herz und 16 Bit hört, der hat spitze Ohren und vermutlich hochpreisige Lautsprecher oder Kopfhörer. Torsten Möller
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TONTRÄGER
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JOHN CAGE THE WORKS FOR PERCUSSION 3 Composed Improvisation | Child of Tree | One4 | Branches D’Arcy Philip Gray, Percussion und Bassgitarre mode records, mode 272
Der New Yorker Schlagzeuger D’ Arcy Philip Gray stand in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in engem Kontakt zum Cage-Kreis, hatte regen Austausch mit David Tudor und wirkte als Musiker bei der Merce Cunningham Dance Company mit. Das Spannungsfeld von (offener) Komposition und (gelenkter) Improvisation, Notation und «open form» treibt auch dieses Soloprogramm mit Cage-Stücken an, die allesamt die Grenzen zwischen Komponist und Interpret verschwinden lassen. Dennoch betrachtet Gray seine Einspielungen zuvorderst als Realisierungen Cage’scher Konzeptionen, die sich für gewöhnlich auf dem schmalen Grat zwischen Freiheit und Willkür bewegen – als Letztere ist Cages «Absichtslosigkeit» häufig missverstanden worden. Die Composed Improvisations (1990) entstanden zur Zeit der «Number Pieces» und gehören zu den weniger bekannten Konzeptionen Cages, welche die Ambivalenz von Freiheit und intentionaler Gestaltung schon im Titel tragen. Es handelt sich um drei Stücke, die Cage für spezifische Instrumente konzipiert hatte, eines «für Steinberger Bassgitarre» (Nr. 1), eines für «kleine Trommel» (Nr. 2) und ein weiteres für «einseitig bespannte Trommeln mit oder ohne Schellen» (Nr. 3).Während Gray die Trommelstücke als ein brüchiges Gewebe perkussiver Einzelaktionen interpretiert (die vom Spieler im Vorfeld genau ausgewählt werden müssen), erscheint das E-Bass-Stück mit geräuschhafter Flächigkeit und changiert zwischen metallischen Schraffuren und irisie-
renden Klangbändern, rhythmische Akzentuierungen völlig vermeidend. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Experiment, alle Einzelstücke noch einmal übereinandergeschichtet ohne Rücksicht auf den spezifischen Zusammenklang aufzunehmen. Interessant vor allem deshalb, weil diese «Extra-Version» nicht wirklich funktioniert! Sie offenbart stattdessen wunderbar in ihren relativ spannungslosen Abläufen, dass die gelungene Wirkung eines Cage-Stückes eben ganz stark von der Eigenverantwortlichkeit und Sensibilität des Spielers abhängt und (zumeist) keiner beliebigen Assemblage von Klängen gleichkommt! Einen ähnlich reduzierten, kontemplativen Ansatz wie die Realisierung der Composed Improvisations verfolgt auch die Gestaltung von One4 (1990). Unter intensivem Beckeneinsatz dominieren sphärische Klangflächen, gelegentlich zertrümmert von harten Einzelschlägen. Insgesamt ist eine fast bedrohlich-abgründige Atmosphäre vorherrschend, wo lange Pausen für gespannte Aufmerksamkeit sorgen. Cages «Bio-Stücke» Child of Tree (1975) und Branches (1976), die ausschließlich auf verstärktem Pflanzenmaterial gespielt werden, hat man allerdings schon intensiver, charmanter, geheimnisvoller gehört, auch wenn das Zupfen der Kakteen auch hier seine Wirkung nicht verfehlt. Vor allem was Branches betrifft, ist man ruhigere, raumgreifendere, poetischere Darstellungen gewohnt … Dirk Wieschollek
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EMPFEHLUNG
MORTON FELDMAN STRING QUARTET NO. 1 / STRUCTURES / THREE PIECES FLUX Quartet 2 CDs + 1 DVD-Surround mode records, mode 269/70
Dem New Yorker FLUX-Quartett verdanken wir bereits eine wundervolle Aufnahme von Morton Feldmans zweitem Streichquartett, die 2001 entstand. Erst jetzt legt mode records das 2009 aufgenommene erste Quartett nach, das mit Feldmans gegen Ende der 1970er Jahre sich mehr und mehr verfestigender Idee, Stücke von sehr langer Dauer zu schreiben, ernst macht. Mit seinen zwei Stunden Spielzeit ist es allerdings noch immerhin ca. vier Stunden kürzer als das String Quartet No. 2 (1983) – also eine kurze und bündige «Vorstudie» zum späteren Langstreckenlauf, wenn man so will. 1979 war ein gutes Streichquartett-Jahr: Luigi Nonos Fragmente – Stille,An Diotima und Feldmans String Quartet No. 1 markierten – in der raumgreifenden Verkettung kleinster fragmentarischer Sinneinheiten beide nicht unähnlich – zwei völlige Neubestimmungen der Gattung und in der Sprache der Komponisten eine ästhetische Radikalisierung im Sinne der reduktiven Konzentration auf wesentliche Ausdrucksmomente. Man kann immer wieder nur staunen ob der rätselhaften Einzigartigkeit der Feldman’schen Musik, die kein Gegenstück hat, obwohl sie im Wesentlichen aus nichts anderem besteht als aus Tonhöhen, erst recht im klangfarblich relativ homogenen Medium Streichquartett. Nichts vordergründig Unkonventionelles oder gar Spektakuläres ist darin, keine unkonventionellen Spieltechniken, spektakulären Klangfarben, dramatische Expressivität, und dennoch klingt diese rein instrumentale Klangwelt,
als käme sie von einem anderen Planeten. Nach den kognitiven Grenzerfahrungen, denen sich das FLUXQuartett in einer (pausenlosen) LivePerformance des zweiten Quartetts aussetzte, dürfte diese Einspielung ein Leichtes gewesen sein: Mit größter Zartheit, Zerbrechlichkeit und Klarheit kommt Feldmans kontemplative Assemblage daher und zieht einen gleich mit den ersten Klängen in ihren Bann. Jeder Augenblick will hier für sich wahrgenommen werden in der unendlich subtilen Variation und Rotation kleinster Figurationen und subtilster Klangfarben- und Beleuchtungswechsel, wobei herkömmliche Konturen von Zeit und Raum wie in Trance aufgelöst werden. Bekanntlich ist das String Quartet No. 1 nicht Feldmans erster Gattungsbeitrag; insofern komplettieren die Structures (1951) und Three Pieces for String Quartet (1954–56) diese FLUXAufnahmen zur ersten Gesamteinspielung aller Streichquartette Feldmans. Nicht viele Formationen können von sich behaupten, sich dieser Herausforderung gestellt zu haben. Interessant, dass schon in diesen eher aphoristischen, vom gestischen Punktualismus Weberns inspirierten Stücken fast alles da ist, was den späteren Feldman ausmacht: das fundamentale Wechselspiel von Klang und Stille, Form als Verkettung kleiner variativer Wiederholungsschleifen und ein unwirklich vibratoloses Spiel. Wer auf der beigefügten DVD Visuelles erhofft, sieht sich getäuscht – es handelt sich um eine rein akustische Präsentation der Aufnahme im DTS 5.1 Surround Sound, die eine lückenlose Wahrnehmung des Ganzen ermöglicht. Dirk Wieschollek MUSIK nnnnn TECHNIK n n n n n BOOKLET n n n n n
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KAMMERMUSIK
ARDITTI QUARTET PANDORA’S BOX Werke von Rebecca Saunders, Benedict Mason, Luke Bedford und John Zorn col legno WWE 1 CD 20421
Die Klänge dehnen, stauchen, biegen und brechen sich wie in einem Spiegelkabinett. Rebecca Saunders schickt das Streichquartett in Fletch von 2012 durch wilde Flageolett-, Flautandound Glissando-Orgien, sodass ein prismatisch klirrendes und flirrendes Geflecht entsteht. Daraus erheben sich immer wieder cantus-firmus-artig gestreckte Linien der Violine in hoher Lage und des um eine Oktave tiefer gestimmten Violoncellos in Kontrabasslage. Vor der bewegten Kontrastfolie treten diese Phantommelodien mit geisterhafter Ruhe und Schönheit hervor. Erst während der letzten Minuten des viertelstündigen Werks beruhigt sich das hyperagile Treiben. Es gibt Momente der Stille und zunehmend reduzierte, immer zartere Klänge, die endlich vollends verebben. Das Arditti Quartet gestaltete den weiten Spannungsbogen dieses Werks stimmig in einem von zwei Konzerten bei «Wien Modern» 2013, dem «Partner-Festival» des Labels, dem sich alle vier LiveMitschnitte und Ersteinspielungen der CD verdanken. Der Titel Pandora’s Box der Produktion verdankt sich dem damals uraufgeführten Streichquartett von John Zorn, das mit der Büchse der Pandora neben allen Übeln der Welt zugleich eine Vielzahl stilistischer Reminiszenzen ausschüttet. Schon der vom Komponisten auf Deutsch verfasste und von der Sopranistin Sarah Maria Sun teils deklamierte, teils gesungene Text schwankt zwischen Neo-Expressionismus und Surrealismus: «Atmende Strände / Tauschimmer / Alchemistische Widersprüche / Lust,Verzauberung / und ein ätheri-
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scher Seelenschatten …» Die Musik atmet viel Wiener Schule-Nervosität, wandelt auf den glitzernden Bahnen von Pierrot lunaire und Debussys Mélodies. Zu den Stichworten «Stürme» und «blauäugige Dämonen» erhebt sich ein düsteres Melodram mit gehetzten Läufen,Tremoli, Kratzen und Kreischen. Auch sonst wird die wunderbare Sängerin häufig mit Vokalisen und Koloraturen in Spitzenlagen um das dreigestrichene c getrieben. Textstellen wie «Buch des Bösen» oder «Engel schaut auf!» illustrieren wahlweise drohend-statische Liegeklänge in fahler Tiefe oder süß lockende Terzen der Violinen. Mit zu viel Ernst gehört, wirkt das altbacken und prätentiös. Ironisch als «Schmonzette» genommen, hat diese Musik jedoch durchaus ihren Reiz. Das zweite Quartett von Benedict Mason bildet mit zwei rhythmisch pulsierenden Scherzi einen Rahmen für zweimal zwei hinsichtlich Spielweise, Klang, Tempo und Dynamik kontrastierende Charakterstücke. Deren erstes Satzpaar stellt mittels Übedämpfern und col legnoSpiel traumhaft verschleierten Akkorden eine perkussive Heterophonie entgegen. Das zweite Paar lässt auf gleitende Harmonien plötzlich mit Plektren geschlagene und gezupfte mikrotonale Texturen folgen. Bei Luke Bedfords Wonderful FourHeaded Nightingale schließlich hat man den Eindruck, die Musiker kämen über das Stimmen ihrer Instrumente nicht hinaus, spielen sie doch zunächst nur verschiedene Folgen und Kombinationen leerer Saiten: durchschnittliche Musik, aber in bestmöglicher Interpretation. Rainer Nonnenmann
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JÜRG FREY MÉMOIRE, HORIZON | EXTENDED CIRCULAR MUSIC | ARCHITEKTUR DER EMPFINDUNGEN Mondrian Ensemble; Konus Quartett Musiques Suisses MGB CTS-M 144
Drei Werke jüngeren Entstehungsdatums sind auf der Porträt-CD des Schweizer Komponisten Jürg Frey vereint: zwei einsätzige Stücke, komponiert als große Bögen, und ein mehrsätziges, das die Musik in wechselnden Kleinbesetzungen jeweils einige Minuten lang beleuchtet. Ein großer Bogen spannt sich auch musikalisch-inhaltlich über alle drei Werke. Sie sind reduziert im Tonmaterial, reduziert in der Aktivität und der Dynamik. Jürg Frey, Mitglied des Wandelweiser-Kollektivs, ist ein Lauschender, ein Suchender, ein Fragender. Komponisten wie Morton Feldman, Cornelius Cardew oder Howard Skempton waren es einst, die ihn zu seinem kompositorischen Weg inspiriert hatten.Wodurch zeichnet sich das Tempo eines Stücks aus, wenn man die Metronomzahl beiseite lässt? Wie verläuft Zeit, wie wird sie wahrgenommen? Wann erscheint Musik im Fluss, wann statisch? All dies sind Fragen, die Frey sich beim Komponieren immer wieder stellt und die sich auch den Hörenden stellen, wenn sie seiner Musik lauschen. Mémoire, horizon (2013/14) für Saxofonquartett dauert eine gute halbe Stunde. Liegende Klänge, ein ruhig dahinschreitendes Klangband nicht immer gleicher Breite. Mehrklänge wechseln mit nah beieinander liegenden Reibeklängen. Es entstehen Interferenzen, aber auch ein großer klangfarblicher Nuancenreichtum durch die wechselnden Instrumente und Griffverbindungen, durch Zusammenklänge und minimale Dynamikschwankungen. Basis des gesamten Werks bildet eine große Sekunde.
Größere Kontraste bestimmen die sieben Sätze des Zyklus Extended Circular Music, komponiert 2011 und 2014. In wechselnder solistischer bzw. kammermusikalischer Besetzung scheint die Musik hier tatsächlich in sich zu kreisen. Das Prinzip des Kanons ist zu erahnen, mal entfernt, dann deutlicher. Akkordfortschreitungen, oft in Kadenzen geführt, bestimmen einen großen Teil der Musik. Kontrastiert wird der Schein der Kadenzentwicklung durch gleichen Anschlag bzw. Anblasklang, also die Nicht-Änderung eines anderen Parameters, der sich der Dramaturgie der Harmonik nicht unterordnet. In einigen Sätzen fehlt eine Reibung, bricht kein Kontrast den schönen Klang, den Komponierende, nicht nur der Minimal music, allzu oft neu zu beleuchten versucht haben – auch wenn es längst nicht so simpel zugeht und das Voraushören des nächsten Akkords meist nicht so eindeutig möglich ist. Das dritte Werk dieser CD, Architektur der Empfindungen aus den Jahren 2011/2012, ist ebenfalls über weite Strecken von großer Ruhe geprägt. Kleine Bewegungen, Repetitionen werden unterbrochen durch einzeln gespielte Töne oder Mehrklänge. Scheinbar Bewegtes wirkt statisch, scheinbar stehende Klänge erwecken den Anschein fortzuschreiten, ziellos, in einen offenen Raum. Auch hier bildet ein Kanon den Rahmen. Doch welchen Stellenwert nimmt er ein oder muss er einnehmen beim Hören, um der Musik wahrnehmend gerecht zu werden? Offene Fragen sind es, die die Musik und ihren Komponisten Jürg Frey beschäftigen, keine eindeutigen Antworten. Nina Polaschegg MUSIK nnnnn TECHNIK n n n n n BOOKLET n n n n n
TONTRÄGER
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KEIKO HARADA F-FRAGMENTS Yumiko Meguri, Klavier; Stefan Hussong, Akkordeon Wergo WER 67862
In jüngster Zeit entstehen immer häufiger Kompositionen, in die das Akkordeon nicht nur integriert ist, sondern in denen es auch mit solistischen Funktionen bedacht wird. Längst hat die zeitgenössische Musik entdeckt, dass das sonst meist mit Volksmusik assoziierte Instrument sowohl facettenreiche Klangfarben als auch prägnante rhythmische Impulse beisteuern kann. Auch die Werke der japanischen Komponistin Keiko Harada zielen auf die subtilen Klangmöglichkeiten des Akkordeons. Sowohl solistisch als auch gemeinsam mit der japanischen Pianistin Yumiko Meguri nahm der deutsche Akkordeonist Stefan Hussong zwei Zyklen von Keiko Harada auf, die alle gängigen Klangklischees des Instruments vergessen lassen. Zumal Harada im solistischen Book I und in ihrem Duo F-fragments ganz bewusst Klanggesten und Ausdrucksformen verwendet, die AkkordeonistInnen sonst eher selten abverlangt werden. Das viersätzige Book I für Akkordeon solo (2010) ist nach Bone+ (1999) das zweite Stück, das die 1968 in Tokyo geborene und nach ihren Studien an der To¯ho¯-Gakuen-Musikhochschule auch bei Brian Ferneyhough ausgebildete Japanerin für Akkordeon schrieb. Und es birgt enorme technische Schwierigkeiten: gleichsam geflüsterte Passagen in vorbeihuschendem Tempo, die jedoch im schnellen Legato phrasiert werden müssen. Im zweiten der vier Stücke, «Sprinkled Efforts», ist der Solist auch alsVokalperformer gefordert und muss zu abrupten Bewegungen des Balgs expressive Zischlaute ausstoßen. Und doch bleibt, dank einer wohlüber-
legten Dramaturgie, auch ein Eindruck von innerer Ruhe haften, der vor allem dem zentralen dritten Satz, «Anticipation», zu danken ist. Ähnliches gilt auch für Haradas über dreißigminütiges Duo F-fragments für Akkordeon und Klavier aus dem Jahr 2012. Den getragenen Klavierakkorden des erstes Satzes «Twin Leaves» merkt man es zunächst gar nicht an, dass ihnen lang angehaltene, fast wie elektronische Sounds wirkenden Klänge des Akkordeons untergemischt werden, bis diese eine markante, jedoch stets in feinem Mischverhältnis mit dem Klavier bleibende Eigendynamik gewinnen. Prägnant ist etwa auch der vierte Satz, «Fall Time Blues», der stärker auf die Kontraste der beiden Instrumente setzt, wie auch das folgende «Vertical». Während das Klavier ganz kurz artikulierte, harte Staccati spielen muss, haucht das Akkordeon lange Pianissimo-Töne im höchsten Diskant. In «Vertical» werden wiederum pianistische Prinzipien reizvoll auf das Akkordeon übertragen. Doch auch F-fragments besitzt ganz stille Momente, wie etwa das nüchtern mit «no title» überschriebene Finale des Duos, in dem sich die beiden Instrumente wie schwerelos in verschiedenen Taktarten bewegen. Ergänzt werden die beiden spannenden Akkordeonstücke durch das Klaviersolo Nach Bach, in das zahlreiche andere Hommagen etwa an Le Corbusier oder Brian Ferneyhough eingeschrieben sind. Mit Yumiko Meguri und Stefan Hussong besitzt diese in Japan aufgenommene CD sehr feinfühlige und klangorientierte Interpreten. Reinhard Kager
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EMPFEHLUNG
DETLEV MÜLLER-SIEMENS TRACES Streichtrio | distant traces | … called dusk | lost traces Mondrian Ensemble, Basel Wergo WER 73102
Detlev Müller-Siemens war der jüngste von sieben um und nach 1950 geborenen Komponisten, denen Aribert Reimann 1979 in dieser Zeitschrift einen «Salut für die junge Avantgarde» entbot. Seine Sehnsucht nach der verlorenen Tonalität könne er nicht verleugnen, bekannte der damals 22-Jährige. Das tonale Denken stelle sich ihm «als etwas ständig Angestrebtes» dar. Und doch, «da durch kritische Distanz gefiltert», unmöglich zu realisieren. Es ginge ihm darum, die Distanz bewusst zu machen – «nicht um das Verwenden alter Modelle in regressiver Absicht». Tatsächlich wollte Reimanns «junge Avantgarde» die serielle Erbschaft gar nicht zurückzunehmen, sondern nur ihrem Ausdrucksbedürfnis anpassen. Die nach dem Millennium entstandene Kammermusik von Detlev Müller-Siemens lässt die Aufgeregtheit des damaligen Paradigmenwechsels weit hinter sich.Vom Mondrian Ensemble mustergültig einstudiert und aufgeführt, wirkt sie handwerklich selbstsicher und ästhetisch besonnen. Und doch spürt man unter der Oberfläche eine leise Unruhe, die Hans-Klaus Jungheinrich in seinem klugen Beiheft-Kommentar auf das Wagnis einer «auf sich selbst gestellten» Poetik zurückführt – einer Tonsprache, der immer noch ein heimliches Sehnen nach tonaler Geborgenheit innewohnt, sublimiert zu «Utopien wie Harmonie, Schönheit, Melodie». Den ersten Satz des dem Mondrian Ensemble zugeeigneten Streichtrios in zwei Sätzen (2002) beschreibt der Komponist treffend als «zerris-
sen, sprunghaft, oft motorisch und im Ablauf geprägt von hart gegeneinander geschnittenen Teilen mehrerer, sehr unterschiedlicher Gestaltebenen». Der zweite Satz mutet einheitlicher an: «Ein stockend sich nach oben bewegender, brüchiger Gesang, der gegen Ende von einem ‹PrestoLamento› kurz überblendet wird.» Das Klaviertrio distant traces folgt vier fernen Spuren, die meist nebeneinander, seltener miteinander verlaufen: «Melodische Gesten, Zeichen, Kürzel – Monologfragmente – immer deutlicher werdend und miteinander verwoben, um sich dann wieder zu vereinzeln und aufzulösen.» Zudem verweist der Komponist auf Spuren von Ligetis Gewebemusik Lontano «und einem Kaddish». Das jüdische Gebet für Verstorbene wirft auch Schatten in … called dusk (genannt Abenddämmerung) für Violoncello und Klavier. Der Titel ist der Kurzgeschichte Sans (englisch Lessness) von Samuel Beckett entnommen. Allen drei Sätzen liegt ein Kaddish zugrunde, das aber als solches unhörbar bleibt, da es ins Obertonspektrum hineinprojiziert wurde. Die Rollen der beiden Instrumente vergleicht der Komponist mit einer Schimäre: «Verschiedene Wesen, zum selben Körper gehörend». Auch die lost traces sind dem Mondrian Ensemble gewidmet. Das durchkomponierte Klavierquartett sucht Spuren, die ihm seinen Weg weisen können, nimmt sie auf und verliert sie wieder. Die Musik hält richtungslos inne, scheint ganz zu sich gefunden zu haben, um die Spurensuche erneut aufzunehmen. In allem Schweifen wohnt die Sehnsucht nach dem Ungreifbaren. Lutz Lesle MUSIK nnnnn TECHNIK n n n n n BOOKLET n n n n n
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KAMMERMUSIK
MATTHIAS PINTSCHER SOLO AND ENSEMBLE WORKS Ernesto Molinari, Bassklarinette; Sylvia Nopper, Sopran; Basler Madrigalisten; Ensemble Contrechamps, Matthias Pintscher NEOS 11302
«Bis heute ist das Orchester mein Instrument geblieben», sagte Matthias Pintscher einmal. Schon insofern ist es bemerkenswert, wenn nun eine CD mit Solo-Kompositionen und Ensemblewerken vorliegt. Aus den Jahren 1997 bis 2006 stammen sechs Stücke, darunter on a clear day für Klavier Solo, Janusgesicht für Viola und Cello sowie zwei Vokalwerke in Form von A Twilight’s Song für Sopran und sieben Instrumente und Monumento V für acht Frauenstimmen, drei Celli und Ensemble. «Das Singen ist doch der schönste Ausdruck der Musik, immer an den Atem gebunden.» Auch das sagte Pintscher. Sein Monumento V «atmet» tatsächlich. Es hat einen schönen Puls, auch eine gelungene Dramaturgie, indem Verdichtungen und Kulminationspunkte hübsch gestaltet sind, indem das Spiel mit Informationsdichten funktioniert. Aber: Jene Subjektivität, die Pintscher oft für sich reklamiert, zeigt sich nicht. Aus tradierten Modellen kann Besonderes entstehen – da ist Pintscher im Recht mit seiner Avantgardekritik. Aber gerade das Markante fehlt – bös gesagt: Es ist Neue Musik von der Stange. Monumento V lässt Eigenständigkeit missen wie auch Überraschungsmomente, die mal komisch sein könnten, exaltiert, manieristisch oder auch einfach nur mal ein Bruch in der Logik. Das oft erwähnte Problem durchzieht die ganze CD. Da wären die beiden Solo-Stücke on a clear day für Klavier und die Sieben Bagatellen mit Apotheose der Glasharmonika. Die Bagatellen ersticken an nicht wenigen Stellen an fragwürdiger Virtuosität;
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wenn es schon Miniaturen sind von im Schnitt etwa dreiminütiger Länge, darf man auch etwas mehr Dichte erwarten. Unverständlicher noch bleibt dieses on a clear day. Introspektiv im Ausdruck, ist es nicht mehr als ein nebulöses Kreisen um einen Ton. Morton Feldman kann aus wenig etwas machen, weil ihm eine Kompromisslosigkeit und Konsequenz eigen ist. Hier fehlt beides. Es bleibt beim Anschlagen und Ausklingen. Letztlich «schmeckt» die CD ähnlich schal wie Pintschers Fortschrittskritik. Es geht längst nicht mehr um Avantgarde. Aber es sollte doch noch immer um Glaubwürdigkeit gehen oder um – am besten zeitgemäße – Kunst, die Fragen aufwirft. Nach dieser CD ist klar, dass es mit dem Genfer Ensemble Contrechamps oder mit der Sopranistin Sylvia Nopper und dem Bassklarinettisten Ernesto Molinari gute Interpreten gibt. Klar wird aber auch, dass der Erfolg des Komponisten nicht auf seiner Kammermusik beruhen muss. Torsten Möller
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JAGODA SZMYTKA BLOODY CHERRIES Ensemble Garage, Mariano Chiacchiarini; Ensemble Interface, leise Dröhnung; Sebastian Schottke, Klangregie Wergo – Edition zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats, WER 64142
Rockige E-Gitarren-Töne mischen sich in das muntere Hämmern, Klopfen und Sägen auf Cello- und Kontrabasssaiten und -korpus sowie einer bunten Palette von Schlaginstrumenten. Scharf dringt die mit Rachen-R angeblasene Klarinette dazwischen, fast wie ein Saxofon. Nicht nur die E-Gitarre, alle Instrumente sind verstärkt, wie der Titel electrified memories of bloody cherries bereits andeutet: mittels Kontaktmikrofonen, die jedes noch so fragile Geräusch direkt an die Gehörgänge weiterleiten. Jagoda Szmytka scheint gerade darauf hin zu arbeiten, den Abstand zwischen Klangerzeugung und Zuhörer so gering wie möglich zu halten, ja aufzuheben. Äußerst agil bewegt sich das Ensemble Garage weiter voran. Dann plötzlich eine Unterbrechung. Zersplitternde Klänge. Kleine Explosionen. Blutige Kirschen: Auf dem CDCover und den Booklet-Bildern gibt sich die 1982 in Polen geborene Komponistin als Vampir mit vielen goldenen Armringen. Und tatsächlich: for travellers like angels or vampires heißt der zweite Titel, im Duktus ähnlich, wenn auch in etwas anderer Besetzung. Mäusegetrappel auf dem Dachboden über liegenden E-Gitarrenklängen, gleitenden Cellotönen und gehauchten Querflötengeräuschen. Ruhigere Momente auch hier, mit gezupften Glissandi, bevor sich das Geraschel fortsetzt, mit immer wieder überraschenden Wendungen. Es klingt fast wie Improvisation, ist aber fein konstruiert. Zwischen Kom-
ponistin und Ausführenden scheint es ebenfalls nur einen geringen Abstand zu geben. Schritte, Klopfen, ein Pfeifen, leere Saiten: so beginnt hand saw WeltAllStars. Generously. Das Klavier drängt sich nicht vor, eher die im schnellen Tremolo auf- und absteigenden Violin- und Violapassagen. Dass das Prinzip auch mit Stimmklängen funktioniert, ist eine weitere Erkenntnis. Allerdings handelt es sich zunächst eher um konsonantische Geräusche mit Blockflöteneinsprengseln, aus denen nach und nach belanglose Sätze aus Internet-Chats hervortauchen. In pores open wide shut tritt vor allem das Violoncello, aber auch die Flöte deutlich hervor aus einem erweiterten Klangspektrum, in dem Klavier und Schlagzeug allenfalls momentweise auf konventionelle Weise zum Einsatz kommen. Etwas aus dem Rahmen fällt f* for music, in dem EGitarre und Cello zunächst einen einzelnen hohen Ton ins Visier nehmen, bevor sie so richtig losrocken, um dann in tiefen Reibungen zu enden. In greetings from a doppelgänger schließlich sind, wie der Titel schon andeutet, die Klänge der fünf Instrumente jeweils noch einmal verzerrt über Kontaktlautsprecher in den Korpus hinein gespielt, was nach einem sehr dichten Anfang nach und nach ein erweiterte Klangspektrum erzeugt, das sich zum Schluss von seinem Ausgangsmaterial, bestehend aus Flöte,Viola,Violoncello, Klavier und Schlagzeug, ziemlich weit entfernt. Alles in allem eine sehr lebendige CD mit gelungenen Momenten, auch wenn die Stücke sich mehrheitlich doch ein wenig ähneln. Dietrich Heißenbüttel
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TONTRÄGER
MARK ALBAN LOTZ SOLO FLUTES Loplop LC 13310
Auf der Rückseite des Covers sieht man Mark Alban Lotz mit seiner Flöte vor einem hell beleuchteten Aquarium stehen; darin Tiefseefische vor exotischer Felslandschaft. Was wohl heißen soll, dass Lotz uns, sobald wir die CD eingelegt haben, ebenfalls in eine wenig bekannte Welt voller exotischer Schönheiten führen will. Und es gelingt ihm schließlich tatsächlich. Das Wort von den neuen Klangwelten wirkt im Kontext der Neuen Musik zwar meist abgegriffen, aber bei Lotz hat es doch seine Berechtigung. Solo flutes heißt die CD schlicht und einfach. Der Name ist Programm. Die 17 Stücke darauf sind sämtlich Solo-Performances von Lotz, nur der Flötentyp wechselt zwischen Alt-, Bass- und Konzertflöte, PVCKontrabass-Flöte und präparierter Flöte. Damit sind die Voraussetzungen für ein breites Spektrum an Farben, Spieltechniken und Klangeffekten gegeben, das keiner weiteren elektronischen Mittel bedarf (abgesehen von Hallbeimischung zur Aufnahme). Dass Lotz auch auf Overdubs verzichtet, ist eine Erwähnung wert, schließlich ließe sich hinter dem einen oder anderen Track tatsächlich eine Mehrspuraufnahme vermuten. Lotz, der in Berlin, Thailand und Uganda aufwuchs, um schließlich in Amsterdam Jazzflöte und klassische Musik zu studieren, d. h. nicht genuin von der Neuen Musik kommt, verschmilzt in seinen Stücken Einflüsse aus Jazz,Weltmusik und Neuer Musik so, dass sie sich entsprechender Kategorisierungen auf angenehme Weise entziehen. Er integriert improvisierte oder etüdenhafte Passagen, nutzt Obertoneffekte, zieht natürlich sämtliche Register moderner Spieltechniken und bezieht häufig
auch die eigene Stimme mit ein. So kreiert er mal weite, einsame Wüstenlandschaften (As Sahra Ash Sharqiyah – Arabische Wüste), mal evoziert er mit dem unglaublich bassigen PVC Mantra Erinnerungen an mongolischen Obertongesang. Ein Stück wie Inside nutzt auch cineastische Effekte, die Bilder von unheimlichen Höhlenwinden vorm inneren Auge aufziehen lassen. Gegliedert sind die 17 Tracks auf der CD durch mehrere Bass Flute Sequenzas, die die Satzfolge durch humoristische Momente auflockern. Hungry III klingt knurrend und wie ein absaufender Dieselmotor, in Adam and Eva hört man eine comicartige Mann-Frau-Unterhaltung, die den Schluss nahelegt, Adam könne womöglich selbst die böse Schlange gewesen sein, und der Titel The Fish on The Dry ist selbsterklärend.Vor allem bei einer Live-Aufführung dürften diese Nummern für Stimmung sorgen. Ein Booklet fehlt. Das ist insofern schade, als man zumindest gerne Einzelheiten darüber erfahren hätte, welche Flöten in welchen Stücken zum Einsatz kommen. Elisabeth Schwind
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PARTITA RADICALE ZEITEN ÄNDERN SICH Valve # 5787
Vor einigen Jahren hatte sich das Ensemble gegenwartsnaher Tonkunst aus Rumänien angenommen. Die Verbindung zu dem Balkanland geht zurück auf den Bratscher Thomas Beimel, der sich bei der Komponistin Myriam Marbe in Bukarest fortgebildet hatte. Nun aber lernt man das «Hauptanliegen» der Partita Radicale kennen: die Kunst der Gruppen-Improvisation. 1989 schon fanden sie zusammen. Und obwohl sich die Zeiten geändert haben, wie der Titel ihrer neuesten CD bestätigt, hängen sie immer noch schöpferisch aneinander: Karola Pasquay und Ortrud Kegel (Querflöte), Ute Völker (Akkordeon), Gunda Gottschalk (Violine) und Thomas Beimel (Viola). Keine normverdächtige Besetzung. Sie ergab sich vielmehr, wie das Beiheft vermerkt, aus «menschlichkünstlerischer Freundschaft». Dass sie nach 25 Jahren immer noch beisammen sind, führen sie glaubwürdig darauf zurück, «dass wir uns vermutlich nicht allzu treu geblieben sind».Vielmehr fingen sie frühzeitig an, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Wie das herrliche Sammelsurium bestätigt, das sie zum Jubiläum aus ihrem Schallarchiv bargen. 1996 reisten sie für sechs Wochen nach China, um in einem Crashkurs traditionelle Instrumente des Landes spielend zu erkunden und dem Wesen fernöstlichen Musikdenkens näher zu kommen. Ein Fremdheitserlebnis, das in ihre Programme «Back from China» (1997) und «Mr Wang’s New Face» (2004) einging. Dem ersten entstammt die kollektive Wusel- und Gruselmusik Nächtliche Fahrräder. Unter Mitwirkung des in Deutschland lebenden Peking-Opernsängers Wen Lei entstanden eine Kaputte Schallplatte, eine Atemstudie, ein verwun-
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schenes Vögelchen nebst irrlichternden Querflöten Würmchen. 2006 erfanden sie, angeregt durch eine Kölner Museums-Ausstellung («Zum Sterben schön»), ihr mittelalterliches Totentanz-Programm «Ir muesset alle in diss dantzhus!» Ihm entnahmen sie die Titel Socorro – eine Improvisation über die Chanson Secourés moy des Flamen Gérard de Turnhout (1520–80) – und eine quälend lange Slow-Motion-Improvisation über das Sterben (Transitio). Gemeinsam mit der Düsseldorfer Pianistin Sabine Roderburg entwickelte man 2008 für die Bergische Biennale für Neue Musik das Programm «Incontro»: Reflexionen und Fortschreibungen moderner Klavierwerke, darunter eine Paraphrase über Amores von John Cage (1943 für zwei präparierte Klaviere und zwei Schlagzeugtrios komponiert). 2010 tauchte die Partita Radicale erneut ins Mittelalter, diesmal in die zitierfreudige Stilsphäre der Ars subtilior. Gespielter Witz geht dem Witz des Selbstzitats nach. Diktafonie – inspiriert von zwei bürokratischen Aufführungsorten (dem Finanzamt Wuppertal und der Solinger Industrieund Handelskammer) – treibt verspielten Schabernack mit der veralteten Technik des Diktaphons. Das Programm «am schönsten ist es doch zuhause» von 2011 ist eine radikale Antwort auf die Verdrängung widerständiger Kultur aus dem öffentlichen Raum. Deren Rückzug ins Private persiflieren eine «hausmusikalische» Sitzmöbelmusik und eine diesbezügliche Collage aus Probenabfall. Bach im Schauspielhaus aus der jüngsten Produktion «as time goes by» betrauert die Schließung des Wuppertaler Stadttheaters. Lutz Lesle MUSIK nnnnn TECHNIK n n n n n BOOKLET n n n n n
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ELEKTRONIK
KARLHEINZ STOCKHAUSEN MANTRA Mark Knoop und Roderick Chadwick, Klavier; Newton Armstrong, Elektronik hat[now]ART 190
Mantra beschließt für Stockhausen eine fast zwanzigjährige, hochproduktive Phase des Suchens nach einer ureigenen kompositorischen Sprache. In den 1950er und 1960er Jahren entstanden unterschiedlichste Werke und Werktypen, von Raummusik (Gruppen, 1955–57) über Obertonmusik (Stimmung, 1968) und immer wieder Elektronik (etwa Studie I und II von 1953/54) bis hin zur Schaffung eines eigenen Improvisationstypus mit den Grundsätzen der «Intuitiven Musik». Die serielle Technik war dabei stets – wenn auch nicht vordergründig – präsent und spielte bei der Konstitution von Stockhausens Werken eine grundlegende Rolle. Mit Mantra präsentierte er in Donaueschingen 1970 zum ersten Mal seine Weiterentwicklung des deterministischen Ansatzes in der «Formelkomposition», die gleichzeitig eine radikale Rückkehr zu diesem Prinzip und seine Transzendenz darstellt. Eine Formel ist demnach der thematische Nukleus, aus dem sich alles musikalische Geschehen innerhalb des jeweiligen Werks ableitet. Wie bei der Serie auch ist jedes Ereignis innerhalb der Formel mit Tonhöhe, Rhythmus und Dynamik festgelegt, verfügt darüber hinaus aber noch über differenzierte Artikulationsangaben, Vorgaben zur Akzentuierung sowie gegebenenfalls periodische oder aperiodische Repetitionen, Triller und Tremoli. Motivische Arbeit findet nicht statt, stattdessen wird die Formel in verschiedenen Abwandlungen – Spiegelung, Umkehrung, Augmentation, Diminution, Ausschnitte etc. – zum Material der Komposition. Die größte Augmentation der Formel bildet die Gesamtstruktur des Werks
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ab, was in Mantra in einer Gliederung in 13 Sektionen resultiert, die den 13 Tönen der Formel entsprechen. Damit geht die Formel im Mantra auf und umgekehrt – radikalere Konsistenz ist kaum denkbar. Bemerkenswert ist dabei die schiere Diversität an Klängen, die Stockhausen durch dieses vermeintlich trocken-theoretische Dispositiv von den beiden Pianisten erzeugen lässt. Beide bedienen neben ihren Instrumenten einen chromatischen Satz Zimbeln sowie einen Holzblock, zusätzlich werden sämtliche an den Flügeln erzeugten Klänge durch einen Ringmodulator bearbeitet, der ebenfalls mit der Grundlage der Formel operiert. Das von diesem relativ minimalen Setup freigelegte Klangspektrum reicht von diversen Formen harmonischer Verstärkung über galaktisch anmutende Effekte tief frequenter Amplitudenmodulation, einer weiten Spanne von beckenund gongähnlichen Klängen, mikrotonalen Verstimmungen und Glissandi hin zu spektralen Farben. Die «Effekte» werden dabei zu integralen Charakteren des Werks und erscheinen mitunter als Varianten der 13 Artikulationstypen. Die beiden Pianisten Mark Knoop und Roderick Chadwick bringen das Werk auf der vorliegenden Aufnahme mustergültig zu Gehör. Die Aufnahmen entstanden im Januar 2013 in der Hall Two des Londoner Kings Place; den Instrumentalisten stand der Tontechniker Newton Armstrong zur Seite, der auch für die Bedienung sämtlichen elektronischen Equipments verantwortlich zeichnet. Patrick Klingenschmitt
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EMPFEHLUNG
DINAHBIRD A BOX OF 78S Sound Art Series by Gruenrekorder, Gruen 148, Vinyl
Es gibt Gründe, auf Vinyl zu veröffentlichen: Da wäre der High-EndFetischismus einer wachsenden Analog-Gemeinde; da wäre der schöne Karton ohne Plastik; da wäre das Konzept, das eben nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form bestimmt. Vor allem Letzteres trifft auf die LP A Box of 78s zu, die die Radioautorin DinahBird in der «Sound Art Series» bei Gruenrekorder veröffentlichte. Zum Hintergrund: In einer über achtzig Jahre alten Kiste ihrer Großmutter fand DinahBird etwa fünfzig Schallplatten mit Aufnahmen klassischer Werke inklusive vieler bekannter Opernarien. Im September 2012 fängt sie an, die Spuren der Platten zurückzuverfolgen. Mit den Scheiben im Gepäck fliegt sie zu den Golf Islands, wo ihre Großmutter geboren wurde; diese Heimreise der Platten wiederum ist dokumentiert: Field Recordings, selbst gesprochene Erinnerungen und O-Töne vermischt DinahBird mit den alten Klängen der 78er-Scheiben. Die Story klingt nach nebulöser, ziemlich subjektiv gesättigter Selbsterfahrung. DinahBird aber spricht objektiver von «composed sound». Und nicht nur dies bringt A Box of 78s in die Nähe von Luc Ferraris wunderbaren Soundscapes der 1960er Jahre, etwa Presque rien (No. 1). Der Wechsel von gesprochenen Passagen, von Musikpassagen der alten Platten oder den Naturaufnahmen ist klug arrangiert, nie zu dicht, immer viel assoziativen Freiraum lassend. Das Spiel mit Vorder- und Hintergrund ist toll arrangiert, liebevoll und technisch ausgereift, dabei nie ins Kitschige, bloß Gefällige abdriftend.
Zum Konzept der Box gehört ein ähnliches Nachleben, das den Platten der Großmutter widerfuhr. Mit einem ausgefüllten «Listening Log» (HörEintrag) kann man die Platte zurücksenden, worauf sie ein letztes Mal gespielt wird. Ein Kreis schließt sich und auch dies mag Anlass gewesen sein für eine LP-Pressung. Auf alle Fälle ist A Box of 78s nicht nur wegen des schön dicken Vinyls eine außergewöhnliche Publikation, die alle Hochachtung und Höchstnoten verdient. Selbst der klangverwöhnte High-End-Fetischist wird auf seine Kosten kommen. So direkt und live klingt eine CD wahrlich nur sehr selten. Das gelegentliche leise Staubknistern trägt zur ganz besonderen Note des durchaus nostalgischen Konzepts bei. Torsten Möller
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TONTRÄGER
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IMPROVISATION
HELIOCENTRIC COUNTERBLAST PLANETARY TUNES Enja Records ENJ-9726
Hundert Jahre wäre Sun Ra 2014 geworden, der 1993 gestorbene Musiker, der sich selbst als «from outer space» stammend beschrieb und mit seinem «Arkestra» klangliche Nachrichten aus dem interstellaren Raum verbreitete. Ebenfalls 2014 veröffentlichte die Berliner Formation «Heliocentric Counterblast» ihr zweites Album, nachdem zwei Jahre zuvor ihr erstes Tribute to Sun Ra erschienen war. Die Altsaxofonistin Kathrin Lemke hat acht Musiker um sich geschart, um einige Titel Sun Ras neu zu befragen. Die Formation, die einstmals als Projektensemble begonnen hatte, mauserte sich zu einer veritablen kleinen Bigband, die trotz nicht gerade einfacher finanzieller Situation immer wieder zu Probenarbeit und Konzerten zusammenfindet. Auf ihrer aktuellen CD Planetary Tunes sind nicht nur einige Originaltitel aus dem umfangreichen Œuvre Sun Ras versammelt. Kathrin Lemke hat zudem diverse Eigenkompositionen beigesteuert – im Gestus der Musik des «Meisters vom Saturn». Doch was bedeutet dies? Der Gedanke an die Musik Sun Ras lässt sich kaum trennen vom visuellen Eindruck der Performance der Gruppe, ob man sie früher live erlebt hat oder nicht. Fotos sind prägend – und mit ihnen die Idee des Mystischen, des Skurrilen oder aber der liebevollen Scharlatanerie – je nach Ansicht, je nach Perspektive. Die Berliner Band steht natürlich ohne Kostüme auf der Bühne. Als Erstes mag einem die klare Aufnahmetechnik auffallen, während viele Aufnahmen Sun Ras technisch eher zu wünschen übrig lassen – wenn man die diffusen Mitschnitte rückblickend als Verweis nicht ins Gesamtkonzept integrieren möchte. Die
Musiker spielen mit hoher Präzision, ziehen große Bögen, die sich oft aus im Block und colla parte gespielten Themen entwickeln, um später wieder zu diesen zurückzufinden. Während Sun Ra als einer der Pioniere des Free Jazz seine Musik in Richtung Freiheit aufgebrochen hatte, steht einer Band wie derjenigen um Kathrin Lemke heute die ganze Bandbreite der Musikgeschichte offen. Und die MusikerInnen nutzen ein weites Feld zwischen eingängigen Melodien, straightem Spiel, frei flottierenden Passagen, rhythmisch vorwärtsdrängend oder scheinbar im Raum stehend. Es bleibt Platz für Mehrschichtigkeit, für Zerfall und frei fließende Soli, aber auch für Einwürfe, abstrakte Seitenwege, klangfarbliche Gestaltung. Und Fanfaren, Rufe, Hymnisches, Swing – all dies integriert auch Lemke in ihre Stücke, ganz wie Sun Ra. Als «Bigband» mit acht bzw. in einigen Titeln neun Musikern ist Heliocentric Counterblast eine Formation, die die Tradition des Jazz in ihrem Facettenreichtum schätzt und dennoch die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte nicht verleugnet. Planetary Tunes ist eine gelungene Hommage an Sun Ra und zugleich zeitgenössischer Jazz für größere Besetzung. Nina Polaschegg
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FORCH/FURT SPUKHAFTE FERNWIRKUNG fORCH (Phil Minton & Ute Wassermann, Stimmen; Lori Freedman, Klarinetten; John Butcher, Saxofon; Rhodri Davies, Harfen; Paul Lovens, Percussion; Richard Barrett & Paul Obermayer, Elektronik) und FURT: RB & PO, Elektronik Treader trd020
Es war Reinhard Kagers Leidenschaft als SWR-Redakteur 2002 bis 2012, Elektronik in die improvisierte Musik einzubringen und mit Instrumentalklängen zu verbinden. Bereits 2005 lud er Richard Barrett und Paul Obermayer ein, das ElektronikDuo FURT zu dem größeren Ensemble fORCH zu erweitern: Dabei steht «f» für FURT, «ORCH» für Orchester. Zu seiner letzten NOW Jazz Session der Donaueschinger Musiktage, an der auch Julia Neupert schon mitgewirkt hat, bat er Barrett und Obermayer, noch einmal ein Stück für fORCH zu schreiben. Auf der CD ist zuerst die 41-minütige GruppenImprovisation-Komposition spukhafte Fernwirkung zu hören, dann das 17minütige Duo Hmyz, ebenfalls uraufgeführt bei den Donaueschinger Musiktagen, hier allerdings in einer Studioeinspielung. Komposition meint in diesem Fall, wie in der improvisierten Musik üblich, zunächst Strukturierung. Barrett/Obermayer haben das Stück unterteilt in Duo, Trios, Quartette und verschiedene Varianten begleiteter Solostimmen. Wobei Duo nicht heißt, dass alle anderen zwangsweise ruhig zu sein haben, vielmehr bleibt die Entwicklung offen. Dazu kommt, dass die beiden Laptop-Artisten Material aus den Proben mit einspielen, so dass tendenziell eine sehr hohe Dichte entsteht und sich Instrumental- und Vokalklänge manchmal kaum von ihren Doppelgängern unterscheiden. Reduktion erscheint insofern notwendig.
Es beginnt also mit dem Schlagzeug des versierten Paul Lovens und den Harfen von Rhodri Davies, die so gar nicht nach Harfe klingen. Dann stehen sich Phil Minton und Ute Wassermann mit ihrer unvergleichlichen Vokalartistik gegenüber, schließlich Lori Freedman an der Klarinette und John Butcher, der gern Spaltklänge auf dem Saxofon produziert. Hier zeigt sich, dass nicht nur die Elektroniker Instrumentalklänge verarbeiten, sondern auch, wie sich umgekehrt die erweiterten Spieltechniken der Instrumente an elektronischer Musik orientieren – genau dies besagt ja Lachenmanns Begriff der «Musique concrète instrumentale». Eben solche geräuschhaften, nicht herkömmlichen Spieltechniken sind längst fester Bestandteil der improvisierten Musik. Umgekehrt lässt sich sagen, dass erst die improvisierte LiveElektronik eine auch im Konzert anhörbare Lebendigkeit erreicht, auch wenn die Verbindung zwischen den reglos hinter ihren Laptops sitzenden Musikern und den Klängen aus dem Lautsprecher immer etwas rätselhaft bleibt. Zwischen Instrumenten, Stimmen und Elektronik ergeben sich also interessante Wechselwirkungen in beide Richtungen. Dagegen bietet das zweite Stück einen Vergleich, wie sich die Ästhetik der splitternden Klangkaskaden rein elektronisch anhört.Während die Aufnahme der größeren Besetzung den Konzerteindruck nur begrenzt wiedergeben kann, lässt sich das elektronische Stück allerdings ebenso gut zuhause anhören. Dietrich Heißenbüttel
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URAUFFÜHRUNGEN DIVERSE
MAI 2015 22. Mai 2015
Helmut Oehring: Sonett 77B für Sopran und Tenor | There’s something wrong, Duett für Sopran und Tenor, Werdenberg/CH (Schlossmediale) Hèctor Parra: Wilde, Musiktheater nach einem Stück von Händl Klaus, Schwetzingen (Schloss, Rokokotheater) n
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HANS ABRAHAMSEN ZÄHLEN UND ERZÄHLEN Four Pieces for Orchestra | Concerto for Piano and Orchestra | Ten Studies for Piano Tamara Stefanovich, Klavier; WDR Sinfonieorchester Köln, Jonathan Stockhammer Winter & Winter, W&W 910216-2
Der Däne Hans Abrahamsen (geboren 1952) legt eine sympathische Eigenwilligkeit an den Tag, wenn es darum geht, sich völlig unbeeindruckt von aktuellen kompositorischen Trends und Diskursen zu bewegen. Seine Musik ist voller Reminiszenzen, Erinnerungen und Echos von scheinbar Bekanntem, und doch bringt der Komponist das Kunststück fertig, dass die Traditionsbezüge weder abgehalftert noch dick aufgetragen klingen. Alles ist verwoben in eine sehr unmittelbar wirkende (und spontan gearbeitete) Poesie, die von bestrickender Einfachheit sein kann (Schnee), in größer besetzten Kompositionen aber auch von dramatischer Dichte. Die Vier Orchesterstücke (2002–04) sublimieren auf eindrucksvolle Weise ein spätromantisches Orchestervokabular in brüchigen Skizzen, wo fragmentarische Motive, melodische Versatzstücke, Farben und Formen herumgeistern, als befände man sich in einem Traum, der Musik von Mahler oder Berg zum Gegenstand hat. Im zweiten Satz entwickelt das alptraumhafte Züge und exzessive Steigerungen, im dritten funkelt es impressionistisch, im zeitentrückten Finale werden fast regungslose Farb-Fluktuationen und sanfte Pulsierungen von plötzlichen Rissen und langen Denkpausen durchbrochen. Mit komplexer Polyphonie hingegen wartet das Klavierkonzert (1999– 2000) auf, entstanden nach einer fast zehnjährigen Schaffenskrise des Komponisten. Eine im besten Sinne unvorhersehbare Musik, bei der im Kopf-
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satz («Allegro volante e nervoso») die Charaktere im Sekundentakt wechseln. Mit einem lyrischen Klaviermonolog («innocente e semplice») beginnt ein «Adagio», das sich im Verlauf in eine rasende Motorik mit abgründigen Zusammenbrüchen hineinsteigert. Hier merkt man, dass Abrahamsen einst Schüler von György Ligeti war. Einen deutlicher eklektizistischen Ansatz verfolgen die frühen Zehn Studien für Klavier (1983/98), die sich im Wechsel von schnellen und langsamen «Charakterstücken» unschlüssig zwischen Schumanns Albumblättern und Ligetis Klavieretüden hin- und herbewegen. Abrahamsens nostalgischer Dialog mit romantischer Klavierliteratur kündigt sich schon in Titeln wie «Traumlied», «Arabeske» und «For the Children» an, und das klingt dann auch so.Virtuose Stücke wie «Sturm», «Boogie-Woogie» oder «Cascades» scheinen in hohem Tempo eher der Komplexität und rhythmischen Verve von Ligetis Etüden zu huldigen. Tamara Stefanovich spielt das ganz wunderbar konsequent, aber es ist auch klar, warum sich Abrahamsen an dieser Stelle anscheinend noch einmal neu erfinden musste. Zufall, dass die kompositorische Faktur der vierten Studie sich am Rande des Verstummens bewegt? Ihr Titel: «Ende». Dirk Wieschollek
23. Mai 2015
Helmut Oehring: Präludium und Rand/innen, Werdenberg/CH (Schlossmediale) Lucia Ronchetti: Esame di Mezzanotte, Mannheim (Oper) n
4. Juni 2015
Sarah Nemtsov: Treppen im Meer, Theater (Erfurt) n
6. Juni 2015
Pascal Dusapin: Disputatio, Berlin (Philharmonie) n
11. Juni 2015
Chaya Czernowin: Knights of the strange / solo für E-Gitarre und Akkordeon, Basel (Gare du Nord) n
12. Juni 2015
Valentin Silvestrov: Sinfonie Nr. 8, Kiev/Ukraine (Lysenko Concert Hall)
Toshio Hosokawa: Hika, Elegie für Violine und Streichorchester, Würzburg (Kaisersaal) Olli Mustonen: Piano Quintet, Heimbach (RWE-Kraftwerk) Vassos Nicolaou: Neues Werk, Cottbus (Staatstheater)
26. Mai 2015
15. Juni 2015
Christopher Cerrone: The Pieces That Fall to Earth für Sopran und Kammerorchester, Los Angeles/USA (Walt Disney Concert Hall)
John Casken: Trackway of Time für Bariton und Kammerorchester, Durham/UK (Durham Cathedral)
28. Mai 2015
Stephan König: Haddock, Chorkantate, Leipzig (Thomaskirche)
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25. Mai 2015 n
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Anna Clyne: The Seamstress für Violine und Orchester, Chicago (Orchestra Hall) n
29. Mai 2015
Steven Mackey: Mnemosyne’s Pool für Orchester, Los Angeles (Walt Disney Concert Hall) Thierry Pécou: Adieu Madras für Sopran, Flöte, Klarinette, Saxofon, Violine,Violoncello und Klavier, Nantes/F (Théâtre Graslin) n
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30. Mai 2015
Wolfgang-Andreas Schultz: Sakuntala,Violinkonzert Nr. 2, Hamburg-Altona (Kulturkirche) n
31. Mai 2015
Michael Radulescu: Sonetti – Recitativo a 6, Fassung für Chor a cappella, Wien (Konzerthaus) Clemens Rynkowski: Neues Werk für Theremin und Ensemble, Karlsruhe (Badisches Staatstheater) n
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17. Juni 2015 n
19. Juni 2015
Dieter Schnebel: Kinder/Musik, Mini-Oper für Kinder und Kammerorchester, Berlin (Schillertheater) Alexander Shchetynsky: Konzert für Klavier und Orchester, Mainz (Staatstheater) n
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20. Juni 2015
Sven-Ingo Koch: Rinde für Kontrabass und Ensemble | Volker Staub: Neues Werk für Ensemble, Köln (WDR-Funkhaus am Wallrafplatz) n
21. Juni 2015
Gob Squad: My Square Lady. Eine Opernerkundung, Berlin (Komische Oper) n
JULI 2015
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2. Juli 2015
JUNI 2015
Sascha Janko Dragi´cevi´c: Iza Praga, Musik für 13 Intrumentalisten und Elektronik, Paris (104 – cent quatre)
1. Juni 2015
4. Juli 2015
Johannes Schöllhorn: Sinaïa 1916 für Klavier, Schlagzeug und Saxofon | Rolf Riehm: Neues Werk für Klavier, Schlagzeug und Saxofon, Luxembourg (Philharmonie)
Michael Langemann: Persona, Kammeroper nach Ingmar Bergman, Hamburg (Staatsoper) Lauri Supponen: Neues Werk für «Time of Music»,Viitasaari (Festival «Time of Music»)
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für Flöte,Violine,Viola und Violoncello über ein Gedicht von Catull, Fribourg/CH (Centre Le Phénix)
2. Juni 2015 n
Laurent Mettraux: Neues Werk
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BILDER + TÖNE BILDER …
… UND TÖNE
BR-KLASSIK: Mariss Jansons dirigiert in Luzern Leos Janáceks Glagolitische Messe für Soli, Chor, Orgel und Orchester (11 Uhr) | Meisterwerke der klassischen Musik – Igor Stravinsky: Le Sacre du Printemps (1913). Musikdokumentation (11.45 Uhr) 4. Juni: ARD-alpha musica viva – Forum der Gegenwartsmusik: Erwin Stache, Bewegungen – Momente (12 Uhr)
Studio Neue Musik: Feldman piano(s) [2]. Mit Bernd Künzig (23.05 Uhr) 25. Mai: SWR2 JetztMusik: New Queer Music – Neue Musik und Homosexualität. Eine ästhetische Spurensuche von Bernd Künzig (23.03 Uhr) 26. Mai: BR Klassik Horizonte: «Komm, Schöpfer Geist». Musik als Träger spiritueller Erfahrung.Von Peter Michael Hamel (22.05 Uhr) Deutschlandradio Kultur Der russische Komponist Alexander Khubeev im Gespräch mit Hannes Seidl (0.05 Uhr) 27. Mai: kulturradio vom rbb Der neue Leiter der Donaueschinger Musiktage.Von Margarete Zander (21.04 Uhr) SWR2 ars nova 2015 in Donaueschingen. Porträt Ondrej Adámek (23.03 Uhr) WDR 3 Acht Brücken | Musik für Köln. Porträtkonzert Louis Andriessen (20.05 Uhr) | Studio Elektronische Musik: Klangbänder. Mit Hubert Steins (23.05 Uhr) 28. Mai: BR Klassik Horizonte: «Das Geschehnis der Wahrheit». Heideggers Ästhetik im Spiegel der Neuen Musik.Von Ferdinand Zehentreiter (22.05 Uhr) hr2-kultur Werkzeuge der Neuen Musik: Schlagzeug, Teil 4.Von Barbara Eckle (21.30 Uhr) 29. Mai: Deutschlandfunk Karlheinz Stockhausen – Mikrophonie. Red Fish Blue Fish, Percussion Ensemble der University of California, San Diego (22.05 Uhr) 30. Mai: hr2-kultur The Artist’s Corner: [Silberlinge 2] Das Label Ensemble Modern Medien, präsentiert von Lena Krause (23.05 Uhr) WDR 3 Studio Neue Musik: Feldman piano(s) [3]. Mit Barbara Eckle (23.05 Uhr) 1. Juni: kulturradio vom rbb Musik der Gegenwart: Neue Musik aktuell. Mit Andreas Göbel (21.04 Uhr) SWR2 JetztMusik: Kuss und Schluss der Stimmlippen. Der Countertenor in der Neuen Musik.Von Barbara Eckle (23.03 Uhr) 2. Juni: BR Klassik Horizonte: «Mein Ideal wäre C-Dur». Mathias Spahlinger über alte, neue und seine Musik. Mit Werner Klüppel-
25. Mai: ARD-alpha
CLASSICA HD / CLASSICA AUF SKY 21. Mai Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker beim Lucerne Festival. Rachmaninow: Symphonische Tänze op. 45 / Strawinsky: Der Feuervogel (20 Uhr) 23. Mai Claudio Abbado dirigiert Mahler (Symphonie Nr. 4 G-Dur) und Schönberg (Pelléas et Mélisande)(23.15 Uhr) 3. Juni Benjamin Britten: Gloriana. Aus dem Royal Opera House Covent Garden, London (20 Uhr) 27. Juni Ferruccio Busoni: Doktor Faust. Aus dem Opernhaus Zürich (21.25 Uhr) 29. Juni Waldbühne Berlin – Fellini, Jazz & Co. Schostakowitsch: Suite Nr. 2 für Jazzorchester / Nino Rota: La Strada-Suite / Ottorino Respighi: Symphonische Dichtungen Fontane di Roma und Pini di Roma; Berliner Philharmoniker, Riccardo Chailly (20.55 Uhr) 4. Juli Aaron Copland: Symphonie Nr. 3, New York Philharmonic, Leonard Bernstein (21.25 Uhr) 5. Juli Gala aus Berlin – All-American Programme. Werke von Gershwin, Barber, Copland, Adams, Weill, Kern, Sousa. Aus der Berliner Philharmonie (21.25 Uhr) 28. Juli Alban Berg: Lulu.Von den Salzburger Festspielen (20 Uhr) 31. Juli Leoš Janácek: Jenufa. Aus der Deutschen Oper Berlin (21.50 Uhr) n Ausführliche Infos zu CLASSICA unter www.classica.de
24. Mai: WDR 3
holz (22.05 Uhr) Der Cellist Siegfried Palm.Von Andreas Göbel (21.04 Uhr) SWR2 JetztMusik: «Flüchtige Schwingungen» – Komponistenporträt Hèctor Parra, Teil 1 (23.03 Uhr) 4. Juni: BR Klassik Horizonte: Werke von Hans Abrahamsen und Martin Herchenröder (22.05 Uhr) hr2-kultur Werkzeuge der Neuen Musik: Klavier, Teil 1:Von Michael Iber; anschl. Neue geistliche Musik. Von Stefan Fricke (21.30 Uhr) 6. Juni: hr2-kultur The Artist’s Corner: anfangen (: aufhören). Musik von Thomas Stiegler und Peter Ablinger (23.05 Uhr) 7. Juni: SWR2 Hèctor Parra: Wilde nach einem Libretto von Händl Klaus, Uraufführung (20.03 Uhr) WDR 3 Studio Neue Musik: Feldman piano(s) [4]. Mit Barbara Eckle (23.05 Uhr) 8. Juni: kulturradio vom rbb Diskurs in der Neuen Musik – die Zeitschrift Musiktexte.Von Margarete Zander (21.04 Uhr) 9. Juni: BR Klassik Horizonte: Die Musik der 60er Jahre und ihre Öffnung zu den anderen Künsten.Von Torsten Möller (22.05 Uhr) 10. Juni: kulturradio vom rbb explorethescore. Neue Musik im Internet.Von Margarete Zander (21.04 Uhr) WDR 3 Studio Elektronische Musik: point of view [57] – Georg Katzer.Von Stefan Amzoll (23.05 Uhr) 11. Juni: hr2-kultur Werkzeuge der Neuen Musik: Klavier, Teil 2.Von Michael Iber (21.30 Uhr) 13. Juni: hr2-kultur The Artist’s Corner: jetzt erst erhört. Kompositorische Reaktionen auf die Sammlung Prinzhorn (23.05 Uhr) 14. Juni: WDR 3 Studio Neue Musik: monochrome Trios. Mit Michael Rebhahn (23.03 Uhr) 15. Juni: kulturradio vom rbb Das Festival «Infektion!» der Staatsoper Berlin.Von Andreas Göbel (21.04 Uhr) WDR 3 Supernova. Das Ensemble Aventure spielt Werke von Chikashi Miyama, Gerald Eckert und Malika Kishino (20.05 Uhr) 17. Juni: kulturradio vom rbb Der Komponist Wolfgang Mitterer.Von Eckhard Weber (21.04 Uhr) WDR 3 3. Juni: kulturradio vom rbb
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Studio Elektronische Musik: szene [44]: London/Manchester. Mit Michael Rebhahn (23.05 Uhr) 18. Juni: hr2-kultur Werkzeuge der Neuen Musik: Klavier, Teil 3.Von Michael Iber (21.30 Uhr) 20. Juni: hr2-kultur The Artist’s Corner: Andreas Wagner. Wagner on Sibelius (23.05 Uhr) 22. Juni: kulturradio vom rbb Neue Aufnahmen mit dem Asian Art Ensemble. Mit Andreas Göbel (21.04 Uhr) 24. Juni: kulturradio vom rbb Matthias Pintscher über Kunst und Komponieren.Von Margarete Zander (21.04 Uhr) WDR 3 Studio Elektronische Musik: Die Frühgeschichte der elektronischen Musik in den Niederlanden. Mit Hubert Steins (23.05 Uhr) 25. Juni: hr2-kultur Werkzeuge der Neuen Musik: Klavier, Teil 4.Von Michael Iber (21.30 Uhr) 27. Juni: hr2-kultur The Artist’s Corner: [Silberlinge 3]. Das Label WERGO, porträtiert von Michael Iber (23.05 Uhr) 29. Juni: kulturradio vom rbb Decoder Ensemble.Von Ulrike Klobes (21.04 Uhr) 2. Juli: hr2-kultur Werkzeuge der Neuen Musik: Trompete, Teil 1.Von Sebastian Hanusa (21.30 Uhr) 6. Juli: kulturradio vom rbb Musik der Gegenwart: Neue Musik aktuell. Mit Andreas Göbel (21.04 Uhr) WDR 3 Acht Brücken | Musik für Köln – Ensemble Resonanz spielt Werke von Louis Andriessen und Martin Smolka (20.05 Uhr) 8. Juli: kulturradio vom rbb Der Pianist und Komponist Michael Obst. Von Margarete Zander (21.04 Uhr) WDR 3 Studio Elektronische Musik: point of view [58] – Francois Delalande.Von Reinhold Friedl (23.05 Uhr) 12. Juli: WDR 3 Studio Neue Musik: His Master’s Choice [11] – Martin Schüttler (23.05 Uhr) 15. Juli: kulturradio vom rbb Wittener Tage für neue Kammermusik 2015. Mit Andreas Göbel (21.04 Uhr) Alle Angaben ohne Gewähr. Weitere aktuelle Termine unter www.musikderzeit.de
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Federico Celestini / Elfriede Reissig (Hg.) KLANG UND QUELLE Ästhetische Dimension und kompositorischer Prozess bei Giacinto Scelsi (= Musik und Kultur, Band 2) Lit Verlag, Münster 2014, 192 Seiten, 24,90 Euro
Die Scelsi-Forschung erlebt in jüngster Zeit Höhenflüge. Nach der 2013 erfolgten Edierung der Gesammelten Schriften Giacinto Scelsis durch Friedrich Jaecker bietet die Publikation Klang und Quelle nun eine sinnfällige Ergänzung. Das gesteigerte Interesse an Scelsi (1905–88) begründen die Herausgeber nicht zuletzt mit dessen Identität als Grenzgänger: «An der Schwelle zwischen Orient und Okzident, Komposition und Improvisation, Rationalität und Mystik fordert Scelsis Musik diejenigen heraus, die sich ihr forschend, hörend oder durch deren Interpretation nähern wollen.» Beherrschte die Mystifizierung des italienischen Komponisten, zu der er selbst nicht unwesentlich beitrug, über Jahrzehnte den Diskurs, so markierte die Eröffnung des Scelsi-Archivs in Rom 2009 einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit seinem Schaffen. Klang und Quelle basiert auf Vorträgen, gehalten auf einem Symposium im Januar 2012 in Graz, und spiegelt neue Erkenntnisse wider, die aus der Analyse eben der Quellen gewonnen werden konnten. Hervorzuheben sind zumal Scelsis Tonbänder, die die Transkriptionsgrundlage für die von Assistenten eingerichteten Partituren bildeten, sowie Skizzen, Notizen und Briefe. Federico Celestini unternimmt den gültigen «Versuch einer musikgeschichtlichen Verortung», wobei er sein Hauptaugenmerk darauf legt, die bis dato immer wieder attestierte «Besonderheit» und Außenseiterposition Scelsis zu relativieren und ihn samt seiner Konzentration auf klang-
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liche Dimensionen in die Tonkunst des 20. Jahrhunderts einzubinden. Zur Sprache kommen dabei Scelsis eigene Bezugspunkte wie die Zweite Wiener Schule und Karlheinz Stockhausen sowie der Einfluss, den er auf die Spektralisten, zumal auf Horatiu Radulescu, ausübte. Indirekt daran an knüpft Markus Bandur in seinem klugen Aufsatz über Scelsis akustisches Material im geschichtlichen Kontext. Eine konsequente Entdämonisierung Scelsis betreibt auch Johannes Menke, der schlüssige Überlegungen zu den Satztechniken in den Vokalpartituren anstellt. Ein weites Feld ist die AsienRezeption Scelsis, der Ursula Baatz ebenso eingehend nachspürt wie Ingrid Pustijanac seinen Beziehungen zur «Gruppo die Improvvisazione Nuova Consonanza», von deren Konzept Scelsi angeregt wurde. Hoch spannend sind die präzisen Ausführungen von Friedrich Jaecker, der beim Durchhören der Tonbänder auf gestalterische Aspekte stieß: Danach zeichnete Scelsi seine Improvisationen nicht einfach nur auf, sondern er formte und schichtete sie, verdichtete sie durch Überspielungen oder erzielte durch Schnitttechniken palindromartige Klanggebilde. Der profunden Analyse einzelner Werke vor dem Hintergrund kultureller und wahrnehmungspsychologischer Faktoren widmet sich Christian Utz in «Scelsi hören», während Georg Friedrich Haas die einschneidenden Folgen der Begegnung mit Scelsis Musik für sein eigenes schöpferisches Denken überzeugend darlegt. Egbert Hiller
HANS ZENDER WACHES HÖREN Über Musik hg. von Jörn Peter Hiekel Carl Hanser, München 2014, 176 Seiten, 19,90 Euro
Jener «helle, gleichsam wache Grundklang», den Gerhard R. Koch in der Musik von Hans Zender vernimmt, ist auch das Wasserzeichen der hier vorgestellten 14 Texte, die damit das eindrucksvolle Zusammenspiel des Denkens und der Töne in Zenders vielstimmigem Schaffen unterstreichen. Symbiotisch wie sein Denken in und über Musik sind auch die vielstimmigen Kompetenzen Zenders miteinander verbunden, mit denen der Dirigent und Komponist, der Lehrer und Musikschriftsteller den ganzen Kosmos der Musik belauscht, befragt, erforscht und dem «inneren Ohr» (Robert Schumann) des Hörers zugänglich macht. Wie Schumann scheint Zender «von Allem afficirt, was in der Welt geschieht», und auch er weiß in seiner Musik wie in seinen theoretischen, analytischen und essayistischen Arbeiten von fremden Ländern und Menschen zu erzählen. Den Leser erwarten 13 Essays und ein Briefwechsel zwischen dem Komponisten und dem Philosophen Albrecht Wellmer. Jeder dieser Texte liest sich wie eine Aufforderung, den Titel des Buchs als Appell zu verstehen, also «Waches Hören» zu erproben. Das aber heißt für Zender, mit begriffsloser Wahrnehmung als einem Gegengift zur Falschnehmung von Kunst in unserer «Spektakelkultur» (Umberto Eco) der Musik als Ausdruck von Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Mit den Worten, «dass Zender sich mit Vorliebe dort denkend bewegt, wo Musik im Ungreifbaren verschwindet», hat Alfred Brendel die im ersten Essay entfaltete Vorstellung vom Hören als eines schöpferischen
Vorgangs ebenso erfasst wie Georg Pichts Diktum «Die Sinne denken», dem Zender sich zutiefst verpflichtet weiß und das er im 13. Essay als «Denken der Künste» weiterführt. Aus der enigmatischen Dichtung Hölderlins erschließen sich Zender neue Einsichten in das Miteinander von Klang und Sprache, während der vierte Essay das Verhältnis von Musik und Sprache thematisiert. Im Kontext von C. G. Jungs Psychoanalyse wird der Konstruktion der Zeit bei Anton Bruckner nachgespürt, im Rekurs auf die Zeitkunst des Zen sodann dem Wesen spiritueller Musik. Wie der Musik Bruckners, so wendet sich Zender in deutender Annäherung auch der vielsprachigen Musik Bernd Alois Zimmermanns zu, die als «das Bild einer explodierenden Welt« erscheint und sich zugleich dem geschichtlichen Gedächtnis öffnet. In seinem Musiktheaterwerk Chief Joseph geht es «um die Unfähigkeit, sich mit fundamental andersartigen Lebensentwürfen produktiv auseinanderzusetzen», während zwei kritische, an die Knallchargen der aktuellen Kulturpolitik adressierte Essays die Bedrohung der Rundfunkorchester thematisieren und sich einer solchen «Bankrotterklärung des europäischen Geistes» entgegenstemmen. Die beiden abschließenden Briefe, in denen der Komponist und der Philosoph ihren (vor allem terminologischen) Dissens elaborieren, sind gewissermaßen im hohen Ton gehalten. Es ist der ins Offene weisende Ausklang eines Buchs, dem viele wache Leser zu wünschen sind. Peter Becker
BÜCHER
ROLF RIEHM TEXTE hg. von Marion Saxer Schott Music («edition neue zeitschrift für musik»9, Mainz 2014, 300 Seiten, 24,90 Euro
«Kunst an ihrer äußersten Spitze kümmert sich nicht um irgendwelche Verpflichtungen oder Einlösungen», sagt der Komponist Rolf Riehm. Dass diese Maxime auch für sein Schreiben über Kunst gilt, stellt ein Kompendium unter Beweis, das die Musikwissenschaftlerin Marion Saxer zusammengestellt hat. Neben kurzen biografischen Notizen, vier Interviews und vier Essays über Riehms kompositorische Ästhetik machen den größten Teil des Buchs seine Werkkommentare aus: Texte zu 44 Kompositionen, entstanden zwischen 1964 und 2009 – vom inzwischen legendären Oboensolo Ungebräuchliches bis hin zum Klavierkonzert Wer sind diese Kinder. Was alle diese Werke eint, ist die prinzipielle Skepsis gegenüber einer Emphase der kompositorischen Faktur. In Riehms Musik geht es zu keiner Zeit darum, selbstreferenziell einen state of the art zu demonstrieren, und schon gar nicht zielt er auf die bloße Intaktheit der Oberfläche – auf eine Kongruenz mit dem kulturhistorischen Topos «Neue Musik». Diese Haltung findet sich in seinen Texten gespiegelt. Riehms Kommentare erklären nicht, sind weder Analysen noch Exegese des Klingenden; vielmehr geben sie Auskunft über Denken und Handeln eines Komponisten, dessen Musik sich einer objektivierbaren Folgerichtigkeit verweigert. Ebenso wie in seinen Kompositionen vermeintliche oder tatsächliche Unstimmigkeiten und Widersprüche stets zulässig sind, entziehen sich auch seine Texte jeder gewohnheitsmäßigen Lesbarkeit. Um sein kompositorisches Denken semantisch «abzubil-
den», vollzieht Riehm in seinen Texten oft unvermittelte Sprünge durch ein weites Feld aus politischem Zeitgeschehen, historischen Fakten, Mythen, Märchen und Erinnerungen, Lyrik, Dramatik und Exponaten aus der Musikgeschichte. Wer sich auf diese assoziativen Gänge einlässt, erlebt einen Komponisten, dessen Maxime zu jeder Zeit eine ästhetische Kompromisslosigkeit ist. Grundlegend für Riehms Arbeit ist die Absage an jede selbst auferlegte Vorsicht, die nichts in Unordnung bringen möchte. Komponieren bedeute, so Rolf Riehm, einen «Bestand an emotionaler Sensibilität» zu sichern – mithin wahrzunehmen, empfänglich zu sein, zu reagieren. Eine solche Haltung verträgt keine Muster, kein Repertoire von Verfügbarkeiten, aus dem der passende Affekt bloß noch herausgegriffen werden muss. Im Gegenteil: Riehms Gedankengänge kennen keine Scheu vor dem Clash der Epochen, Kulturen und «Stile», was allein schon in einer kursorischen Lektüre seiner Texte deutlich wird. Da trifft Thomas Müntzer auf Andreas Baader, John Donne auf Stephen Hawking oder die Ars Subtilior auf Franz Liszt. Und immer wieder führt der Rekurs zu Homers Odyssee, deren Protagonist Riehm von der petrifizierten Sagengestalt zu einem jetztverstandenen, «angewandten» Helden werden lässt. Unnötig zu erwähnen, dass Odysseus ein paar Zeilen später auf ganz und gar «Unhomerisches» treffen kann: «Es ist einfach so», sagt Rolf Riehm, «dass einem alles eine Zeitlang unterkommt.» In Sinne dieser Kontinuitätsverweigerung sind seine Texte absolut gegenwärtig – selbst noch dort, wo sie bereits über fünfzig Jahre in der Welt sind. Michael Rebhahn
Georg Klein BORDERLINES. AUF DER GRENZE Thematischer Werkkatalog (deutsch/ englisch), hg. von Sabine Sanio Kehrer, Heidelberg 2014, 96 Seiten, 29,90 Euro
Klangkunst ist ortsgebunden, d. h. sucht sich ihren Ort, um (genau) da zu sein. Häufig klingt es auch, denn Klangkunst bringt Stimmen, Klänge und Geräusche zu bestimmten Orten oder ruft sie in ihnen auf. Dabei geht es zumeist um die klangliche Inszenierung des Ortes selbst oder um historische Ausgrabungen nach dem Prinzip «Hören, was nicht mehr zu sehen ist, und sehen, was gegenwärtig blieb». Georg Kleins Arbeiten zielen in eine andere Richtung, auch wenn sie den konkreten Ortsklang reflektieren und mitunter historisch aufgeladene Orte als Vehikel nutzen. Für Turmlaute 2:Wachturm war ihm 2007 beispielsweise ein DDR-Grenzturm solch ein historisches Vehikel für die vermeintliche Verführung zur Denunziation beim Urlaub an den EUAußengrenzen. Seine Arbeiten zielen auf die Gegenwart, inszenieren Orte als Situationen, in denen man sich umtut. Sie dekonstruieren die Prozesse, die unser Leben maßgeblich bestimmen und uns trotzdem oft fremd sind. Kleins Interventionen verorten Phänomene, Theorien und die kritische Reflexion, sie rütteln an Gewissheiten oder angelernten Fluchten, sind inhaltliche Wegmarken, entlang derer der hinzugezogene Besucher zum Grenzgänger wird. Formal steht Klangkunst – junges Gemüse im Vorgarten der alten Musen – ohnehin im Grenzland. So liegt es nahe, Kleins klangkünstlerisches Schaffen seit 2001 (transition – berlin junction) unter dem Begriff der «Grenze» zu subsumieren: borderlines von Georg
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Klein, der deutsch-englisch ausgeführte Katalog, geht nicht nur von der weit verbreiteten Auslegung der Klangkunst als Grenzdisziplin oder als randständiger Kunst per se aus, sondern vertieft sich in den Begriffen der Grenze und der Grenzziehung als Dreh- und Angelpunkt, an dem konkret Kleins Schaffen auszumachen ist. Die Grenze als Scheidepunkt und situative Erfahrung ist ein Ort des Übergangs. Auf je einer Doppelseite in Text und Bild sowie mit QRCode wird Kleins Werk also nicht chronologisch, sondern im Fokus des Dazwischen-Seins sortiert: zwischen Raum und Sprache, zwischen Kunst und Wirklichkeit, zwischen Leben und Nicht-Leben. Es breitet sich uns aus als politisches wie auch ästhetisches Grenzgängertum, das – gemäß den Gesetzen der Klangkunst – immer nach unserer eigenen Position in all dem fragt. Kleins installative Grenzziehungen einzusehen, helfen die von Sabine Sanio zusammengetragenen, präzisen und darum lesenswerten Beiträge von Sanio selbst (Einführung in den Versuchsaufbau und dafür benötigte Begrifflichkeit), von Claudia Wahjudi (zur politischen Dimension von Kleins Ortsinterventionen wie der des Hörpfades toposonie: spree), Max Glauners rezeptionsanalytische Erörterung des Partizipativen in der Klangkunst am Beispiel von Kleins Rotlicht-Intervention Sprich mit mir (2009) und abschließend das Gespräch zwischen dem Musikwissenschaftler Stefan Fricke und Georg Klein über Kunst und Politik des Ortes. Ein sehr gelungener Einstieg nicht nur in Georg Kleins Klang-Installationswerk seit 2001. Andreas Hagelüken
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NEUE ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN ist Musikwissenschaftler mit dem Forschungsschwerpunkt 20./21. Jahrhundert und unterrichtet u. a. an der Folkwang Universität der Künste in Essen sowie an der Philipps-Universität Marburg. Er schreibt regelmäßig für diverse Musikzeitschriften, ist verantwortlicher Redakteur des Bereichs «Moderne» bei der Tonkunst und gibt (gemeinsam mit Gordon Kampe) die Zeitschrift Seiltanz heraus.
Stefan Drees Gegründet 1834 von Robert Schumann 176. Jahrgang Herausgegeben für Schott Music, Mainz von Rolf W. Stoll Erscheinungsweise zweimonatlich Januar, März, Mai, Juli, September, November Redaktion: Rolf W. Stoll, Dr. Kai Müller Redaktionsassistenz: Friederike Lamberty Ständige Mitarbeiter: Stefan Drees, Christoph Wagner, Max Nyffeler
lerin sowie Doktorandin an der Eberhard Karls Universität Tübingen. In ihrem Promotionsprojekt arbeitet sie zur Wissensgeschichte des Hörens um 1900. Zurzeit ist sie zu Gast am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Abteilung Musik, in Frankfurt am Main.
Einzelheft 9,50 Euro zzgl. Porto und Versandspesen; Jahresabonnement 52,- Euro. Das Abonnement beinhaltet eine CD pro Jahrgang. Kündigung des Abonnements mindestens sechs Wochen vor Ablauf.
Ellen Freyberg
Abobestellungen in jeder Buch- oder Musikalienhandlung oder direkt bei unserem Leserservice: Nicolas Toporski Postfach 3640, 55026 Mainz, Deutschland Fon 061 31 / 24 68 57, Fax 061 31 / 24 64 83 E-Mail: zeitschriften.leserservice@schott-music.com Anzeigenleitung: Dieter Schwarz Anzeigenservice: Almuth Willing (s. Anschrift der Redaktion) Fon 061 31 / 24 68 52, Fax 061 31 / 24 68 44 E-Mail: zeitschriften.anzeigen@schott-music.com Anzeigen laut Preisliste Nr. 38 vom 16.12.2014 Beilagen bis 25 gr.: 16,- Euro je 100 Stück, inkl. Postgebühren, Teilbeilagen möglich Anzeige 90 mm x 127 mm: 335,- Euro + MwSt. Bannerschaltung auf unseren Internetseiten auf Anfrage Für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos, Notenbeispiele, Bücher und Tonträger wird keine Haftung übernommen. Nachdruck oder fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Verlags.
studierte Musikwissenschaft und Linguistik. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Musikhochschulen Stuttgart und Hamburg. Sie ist freischaffende Dramaturgin und Autorin. Sie arbeitet an einer Dissertation zur Musikalischen Lyrik im Schaffen Aribert Reimanns.
Janosch Korell ist Jazz-Bassist, autodidaktischer Komponist und lebt in Würzburg. Er schrieb seine Diplomarbeit über die Zusammenarbeit von Hans Werner Henze und Volker Schlöndorff; zurzeit studiert er Philosophie, Politologie und Soziologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Johannes Kreidler, geboren 1980, studierte von 2000 bis 2006 an der Musikhochschule Freiburg und am Conservatorium Den Haag Komposition, Elektronische Musik und Musiktheorie. Er unterrichtet an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. 2012 erhielt er den Kranichsteiner Musikpreis.Aufführungen u. a. bei den Donaueschinger Musiktagen, den Wittener Tagen für neue Kammermusik, Ultraschall Berlin und ECLAT Stuttgart.
war vierzig Jahre lang Kultur- und Musikredakteur der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Er schreibt für verschiedene Musikzeitschriften und ist Herausgeber der Bände Nur wer die Sehnsucht kennt. 25 Jahre Ballett Schindowski (Essen 2003) und «MiR gehts gut». 50 Jahre Musiktheater im Revier (Essen 2009).
Jörg Loskill Die in den Beiträgen vertretenen Meinungen decken sich nicht in jedem Fall mit denen des Herausgebers. An der Finanzierung des Unternehmens wirtschaftlich beteiligt sind: Dr. Peter Hanser-Strecker, die Strecker-Stiftung, Friederike Baechle, Carina Alexander, Betina Alexander, Beatriz Pochat, Dr. Hugo Tiedemann und Catalina Rid. Druck: Druckerei Zeidler GmbH & Co. KG Fritz-Ullmann-Straße 7 55252 Mainz-Kastel Design: Nele Engler, Rolf W. Stoll ISSN 0945-6945 © 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz Printed in Germany
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lebt als freiberuflicher Journalist in München und Santa Maria / Schweiz. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts sowie Musik in den Medien.
Max Nyffeler Frauke Fitzner ist Kultur- und Musikwissenschaft-
Redaktionsanschrift: Weihergarten 5, D-55116 Mainz Postfach 3640, D-55026 Mainz Fon 061 31 / 24 68 50, Fax 061 31 / 24 62 12 E-Mail: nzfm.redaktion@schott-music.com Homepage: www.musikderzeit.de Telefon: 061 31 / 24 68 46
Die NZfM-App für iOS- und Android-Systeme ist über die digitalen Vertriebsplattformen «App Store» (Apple) und «Google Play» (Google) erhältlich.
Torsten Möller studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Soziologie an der Berliner Humboldt-Universität. Er gab die Notationssammlung SoundVisions mit heraus und ist Herausgeber eine Buchs über den Komponisten Dieter Mack. In Dortmund ist Möller als freier Autor für Presse und Funk tätig. Derzeit lehrt er Musikjournalismus an der Folkwang Universität Essen.
ist freischaffender Musikjournalist und Musikwissenschaftler, tätig u. a. für das Schweizer Radio DRS 2, die WochenZeitung (Zürich) und weitere Zeitungen, Fachzeitschriften und Rundfunkanstalten sowie für Veranstalter.
Thomas Meyer
Holger Pauler lebt als freier Journalist und Autor in Bochum. Er schreibt regelmäßig über musikalische Grenzgänger zwischen Jazz, Pop und Neuer Musik. Seine Texte erscheinen unter anderem in der Süddeutschen Zeitung, der neuen musikzeitung, der taz, dem Freitag und der jazzthetik. Michael Rebhahn studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie und wurde mit einer musikästhetischen Arbeit über John Cage promoviert. Er lebt als freier Musikpublizist und Kurator in Frankfurt am Main. Martin Tchiba, geboren 1982 in Budapest, lebt seit seiner Kindheit in Deutschland. Er konzertiert international als Pianist und nahm mehrere CDs auf. Außerdem verfasste er Texte zu Musikthemen und war Herausgeber sowie Co-Übersetzer des Buchs Übungen zum kreativen Musizieren von László Sáry (Saarbrücken 2006). Homepage: www.tchiba.com Johannes Ullmaier, geboren 1968, ist Mitherausgeber der seit 1995 erscheinenden Popzeitschrift testcard und lehrt am Deutschen Institut der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Christoph Wagner lebt seit 1994 als freier Musikjournalist in England. Er ist u. a. Herausgeber von Auge & Ohr / Ear & Eye. Begegnungen mit Weltmusik. Zuletzt erschien Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground («edition neue zeitschrift für musik»).
ist freier Musikpublizist, Rezensent und Autor für diverse Zeitschriften und Zeitungen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Komposition und Klangkunst im 20. und 21. Jahrhundert. Für Komponisten der Gegenwart schrieb er die Gesamtdarstellung zu György Ligeti.
Dirk Wieschollek
Das erste nach historisch-kritischen Methoden erarbeitete Werkverzeichnis eines Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Deutscher Musikeditionspreis „Best Edition“ 2015
BER ND ALOI S Z I M M E R M A N N W E R KVERZE I CH N I S Verzeichnis der musikalischen Werke von Bernd Alois Zimmermann und ihrer Quellen Herausgegeben von der Akademie der Künste, Berlin, und Schott Music, Mainz
Heribert Henrich
Bernd Alois Zimmermann Werkverzeichnis 1.326 Seiten – Hardcover mit Leineneinband Format 19 x 26,5 cm mit 23 farbigen Abbildungen von Autographen ISBN 978-3-7957-0688-3 ED 20767 · € 199,00 Vorwort und 15-seitige Leseprobe zum Download unter: www.schott-music.com/zimmermann
INFEKTION! Festival für Neues Musiktheater Karlheinz Stockhausen | John Cage | Elfriede Jelinek Morton Feldman | Samuel Beckett | Toshio Hosokawa
13. JUNI — 12. JULI 2015
Festivalpass INFEKTION! 15 €
TICKETS 030 – 20 35 45 55 WWW.STAATSOPER-BERLIN.DE #infektion2015
FOTO: CLAUDIA LEHMANN
Der Festivalpass kostet 15 € und berechtigt zum Kauf von Einheitspreis-Tickets für 15 € (Schiller Theater) und 10 € (Werkstatt) für beliebig viele Veranstaltungen (bis zu zwei Tickets pro Vorstellung) des Festivals INFEKTION! Weitere Informationen und Buchung unter www.staatsoper-berlin.de